Alle beobachteten mich. Und hörten zu. »Jeder geht auf seine Weise unter«, sagte ich. »Aber meine Methode halte ich für besser.«
Es waren die ersten Worte, die ich zu ihr sagte. Zu ihr, nicht zu den anderen. Und wenn sie mich später nach einer Erklärung gefragt hätte, hätte ich die Worte abgestritten. Sie hatte kein Recht auf Erklärungen. Sie war eine Frau im mittleren Alter, verschmutzt, unbeschreiblich gekleidet, von Lähmungen befallen, unehrlich, auf dem geschrubbten Boden eines heruntergekommenen Kirchenschlafraums liegend. Sie lag genau auf dem Grabstein einer gewissen Suzann Pierce, der geliebten Frau von Samuel Pierce, Mutter von Jonathan, Mary, Cathcart, Borden und Sumner, geboren 1793, gestorben 1867. Also bückte ich mich, hob sie hoch, hoffte, sie würde nie die Grabinschrift lesen, und legte sie wieder aufs Bett.
»Habe ich schon mal gehabt«, sagte sie. »Geht vorüber.«
»Hoffentlich.« Ich überlegte, daß sie eigentlich nach dem Zeug riechen müßte, wenn sie sich als Säuferin ausgeben wollte. »Was nehmen Sie?« fragte ich. »Heroin? Oder nur Benzedrin-Pillen?«
Sie starrte mich an. Offenbar war ihr der Gedanke an ein Alibi noch gar nicht gekommen. »So was Ähnliches«, sagte sie schließlich.
Ich setzte mich zu ihr aufs Bett. Es quietschte unangenehm unter unserem Gewicht. Auf der Decke bemerkte ich ihre Handtasche, die kostbare Handtasche. Ohne diese Tasche hätten wir sie nie aufgespürt. Wir hätten eigentlich genügend Informationen über sie haben müssen, aber wir wußten nicht genug. In unserer Diskussion hatten wir sie angesichts der Aussage des Taxifahrers in eine teure Perücke mit Sonnenbrille gekleidet und sie an einem sonnigen Ort vermutet, etwa sechs Flugstunden von Amsterdam entfernt. Schließlich hatte sie das Geld. Der Anruf von Vincents Beschatter bewies uns, wie wenig wir wirklich über sie wußten.
»Kann ich Ihnen nicht die dumme Brille abnehmen?« fragte ich.
»Lassen Sie mich in Ruhe.«
»O nein.« Die Zuschauer mußten sie sich richtig ansehen können, aber das hatte vielleicht noch Zeit. »Woher kommen Sie?«
Sie starrte mich nur an.
»Und wohin geht die Reise?«
Wenn es in unseren Kreisen eine Regel gab, daß man solche Fragen nicht stellte, wußte sie jedenfalls nichts davon. »Aus der Stadt«, sagte sie.
»Ich auch.«
»Aber nicht in meine Richtung.«
»So wie Sie aussehen, könnten Sie Gesellschaft brauchen.«
»Nein.«
Ich wartete, aber als nichts mehr kam, stand ich auf und kehrte zu meinem Bett zurück. Wenn sie noch nicht soweit war, konnte man nichts machen. Ich hatte viel Zeit. Statt dessen versuchte ich zur Vertiefung des Lokalkolorits mit dem Mann im Bett über mir zu reden. »Kein übler Laden hier«, bemerkte ich in seine Richtung.
Nach einer Pause wiederholte ich meine Bemerkung. Immer hübsch eine Idee nach der anderen, um ihn nicht zu überlasten. Er beugte sich über die Kante seiner Matratze.
»Du verstehst ja so verdammt viel davon, du grüner Junge!«
Es war mir also anzumerken. »Nie zu spät zum Lernen«, sagte ich.
»Kann man wohl sagen, Kumpel.«
»Also bring’s mir bei.«
Er zögerte, hielt dann überraschend meine Stiefel hoch.
»Erste Lektion. Deine Stiefel sind deine besten Freunde. Laß nie die Augen davon.«
»Vielen Dank.« Ich griff danach.
»Hoi, hoi… Vielen Dank, sagt er.« Er hielt die Stiefel höher. »Die kosten dich jetzt was.«
»Wieviel?«
»Ein Pfund.«
»Hab’ ich nicht.«
»Hast du nicht?«
»Du hast mich schon verstanden.«
Ich mußte die ganze Nacht hier verbringen. Wenn ich jetzt zugab, das Geld zu haben, war ich verloren. Ich hätte mir die Stiefel schnappen und den alten Kerl zusammenschlagen können. Aber inzwischen hatten wir ein Publikum, das so etwas bestimmt nicht gern gesehen hätte.
