Das also war Katherine Mortenhoes Gesicht, ehe der Vorhang fiel. Anschließend kamen nur noch einige Tricks der Regie: Frauen, die sich in Spiegeln beobachten, Frauen beim Heulen und Zähneklappern, Frauen, die ›Scheiß drauf‹ sagen. Das alles lenkte mich ab, schuf Abstand und brachte mich auf die Frage, was wohl zuerst dagewesen war, die Regisseure, die sich die Tricks der Frauen anschauten, oder die Frauen, die ihre Tricks den Regisseuren abschauten. Auf jeden Fall hatte sich das menschliche Verhalten seit Beginn des Fernsehverhaltens geändert. Aber die Symptome wollten kein Ende nehmen…
Schüttelfröste, Lähmungen, Verlust der Bewegungskoordination, Schweißausbrüche, doppeltes Sehen, versagende Körperfunktionen… Dies alles mit Zeitplan und knapper Erläuterung serviert wie einen Pauschalurlaub – in der ersten Woche machen alle Urlauber dies, in der zweiten Woche sehen alle das, in der dritten Woche fühlen alle Urlauber etwas anderes. Und in der vierten Woche fallen alle tot um. Endlich klappte Dr. Mason, der mehr zur gegenüberliegenden Wand als zu der lebendigen Frau vor sich gesprochen hatte, die letzte, schimmernde Seite zu, auf die eigentlich das Bild eines Haufens flotter, glücklicher Leute gehörte, die bei einer flotten, glücklichen Beerdigung zum Abschied winkten. Wenn es so ein Bild gab, zeigte er es ihr jedenfalls nicht.
Die Aufzählung empfand ich als unnötige Grausamkeit, aber Katherine Mortenhoe nahm munter jedes Wort auf, nickte dabei und bat zuweilen um Klarstellung. Hätte ich eben nicht ihr wirkliches Gesicht gesehen – Vincent mußte stolz darauf gewesen sein, das arrangiert zu haben –, wäre mir der Gedanke gekommen, sie hätte Spaß daran. Ich hätte gedacht, nun hat sie wenigstens Bedeutung gewonnen. Aber die Munterkeit war nur ein weiterer Regietrick, wenn sie ihn auch gut über die Rampe brachte.
Dann stand sie auf und versprach, sich wieder zu melden, und gab dem Augenblick etwas Formelles, indem sie Dr. Mason die Hand reichte; dann ging sie. So einfach und schlicht war das. Vielleicht verlangte das Romantische in ihr nach einer Art stilisierter Vornehmheit.
Ich war froh, daß ich ihr nicht folgen konnte, daß ich sie nicht draußen im Korridor sehen, nicht mit ihr im Lift nach unten fahren konnte. Ich wußte, diese Dinge waren eigentlich notwendig, aber auch so war ihr schon verdammt wenig Intimsphäre geblieben.
Dr. Mason, der sie auf den Flur begleitet hatte, schloß die Tür hinter ihr und kehrte an seinen Tisch zurück. Dort angekommen, schien er nichts zu tun zu haben. Natürlich war es Vincent, der die Dinge wieder in Fluß brachte.
»Haut’s hin?« fragte er mich.
Ich schloß die Augen.
»Mason hätte mehr aus dem Syndrom herausholen sollen. Daß sie etwas ganz Besonderes ist. Ihre besondere Sensitivität. Das hätte ihr gefallen.«
Ich antwortete nicht. Er drückte die Taste des Sprechgeräts.
»Mason? Ich glaube, Sie hätten mehr aus dem Syndrom machen sollen. Daß sie etwas ganz Besonderes ist. Ihre besondere Sensitivität. Das hätte ihr gefallen. Meinen Sie nicht auch?«
Ich hörte, wie Dr. Mason Papiere zurechtschob, vermutlich den Computer-Printout. »So etwas möchte ich nicht noch einmal durchmachen«, sagte er.
