♈☿ 17. Kapitel ♊♋
Dagoberts Erben
Es ist schon erstaunlich, welche Blüten menschliche Gier treibt und zu welchen firmenpolitischen Entscheidungen sie führt.
Ab und an klingelte bei mir das Telefon zwecks »Berater-Betreuung«. Portal-Angestellte, die nie selbst eine Beratung durchgeführt und keinen blassen Schimmer von der Materie hatten, sollten uns erzählen, wie das alles funktionierte. Besonders ein Gespräch ist mir dabei in bleibender Erinnerung geblieben.
Ich: »Wagner.«
Betreuer: »Guten Tag, Frau Wagner. Werner Mottke vom Astro-Betreuer-Team. Haben Sie kurz Zeit für mich?«
Ich: »Hallo Herr Mottke. Ich habe gerade Zeit.«
Betreuer: »Das ist schön. Ich möchte nämlich eine wichtige Sache mit Ihnen besprechen. Bei unserer letzten Teamkonferenz haben wir beschlossen, unser Portal zu dem Portal mit den zufriedensten Anrufern zu machen.«
Ich: »Das hört sich gut an.«
Betreuer: »Ist es auch. Unser Ziel besteht darin, die Gesamtanzahl der schlechten Bewertungen unter einem Prozent zu halten und dadurch noch attraktiver zu werden. Dazu sollen Sie als Berater ausschließlich positive Gespräche führen. Die Anrufer sollen sich nach einer Beratung zufriedener fühlen und optimistisch in die Zukunft schauen.«
Ich: »Na ja, das ist zwar gut gemeint, aber ich kann unmöglich jedes Mal nur schöne Dinge erzählen.«
Betreuer: »Doch, das können Sie. Das müssen Sie sogar! Ansonsten wird Ihre Gesamtnote bald nicht mehr dem Standard unseres Portals entsprechen, sodass wir uns leider von Ihnen trennen müssten.«
Aha, also ein Erpressungsversuch.
Ich: »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Das würde bedeuten, die Leute bewusst anzulügen.«
Betreuer: »Wer spricht denn hier von Lügen? Sehen Sie mal, Frau Wagner, durch schlechte Prognosen frustrieren Sie den Ratsuchenden. Aus dem Frust heraus schreibt der Anrufer Ihnen dann eine schlechte Bewertung und gibt Ihnen die Schuld an seiner unbefriedigenden Situation. Dem wollen wir entgegenwirken, indem wir unsere Kunden motivieren und ihnen die Möglichkeit einer glücklichen Zukunft aufzeigen.«
Ich: »Das würde bedeuten, Scheiße in Gold zu verwandeln. Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber ich denke, das trifft es am besten.«
Betreuer: »Aber, aber, sehen Sie das doch nicht so negativ. Es wird sich garantiert auszahlen für Sie.«
Ich: »Herr Mottke, ich kann Ihnen nichts versprechen.«
Betreuer: »Wir werden sehen. Es gibt noch einen weiteren Punkt. Wir möchten gerne neue Beratungsmethoden in unser Angebot aufnehmen, die Ihr Profil interessanter für den Anrufer machen. Ich sehe, dass Sie Kartenlegerin sind. Davon haben wir um die 2000 Berater auf der Line. Könnten Sie sich vorstellen noch eine weitere Art der Zukunftsdeutung anzubieten, um sich von der breiten Masse abzuheben?«
Na, das kam mir doch bekannt vor. Auch die Assistentin vom TV des Universums wollte unbedingt ein Alleinstellungsmerkmal aus mir hervorzaubern.
Ich: »Schwierig. Ich kann nur Karten legen.«
Betreuer: »Mhm … Vielleicht könnten Sie ja etwas erfinden?«
Das hier war jetzt allerdings ein Hammer. Man wollte mich zum wiederholten Mal zum Betrug animieren!
Ich: »Ich werde darüber nachdenken, Herr Mottke. Ich muss jetzt aber Schluss machen, habe gleich noch einen Termin.«
Betreuer: »Kein Problem, Frau Wagner. Meine Nummer haben Sie. Rufen Sie einfach an, wenn Ihnen etwas einfällt.«
Ich war froh, als ich Herrn Mottke abgewimmelt hatte. Angerufen habe ich ihn bis heute nicht.
Das nächste Mal klingelte bei mir zwar nicht das Telefon, dafür befand sich eine ausführliche E-Mail der Astro-Geschäftsführung in meinem Postfach, die mich über gewisse neue »Standards« informierte. Es galt fortan etwa, eine Gesprächsdauer von 20 Minuten nicht zu unterschreiten und abschließend den Kunden darauf hinzuweisen, dass man natürlich gerne auch für weitere Gespräche zur Verfügung stünde. Eine Nichtbeachtung dieser »Standards« würde sich laut E-Mail negativ auf meinen Beraterstatus, mein Ranking und somit meine Anruferzahlen auswirken.
Diese nett formulierte E-Mail hinterließ einen bitteren Nachgeschmack bei mir. Ich wusste nur zu gut, wie teuer 20 Minuten an der Strippe waren. Nur die wenigsten Anrufer konnten sich die Beratung einer Kartenlegerin wirklich leisten, ohne in eine noch schiefere finanzielle Lage zu geraten. Die Umsetzung der neuen »Standards« fand ich äußerst problematisch.
Von den meisten meiner Kunden kannte ich die finanzielle Situation mehr als genau. Nicht selten hatten sie bereits Kredite aufgenommen, um weitere Gespräche über ihre Zukunft führen zu können. Die Astro-Line ermöglichte den Ratsuchenden ein individuelles monatliches Kundenlimit einzurichten, um die Kosten besser im Auge zu behalten. Hatte Frau Meier zum Beispiel 50 Euro Guthaben für den gesamten Monat Juli, verbrauchte ihr Guthaben aber schon am 1. Juli, konnte sie erst ab dem 1. August die nächsten 50 Euro vertelefonieren. Soweit die Theorie.