»Wäre ich in diesem Loch, wenn ich soviel Geld hätte?«
»Loch, sagt er. Kein übler Laden, sagt er. Sollte sich am besten mal entscheiden, der Herr.«
»Fünf Pence. Und das kostet mich morgen das Essen.«
»Fünf Pence? Mach dich nicht lächerlich!«
Gegen jede Vernunft begann ich die Beherrschung zu verlieren. »Hör mal, du bist ein alter Knacker. Ich…«
»Und du…« – er beugte sich weiter vor und zeigte mir die rostige Klinge eines Chirurgenskalpells –, »du, mein Junge, bist ein verdammter Nichtsnutz.« Es wurde gelacht. Er warf mir die Stiefel in den Schoß. »Hier, da hast du deine blöden Dinger. Waren mir sowieso zu groß. Hättest ja auch von der Wohlfahrt sein können. Die schicken neuerdings alle möglichen Typen.«
Ich zog die Stiefel an. Sie hatten keine Schnürsenkel mehr, doch zu dem Preis kam mich die Lektion billig. Nur der Mann von der Wohlfahrt hätte jetzt noch Einwände erhoben. Ich versetzte der herabhängenden Matratze über mir einen Schlag. Nicht zu fest. Mein Mentor war entzückt.
»Paß nur auf, Kumpel. Zweite Lektion – niemals das untere Bett nehmen. Wo wirst du sein, wenn mir morgen früh die Pisse kommt?«
»Genau da, wo du bist, mein Freund. Bis zum Hals im Dreck.«
Wieder wurde gelacht. Doch die schlagfertige Antwort war nicht von mir gekommen, nein, Katherine Mortenhoe hatte gesprochen. Offenbar ließ ihre Lähmung so schnell nach, wie sie auftrat. Sie lehnte am Bettgestell, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter vom Gesicht meines Obermannes entfernt. Er erwiderte ihren Blick.
»Bums mich«, sagte er, »das ist doch tatsächlich eine Frau!«
»Ich würde dich nicht bumsen, mein Freund, auch wenn die Zukunft der Menschheit davon abhinge.«
Wieder eine neue Facette der kontinuierlichen, einzig wahren Katherine Mortenhoe. Hierin war sie nun die Tochter ihres Vaters. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, warum sie mir zu Hilfe gekommen war… Jedenfalls behielt ich sie im Bild – Vincent konnte ja die Worte, die er nicht mochte, mit einem Summton überlagern. Im nächsten Augenblick erkannte ich, daß sie nichts mehr zu geben hatte. Sie hatte ihre Munition verschossen, und ihr Schutzschild war noch nicht sehr dick.
Ich stand auf und führte sie zu ihrem Bett zurück. Höhnische Bemerkungen wurden uns nachgeschickt. Aber der alte Knabe sollte seinen Sieg ruhig genießen – sie alle konnten ihren Sieg haben. Mein Sieg war der Einstieg zu der einzig wahren Katherine Mortenhoe. Und Katherines Sieg… Nun, ich glaube nicht, daß man es einen Sieg nennen konnte.
Sie hielt ihn für sehr nett und – in dieser Reihenfolge – für sehr vernünftig, sehr intelligent und sehr gutaussehend. Der Bart verbarg nicht seine schöne Knochenstruktur. Er hatte einen komischen Akzent, nicht rein amerikanisch, aber trotzdem angenehm. Und sie hatte ihn fortgeschickt, weil es in ihrem Leben für Menschen keinen Platz mehr gab, nein, für Männer, die freundlich und vernünftig und intelligent und gutaussehend waren. Und jung. Sie war so ehrlich, diesen Irrtum zu berichtigen, während sie dalag und darauf wartete, daß die Lähmung nachließ. Dann brachte sie die Ehrlichkeit auf, sich ein zweites Mal zu berichtigen und ihn zu retten, woraufhin er sie gerettet hatte. Sie war vierundvierzig, wie eine Ausgeflippte gekleidet und lag im Sterben – und deshalb war sie vor ihm sicher. Und ihre neue Freiheit bedeutete, daß sie sich anfreunden konnte, mit wem sie wollte. Daß sie sich überhaupt anfreunden konnte.
