DIENSTAG
Roddie machte mal wieder eine tolle Sendung. Darin irrte sich Vincent nie. Die Episoden hatten alles: guten Aufbau, eine starke Handlungslinie, Pathos, Leiden, Spannung, Humor, verrückte Typen, sogar einige herrliche, naturverbundene Nacktszenen. Die Anrufe setzten noch während der Sendung ein. Die Zuschauer wurden von der Public-Relations-Abteilung abgewehrt. Ganz natürlich, daß er das Lob seiner Kollegen am höchsten bewertete. Unweigerlich arteten verschiedene beiläufig ausgesprochene Einladungen zu einer Showparty im Empfangssalon aus. Schade, daß Roddie nicht dabeisein konnte. Es herrschte die Meinung vor, daß die Sendung einen Preis bekommen würde. Zum Beweis waren auch mehrere NTV-Direktoren zur Stelle; Champagner wurde genehmigt. Obwohl durch und durch bescheiden, schloß sich Vincent insgeheim dieser Meinung an. Und in solchen Dingen irrte er sich niemals.
Gegen Mitternacht waren die Kritiker hübsch aufgemuntert abgezogen, um ihre Texte zu verfassen, und Vincent begann die anderen zu verabschieden. Es gebe morgen viel Arbeit, sagte er. Er erinnerte sogar daran, daß die ›Schau ja weitergehen‹ müsse. Man klopfte ihm auf die Schulter, gönnte sich noch einen letzten Drink und zog ab. Um ein Uhr ließ er von seinen Sekretärinnen die Aschenbecher saubermachen und die leeren Gläser einsammeln. Um zwei Uhr schloß er persönlich die Tür zum Salon, schenkte sich einen letzten Schlaftrunk ein und fuhr im Lift nach oben. Im Fahrstuhlspiegel prostete er sich zu, feierte seinen Triumph. Dann änderte er seine Absicht, stoppte den Lift in der sechsten Etage und fuhr hinab zum Monitorraum. Er wollte seinen Sieg weitergeben. Wenn die Mortenhoe schlief, wollte er Roddie anrufen. Die Leute mochten es, wenn ihre Mühen anerkannt wurden.
Im Monitorraum schlief Dr. Mason vor einem hellen, leeren Bildschirm. Vincent stellte sein halbgefülltes Glas auf den Monitor und versuchte erfolglos ein Bild hereinzuholen. Auch von Simpson oder Dawlish keine Spur. Sein Schädel begann zu brummen, und er nahm eine Neutralisationspille.
»Wo ist der diensthabende Techniker?« fragte er unnötig laut.
Dr. Mason fuhr auf. »Habe Sie ja gar nicht kommen hören.«
»Sie haben geschlafen. Wo ist der Techniker?«
»Ich habe nicht geschlafen… Ich habe ihn nach Hause geschickt. Wir waren uns einig, daß ich ohnehin hierbleiben mußte. Es war also sinnlos, daß er auch noch…«
»Sie haben dazu nicht das Recht! Jetzt ist der Monitor hin.«
Vincent schaltete den zweiten Bildschirm ein und trommelte mit den Fingern auf der Konsole herum, während er darauf wartete, daß sich das Gerät erwärmte. Bei der vielen Arbeit, die morgen zu tun war, hätte er längst im Bett liegen müssen.
»Oh, ist das Ding kaputt? Ich dachte, das wäre nur das Nachtbild.«
»Ist ja auch hellweiß, die Nacht!«
Dr. Mason murmelte etwas vor sich hin. Er wirkte erschöpft. Das Zweitgerät erwärmte sich und zeigte das gleiche leere, weiße Rechteck. Kein Bild und auch kein Ton.
»Ja«, sagte Dr. Mason. »So wurde es, als er die Taschenlampe weggeworfen hatte.«
»Wer hat wessen Taschenlampe weggeworfen?«
»Ihr Mitarbeiter. Ihr Roddie. Er warf seine Taschenlampe fort. Danach war’s dunkel und plötzlich hell. Ich wartete, daß noch etwas passierte. Und dann… Na ja, dann bin ich wohl eingedöst.«
Vincent setzte sich. Die Pillen wirkten so verdammt langsam. »Wann ist das alles passiert?«
»Ich habe nicht andauernd auf die Uhr geschaut.«
»Es ist wichtig, Doktor. Versuchen Sie sich zu erinnern.«
»Er ist in ein Lokal gegangen und hat sich die Sendung angesehen. So schlimm war die übrigens gar nicht. Kam bei den Leuten an der Bar ganz gut an.«
»Das freut mich zu hören. Was geschah dann?«
Dr. Mason überlegte. »Na ja, dann…«
Die Zeit schien stehenzubleiben. Abrupt stand Vincent auf. Er hatte das Gefühl, das Herz müsse ihm platzen. »Egal. Sie können’s mir unterwegs erzählen.«
»Wohin wollen wir? Ich kann hier nicht weg. Ich muß an meine Patientin denken.«
»Eben. Deswegen kommen Sie mit.«
Er ging zum Telefon, suchte auf der Liste nach der Nummer des Lufttransport-Verantwortlichen. Für einen Anruf um diese Zeit mußte er sich eine gute Erklärung einfallen lassen.
Katherine richtete sich auf. Sie hatte es gehört. Ich hatte darauf gewartet, seit wir in den Wagen gestiegen waren. Ich hatte gehofft, daß sie schlafen würde. Ich hatte irgendwie gehofft, daß sie den Hubschrauber nicht hören würde, wenn sie schlief. Und daß dann, wenn sie nichts hörte, die nächsten Schritte vielleicht ausbleiben würden: unsere Entdeckung, meine Erklärungen, die Vorwürfe der NTV, Vincents juristische Vorhaltungen. Aber sie schlief nicht. Als der Hubschrauber schließlich kam, hörte sie ihn und richtete sich auf.
Natürlich hätte ich einen Plan haben müssen. Von Anfang an hätte ich über den Handel, den ich einging, und den Preis, den ich bezahlen mußte, hinausdenken sollen. Ohne Plan würde auch sie einen – wenn auch anderen – Preis zahlen müssen. Und ich hatte keinen Plan. Ich hatte keinen Plan, weil mir, als ich schließlich daran dachte, aufging, daß so ein Plan einfach unmöglich war.
Zu der Zeit hatte man mich schon vom Pier geholt: Katherine und Tommy und zwei oder drei andere. Sie hielten mich für betrunken, und ich raubte ihnen diese Illusion nicht. Nicht, daß sie leicht von der Wahrheit zu überzeugen gewesen wären – ich meine, wer erblindet schon ohne erkennbaren Grund mitten in der Nacht am Ende eines alten Piers? Also ließ ich mich hinabführen und pries mich glücklich, einer sofortigen Entdeckung entgangen zu sein. Aber ich hatte die Rechnung ohne Mrs. Baker gemacht.
Sie warf uns hinaus.
Genaugenommen, ließ sie uns nicht einmal mehr hinein. Ihr Augenblick des Triumphs war gekommen, das hörte man ihr an. Sie ging uns am Rand der Buhnen entgegen und betete uns ihr ureigenstes Gesetz vor. Sie müsse an andere Gäste denken, sagte sie. Trunkenheit sei nicht gestattet. Die Randler seien doch alle gleich, kaum reiche man ihnen den kleinen Finger, nähmen sie schon die ganze Hand.
Ein verwirrtes Durcheinander prallte gegen meine Brust. Ich ließ das meiste fallen, stellte jedoch fest, daß es sich um unsere Besitztümer handelte. Ich spürte den Reißverschluß an Katherines Schlafsack und öffnete ihn, und gemeinsam stopften wir die meisten Sachen hinein. Ich und meine Freundin, bemerkte Mrs.
Baker hinter uns, könnten unsere Orgie woanders feiern.
Als Katherine davonhumpelte, folgte ich ihr dichtauf. Sie setzte sich bald, und ich hockte mich neben sie. Sie zitterte. Es war ihr privates Zittern, un-aufgezeichnet, ungesendet, unbelacht. Wir waren frei.
»Sie sind zurückgekommen«, sagte sie. »Ich hatte gedacht, daß Sie vielleicht fortbleiben.«
»Natürlich bin ich zurückgekommen.«
»Aber Sie haben sich zuerst betrunken… Ich kenne mich nicht aus mit Männern, die sich betrinken. Haben Sie sich aufgeregt? Sie klangen so.«
Ich legte ihr einen Arm um die Schulter. Von all den Gedanken in meinem Kopf konnte ich ihr keinen einzigen offenbaren. Nicht einmal den, daß ich sie liebte. Wenn das das richtige Wort war. Und es gab kein anderes. »Ich kümmere mich um Sie«, sagte ich und vergaß tatsächlich, daß ich das gar nicht mehr konnte.