»Aber wir haben doch vereinbart, daß Sie ihre besondere Sensitivität herausstellen. Um Himmels willen, die arme Frau muß doch etwas haben, was sie aufmuntert!«
»Ich habe immer weitergeredet. Mehr konnte ich nicht tun – immer nur weiterreden.«
»Vor nicht allzu langer Zeit gehörte so etwas zum Tagesablauf jedes Arztes.«
»Jetzt aber nicht mehr.«
»Nein. Na ja. Ich glaube nicht, daß ich es irgendwie besser hätte machen können. Jedenfalls kann Roddie das Messianische auch später noch herausstreichen.«
Ich öffnete die Augen. Nach drei Minuten Dunkelheit begann der Schmerz. »Du bist sehr sicher, daß sie unterschreibt«, sagte ich.
»Das machen sie doch immer.«
»Wir alle kennen den Grund.«
»Kann ich was dran ändern, daß die Welt so ist?« Er behielt den leichten Ton bei, imitierte seinen Großvater. »Bitte, Roddie, tu mir einen Gefallen. Keine Schuldgefühle, kein umfassendes soziales Gewissen. Willst du, daß ich die Dame einem anderen gebe? Irgendeinem, der sie vielleicht nicht richtig behandelt? Einem, der nicht mal die Hälfte deines Formats hat? Willst du das?«
Ich spielte den mir zugeworfenen Ball zurück. »Unmöglich«, sagte ich lakonisch. »Ich bin der Mann mit den Augen.«
Mason verließ sein Behandlungszimmer. Das Mikrofon war eingeschaltet; er hatte mitgehört und hätte durch die Verbindungstür kommen können. Aber er zog es vor, auf seiner Seite des Spiegels zu bleiben, und jetzt ging er. Plötzlich war ich erzürnt, daß er sich so absondern wollte.
»He!« rief ich. »Wenn Sie glauben, Ihre Schau war mies, was ist dann mit meiner?«
Er drehte sich um, die Hand am Türgriff. »Ich glaube, Sie werden ihr helfen«, sagte er. »Mit etwas Glück schaffe ich das vielleicht auch. Wir können nur tun, was in unseren Kräften liegt.«
Er brachte es ohne Dünkel heraus, und vielleicht bin ich rot geworden. Aber er sprach ja nur mit einem Spiegel.
»Ich muß jetzt gehen. Ich habe noch andere Patienten.«
Er lächelte die Stelle an, wo er mich vermutete, und ging.
Vincent stand auf, reckte sich, ging um mich herum, tat sein Bestes, die Leere auszufüllen.
Ich will hier nicht den Eindruck erwecken, als sei Vincent gefühllos. Aber sein Feingefühl, künstlerisch wie menschlich, war ausschließlich an den Medien orientiert. An meinem hatte ich noch zu arbeiten.
»Die Operation ist noch nicht lange genug her«, sagte er. »Du bist noch immer etwas nervös. Wir hätten warten sollen.«
»Man kann sich seine Todeskandidaten nicht aussuchen. Sie kommen einfach. Ich freue mich über die Gelegenheit.« Und ich meinte es auch so. »Ich kann mir keine bessere Chance wünschen, zu beweisen, daß sich die Sache gelohnt hat.«
»Wir haben Vertrauen in dich, Roddie. Das weißt du natürlich.« Er drückte meine Schulter mit seinen großen, breiten Fingern. »Der Mann mit den Fernsehaugen – ein schönes Gefühl, wie?«
Ich hatte noch nicht überlegt, wie ich mich fühlte. Instinktiv hob ich die Hand an den Kopf, berührte die Platte unter meiner Kopfhaut. Die dünnen Nähte waren unter dem Haar kaum zu spüren.
»Es ist eine große Verantwortung«, sagte ich.
Er tat das als die Förmlichkeit ab, die es war. »Und der Schlaf?« fragte er. »Würde mich wahnsinnig machen. Niemals zu schlafen.«
»Man gewöhnt sich daran. Ich ruhe mich oft aus. Die Medizin hilft mir dabei. Ich bin nie müde.« Das war eine Lüge. Ich war ständig müde. »Die Fachleute sagen, wenn mich überhaupt etwas fertigmacht, dann der Mangel an Träumen.«
»Du solltest mit offenen Augen schlafen. Es heißt, Wächter machen das die ganze Zeit.«
Er schlug mir spielerisch auf die Schulter. Ich gehörte zu seinem Team.
