Kapitel 8: Wie der Stier an den Sternenhimmel kommt
Gleich zwei griechische Sagen sind mit dem Sternzeichen Stier
verbunden – und natürlich haben die Götter des Olymps ihre Finger
mit im Spiel. In der ersten Sage war Zeus wieder mal auf eine
Jungfrau scharf – auf Europa, um genau zu sein. Um sie zu gewinnen,
verwandelte er sich in einen prächtigen Stier – BSE kannte man
damals noch nicht – und mischte sich unter die Herde des Königs
Agenor von Phönizien (das ist das Küstenland des heutigen Syriens).
Dessen Tochter war besagte Europa; sie spielte mit ihren
Gefährtinnen am Strand. Zeus hatte seinen Sohn Hermes um
Unterstützung bei seinem Seitensprung gebeten, und der gehorsame
Sohn trieb die Viehherde von den königlichen Weiden an den
Strand.
Natürlich war der schönste aller Stiere – dreimal dürfen Sie
raten, wer! Genau: Zeus selbstverständlich. Sein Fell war weiß wie
frischer Schnee und seine Hörner glänzten wie poliertes Metall.
Europa konnte nicht widerstehen: Sie streichelte das prächtigen und
dennoch sanfte Tier, ließ sich letzten Endes auf seinem Rücken
nieder. Das nutzte der verkleidete Zeus aus: Geschwind trabte er
ins Wasser und schwamm mit der Jungfrau Europa weit ins Meer
hinaus. Erst auf der Insel Kreta war die Reise zu Ende.
Zeus gab sich dort zu erkennen und verführte das Mädchen. Mit
Folgen: Einer der Nachkommen der beiden war Minos, der König von
Kreta. Dieser errichtete in Knossos den berühmten Palast, den heute
noch jedes Jahr Zehntausende von Touristen besuchen.
Eine zweite Version der Sage erzählt, dass der Stier eigentlich
Io war, die Tochter des Pelasgerfürsten Inachos. Mit ihr hatte Zeus
ebenfalls ein Verhältnis (man kann seine Göttergattin Hera wirklich
nur bedauern!). Weil Hera ihm auf die Schliche kam, verwandelte
Zeus seine Geliebte Io umgehend in eine junge Kuh. Seine Gemahlin
hatte aber Verdacht geschöpft und ließ die Färse vom hundertäugigen
Argos bewachen. Im Auftrag von Zeus tötete Göttersohn Hermes (ein
sehr hilfsbereiter Junge, nicht wahr!) den Argos und verhalf Io so
zur Flucht. Die erzürnte Hera sandte daraufhin eine Bremse aus;
diese verfolgte die Färse – so lange, bis sie sich ins Meer stürzte
und davon schwamm. Wohin, weiß man nicht ...
Am Himmel und auf alten Sternenkarten ist nur die vordere Hälfte
des Stiers zu sehen. Mythologen erklären dies damit, dass der
restliche Körper – ganz gleich, für welche Sage Sie sich
entscheiden! – im Wasser untergetaucht ist. Der hellste und damit
□-Stern des Sternzeichens ist der Aldebaran – er stellt das
funkelnde rote Auge des Stiers dar.
Zwei Sternhaufen sind im Stier vereint: zum einen die Hyaden mit dem Beinamen „Regengestirn“, die sein „Gesicht“ bilden, und zum zweiten die Plejaden („Siebengestirn“), die sich wie ein Schwarm über dem Rücken des Stiers erheben. Gemeinsam bilden diese Sternhaufen das „Goldene Tor der Ekliptik. Die alten Griechen haben die Plejaden als so markant erachtet, dass sie ihnen sogar ein eigenes Sternbild zuwiesen und sie als Kalenderzeichen benutzten: Der griechische Geschichtsschreiber Hesiod wies die Bauern an, mit der Ernte zu beginnen, wenn die Plejaden in der Morgendämmerung aufsteigen – das war zu damaliger Zeit im Mai – und zu pflügen, wenn sie in der Abenddämmerung untergehen (in jeder Zeit im November).
Auch für Seefahrer waren die Plejaden von Bedeutung: Solange sie sich am Himmel zeigten, gab’s kaum Stürme. Waren sie dann im Jahreslauf nicht mehr zu sehen, galt es als klüger, an Land zu bleiben.