Während wir dort saßen, erschien mir die Zukunft völlig überflüssig. Zum Glück gab es jemanden, der weniger romantisch veranlagt war. Schritte näherten sich über die Kiesel. Jemand räusperte sich. »Orgie oder nicht – Sie werden hier bis morgen früh erfrieren.«
Es war Tommy. Ich stand auf und war mir meiner Blindheit plötzlich unangenehm bewußt. Ich hatte keine Ahnung, wo er war, wie weit entfernt und in welcher Richtung. »Ja. Also, Tommy, ich wollte eigentlich zum…«
»Ich will sagen, ich habe da noch meinen alten Laster. Der ist ein bißchen vollgestopft, aber wenigstens geschlossen. Vergesse nie ein Gesicht oder einen Gefallen. Die Polizei vertreibt Leute, die hier zwischen den Buhnen liegen.«
Er hatte recht – sein Wagen war wirklich etwas voll. Das Fahrzeug war groß, doch voller Zauberutensilien und Puppen und Bühnenrequisiten und verschiedener Bündel, die ich nicht zu identifizieren vermochte. Trotzdem brachte er uns irgendwie unter… Und erst in diesem Augenblick, erst als wir hineinstiegen und es uns bequem zu machen versuchten, begann ich zu lauschen. Horchte auf Vincents Hubschrauber und hoffte, Katherine würde schlafen, wenn er eintraf.
»Ist das nicht ein Hubschrauber?« fragte sie jetzt und richtete sich hellwach auf.
»Vielleicht«, sagte ich.
»Ich hätte nicht gedacht, daß die im Dunkeln fliegen.«
»Normalerweise nicht.«
Der Lärm wurde lauter. Plötzlich hielt Katherine den Atem an. Ich tastete nach ihr, fand das Bein einer Puppe, dann den Stoff ihres Schlafsacks. »Was ist?« fragte ich.
»Das Licht sticht mir in die Augen.«
Ich hätte wissen müssen, daß Vincent den Kamerahelikopter mitbringen würde, Halogenflutlichter und Aufnahmestab und so weiter. Ich hatte ihm schon oft gesagt, er beleuchte seine Nachtaufnahmen zu sehr. Jetzt war der Strand bestimmt niedergedrückt von soviel Licht.
Der Augenblick schien mir so günstig wie jeder andere. »Ich sehe kein Licht«, sagte ich.
»Sei kein Dummkopf. Natürlich siehst du Licht.«
Ich ging nicht weiter auf das Thema ein. Es gab bestimmt noch andere Augenblicke, die ebenso geeignet waren, oder noch geeigneter. Der Motorenlärm veränderte sich, ein Sturm umtoste den Wagen, als der Hubschrauber auf der Stelle schwebte und dann landete. Schließlich wurde der Motor abgestellt und wirbelte langsam aus. Stolpernde Schritte eilten über den Strand, näherten sich dem Pier. Irgendwo in der Stadt schlug eine Kirchturmuhr viermal. Vier Uhr früh… Vincent würde sich bei Mrs. Baker nicht gerade beliebt machen.
»Behalte den Kopf unten«, sagte ich zu Katherine. »Sie dürfen dich nicht sehen.«
Wenn Tommy den Mund hielt, fand uns Vincent vielleicht nicht. Und wenn Katherine mich fragte, warum man sie nicht sehen sollte, hatte ich mein Stichwort und ein mehr oder weniger fertiges Drehbuch parat. Aber: »Du hast ihnen doch gesagt, wo sie mich finden können«, und es war, als habe sie mir über die Schulter geschaut und die ersten beiden Seiten durchgestrichen. Ich wünschte, ich könnte ihr Gesicht sehen. Die Fenster des Wagens waren bestimmt beschlagen, Vincents Scheinwerfer schräg nach unten gerichtet. Ich wünschte ihr Gesicht zu sehen und versuchte mich daran zu erinnern – und das Bild entglitt mir. Ich hatte das Gefühl, nie einen Menschen richtig angesehen zu haben, und dafür war es nun zu spät.
»Warum hast du’s ihnen gesagt? Ich muß es wissen.«
Ich wollte zu sprechen beginnen, doch nichts kam über meine Lippen. Sie verlagerte ihr Gewicht und fand mich mit der unversehrten Hand und hielt mich fest. Sie konnte mich natürlich sehen. Ich kam mir unanständig vor – vielleicht war ich ja widerlich, beschmutzt, häßlich, vielleicht stand mein Hosenstall offen, irgend etwas.
»Schon gut, Rod. Ich würde dich nicht fragen, wenn ich’s nicht wüßte.«
Also begann ich.
Sie schwieg, stellte keine Fragen, sagte nichts, bis er fertig war. Unter ihnen am Strand herrschte ein verwirrtes Treiben; Menschen liefen hin und her, stolperten und fluchten. Sie hörte Vincents Stimme und Mama Bakers Stimme und andere Organe, die Katherine nicht erkannte. Sie hörte sie und lauschte und versuchte sogar zu verstehen, was da gesprochen wurde. Rods geflüsterte Worte waren anders, drangen auf einer anderen Ebene zu ihr. Fast ohne hinzuhören, nahm sie jede Nuance auf. Sie war seine Wirklichkeit. Er nannte keine Gründe, bot keine Entschuldigungen. Zwischen ihnen waren Entschuldigungen überflüssig. Sie kannte sie ohnehin alle.
Und sie waren sinnlos. Trotz der Entschuldigungen, wegen der Entschuldigungen widerte er sie an – was er war, was er ihr angetan hatte. Seine Tat war, das wußte sie, obszön. Sogar seine Blindheit war schrecklich, eine Selbstverstümmelung, die ihr nur eine neue Bürde auferlegen würde. Seine Freundlichkeit innerhalb der von ihm akzeptierten Grenzen war ihr unverständlich. Sie hatte sich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, und jetzt verlangte er eine unmögliche Vergebung. Nicht in Worten, nicht einmal mit Demut – doch er verlangte von ihr, daß sie ihm verzieh. Vor allem war es natürlich seine Beschämung, die sie nicht dulden konnte.
Als er schließlich fertig war, wußte sie nichts zu sagen. Ihr Schweigen würde ihm weh tun, und sie blieb reglos und stumm. Er begann sich zu bewegen. »Hilf mir hinaus«, sagte er.
Sie stellte fest, daß sie seinen Arm hielt, und ließ los. Er versuchte sie verantwortlich zu machen, sogar hierfür. Er wollte, daß sie ihn bat, zu bleiben. Oder ihn zwang, zu gehen. Und das würde sie nicht tun.
»Damit du ihnen sagen kannst, wo ich bin?«
»Wenn ich das wollte, könnte ich von hier aus rufen.«
»Warum tust du’s dann nicht?« Er hatte sich auf Hände und Knie erhoben, tastete sich durch den Wagen zur Tür. »Du willst beides. Sei doch ehrlich. Du willst mich verraten, damit dich dein verdammter Vincent weiter liebhat. Und gleichzeitig möchtest du, daß ich dich tätschele und dir versichere, die Sache sei ja gar nicht so schlimm und du hättest nicht anders handeln können.«
Er versuchte sich aufzurichten und stieß dabei den Kopf an einer scharfen Kante. »Hilf mir hinaus, Katherine. Ich suche mir die Promenadenmauer und taste mich daran entlang. Ich werde sagen, ich käme von der Straße. Du wärst mitgenommen worden. Ich hätte gerufen, aber niemand hätte mich gehört.«
»Und was soll ich die ganze Zeit machen?«
»Du bleibst hier. Wenn Tommy den Mund hält, bist du bis morgen früh sicher.«
»Und dann?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Müßtest du aber. Du hast gesagt, du wolltest dich um mich kümmern.«
»Das war gelogen.«
Was für ein überdrehtes, melodramatisches nächtliches Gespräch! »Bitte bleib«, sagte sie. »Bitte bleib hier…«
Schritte näherten sich, verließen den Strand, kamen die Stufen zur Promenade herauf. Vincent Ferrimans Stimme: »Sie schauen bei den Buhnen da drüben nach. Ich versuch’s im alten Tanzpavillon. Die beiden können noch nicht weit sein.«
Jemand strich an der Rückseite des Wagens entlang. Sie hielt den Atem an. Die Schritte entfernten sich. Rod fummelte in der Luft über ihrem Kopf herum. »Katherine…«
»Nicht reden. Bleib nur bei mir. Bitte.«
Sie half ihm beim Hinsetzen. Nach langer Zeit kehrten die Schritte zurück. Zuerst Vincent Ferrimans Schritte, auf und ab gehend und gegen die Reifen eines geparkten Wagens tretend, dann die Schritte des anderen. Ein Streit entbrannte. Diesmal erkannte Katherine Dr. Masons Stimme. Jener Morgen im Medizinalzentrum war so lange her.