»Ich spendiere dir einen Drink, Roddie. Das Personal hat hier irgendwo im Keller eine Bar.«
Immerhin – meistens war es ein großartiges Gefühl. Schließlich war ich Reporter. Mein ganzes Berufsleben hindurch hatte ich unter den Zwängen von Kamera- und Beleuchtungsmannschaften gelitten. Die Gegenwart einer Kamera beeinflußt die Menschen unterschiedlich – einige werden besser, andere schlechter; die besten sind vorsichtig und die schlimmsten wohlberechnet unvorsichtig. Wissenschaftler behaupten, der Akt der Beobachtung verändere subtil das Wesen des beobachteten Objekts. Wenn es sich bei dem Objekt um Menschen handelt und der Beobachter die allesverschlingende Linse einer Kamera ist, kann dieser Vorgang nicht mehr subtil genannt werden. Diesen ganzen Ballast los zu sein, war großartig.
Obendrein genoß ich ein Gefühl der Wichtigkeit. Ich war wichtig geworden. Ich wurde als wichtig genug angesehen, um eine Investition von fünfzehntausend Pfund zu rechtfertigen. Und eine hohe Versicherungspolice. Bei einem Dreijahresvertrag sicherte mir das Wohlhabenheit und Luxus für den Rest meines Lebens. Und eine garantierte Erneuerung des Vertrages, wenn ich das wünschte. Was selbstverständlich der Fall war.
Schließlich war ich Reporter. Wie Reuter damals, mit seinen Brieftauben, besaß ich heute das aufsehenerregendste Werkzeug für die wahrheitsgemäße Reportage, das die Welt je gesehen hatte. Natürlich würde ich meinen Vertrag erneuern. Der Preis war hoch, aber ebenso die Bezahlung. In drei Jahren würde ich noch immer am Anfang stehen. Nicht, was den Ruhm anging; der kam spätestens mit der ersten Presseverlautbarung, aber im Hinblick auf meine Arbeitstechniken. Im Hinblick auf die – wenn ich auch vor dem Wort zurückschreckte – künstlerischen Aspekte meiner Tätigkeit. Der Tod Katherine Mortenhoes, so erregend er sein mochte, war nur ein Anfang.
Andererseits war es auch aufwühlend. Ich war eine chirurgische Monstrosität. Ein Cyborg. Ich war geschändet worden. Ich hatte mich freiwillig einem obszönen Experiment unterworfen. Ich hatte mein Ich aufgegeben, sogar das Recht auf die letzte Mir-gehörigkeit meiner Sinne. Ich war ein Mann der Öffentlichkeit. Was ich sah, konnte jeder voyeuristische Jüngling am Empfangsmonitor verfolgen. Meine Bänder konnten zum billigen Ergötzen der Bürojungen abgespielt werden. Meine schönsten Momente waren allgemeiner Besitz. Und auch die weniger schönen. Wenn ich meinen Pimmel betrachtete, während ich pißte, konnte auch dieses Bild abgenommen und als Beweis gegen mich verwendet werden. ›Der Mann war eindeutig ein Wüstling, Mylord. Er drückte sinnlich seinen Pimmel, während er pißte…‹ Und wenn ich die Augen schloß oder längere Zeit im Dunkeln blieb, wurden die implantierten Netzhaut-Ministromkreise überlastet, und der Schmerz zwang mein Bewußtsein wieder ins Licht.
Das also war der Preis, und das der Lohn. Ich war öffentlicher Besitz und sehr einsam. – Denn wer konnte mir Geheimnisse anvertrauen, des Körpers wie des Geistes? – Und ich hatte in meinem Kopf die Ansätze zur Größe.
Vincent spendierte mir ein Bier und trank selbst einen Tomatensaft. Er zöge jetzt weiter, sagte er. Ich brauchte nicht zu fragen, wohin.
Sie hätte es fast der Frau erzählt, die neben ihr im Etagengleiter stand. ›Ich habe nur noch vier Wochen zu leben‹, hätte sie fast gesagt. Die Frau im Etagengleiter hätte erwidert: ›Also das ist komisch: ich auch.‹ Und mit soviel Gemeinsamkeit hätten sie sich in ein Gespräch gestürzt.
Aber die Frau im Etagengleiter betrachtete die Werbung, und Katherine wagte es nicht, sie dabei zu stören. Also behielt sie das Geheimnis für sich, den ganzen, langen Weg zu Computabuch. Oder Peregrine-Verlag, wie sich die Firma in der Öffentlichkeit nannte. In gebildeten Kreisen war ›Computer‹ ein Schimpfwort.