In der Praxis fanden die Anrufer auch hier wieder Schlupflöcher. Es gab etwa die 0900er-Servicenummer, über die ganz ohne Registrierung telefoniert werden konnte und bei der die entstandenen Kosten später bequem mit der Telefonrechnung abgebucht wurden. Bei Zahlungen per Kreditkarte waren außerdem sogar Gespräche zwischen 2000 bis 5000 Euro monatlich gedeckt.
Sie glauben nicht, dass das irgendjemand wirklich macht? Leider liegen Sie da gründlich falsch.
Oftmals beginnen die Kunden mit einer Kreditkarte, und wenn deren Deckung ausgeschöpft ist, geht es munter mit der zweiten und dann dritten Plastikkarte weiter. Und schon hat die Schuldenfalle zugeschnappt.
Spätestens an diesem Punkt müssten die Ratsuchenden wissen, dass es allerhöchste Eisenbahn ist, unter ihr Telefon-Hobby einen dicken Strich zu ziehen. Leider ist häufig genau das Gegenteil der Fall. Dann erreichten mich Anrufe wie der von Patty.
Patty: »Hallo Süße, hier spricht mal wieder Patty.«
Ich: »Hallo Patty, was liegt dir auf dem Herzen?«
Patty war eine treue Stammkundin von mir, die es schon seit längerer Zeit mit ihrer Anruferei übertrieb und die Beraterliste von oben nach unten abtelefonierte.
Patty: »Bianca, ich bin so traurig. Schau dir doch mal meine Finanzen im Kartenbild an.«
Ich: »Ja, gerne.«
Patty: »Danke.«
Pattys finanzielle Umstände kannte ich zwar auch ohne Karten, doch die Kundin war Königin. Als die Karten lagen, wurde mein Verdacht bestätigt.
Ich: »Deine Lage ist angespannt, Patty. Du solltest dringend deine Ausgaben überprüfen und schauen, wo du eventuelle Einsparungen vornehmen kannst.«
Mir war es untersagt, Patty direkt zu verdeutlichen, dass ihr finanzieller Engpass ausschließlich ihrem ungezügelten Anrufverhalten geschuldet war, deswegen bemühte ich mich, es ihr durch die Blume begreiflich machen.
Patty: »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich noch sparen soll. Ich gehe kaum noch aus oder gönne mir etwas Besonderes.«
Patty wollte mich offensichtlich nicht verstehen. Ich beschloss, Tacheles mit ihr zu reden, wenngleich ich damit ein gewisses Risiko einging.
Ich: »Hast du dir schon mal ausgerechnet, wie viel Geld du monatlich für Kartenleger und Hellseher vertelefonierst?«
Patty: »Jaaaa … Aber darauf will ich auf keinen Fall verzichten. Außerdem ist es schon erheblich weniger geworden.«
Vermutlich war es nur deshalb weniger geworden, weil ihr die Bank den Geldhahn abgedreht hatte. Und was hieß »weniger«? Fünf Beratungsgespräche täglich anstatt zehn?
Ich: »Versteh mich nicht falsch, aber so viel kann in deinem Leben doch gar nicht passieren, dass du ständig Beratungen brauchst.«
Patty: »Aber ich brauche euch! Sonst mache ich vielleicht einen großen Fehler, und schon ist meine glückliche Zukunft futsch!«
Ich: »Glaub mir Patty, ständige Beratungen sind keine Garantie für eine glückliche Zukunft.«
Patty: »Jaaaaahaaa, ich weiß. Trotzdem! Ich bin so verunsichert und verwirrt.«
Ich: »Probiere es doch einfach mal aus, mit weniger als 100 Euro im Monat für Beratungen auszukommen. Das Limit kannst du ganz bequem beim Kundenservice einrichten lassen.«
Patty: »Also gut, ich überlege es mir. Ich muss jetzt auflegen. Ciao.«
Mir fiel Pattys leicht schnippischer Ton auf, in dem sie den letzten Satz gesagt hatte. Vermutlich war sie über meine direkte Art verärgert. Dabei hatte ich es nur gut gemeint.
Meine Vermutung wurde keine 15 Minuten später bestätigt, als mein Telefon klingelte. Es meldete sich eine Dame vom Kundenservice, die mir mitteilte, dass sich die Kundin Patty über mich beschwert hatte. Angeblich hatte ich ihr Vorschriften gemacht, wofür sie ihr Geld (welches Geld?) ausgeben sollte, und ihr gleichzeitig untersagt bei der Astro-Line anzurufen. Ich schilderte der Frau vom Kundenservice den Verlauf des Gesprächs und sagte ihr, dass die Kundin schon seit längerer Zeit nur noch auf Pump existierte und sich die Gespräche eigentlich gar nicht leisten konnte. Zu meiner Verwunderung bestätigte mir die Mitarbeiterin dies, Patty war bis vor Kurzem gesperrt gewesen, da sie die letzten Gespräche nicht pünktlich bezahlt hatte. Ich einigte mich mit der Servicemitarbeiterin darauf, zukünftig meine Bedenken nicht dem Kunden gegenüber zu äußern, sondern direkt der Kundenbetreuung Bescheid zu geben. Zähneknirschend schrieb ich Patty eine nette Mail, in der ich ihr mitteilte, ihr nie Vorschriften machen zu wollen. Der Kunden-Support wollte sie unter gar keinen Umständen als treue Kundin verlieren.