Vincent führte das Kommando. Wer sonst? Aber er sollte sie nicht finden. »Also gut, Leute. Bitte etwas Ordnung, ja? Vielen Dank… Wir verschwenden hier offenbar nur unsere Zeit. Die beiden sind wahrscheinlich mitgenommen worden. Wir brauchen also einen Anlaß, die Polizei einzuschalten. Nicht mal die NTV kann eine solche Suche allein durchführen. Doktor, können wir mit einiger Sicherheit behaupten, daß sie sofort ärztlicher Pflege bedarf?«
»Natürlich. Das habe ich Ihnen doch schon ein dutzendmal gesagt. Es sei denn…«
»Gut. Dann gibt’s da also kein Problem. Selbst wenn sie mitgenommen werden, müssen sie ja irgendwo wieder aussteigen. Ich veranlasse Radiodurchsagen. Sobald es Tag wird, schnappen wir sie.«
Aber sie waren unsichtbar. Sie würden niemals geschnappt werden. Vincent führte seine Leute fort, energische Schritte auf der Treppe und am Strand. Der Helikopter wurde angelassen und startete, nahm seine Lichter mit, ließ das Innere des Wagens plötzlich in intensiver Dunkelheit zurück. Allmählich machten sich die schwachen Straßenlampen wieder bemerkbar. Katherine bewegte ihren verkrampften Körper. »Was jetzt?« fragte sie. Aber Rod war eingeschlafen. Sie zupfte ihm die Decke aus seinem Rucksack zurecht, so gut sie das mit ihrem schlimmen Arm vermochte, und richtete sich darauf ein, auf die Morgendämmerung zu warten. Seit sie ihn gebeten hatte zu bleiben, seit er geblieben war, hatten sie kein Wort gesprochen. Doch sie hatten einander verstanden. Sie machte sich keine Sorgen.
Tommys lärmende Ankunft weckte beide. Er hatte die hinteren Türen des Wagens aufgerissen, einen Armvoll Strandsachen hereingeworfen, hastig wieder zugemacht. Gleich darauf war er um den Wagen herumgegangen und hinter das Steuer geglitten. Jetzt ließ er den Motor an und fuhr los. »Sieht nach einem schönen Tag aus«, sagte er. »Und ich würde an Ihrer Stelle bleiben, wo Sie sind. Sinnlos, sich überall zu zeigen.«
Sie wurden im Wagen herumgeworfen. Eine verrückte Sammlung von Schwertern und Schränken mit Geheimabteilen und Goldfischbecken aus Plastik und alten Weidenkörben klapperte und schwankte ringsum. Ein Gespräch war unmöglich. »Ich verstaue alles, wenn wir aus der Stadt sind!« brüllte Tommy. »Man weiß nie, wer einen beobachtet.«
Aus ihrer Lage sah Katherine die oberen Stockwerke von Häusern vorbeihuschen. Rod saß zusammengesunken da, die Arme über dem Kopf verschränkt. Nach einigen Meilen lockerten sich die Häuserzeilen auf und wurden von gebogenen Laternenmasten abgelöst. Der Wagen fuhr langsamer, bog links ab und bremste schließlich unter Bäumen. Tommy stellte den Motor ab und massierte seine Hände. »Wußte ich doch, daß die Kerle von der Polizei waren, obwohl sie’s abgestritten haben. Weiß nicht, was ihr beide angestellt habt, will’s auch nicht wissen. Der alte Tommy vergißt nie ein Gesicht oder einen Gefallen.«
Katherine stieg ins Freie und half Rod heraus. Die Wolken des gestrigen Tages hatten sich fast völlig verzogen, und die Sonne schien, und sie hatte seit fast zwölf Stunden keinen Schüttelfrostanfall mehr gehabt. Tommy beobachtete sie, und obwohl er nichts sagte, glaubte sie eine Erklärung geben zu müssen. »Er hat… Na ja, so einen Augenfehler«, sagte sie.
»Und Sie sind auch nicht mehr ganz frisch, meine Liebe.«
Ja, genaugenommen waren sie ein lächerliches Paar. Sie zuckte die Achseln, und der alte Mann tätschelte ihr den Arm und ging um den Wagen herum und begann seine Besitztümer einzuräumen. Rod stand neben ihm, drehte das Gesicht zum Himmel. »Ein schöner Tag«, sagte er und fügte übergangslos hinzu: »Was für ein Mensch ist Gerald?«
Der Name schockierte sie. »Gerald?«
»Dein erster Mann. Ich kenne ihn nicht. Was für ein Mensch ist er?«
»Es ist lange her. Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung…«
»Würde er dich aufnehmen?«
»Mich aufnehmen?« Noch vor zehn Sekunden hätte sie diesen Gedanken weit von sich gewiesen, doch jetzt wußte sie mit absoluter Gewißheit, daß ihr Gerald im Unterbewußtsein herumgespukt hatte, als sie die Stadt verließ. »Weiß nicht, ob er mich aufnehmen würde. Aber versuchen möchte ich’s.«
»Wenn nicht, bist du am Ende.«
»Uns wird schon etwas einfallen.«
»Außerdem – mit dem Geld, das ich habe, könnten du und der alte Tommy vielleicht…«
»Geralds Schule muß ganz in der Nähe sein. Ich würde ihn gern sprechen.«
»Es sind Osterferien. Vielleicht ist er gar nicht da.«
»Vielleicht aber doch.«
»Wenn die Polizei schlau ist, sucht sie dort zuerst nach dir.«
Er hatte Gerald vorgeschlagen, doch jetzt machte er Einwände. Vielleicht hatte er Angst, daß ihr neuer Schmerz zugefügt wurde. Gerald, das wußte sie, würde ihr niemals weh tun. »Das Risiko gehe ich gern ein. Wenn du einverstanden bist.«
Er wandte sich ab, tastete nach der Flanke des Wagens. »Ich habe alle abgeschüttelt. Sie werden natürlich Geld wollen. Ihr Geld zurück. Ihr Geld…« Er lächelte und schien zu sehen. Seine Augen waren klar und hellbraun und schienen etwas zu sehen. »… Ich habe eine Frau und einen Sohn. Habe ich dir das schon erzählt?«
»Wir haben ja meistens von mir gesprochen.«
»Na ja, das ist auch schon alles… Sie heißt Tracey. Ich lernte sie auf einer Reise nach Boston kennen. Den Jungen rufen wir Roddie zwei. Ich muß irgendwo ein Foto haben.«
Er zerrte eine Brieftasche aus seinen Jeans und hielt sie ihr hin. Sie nahm das Leder, öffnete es aber nicht. Nach kurzem Schweigen sagte sie: »Ein prächtiger kleiner Junge.«
»Er wächst natürlich noch. Das Bild ist zwei – nein, fast drei Jahre alt.«
Sie gab ihm die Brieftasche zurück. Sie wollte es nicht wissen. Sie freute sich, daß er noch ein anderes Leben hatte, daß er jemanden hatte, zu dem er gehen konnte, doch sie wollte nichts davon wissen. »Fragen wir doch Mr. Tucker, ob er so freundlich wäre, uns bis zu Geralds Schule mitzunehmen«, sagte sie.
Sie konnte nicht immer edel sein. Sie konnte sich nicht immer freuen für Menschen, die noch existieren und Liebe finden würden, wenn es sie längst nicht mehr gab.