Peter wartete auf sie. Er hatte mal wieder Zustände.
»Es gibt da ein kleines Problem. Babs hatte plötzlich Kapazitäten frei, meine Liebe, also mußte ich Partner einer Königin starten. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
»Ein Buch mit dem Titel Partner einer Königin kenne ich nicht.«
»Aber ja. Das ist einer von Barbaras Versuchen mit der neuen Wentworth. Sie haben den Titel eingekreist – da wußte ich, daß er nicht zu schlimm sein konnte.«
Sie setzte sich an den Teleprinter. »Mein lieber Junge, ich hatte den Titel als besonders krasses Beispiel für Kombinationen eingekreist, die heutzutage durch die Banalitätssperre rutschen.« Ihre Finger zuckten, bereit, einen Neuanlauf einzugeben. »Wie lange fährt das Buch schon?«
»Ich würde sagen, mindestens eine Stunde.«
Sie vergaß, was sie tun wollte, nahm die Finger fort. »Ist ja wohl egal«, sagte sie.
Peter starrte sie an. Er beendete seine Zustände, zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie.
»Sie sind doch die Beste, meine liebe Katie-Mo.« Er legte ihr tröstend eine Hand auf den Arm. »Ich bin ein egoistisches Scheusal. Ich hätte Sie sofort fragen müssen, was im Krankenhaus passiert ist.«
»Das war kein Krankenhaus.«
»Na, im Medizinalzentrum. Wo Sie gerade gewesen sind.«
Er war nett und gutaussehend und ein bißchen dumm, und auf seine homosexuelle Weise liebte er sie sehr, und es wäre so schön gewesen, ihm die Wahrheit zu sagen, dann noch ein bißchen zu weinen, diesmal in sein Schnupftuch, und schließlich früh Schluß zu machen und zu ihrem lieben Harry nach Hause zu gehen. Nur konnte sie das nicht. Eine Heldin Celia Wentworths sah Dinge, über die nicht richtig gesprochen wurde, nicht als real an.
»Passiert, Peter? Was soll wohl passiert sein? Ich habe geredet, und der Doktor hat ›Hm‹ und ›Aha‹ gesagt, und ich bin wieder gegangen. Er hält mich für eine törichte, alte Frau.«
»Warum sind Sie dann so verstört?«
Sie stritt es nicht ab. »Ich… Ich mag es nicht, wenn man mich für eine törichte, alte Frau hält.«
»Hören Sie, das zieht nicht.«
»Ich mein’s wirklich so.«
»Das hat doch ’n Bart.«
Sie blickte aus nächster Nähe in sein Gesicht. Er machte sich Sorgen, und das fand sie unerträglich. »Ich frage mich, warum sich ausgerechnet Typen wie Sie immer so eingehend mit älteren Frauen beschäftigen müssen«, sagte sie.
Er rührte sich nicht von der Stelle. »Weil wir wohl noch etwas von einem Kind in uns haben.« Er drückte ihr ein letztes Mal den Arm und stand auf. »Außerdem haben Typen wie ich ein bißchen mehr Takt.«
Leise ging er zur Tür.
»Wenn Sie sich jetzt freinehmen wollen, Katie-Mo – ich lasse Babs bestimmt nicht zu viele schlimme Dinge tun, das ist ein Versprechen. Ich bin eigentlich kein so ekelhafter Mensch.«
Solange er dort an der Tür stand, konnte sie nur daran denken, wie wenig ekelhaft er war, und sich die richtigen Worte wünschen, ihm das zu sagen. Aber als er verschwunden war, vergaß sie ihn völlig.
Sie mußte jetzt praktisch denken. Sie hatte nur vier Wochen Zeit. Sie mußte sofort bei Peregrine kündigen. Vier Wochen, in die sie die nächsten fünfzig Jahre ihres Lebens hineinpacken wollte. Sie mußte die Banalitätssperre in Barbaras Titelphase überprüfen. Wahrscheinlich war dabei das Testprogramm für ein ganzes Buch anzusetzen. Fünfzig Jahre der Bedürfnisse und Belohnungen, der Liebe und Verwirklichung, der Macht und des Sex. Fünfzig Jahre der Liebe – so ausgedrückt hörte es sich lächerlich an. Und da war die menschliche Würde. Sie mußte es Harry sagen. Bei nur vier Wochen war Würde vielleicht das einzig Wichtige. Oder vielleicht gerade nicht. Sie mußte es Harry sagen. Dann das Buch. Sie mußte es ihrem Buch anvertrauen, ihrer Unsterblichkeit. Aber zuerst mußte sie bei Peregrine kündigen. Und es Harry sagen. Und wenigstens noch je einen Roman von Pargeter, Paladine und Wentworth anlaufen lassen. Und es Harry sagen. Und es Harry sagen.