Er sagte, er heiße Rod. Sie erwiderte, ihr Name wäre Sarah – so hatte ihre amerikanische Stiefmutter geheißen, Sarah, Saree. In diesen Kreisen wurden offenbar keine Nachnamen erwähnt. Ebensowenig wie die Vergangenheit. Er bewunderte ihre Kleidung, nannte sie fummelig, doch ohne die Verachtung der jungen Frau im Containerdepot. Sie wünschte, sie wüßte mehr über die Sitten und Gebräuche der Leute, zu denen sie hier gekommen war. Seine Kreise waren wirklich nicht ihre Kreise – unter anderen Umständen wäre er mit seinen ganz ansehnlichen Jeans und seinem Pullover ein eingeschworener Feind gewesen. Sie war froh, daß er sie akzeptierte. Er war jung und stark und selbstbewußt – all das, was sie nicht war. Das Morgen ängstigte sie. Er hatte gesagt, er wollte die Stadt verlassen. Wenn er noch immer Interesse hatte, würde sie mitkommen, wenigstens bis sie Vincents wachsame Stadt hinter sich gelassen hatte.
Zur Schlafenszeit blieb eine einsame, gelbe Glühbirne oben am Gewölbe eingeschaltet. Für Späterkommende, sagte der Vikar, und sie war dankbar dafür. Ihr Tag des Handelns und nicht Grübelns war fast vorbei. Sie wußte, daß sie so schnell nicht einschlafen konnte, und fürchtete sich vor der Dunkelheit; in der Schwärze blieb ihr nur noch das Grübeln.
Sie lag da und starrte auf das herabhängende Gewebe der Matratze des Oberbettes. Sie dachte an die Frau, die darauf lag. Würde sie sich morgen früh vollmachen, diese Frau, für die sie eigentlich Mitgefühl aufbringen sollte, die aber für sie nur ein Bündel bindfadengeschnürter Decken war, unvorstellbar alt, mit armen, geschwollenen Händen und einer Art, ihren Tee zu trinken, als bestünde die Welt in diesem Augenblick nur aus Tee – würde sie sich beschmutzen?
Katherine dachte an Vikar Pemberton, der sich in den Mauern ringsum verwirklichte. Sein Heim war ein natürlicher Ausgangspunkt für sie. Er hatte sie sofort hineingelassen, wie er auch den Kummer der anderen Frau am Telefon hingenommen hatte. Vielleicht brauchte er tatsächlich die fremden Sorgen, um zu leben. Obwohl sie das eigentlich nicht mehr annahm, seitdem sie ihn von Angesicht gesehen hatte, ungeschickt, sich antreibend, ohne Distanz durch das Telefon. Er war von größeren Bedürfnissen erfüllt. In seiner Sakristei, über dem Tisch, ein Schild: »Kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seid.«
Der Morgenschüttelfrost gehörte nun schon fast dazu. Sie erwachte, sah die Dunkelheit und ärgerte sich. Nach dem Frühstück hatte sie einen weiten Weg vor sich, und sie brauchte ihren Schlaf. Auch stellte sie fest, daß sie schwitzte. Das war neu. Sie sah sich um und bemerkte zu ihrer Erleichterung, daß Rod auch nicht schlafen konnte und sich an die Mauer hinter seinem Bett gelehnt hatte. Dann schienen ihre Augen auseinanderzugehen, und plötzlich sah sie zwei Rods, die in unkontrollierbarer, gleichmäßiger Bewegung hin und her zuckten. Dr. Masons Worte klangen ihr in den Ohren: Schüttelfrost, Lähmungen, Schweißausbrüche, Verlust der Bewegungskoordination, Doppelsichtigkeit, Nachlassen der Körperfunktionen, Halluzinationen, ein zunehmender Zusammenbruch, der…
Sie schloß die Augen, hoffte, daß sie wenigstens ihre Körperfunktionen im Griff behielt, bis sie das Heim verlassen hatte.
Im nächsten Augenblick saß Rod neben ihr auf dem Bett. Sie fragte sich nach dem Grund. »Habe ich Sie geweckt?« fragte sie.
»Nein. Aber ich schlafe nicht viel. Ich habe gesehen, daß Sie wach sind, und da…«
»Ich nehme kein Rauschgift.« Sie wollte, daß er das wußte. »Ich hab’ nur so eine Sache, eine – Art Malaria.« Malaria war eine Krankheit, wie Aimee Paladine sie verwendete. Eine saubere Sache: Man lag da und zitterte und wurde brav wieder gesund.
»Nicht sprechen«, sagte er. »Sie wecken nur die anderen.«
Sie streckte die Hand unter dem Bettzeug hervor und griff nach ihm. Wenn sie die Augen schloß, fiel ihr diese Geste leichter, war sie weniger ein Eingeständnis. Nach kurzem Zögern überließ er ihr seine Hand. Das Zögern machte ihr nichts – schließlich bot sie ja keinen appetitlichen Anblick –, doch sie war froh, daß er sich überwand.