Das Telefon am Bett klingelte lange, ehe sich jemand rührte. Schließlich streckte die Frau eine breite, mütterliche Hand aus und hob den Hörer ab. Sie lauschte kurz und schüttelte Harry wach. »Für dich, Schatz. Der Fernsehmensch. Am Telefon. Er will mit dir reden.«
Harry erwachte nur langsam, erkannte sie, war erleichtert. »Wie spät ist es?«
»Noch nicht neun. Ziemliche Frechheit.«
Er nahm den Hörer. »Vincent? Es ist ja noch nicht mal neun. Was um alles auf der Welt wollen Sie…?«
Er brach ab. Lauschte. »Also, das ist Ihr Problem… Nein, ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte. Ich habe schon vor Jahren aufgegeben, mir vorzustellen, was sie als nächstes tut.«
Er legte sich auf das Kissen zurück und schloß die Augen. »Gerald? Nach dem, was er ihr angetan hat? Sie machen Witze. Nein, wenn sie nicht völlig durchgedreht ist, wäre das der letzte Ort, wo sie sein würde.« Er öffnete die Augen und machte eine Geste zur Küche, wünschte sich eine Tasse Tee. »Ich hab’s Ihnen doch gesagt, ich habe keine Vermutungen. Sie hatte so einen Tick mit alten Gebäuden – wenn’s in der Nähe eine Ruine gibt, ist sie vielleicht dort. Ihr Paß? Ich habe ihn hier… Natürlich bin ich sicher.«
Er legte den Hörer hin, stemmte sich aus dem Bett und wanderte ins Wohnzimmer. Einen Moment später kehrte er zurück. Aus der Küche tönte das anheimelnde Geräusch eines vollaufenden Teekessels. »Hallo? In der Schublade, wie ich sagte. So, wie sie gestern abend in der Sendung aussah, wird sie kaum auf dem Kontinent herumgeistern.«
Er stieg wieder ins Bett, zog die Decke bis zum Kinn hoch, überlegte es sich dann anders und schob den Stoff bis zur Hüfte hinab, bereit für die Ankunft des Tees. »Nein. Und ihren Vater können Sie auch abhaken. Sie hat ihn gehaßt. Sie hat überhaupt jeden gehaßt. Offenbar auch mich… Nein – eine Ruine ist wirklich die beste Chance. Sie hatte einen Tick, wenn es um alte Bauten ging.«
Er wollte schon auflegen. Dann: »Vincent? Ja, ich überlege… Ja, wenn Sie sie finden, richten Sie ihr doch meine Grüße aus, ja? Sagen Sie ihr, sie fehlt mir. Und geben Sie mir Bescheid, wenn Sie sich entschließen sollten, sie wieder herzubringen. Geben Sie mir Gelegenheit, die Wohnung wieder etwas – herzurichten, ja?«
Der Tee kam. Er lächelte und nickte zu einer Bemerkung Vincents und legte den Hörer schließlich mit Zeigefinger und Daumen auf. So hatte er es einmal in einem Film gesehen.
»Sie haben sie verloren«, sagte er. »Die Kamera ist kaputt oder so. Er dachte, ich wüßte vielleicht, wo sie ist.«
»Eine Frechheit.«
»Ruhig, ruhig. Ich bin ja immer noch ihr Mann. Wer sollte das sonst wissen?«
»Ich meine ja nur die Zeit, mein Schatz. Noch nicht mal neun Uhr.«
»Sie war eine bemerkenswerte Frau, daß du das nicht vergißt.«
»Der Tee ist fertig, mein Schatz. Und du bist ein bemerkenswerter Mann.«
Sie stellte das Tablett mitten auf das Bett, und rings um das Tablett veranstalteten sie kleine Spielchen mit ihren Geschlechtsteilen. Ehe er zu kalt werden konnte, tranken sie schließlich den Tee. Die Zeit verging sehr angenehm.
Peter frühstückte mit seinem Freund, als ihn das Telefon vom Tisch fortrief. Er frühstückte gern warm und nahm deshalb seinen Teller mit in den Flur.
»Wer? Mr. Wer? Ferriman… O ja, der Mann von der NTV.« Er hörte auf zu kauen. »Mein Gott. Eine schlimme Nachricht? Sie wollen mir sagen, daß sie tot ist! Die arme Katie-Mo. Arme, arme Katie-Mo…«
Einige Zeit später kehrte er an den Frühstückstisch zurück. Sein Freund warf einen Blick auf sein Gesicht, führte ihn zu seinem Stuhl und brachte ihm frischen Kaffee von der Wärmeplatte.
»Woher soll ich wissen, wo sie ist? Ich habe ihm gesagt, ich hätte keine Ahnung. Er wußte, daß sie hier war – vielleicht hätte sie mir einen Hinweis gegeben.
Ich versuchte mich zu erinnern… Du hast das meiste ja mitgehört. Über ihr Fortgehen und… Na ja, irgendwie hat sie sich auch verabschiedet. Sonst war da doch nichts, oder?«
Sein Freund versuchte sich darüber klarzuwerden, was Peter meinte. Dann schüttelte er den Kopf. Da war bestimmt nichts gewesen. Nur eine Art Abschied.
Clement Pykes Bootstelefon klingelte vergeblich. Er hatte sich vor etwa zehn Stunden das Leben genommen, nachdem er seine Tochter an einem grauen Strand hatte tanzen sehen. Es gab Dinge, die seit langem über seine Begriffe gingen. Er hinterließ umfangreiche Aufzeichnungen, die die Polizei jedoch zurückhielt, als sie schließlich eintraf.
Vincent ließ das Telefon lange läuten, ehe er aufgab. »Offenbar nicht zu Hause«, sagte er.
Dr. Mason nahm seinen Kugelschreiber aus der Tasche, starrte ihn an und steckte ihn wieder fort. »Die Sache wird nach einem klaren Muster ablaufen«, sagte er. »Sie weiß, daß sie nicht mehr viel Zeit hat. Sie kann es sich nicht mehr leisten, die Dinge einfach geschehen zu lassen.«
»Oder sie kann sich gar nichts anderes mehr leisten.«
»Sie treiben Haarspalterei.«
»Möglich. Aber die beiden können nicht wählerisch sein. Sie müssen in den erstbesten Wagen gestiegen sein, der angehalten hat.«
»Wir müssen sie finden.«
»Das weiß ich. Die Polizei hat Straßensperren errichtet. Außerdem lassen wir nun alle alten Baudenkmäler der Gegend überprüfen. Ich wüßte nicht, was wir sonst noch tun könnten.«
»Rufen Sie die Frau Ihres Reporters an. Vielleicht hat sie eine Idee.«
»Sie benehmen sich wie eine aufgescheuchte Henne.«
»Und Sie wie ein Wirtschaftsmagnat, der sich zum Essen umzieht, während sein Imperium zusammenkracht.«
»Ich rufe Tracey nicht an. Das führt nur dazu, daß sie hier aufkreuzt und uns ihre Emotionen auftischt. Sie hat ihn seit drei Jahren kaum gesehen. Wenn uns überhaupt jemand helfen kann, dann Klausen – aber der redet nur von einem Verstümmelungstrauma und darüber, daß Roddie vernünftiger sei, als alle hier angenommen hätten.«
»Vernünftiger?«
»So hat er sich ausgedrückt.«
»Diesen Doktor Klausen würde ich gern mal kennenlernen.«
»Nein, mein Lieber. Der Kerl beweist nur Humor. Und er hat seine Schuldgefühle gut im Griff.«
Dr. Mason stand auf und trat ans Fenster, drückte die Stirn gegen die Scheibe. Vincent rief den Schneideraum an – wenn nicht bald etwas geschah, mußte er für die Abendsendung Füllmaterial zusammenschneiden.
Über Roddies Benehmen dachte er nicht nach. Gewisse Dinge – etwa das Bürgerrechtskomitee oder das Steuersystem der Nation – förderten nur seine Magenbeschwerden.
Reinster Komik-Thriller: Katherine und ich im versteckten Teil eines Zauberschranks eingeklemmt. Das Möbel war für eine Person gedacht, die außerdem noch ziemlich hager sein mußte. Doch wir lachten nicht; die sexuelle Nähe erregte uns nicht… Der Wagen verlangsamte vor der Straßensperre die Fahrt und hielt. Nach kurzem Gespräch wurden die hinteren Türen geöffnet. Ich spürte, wie Katherine tief einatmete. Wenn sie jetzt einen Schüttelfrostanfall bekam, waren wir geliefert.
Der Wagen ruckte nieder, als eine schwergewichtige Gestalt einstieg. Ächzen ertönte, während jemand die Sachen durchwühlte. »Ganz schön viel Kram, Alter. Wozu dient das alles?«
»Zauberei und Kasperletheater, wenn’s beliebt.«
»Aha. Haben Sie eine Lizenz?«
»Eine Lizenz?« fragte Tommy beunruhigt. Wurden wir erwischt, nur weil er so ein dummes Papier nicht hatte?
»Richtig, Paps. Eine Schaustellerlizenz.«
»Ich baue meine Sachen selber auf, mache nie Ärger. Immer sind’s die Kinder, die…«
»Kinder oder nicht – Sie brauchen eine Lizenz.« Als Tommy nicht antwortete, fluchte der Polizist und stieg wieder aus dem Wagen – er war nur wenige Zentimeter von unserem Schrank entfernt gewesen.
Im Schutz seines Lärms begann Katherine wieder zu atmen und legte mir den Kopf an die Brust. Der Polizist stieg auf die Straße hinaus, offenbar gefolgt von einer kleinen Topf- und Pfannenlawine.