Sie setzte sich mit Peter über das Sprechgerät in Verbindung. Er meldete sich sofort.
»Katie-Mo?«
»Titelbild von Partner einer Königin?«
»Barbara hat ein Bild von dem Haus vorgeschlagen, große Totale. Die Szene von Seite siebzig. Krone im Vordergrund, im Gras liegend.«
»Einfache Herstellung?«
»Laut Informationsabteilung alles am Lager und auch nicht kürzlich verwendet. Aber ich habe Farbveränderungen programmiert, um sicherzugehen.«
»Bekomme ich einen Musterabzug?«
»Klar.«
»Gut… Wenn man Sie von Sonnenuntergängen und Ölraffinerien fernhält, sind Sie ein Schatz. Und ganz und gar nicht ekelhaft.«
Sie warf den Schalter herum, ehe er antworten konnte. Ein Schatz? Das Wort hatte sie bisher nur von ihrer ersten Stiefmutter gehört, einer Amerikanerin. Sie war ein lebendes Durcheinander vieler Stilrichtungen, von denen keine ihre eigene war. Die amerikanische Stiefmutter hatte einen guten Eindruck machen wollen. Ihre Nachfolgerin, die eine eigene Familie mitbrachte, vertrat die Überzeugung, Kinder sollten sich ihren Weg selbst suchen. Als ihr Vater weitergezogen war, zu einer neuen Karriere, in ein neues Leben, war Katherine kurz bei dieser Familie geblieben, wie eine Klette. Dann kamen Schulen, Universitäten, Jobs, Chefs… und jetzt war sie vierundvierzig.
Sie mußte es Harry sagen. Sie griff nach dem Telefon, wählte die Nummer der Wohnung und lauschte auf das Klingeln, das keine Antwort finden würde, weil Harry erst um drei Uhr von der Arbeit kam. Die Glocke läutete immer wieder, und Harry würde nicht rangehen, weil er erst um drei Uhr aus dem Büro kam. Sie stellte sich die leere Wohnung vor und das Telefon, das darin läutete. Der Gedanke war tröstend, und sie ließ es klingeln, während sie sich an den Entwurf ihres Kündigungsschreibens machte. Dann zerriß sie den Entwurf und unterbrach das Klingeln und kam zu dem Entschluß, daß sie keineswegs kündigen würde.
Und sie würde es vorläufig niemandem sagen; erst wenn – um mit Dr. Mason zu sprechen – ihre Bewegungskoordination unter die Ebene absank, die für die volle manuelle Geschicklichkeit erforderlich war, ja, dann…
Später rief sie Peter herüber und sagte, sie würde zum Mittagessen gehen.
Als sie ins Büro zurückkehrte, war Peter fort, aber der Titelbildandruck für Partner einer Königin lag auf dem Tisch. Sie sah sofort, daß das Rot nachgedunkelt werden mußte. Ihr Farbensinn – das war etwas, was man nicht lernen konnte; man hatte ihn oder nicht. Peter besaß keinen Farbensinn. Sie sah die Farbenkodes nach, tippte eine kurze Nachricht in den Teleprinter, und irgendwo im Tiefkeller bewegte sich ein Relais. Sie wußte, daß es sich tatsächlich bewegte, denn sie hatte in ihrem ersten Jahr dort unten einen dreiwöchigen Kursus mitgemacht. Sie überprüfte Barbaras Terminbericht: Das Titelbild würde in knapp drei Stunden in die erste Auflage gehen. Dann war sie nicht mehr hier – zur Abwechslung wollte sie einmal pünktlich nach Hause gehen –, aber Barbara brauchte keinen zweiten Anstoß.
Sie wollte zur Abwechslung mal pünktlich nach Hause. Es war eine plötzliche Entscheidung. Und sie hatte gerade noch Zeit, den neuen Paladine in Gang zu bringen. Aimees Ärzte waren mitfühlend. PALADINE, tippte sie. ÄRZTESZENARIO. ZUFALLSAUSWAHL. Der Printout kam schnell, und sie sortierte die Sequenzen. Barbara prüfte auf Vertrautheit und druckte eine Sequenz, die einer früheren in vier Punkten ähnlich war, unter einem zwei Jahre alten Datum. Vier Ähnlichkeitspunkte waren zuviel, auch nach einer Pause von zwei Jahren. Sie überlegte, ob sie austauschen sollte.
Wenn sie nach Hause kam, würde Harry unten im Hobbyraum sein; er rechnete erst gegen sechs Uhr mit ihr. Sie arbeitete niemals nur das vorgeschriebene Minimum – auch wenn der Produktionsplan voll war, gab es immer Arbeiten im Büro, mit denen sie sich die Heimkehr in ihre leere Wohnung oder den Besuch irgendeines Freizeiterfüllungskursus ersparen konnte. Nun konnte sie zur Abwechslung mal rechtzeitig heimgehen und brauchte ihn trotzdem erst um sechs Uhr zu sehen, es ihm dann erst zu sagen.
Es gab natürlich auch die Möglichkeit, gar nicht nach Hause zu gehen.
Sie kramte die Karte mit den Telefondiensten hervor, fand TELEFONSEELSORGE und wählte die Nummer. Es dauerte lange, bis sich jemand meldete.
»Vikar Pemberton.«
Jetzt war es zu spät, sich herauszuwinden. »Ich werde sterben«, sagte sie.
»Sie hätten mich nicht angerufen, wenn Sie das wirklich vorhätten. Was haben Sie genommen?«
»Anstoß.«
»Glauben Sie mir, meine Liebe, das Leid von heute sind die verblassenden Erinnerungen von morgen. Nur der Tod ist dauerhaft. Sagen Sie mir, was Sie eingenommen haben.«
»Ich habe nichts eingenommen.«
»Sie haben angerufen, und das verrät uns beiden, daß Sie nicht wirklich sterben wollen. Wo sind…«
»Ich will nicht sterben.«
»Wir alle sterben, meine Liebe, aber erst, wenn es Gott gefällt, nicht wenn uns daran liegt. Ich halte es für vermessen, die Bestimmung des Zeitpunkts übernehmen zu wollen. Fast als ob… Sagen Sie mir, von wo aus Sie anrufen.«
»Ich will nicht sterben.«
»Ich kann jederzeit auflegen. Ich kann die Vermittlung bitten, dem Anruf nachzugehen. Wir haben Erfahrung mit solchen…«
»Unmöglich«, sagte sie. »Sie können zwar das Gebäude feststellen, nicht aber den Hausapparat.«
»Sie sind also in einem Gebäude. Bürohaus? Wohnblock?«
Sie fragte sich, was das sollte, bei dem armen Mann anzurufen. Vielleicht brauchte er Sorgen, die nicht die seinen waren. Sie konnte ihm da einiges erzählen.
»Wenn Sie nicht antworten, liebe Unbekannte, muß ich auflegen. Ich bitte Sie…«
»Vater, ich habe gesündigt.« Das sagt man doch, nicht?
»Sünde ist ein krasses Wort, meine Liebe. Sie haben versagt, wie wir alle. Der Herr Jesus, vom Weibe geboren, versteht die Pein unseres Versagens.«
Katherine fragte sich, was das um Himmels willen mit dem Teepreis in China zu tun hatte. Und wovon hier überhaupt die Rede war.
»Ist das der Grund«, fragte sie, »warum Sie dort am Ende eines Telefons sitzen und Ihre Kirchen leer sind?«
»Man merkt sofort, daß Sie lange nicht in der Nähe einer Kirche gewesen sind. Unsere Kirchen sind ganz und gar nicht leer.«
»Dann also mit menschlichen Wracks gefüllt. Hilfe für menschliche Wracks.«
»Sie beantworten Ihre Frage selbst.«
Katherine runzelte die Stirn. Wenn er sich rätselhaft geben wollte, verschwendete sie nur ihre Zeit. Und das stimmte ja eigentlich auch. Sie verschwendete ihre Zeit. Und er nannte sie ›Meine Liebe‹.