»Sie meinen, ob ich einen Schausteller schein habe? Meinen Sie das? Alle Schausteller haben solche Scheine.«
Die beiden gingen diskutierend um den Wagen herum. Wir atmeten auf. Guter alter Tommy! Für jeden Polizisten war eine Lizenz in der Hand besser als zwei vermißte Personen auf dem Dach… Schließlich klemmte sich Tommy wieder hinter das Lenkrad.
»Vergessen Sie’s nicht«, sagte der Polizist. »Wenn Sie diese beiden Leute sehen, nehmen Sie sie nicht mit. Fahren Sie zur nächsten Telefonzelle, und rufen Sie das Hauptquartier an. Die Nummer steht hier auf dem Zettel.«
»Ich und zwei Verrückte mitnehmen? Sie machen wohl Witze!«
Er fuhr ab. Nach einer Zeit, die uns sehr lang vorkam, stoppte er den Wagen und befreite uns. »Die scheinen ja ziemlich hinter euch her zu sein«, sagte er. »Aber eins kann ich euch sagen: Vernünftigere Verrückte als euch beide habe ich noch nie gesehen.«
Das war ein Urteil, wie ich es brauchte. Ich lächelte ihn an und hoffte, er würde es bemerken. In den letzten Stunden war mir meine Blindheit doch sehr an die Nieren gegangen, so daß ich fast den Kontakt zu mir selbst verloren hatte, fast nicht mehr wußte, wer ich war. Tommy aber wußte es.
Dann riß mich Katherine aus meiner Stimmung, indem sie einen ihrer Anfälle bekam, einen schlimmen. Ich half ihr. Sie brauchte genau das, was ich ihr geben konnte – menschliche Nähe. Der arme Tommy war verlegen und zog sich zurück, ich weiß nicht wohin. Später kehrte er mit einer Flasche Milch zurück, und Katherine trank. Noch etwas später hörte ich, wie er einen Primuskocher in Gang brachte, und machte mich auf weiteres Allerlei gefaßt. Doch ich hatte ihn unterschätzt – er erhitzte Wasser. Die Dame wolle sich vielleicht waschen, sagte er über die Schulter und zog wieder ab.
Das Dumme war: Wenn sich Katherine besser fühlte, dann kam sie gleich unheimlich in Schwung. Sie war fröhlich. Sie strahlte eine gute Laune aus, der ich nicht gerecht werden konnte. Tommy fuhr sehr langsam. Ich saß hinten im Wagen neben ihr und dachte an Tracey. Was würde sie sehen? Mich? Mich, wie ich mich in Erinnerung hatte, oder mich als selbstverstümmelten Wahnsinnigen? Und wie wollte ich erkennen, was sie sah? Wie konnte sie mir mitteilen, was sie wirklich sah? All diese Fragen waren sinnlos. Doch sie gingen mir immer wieder durch den Kopf, so daß ich schließlich fast froh war, als Tommy eine weitere Straßensperre ankündigte und wir uns wieder verstecken mußten. Wenigstens brachte mich die Gefahr auf andere Gedanken.
Gerald Mortenhoes Schule stand auf einem flachen Hügel. Tommy hatte hier schon Vorstellungen gegeben und erinnerte sich an die Umgegend. Katherine bat ihn, etwa eine halbe Meile vor dem Ziel anzuhalten.
»Wählen Sie eine Stelle, wo wir aussteigen können, ohne gesehen zu werden. Wenn die Polizei schon da ist und Sie uns zur Schule fahren, bekommen Sie Ärger.«
»Einen alten Knaben wie mich würde man nur ein bißchen ausschimpfen.«
»Bitte, Tommy. Ich möchte nicht, daß Sie ausgeschimpft werden – nach allem, was Sie für uns getan haben.«
»Sie kennen mich ja. Vergesse nie ein Gesicht oder einen Gefallen… Außerdem sind Sie eine richtig nette Dame.«
Er fuhr ein Stück weiter, bog dann von der Straße ab und ließ seinen Wagen über einen unebenen Weg holpern.
»Nicht mehr weit. Nur über die Felder. Sie können die Schule zwischen den Bäumen schon sehen.«
Er stoppte den Wagen, und wir stiegen aus. »Tommy«, begann ich, »Sie haben uns…«
»Nur über ein paar Felder. Kein Problem.« Er beugte sich zu mir. »Und kümmern Sie sich ein bißchen um sie. Sie ist nicht mehr die frischeste.«
Wenn er keinen Dank hören wollte, war mir das recht. »Ich tue mein Bestes«, sagte ich.
Katherine hatte sich schon ein Stück entfernt und rief: »Sie werden uns fehlen, Tommy.«
»Hmm. Da wären Sie die ersten.« Er malträtierte sein armes Getriebe und schaltete in den Rückwärtsgang. »Paßt auf euch auf.«
»Und Sie auch.«
Er fuhr mit gepeinigt jaulendem Motor davon. In der Ferne veränderte sich der Ton, verstummte kurz, arbeitete sich in den einzelnen Gängen hoch, verebbte schließlich. Andere Wagen kamen in beiden Richtungen vorbei. Vögel zwitscherten. Es roch nach wildem Knoblauch, den die Sonne erwärmt hatte. Hoch über uns zischte das Echo eines Flugzeugs vorbei. Ich war allein mit Katherine Mortenhoe, allein auf einem überwucherten Feldweg, neben zwei formlosen Feldern, unter ungesehenen Bäumen, vor einer unvorstellbaren Schule. Ich hörte, wie sie sich hinter mir bewegte, ein Rascheln von Kleidung, als hätte sie sich gesetzt. Ich ging auf sie zu, tastete den Raum um mich mit den Ohren, mit der Haut ab. Ich lernte. Mein Fuß stieß gegen etwas Weiches. »Das Stehen fällt mir immer schwerer«, sagte sie.
Aber sie kam ganz tüchtig wieder auf die Beine, als ich ihr aufhalf.
Als sie auch das zweite Feld zur Hälfte überwunden hatten, tastete er um sich und blieb stehen.
»Wir sind nicht mehr in der Sonne«, sagte er. »Eine hohe Hecke? Könnte man mich sehen, wenn ich hierbliebe?«
»Ich warte, wenn du müde bist.«
»Das meine ich nicht. Ich kenne deinen ersten Mann nicht. Und er kennt mich nicht. Es wäre bestimmt besser, wenn du allein weitergehst.«
»Ich möchte aber, daß du mitkommst.« Er hatte gesagt, er würde sich um sie kümmern. Er hatte versprochen, sich um sie zu kümmern. »Ich schaffe das nicht allein. Bitte, komm mit.«
Was schaffte sie nicht allein? Einen alten Freund zu besuchen? Von der alten Zeit zu sprechen? Oder endlich jemanden zu finden, dem sie die Schuld zuschieben konnte…? Er begleitete sie weiter am Feldrand entlang und bis zum Tor am Ende. Sie führte seine Hände, und er kletterte mühelos hinüber.
Sie gingen nun zwischen Bäumen hindurch; die weitläufigen Schulgebäude ragten wenige hundert Meter entfernt hinter Sträuchern und einem Kiesweg auf. Nichts rührte sich. Es war Ferienzeit, die Schule leer. Katherine lehnte sich gegen eine schmale Birke und versuchte wieder zu Kräften zu kommen. Dann schritt sie zwischen Grüppchen von Hyazinthen weiter, dichtauf gefolgt von Roddie. Neben der Auffahrt blieb sie stehen. Vor ihr lag ein Gebäude mit verschlossenen Klassenzimmern. Sie wandte sich nach rechts und folgte dem Weg um ein dreigeschossiges Laborhaus. Große Messingwaagen und Glasgebilde standen in den Fenstern. Die Auffahrt erweiterte sich zu einer Wendefläche mit Gras in der Mitte und einer großen, abstrakten Aluminiumskulptur, die von zahlreichen Vögeln bekleckert worden war. Sie überlegte, ob sie Rod alles schildern müsse, was sie sah. Wo sollte sie da anfangen?
»Eine nette Schule«, sagte sie, und die Worte kamen ihr dürftig vor. »Sie… sie hat eine Art herabhängendes Dach über dem Hauptgebäude und links und rechts flache Anbauten. Sie ist hauptsächlich blau. Grünblau. Eigentlich türkis…« Das Beschreiben lag ihr nicht. »Da stehen auch Kiefern, und an den unteren Ästen sind Seile mit Schaukeln…« Sie verstummte.