»Das Christentum ist tot, Vikar. So tot, wie ich in vier Wochen sein werde.«
Und das, stellte sie fest, war überhaupt der Grund ihres Anrufs – das hatte sie ihm sagen wollen. Sie legte auf.
Barbara zeigte ihr noch immer eine Sequenz, die in vier Punkten ähnlich war, über einem zwei Jahre alten Datum. Einige Leser von Aimee Paladine hatten ein verflixt gutes Gedächtnis. Katherine kaute auf ihrem Kugelschreiber herum und versuchte, Ersatzstücke zu finden.
Um zwanzig vor vier war sie zu Hause. Als er erfuhr, daß sie gehen wollte, hatte Peter keine Fragen gestellt und nur eine ganz beiläufige Bemerkung gemacht. Als sie gegangen war, preßte er das Gesicht seitlich gegen das Fenster und versuchte, sie unten auf dem Bürgersteig zu erkennen. Aber die winzigen, dahintrottenden Punkte waren nicht auseinanderzuhalten. Er trat so lange gegen den kalten Heizkörper unter dem Fenster, bis die Röhren widerhallten.
Zum erstenmal seit Jahren im Berufsverkehr eingekeilt, war Katherine entsetzt und kämpfte wild, um nicht in die Unfallstatistik zu geraten. Nachdem man ihr vier Wochen versprochen hatte, war sie entschlossen, die Welt auf dieses Versprechen festzulegen; ihn auf sein Versprechen festzulegen; Ihn auf Sein Versprechen.
Die Wohnung war nicht leer. Als sie die Tür öffnete, erriet sie die Gegenwart eines anderen Menschen, eine undefinierbare Bewegung der Luft. Harry. Sie war noch nicht auf ihn gefaßt, schloß wieder die Tür und kehrte zum Fahrstuhl zurück. Aber wenn nicht in die Wohnung, wohin dann? Und an wen konnte sie sich wenden, wenn nicht an Harry? Als sie die Tür zum zweitenmal öffnete, wartete er schon im Flur auf sie.
»Ich dachte mir schon, ich hätte dich gehört«, sagte er.
»Mir war, als hätte ich etwas im Fahrstuhl vergessen.«
»Ist mir auch schon passiert.«
Er versperrte ihr den Weg. Er lachte, aber irgend etwas war geschehen. Es war fast, als wäre sie eine Fremde.
»Und?« fragte sie.
»Nichts. Hatte mir alles nur eingebildet.«
»Darf ich dann endlich hinein?«
So im Scherz angesprochen, konnte er nicht stehenbleiben. Sie ging an ihm vorbei in die Küche und begann die Lebensmittel zu verstauen, die sie auf dem Heimweg gekauft hatte. Die Küche war kleiner, als sie sie in Erinnerung hatte. Die ganze Wohnung wirkte kleiner. Zusammen verdienten sie siebentausend Pfund im Jahr – da konnten sie sich doch etwas Besseres leisten! Sie knallte die Kühlschranktür zu.
»Ich bin froh, daß du ans Essen gedacht hast«, sagte Harry. »Eigentlich wollte ich einkaufen, hab’s dann aber doch nicht getan.«
Sie stand am Fenster; er trat hinter sie, fummelte an seinen Manschetten herum und umarmte sie plötzlich – so überraschend, daß sie zusammenfuhr.
»Ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll, Kate.« Er drückte ihr beruhigend den Arm. »Ich weiß nämlich Bescheid.«
Es gab Wohnblocks gegenüber und dahinter weitere Häuserzeilen, und überall waren Menschen von der Arbeit nach Hause gekommen. Von ihrem Fenster aus vermochte sie mühelos siebenhundert Wohnungen einzusehen, die siebenhundert Familien Schutz boten. In keiner dieser Wohnungen umarmte der Mann die Frau und sagte so etwas.
»Du kannst gar nicht Bescheid wissen.« Wie in einer Vision sah sie deutlich ihre Wohnung, von gegenüber gesehen: fünf Fenster, ein Balkon. Sie erkannte an den Gardinen, daß es ihre Wohnung war.