»Ich rieche die Kiefern.«
Aber sie blickte in die dunklen Schatten unter den Bäumen und senkte die Stimme. »Und Gerald steht neben einem Baum. Er sieht ziemlich unverändert aus. Er glaubt, wir haben ihn nicht gesehen. Er versucht sich darüber klarzuwerden, was er tun soll.«
Sie führte Roddie über den Kies auf den Haupteingang zu. Der Gerald, an den sie sich erinnerte, ging gern mit geordneten Gedanken in ein Gespräch. Gemeinsam erklommen sie die flachen Stufen, die zum Eingang führten. Die Tür war verschlossen. Rod stand ruhig neben ihr; er übte sich in Geduld. Sie starrte durch die Glasfüllung der Tür auf einen polierten Flur und wartete darauf, daß sich Gerald entschied. Schließlich kam die Entscheidung.
»Nicht klingeln.« Seine Schritte knirschten hinter ihnen auf dem Kies. »Der Hausmeister will keine… Es ist niemand da.«
Sie bemerkte sein Stocken. Was wollte der Hausmeister nicht? Sie wandte sich um. »Ich hatte ganz vergessen, wie groß du bist, Gerald.«
»Es ist ja auch lange her.«
Sie nickte. »Sechs Jahre… Was will der Hausmeister nicht, Gerald?«
Er blickte von Roddie zu ihr und zurück und antwortete nicht.
»Gerald, das ist Roddie.«
»Habe ich mir fast gedacht.«
Roddie streckte die Hand aus, doch Gerald blieb unten an der Treppe stehen und starrte zu ihnen herauf. »Sei bitte nicht ungezogen«, sagte Katherine.
Roddie senkte die Hand. »Wenn er die Sendungen gesehen hat und du ihm etwas bedeutest«, sagte er, »kannst du’s ihm kaum verdenken.«
Sie umklammerte seinen Arm. »Bedeute ich dir etwas? Bedeute ich dir etwas, Gerald?«
Plötzlich bewegte sich Gerald und löste das Tableau. Er drehte sich um und entfernte sich mit energischen Schritten. »Mir wäre lieber, wenn du nicht gesehen wirst«, sagte er. »Ich wohne hinten. Beeilt euch bitte. Heute früh war schon die Polizei da. Ich soll mich sofort melden, wenn ihr kommt…«
Er ging schnell, so daß sie ihm nur mit Mühe folgen konnten. Roddie stolperte, wäre fast gestürzt. Vor ihnen verschwand Gerald durch ein Tor in einem hohen Flechtzaun. Als sie den Durchgang erreichte, erblickte sie dahinter einen grünen Garten voller gelber Frühlingsblumen und im Wind dahintreibende Blütenblätter eines Kirschbaums. Sie trat ein, zog Roddie mit sich. Gerald wartete hinter dem Tor und verschloß es. »Du siehst schlecht aus, Kath. Sehr schlecht. Was kann ich dir anbieten?«
Der Mut, der sie vorangetrieben hatte, war plötzlich aufgebraucht. Sie taumelte und sank zu Boden, sank auf die grasumgrenzten Steine des Weges. Roddie stand neben ihr, einen Arm halb erhoben, und hielt sie fest.
Als Tracey ins Büro stürzte, sah sie Vincent ein Sandwich mit Hühnerfleisch und Mayonnaise von einem Teller nehmen. Neben dem Teller standen zwei Pappbecher mit Kaffee. Ein zweiter Mann lehnte am Fenster, die Stirn gegen das Glas gepreßt. Beide wirkten durchaus entspannt, doch waren sie nicht ruhig oder beherrscht.
»Wie ich sehe, gibt’s keine Neuigkeiten«, sagte sie.
Niemand widersprach ihr. Vincent kaute den Bissen zu Ende und schluckte ihn hinunter. »Ich habe Anweisung gegeben, daß man Sie nicht heraufläßt.«
»Das Mädchen am Empfang hat auch einen Mann. Sie empfindet für ihn ähnlich wie ich für Roddie.«
Der Mann am Fenster hatte sich umgedreht. »Wahrscheinlich steht schon alles in den Zeitungen«, sagte er.
»Und die Mittagsnachrichten haben es auch gebracht. Woher hätte ich sonst davon gewußt? Man kann doch kaum erwarten, daß Vincent einem so etwas sagt. Ich bin schließlich nur Roddies Frau!«
Vincent griff nach einem weiteren Sandwich. »Sie sind nicht seine Frau. Vielleicht haben Sie das vergessen.«
»Wie ich Ihnen schon mal gesagt habe – jemand muß die Scherben wieder zusammenkitten.«
Der andere Mann richtete sich auf und kam auf sie zu. »Ich bin Doktor Mason«, sagte er. »Mrs. Mortenhoe war und ist meine Patientin. Sie müssen mir glauben, wir tun alles, was in unserer Macht steht. Ich muß so schnell wie möglich zu ihr, innerhalb der nächsten Stunden. Sonst ist es zu spät, und sie müßte sterben.«
»Wie können Sie sie retten? Ich dachte…«
Vincent hob den Kopf, schaltete sich etwas zu plötzlich ein. »Kein Arzt gibt die Hoffnung auf, Tracey. Natürlich tut Doktor Mason, was er kann. Weshalb wir uns auch größte Mühe geben, sie zu finden. Beide zu finden.«
»Sie meinen, Sie haben für einen Tod bezahlt und machen sich jetzt Sorgen, daß Sie womöglich nicht zur Stelle sind.«
Aber Vincent ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sie werden zugeben müssen, daß wir eine große Summe bezahlt haben, Tracey.« Er stocherte mit dem Fingernagel ein Stück Hühnerfleisch zwischen seinen Zähnen hervor und starrte es an. »Und Sie können es uns kaum übelnehmen, daß wir uns nun Gedanken machen.«
Dr. Mason machte eine heftige Bewegung. »Nein. Nein, ich muß mich von dieser Einstellung distanzieren. Ich kann sie retten. Wenn wir sie rechtzeitig finden, kann ich…«
»Sie machen sich etwas vor, Doktor. Sie ist eine Todespatientin. Ich habe selbst gehört, wie Sie ihr das gesagt haben.«
Tracey musterte die beiden Männer. Hier wurde Macht ausgeübt: Vincents ganze Persönlichkeit wurde in die Waagschale geworfen – und mehr. Sie kannte seine Tricks, seine Rücksichtslosigkeit. Wie der Streitpunkt auch aussehen mochte – der Arzt war kein gleichwertiger Gegner für ihn… Auch Roddie war ihm trotz seines Muts und seiner Phantasie nicht gewachsen. Sie war hier, weil Roddie sie brauchte. Weil alles besser war, als zu Hause vor dem Fernseher zu warten. Weil sie das Gefühl hatte, ihm hier in Vincents Büro näher zu sein als sonstwo. Jetzt erkannte sie, daß es andere Querverbindungen gab, Komplikationen, über die sie lieber nicht nachdachte.
»Was Sie bisher getan haben, um sie zu finden«, sagte sie, »Sie müssen’s noch einmal tun. Wahrscheinlich haben Sie etwas übersehen. Sie müssen noch einmal von vorn anfangen.«
»Wir müssen? Meine liebe Tracey…«
»Sie sind ein harter Bursche, Vincent. Aber ich frage mich, ob Sie wirklich ganz so hart sind, wie Sie tun. Ich frage mich, ob Sie hinterher nicht lieber guten Gewissens behaupten wollen, daß Sie alles menschenmögliche getan haben.«
Er blickte sie von der Seite an. »Wegen unserer Werbekunden?«
»Suchen Sie sich aus, für wen Sie’s tun!«
Er seufzte, wischte seine Fettfinger am Taschentuch ab und griff nach dem Telefon.
Wir saßen auf Korbstühlen und aßen Salat aus hölzernen Schalen. Zumindest ich aß so. Ich wußte Geralds Rücksichtnahme zu schätzen – ich konnte mit den Fingern im Salat herumwühlen, ohne allzuviel zu verschütten. Ich hatte mir nie Gedanken gemacht, wie Blinde eigentlich essen. Eine Holzschale und die Finger schienen mir durchaus die beste Lösung zu sein. Und ein Glas Wein stand auf dem Boden neben mir, Weißwein, wie man mir gesagt hatte. Weiß mußte er wohl schon sein, so gekühlt auf dem Rasen eines Schuldirektors, und dazu Salat. Und die Sonnenstrahlen warm im Gesicht.
Gerald war freundlich: ein großer Mann, der mir imponierend vorkam. Er war von Anfang an nicht völlig gegen mich gewesen, sondern hatte nur auf ein Zeichen von Katherine gewartet.
Aber Katherine war keine große Zeichengeberin. Immerhin starb sie – ja, hier in diesem Garten starb sie, und sie ließ auch davon nichts erkennen. Jedenfalls nicht gegenüber Gerald, der ihr sicher geglaubt hätte. Aber ich wußte es besser. Nach ihrem letzten Anfall beim Wagen war sie – anders. Ihr Atem klang anders. Er hatte keinen Rhythmus mehr, ebensowenig wie ihr Gang, wie ihre Stimme. Keine Kontinuität. Es war, als müsse sie jede notwendige Handlung neu entdecken und immer wieder neu erobern. Und die Mühe, die damit verbunden war, wuchs ständig. Sie war über den Schüttelfrost hinaus. Sie hatte den Schüttelfrost hinter sich – und die Lähmungen und den Verlust der Bewegungskoordination und die Doppelsichtigkeit und… Ich unterdrückte den Gedanken. Sie starb.
Ich wußte, was das bedeutete. Natürlich wußte ich das, jeder denkende Mensch wußte, was das bedeutete. Es bedeutete Asche zu Asche, Erde zu Erde.
Ich hatte keine Ahnung, was es bedeutete.
»…vielleicht wären die Dinge auf eine Weise zu einfach«, sagte sie, »weil wir keine Kinder hatten.«
»Wie hätten wir Kinder haben können? Du schienst jedenfalls keine der Eigenschaften zu haben, die eine Mutter braucht.«
Spielten die beiden da eine Art Wahrheitsspiel – oder waren sie immer so ehrlich miteinander umgesprungen? Ich schob Kartoffelsalat zusammen und trank von meinem Wein.
»Du hast nicht alles über mich gewußt, Gerald. Aber vielleicht hattest du recht, was meine Muttertalente angeht.«
»Jetzt hast du sie, Kath.«
Angesichts der Ehrlichkeit der beiden war das ein echtes Kompliment – trotz ihres Zustands. »Ich hoffe, daß du recht hast, Gerald. Es wäre an der Zeit.«
Die beiden schwiegen eine Weile. Dann: »Weißt du, ich bin froh, daß du nicht wieder geheiratet hast, Gerald.«
»Was für einen Unterschied hätte das gemacht?«
»Ich habe an meinen Vater gedacht. Der ist andauernd neue Ehen eingegangen.«
»Wie freudianisch von dir… Hast du mich deshalb verlassen? Weil du der Meinung warst, deinen Vater geheiratet zu haben, und dann feststellen mußtest, daß das nicht so war?«
Das war sogar für sie zuviel. »Du hast mich verlassen«, sagte Katherine.
»Nach dem Buchstaben des Gesetzes vielleicht. Aber du hattest mich schon lange vorher verlassen.«
Er sprach wie ein netter Mann, der gemütlich zurückgelehnt in der Sonne saß. Und Tommy Tucker hatte gesagt, daß auch sie eine richtig nette Dame sei. Ich begriff nicht, was die beiden miteinander redeten. Dabei war ich so vermessen, ihnen helfen zu wollen.
Ich schaltete mich zu laut ein, wählte die falsche Stimmhöhe. »Fragen Sie sie, was ihr der Arzt gesagt hat. Fragen Sie sie nach der Aufwühlung.«
»Roddie?« Sie schien überrascht, daß ich noch da war. »Aufwühlung, Roddie? Was für ein unsinniges Wort ist denn das?«
Ich merkte, daß sie vor Gerald eine Rolle spielte. »Die Aufwühlung, die zu deiner Krankheit gehört«, sagte ich. »Doktor Mason hat das sehr gut beschrieben. Du darfst nicht vergessen, daß ich dabei war.«
»Du irrst dich, Roddie. Nervliche Überbelastung… Ausgebrannte Stromkreise… Das ist meine Krankheit.«
Gerald erkannte sofort das Problem zwischen uns. »Der Dichter Dylan Thomas«, murmelte er, »ist angeblich an einer ›Beleidigung des Gehirns‹ gestorben. Wenigstens soll das auf seinem Totenschein stehen. Beleidigung oder Aufwühlung… es ist nur ein kleiner Schritt.«
»Mystischer Unsinn, Gerald. Wir wissen beide, daß Thomas am Alkohol gestorben ist.«
Ich hätte merken müssen, daß sie zuviel protestierte. Aber es fiel mir nicht auf. »Und dann dein Buch«, beharrte ich. »Nach Peters Beschreibung war da ein Gefühl der Aufwühlung auf jeder Seite…«
»Buch? Es gibt kein Buch… Außerdem habe ich alle Notizen in dem Hotel vernichtet, alle wichtigen Notizen. Ein dummes Projekt, Gerald. Zornig, kindisch. Ein dummes Projekt…«
»Aber es paßte zu dem, was dir der Arzt gesagt hat. Du erinnerst dich doch?«
Irgend etwas mußte mich unempfindlich gemacht haben gegenüber ihrer Verzweiflung. Vielleicht der Wein. Ich hörte, wie sie sich bewegte, spürte, wie mich das Gewicht ihrer vollen Konzentration in meinem Stuhl festnagelte.
»Ich erinnere mich… Ich erinnere mich an alle möglichen Dinge.« Trotz der Festigkeit ihrer Stimme ermüdete sie schnell. »Ich erinnere mich zum Beispiel, daß du unter Ferriman gearbeitet hast. Mr. Ferriman ist der verderbteste, widerlichste Mensch, der mir je über den Weg gelaufen ist. Du hast für ihn gearbeitet. Freiwillig.«
Ihre Worte kränkten mich nicht so sehr wie noch vor einigen Stunden. Trost, der einmal gespendet worden war, konnte nicht zurückgenommen werden. Dazu hatte sie nicht das Recht.
Ich schwieg, und schließlich wandte sie sich wieder an Gerald. »Ich hätte eher angenommen, daß du derjenige bist, der wieder heiratet«, sagte sie. »Und nicht ich.«
»Ich glaube nicht, daß du wieder geheiratet hast. Ebensowenig wie du gewagt hast, mehr als Computerbücher zu produzieren.«
Ein langes Schweigen trat ein. Als sie wieder das Wort ergriff, setzte sie eine private Gedankenkette fort, die ich nicht sofort begriff. »Wie ich gehört habe, hat es – Sendungen gegeben. Du hast sie gesehen…« Die Worte kamen ihr sehr langsam über die Lippen, fanden nur mühsam zusammen. »Sind wir – deshalb hier und reden? Bist du deshalb nicht zur Polizei gegangen?«
»Die Sendungen haben mich sehr zornig gemacht. Natürlich haben sie mich zornig gemacht. Doch der Grund, dich jetzt den Behörden zu übergeben, wäre, daß du dringend ärztliche Pflege brauchst. Da müßte schon mehr als meine Wut auf eine miese Fernsehgesellschaft kommen, damit ich dir das vorenthalte.«
»Dann also Mitleid?«
»Ich kann nicht behaupten, daß ich dich als jemanden gesehen habe, der Mitleid braucht.«
»Warum dann?«
Untypischerweise zögerte er. Plötzlich erkannte ich, daß sie um etwas anderes bat. Sie bat ihn, Liebe einzugestehen. Die Liebe eines Ehemannes, eines Mannes, einfach die Liebe eines Menschen. Sie wußte, daß sie meine Liebe besaß, doch das war einfacher, eine Liebe aus gegenseitigem Schmerz. Sie brauchte Geralds Empfinden, aus dem geboren, was sie einmal gewesen war, unliebenswürdig, verschlossen. Ich hielt den Atem an, wünschte mir, daß er es spürte. Im Vorbeifliegen schrie laut ein Kuckuck.
Endlich antwortete er: »Die Entscheidung lag gar nicht bei mir, Kath. Du hast sie vor Tagen allein getroffen. Ich konnte sie nur respektieren. Und durfte dich achten, daß du sie gefällt hast.«
Und noch immer wartete sie. Wie hübsch wir unsere Worte wählen: Liebe, Bewunderung, Achtung… Nach meinen Begriffen liebte er sie. Doch meine Begriffe zogen nicht die behutsame, schützende Intelligenz dieser beiden seltsamen Menschen in Betracht. Ihre Umständlichkeit war nicht kalt. Ihre Beziehung war vierzehn Jahre tief, unterbrochen, doch noch nicht beendet. Sie mußte ihn überzeugen.
Vincents Büro war gedrängt voll. Tracey sah sich die kümmerlich kleine Gruppe an, die vielleicht helfen konnte und die auf ihr Betreiben hin zusammengerufen worden war. Harry, Mrs. Mortenhoes Mann; ihr Kollege von Computabuch, Peter; ihr Arzt, Dr. Mason – und schließlich, auf eine Ahnung hin, Roddies Psychiater, Dr. Klausen. Dr. Mason hielt gerade einen Vortrag, seine Besorgnis schmerzhaft zur Schau stellend, während Vincent an seinem Tisch einen Stapel Zeitungsausschnitte mit Kritiken studierte und seine Nicht-Sorge gleichermaßen unangenehm offenbarte.