Harry sagte: »Ich wollte nicht, daß du hier ankommst und so tust, als sei nichts geschehen.«
»Aber du kannst es nicht wissen.«
»Ich will für dich sorgen, Kate. Ich weiß, daß ich das bisher nicht getan habe, aber das soll jetzt anders werden.«
Sie schmiegte sich beruhigt an ihn. »Woher weißt du es?«
»Ich habe mir gedacht, daß wir vielleicht zusammen verreisen könnten. Er hat gesagt, er hätte nichts dagegen. An einen Ort, wo es für dich einfacher ist. Wo es netter ist. Wir können uns in aller Ruhe etwas aussuchen. Er sagt, das wäre eine gute Idee.«
Er nahm einen Arm fort, fummelte in seiner Tasche herum und zog einen Stapel Reiseprospekte heraus, die er ihr wie ein schlechter Zauberkünstler vors Gesicht hielt. Sie sollte sich einen Prospekt aussuchen.
»Wer ist er?« fragte sie.
»Vincent.«
»Vincent?«
»Er hat darauf bestanden, daß ich ihn so anrede. Er ist Programmkontrolleur bei der NTV.«
Sie lächelte zu den gegenüberliegenden Häusern hinüber. Typisch Harry, die Dinge durcheinanderzubringen. Wenn man ihm Bescheid gesagt hatte, mußte jemand vom Medizinalzentrum hiergewesen sein. Natürlich hätte man sie zuerst fragen oder ihr wenigstens sagen müssen, was man vorhatte. Aber jetzt war ihr die Sache aus der Hand genommen, und sie war erleichtert. Sie war…
»Nein!« Sie schlug auf Harrys Hände, befreite sich aus seinem Griff. Die Reiseprospekte glitten zu Boden.
»Nein, Harry! Nein!« Sie fuhr herum. »Nein!« schrie sie ihn an.
Sie hatte verstanden. NTV war die Station mit der Schicksals-Serie. Und Vincent war Vincent Ferriman. Die NTV lenkte Vincent Ferriman, der die Schicksals-Sendungen leitete. Katherine hatte sich das Programm nie angesehen, aber sie wußte, worum es ging. Peter sprach ständig davon, er verfolgte die Sendungen, er akzeptierte die offenbarten Gründe, die Pflicht an der Gesellschaft, er akzeptierte ja alles, und sie wußte, was in den Sendungen gemacht wurde. Was getan wurde. Was den Menschen angetan wurde.
»Nein, Harry. Das dürfen sie nicht.«
Er trat zurück. »Natürlich nicht.«
»Nicht mit mir.«
»Natürlich nicht mit dir. Nicht, wenn du es nicht willst.«
Sein Tonfall ließ sie aufhorchen; seine sofortige Zustimmung. Und die Art, wie er ihrem Blick mit offensichtlichem Schuldgefühl begegnete. Sie stellte ihn auf die Probe.
»Natürlich zahlen sie gut«, sagte sie.
»Aber was nützt uns das?«
»Und die Programme haben auch ihr Gutes.«
»Unsinn, Dreck. Das Programm appelliert an die niedrigsten Instinkte des Menschen.«
»Und ich bin sicher, daß die Filmerei sehr taktvoll vor sich geht.«
»Ekelhafter Gedanke.«
Ohne ihn zu berühren, ging sie auf Abstand. »Und was hast du ihm gesagt, diesem – Vincent?«
»Ich habe abgelehnt. Ich habe ihm gesagt, er soll sich verziehen. Ich sagte ihm, er bekäme niemals meine Unterschrift auf seinen widerlichen Vertrag, auch wenn du zustimmst. Ich sagte ihm, er soll sich verziehen.«
Sie zitterte am ganzen Körper. Sie ließ sich von ihm zur Küchentür führen, ließ sich von ihm einen Whisky holen, vermochte aber das Glas nicht selbst zu halten. Also führte er es ihr zum Mund und wischte ihr das Kinn ab, als sie sich verschluckte. Sie haßte Whisky; er war nur wegen Harry im Haus. Und die Frühlingssonne schien so grell auf die Tischdecke, daß sie am liebsten geweint hätte. Wenn seine Ablehnung nur nicht so vehement gewesen wäre, dachte sie. So klar, so entschieden, so heftig. Wenn Harry nicht so vehement gewesen wäre, hätte ich ihm vielleicht geglaubt. Dann hätten wir dem verdammten Fernsehen den Rücken kehren können.