»Wenn wir sie finden, kann ich sie retten. Möglicherweise durch Tiefnarkose. Eine Umkehrung des Vorgangs. Es ist möglich. Doktor Klausen wird mir sicher zustimmen, daß wir es versuchen müssen. Aber wir haben nicht viel Zeit. Wir…«
»Was ich nicht verstehe«, sagte Dr. Klausen leise, »ist, wie es überhaupt zu dieser Situation hat kommen können.«
Vincent hob den Blick von seinen Zeitungsausschnitten. »Eine medizinische Frage«, sagte er, »kaum geeignet für eine Diskussion. Natürlich übernimmt Doktor Mason die volle Verantwortung. Wollen wir sagen – ein Irrtum? So etwas gibt’s, sogar im Arztberuf.«
Tracey wollte helfen – nicht Vincent, nein, nicht ihm, der ohnehin nie Hilfe brauchte. »Wir sind nicht hier, um Schuldige zu finden«, sagte sie. »Wir wollen überlegen, wie wir Mrs. Mortenhoe aufspüren können. Und meinen Mann.«
»Und um das zu erreichen«, wiederholte Dr. Mason, »müssen wir alle in unserer Erinnerung nach Bemerkungen Katherines forschen, nach scheinbar nebensächlichen Hinweisen, die sie vielleicht gegeben hat, irgend etwas, das sich von ihrer Person ableiten läßt.«
Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Harry bewegte sich mürrisch. »Verrückt«, sagte er, »das ist die einzige Ableitung, die ich mir denken kann. Eben noch sind wir drauf und dran, nach Tasmanien zu fliegen, im nächsten Moment ist sie ausgebüchst, hat sich aufgedonnert wie eine Megäre, denkt überhaupt nicht an mich, verschwendet keinen Gedanken daran, wie ich in dem Laden dastehe…«
»Darf ich daraus schließen, daß sie sonst auf Ihre Gefühle Rücksicht genommen hat?« Dr. Klausen hatte Harry bereits richtig eingeschätzt.
»Natürlich. Wir waren verheiratet. Glücklich verheiratet. Wie hätte…?«
»Dann haben wir es hier also mit einem atypischen Verhalten zu tun, das sicher auf ihrer atypischen Situation basiert. Auch hierbei sollten wir aber eine gewisse Logik feststellen können. Sie scheint eine ausgesprochen logische Person gewesen zu sein. Ich frage mich, lief sie vor etwas davon oder zu etwas hin? Hatte sie tief im Innern Angst, oder freute sie sich auf etwas?«
Harry lachte tatsächlich. »Sich freuen – worauf? Auf die Gosse? Ich sag’s Ihnen, sie war verrückt. Bestimmt. Sie konnte der Wahrheit nicht ins Auge sehen, da ist sie abgeflaut.«
Bis zu diesem Augenblick hatte Peter geschwiegen. Doch jetzt sprang er auf. »Nein. So etwas sieht Ihnen ähnlich. Sie denken ja nur daran, was für einen Narren Katherine aus Ihnen gemacht hat! Was sie angeht, haben Sie nichts begriffen, nicht ein bißchen!«
»Aber Sie?«
»Ja. Ja, ich habe sie verstanden.«
Die beiden Männer starrten einander an. Dann wandte sich Harry an Vincent. »Ich wollte erst gar nicht kommen. Muß ich mich jetzt mit solchen…?«
»Mein lieber Harry. Bitte… Wir dürfen nicht vergessen, daß Peter der letzte war, der Ihre Frau gesehen hat. Durchaus möglich, daß er etwas weiß, was den übrigen nicht bekannt ist.«
Peter setzte sich wieder. »Ich weiß nur… Ich weiß, daß sie absolut nicht verrückt war. Und auch keine Angst hatte. Ja, sie freute sich auf etwas… Auf das, was aus ihr werden würde.«
Harry schnaubte verächtlich durch die Nase. Klausen hatte die Aufzeichnungen durchgelesen, die Vincent ihm gegeben hatte. »Peter – Sie haben sich vier oder fünf Minuten lang mit ihr unterhalten. Hat sie Ihnen dabei nichts gesagt, was Ihnen irgendwie seltsam vorkam? Inkonsequent? Unerwartet?«
Peter rang mit seinen Erinnerungen. »Na ja, was sie sagte, war alles ein bißchen – durcheinander.« Wieder schnaubte Harry durch die Nase, doch Peter sprach weiter. »Aber ich verstand sie sehr gut – sie deutete mir an, daß sie nicht floh, sondern eine Art Ziel hatte… Ich erwiderte, ich würde ihr helfen. Ja, und dann sagte sie etwas Komisches. Sie sagte: ›Ich bin kein Zerstörer.‹ Oder etwas Ähnliches. ›Ich bin kein Zerstörer.‹«
Harry seufzte. »Panzerkreuzer«, sagte er. »Wenn Sie hier schon reden, sollten Sie sie richtig zitieren. Der Gedanke ging ihr immer im Kopf herum. So hatte ihr erster Mann sie genannt. Sie können leicht behaupten, ich hätte nichts über sie gewußt, aber…«
Er verstummte, als er die veränderte Atmosphäre im Zimmer bemerkte. Dr. Klausen lehnte sich zurück und nahm seine Brille ab. »Ganz einfach«, sagte er. »Eine empfindsame Frau, die nicht als Panzerkreuzer gelten wollte.«
»Mein lieber Klausen…« Vincent bewegte einige Papiere auf seinem Tisch. »Mein lieber Klausen, wenn Sie sich Ihre Unterlagen ansehen, werden Sie sehen, daß wir diese Möglichkeit gleich am Anfang berücksichtigt haben. Wir sind ja keine absoluten Dummköpfe. Die Polizei war bei Gerald Mortenhoe und hat ihn angewiesen, sich sofort zu melden, wenn seine ehemalige Frau auftaucht.«
»Hätte er diese Anweisung befolgt? Würde das ein Mann in seiner Position tun?«
»Er ist ein pflichtbewußter Bürger. Ich bin sicher, daß ihm die Polizei die Lage erläutert hat.«
»Aber Sie müssen doch zugeben, daß seine Gefühle in dieser Angelegenheit zumindest geteilt sein können?«
Langsam legte Vincent seine Zeitungsausschnitte fort und setzte sich wieder mit dem Lufttransport-Veranwortlichen in Verbindung – in der Art eines Mannes, der es einem besonders lästigen Kind recht machen will.
Das Mittagessen war längst vorbei. Sie fragte sich, ob Gerald bemerkt hatte, daß sie gar nichts gegessen hatte. Sie hatte das Gefühl gehabt, es wäre – unpassend gewesen, jetzt zu essen. Seither hatten sie weiter zusammengesessen, zu dritt in der Sonne, und hatten immer weniger gesprochen. Die beiden Männer gaben ihr ein Gefühl der Sicherheit. Sie erinnerte sich an Geralds Kraft, eine Kraft, die sie früher abgelehnt hatte. Diese Kraft war aus einem Guß. Aber sie, unfertig, hatte sich ihm widersetzt, hatte ihm auf der Seele gelegen, ihn vertrieben.
Roddies Kraft war etwas anderes. Sie war ohne Vernunft, hartnäckig angesichts der Ernüchterung über die eigene Person. Diese Kraft hatte versagt, hatte falsche Wege genommen, doch er hatte nie den Glauben an diese Möglichkeit verloren.
So saßen die drei in dem hellen, grünen Garten, und Katherines Gedanken, die sich seit langem immer mehr überschlagen hatten, die immer schneller durcheinandergewirbelt waren, beruhigten sich und untersuchten jede einzelne Notwendigkeit. Sie erlebte sich selbst. Sie war eins. Sie war so alt wie der Boden unter dem Gras unter ihren Füßen. Sie war zu Hause. Sie hätte auf ewig leben können – ein Atemzug nach dem anderen war alles, was sie brauchte –, doch es schien ihr viel vernünftiger und vornehmer und klüger zu sein, zu sterben.
Wahrscheinlich hatte ich angenommen, daß sich mein Gehör um hundert Prozent verbessern würde, nur weil ich nun blind war. Natürlich war das nicht so. Ich hatte mir gerade überlegt, daß ich das erste, leise Rattern des herannahenden Hubschraubers taktvoll überhören wollte, als Gerald schon darauf hinwies.
»Ist nicht mehr wichtig«, sagte er. »Sie kommen – aber sie kommen zu spät, Gott sei Dank.«