Halb losgelöst

Marshalls Tagebücher aus seiner Studentenzeit offenbaren, wie unsicher er anderen gegenüber war, ungeachtet seines coolen Auftretens, und wie puritanisch – oder vielleicht auch ritterlich – gegenüber Frauen, zumal er von Sexualität offenbar so gut wie keine Ahnung hatte. Sie lebten in der Prärie und es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Da redete man nicht über diese Dinge. Seine Mutter war das einzige weibliche Rollenvorbild, und die war ein wandelndes Feuerwerk. Elsie brachte Marshall ein Mädchen nach dem anderen mit nach Hause, aber was konnte schlimmer sein als ein Mädchen, das Elsie ausgesucht hatte?

Angewidert von der eigenen Lust und den obszönen Sprüchen seiner Geschlechtsgenossen, beschloss er, mit dreißig jungfräulich zu heiraten. Er schwärmte für die junge amerikanische Fliegerin Elinor Smith und schrieb, inspiriert von ihrem Foto, Gedichte an sie. Er hatte keine Ahnung, wie Frauen tickten. Und er steckte in einer Zwickmühle: Eine Frau, die seiner Begierde nachgab, durfte er auf keinen Fall begehren. Er hatte keine Angst davor, sich zu verlieben, sondern nur, sich in die Falsche zu verlieben – eine, die oberflächlich und geistlos war. Frauen standen in seinen Augen intellektuell nicht auf einer Stufe mit Männern.

Er spielte Rugby und Hockey und beteiligte sich (natürlich) gern an Diskussionen. Er hatte einen guten Freund, Tom Easterbrook, und ihre Lieblingsbeschäftigung war es zu debattieren.

Schnappschüsse aus jener Zeit tauchen vor dem inneren Auge auf: Marshall, wie er als Ferienjob schmierige Pestizide über Moskito-Brutstätten versprüht … wie er bei einer Studentenfeier jemanden zum Tanzen auffordern soll … wie er sein selbstgebautes Modellsegelboot auf dem Red River fahren lässt … wie er an einem verschneiten Tag mit dem Bus durch die Stadt fährt und die Neonreklame in den beschlagenen Schaufenstern blinkt … wie er allein in seinem Zimmer sitzt, mit einem übertrieben hohen Stapel Bücher, deren Inhalt er wie eine Droge systematisch in sich aufsaugt … wie er mit Maurice über Gott diskutiert … wie er mit Elsie über seine innere Einstellung diskutiert … wie er in seinen Tagebüchern über seine Mutter herzieht und flucht … wie er über sich selbst herzieht und flucht, weil er solche Gedanken hat … wie er am 10. März 1930 in sein Tagebuch schreibt: »Ich muss, muss, muss berühmt werden« … wie Elsie aus dem Haus stürmt und erst Wochen später oder vielleicht sogar nie wiederkommt.

Arrrrr!

Im Sommer 1932 stürzten Marshall und sein Freund Tom sich in ein Abenteuer. Sie fuhren mit einem Viehtransporter nach England. Nachts hüteten sie das Vieh, und Marshall war die meiste Zeit seekrank.

Die beiden hatten jeder hundert Dollar, mit denen sie drei Monate auskommen mussten, aber das war ihnen egal. Marshall, der mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit noch nie etwas gesehen hatte, das vor 1900 gebaut wurde, war hin und weg: Überall standen alte Gebäude, und mit etwas Glück konnte er passend dazu ein Sonett oder eine Ode aus dem 19. Jahrhundert rezitieren. Es war weniger ein Urlaub als eine Zeitreise, und es besiegelte Marshalls Wunsch, nach seinem Studium dorthin zurückzugehen und in dem Land weiterzustudieren, das er jetzt als seine geistige Heimat ansah.

Eine Entdeckung, die er dort machte, waren die Schriften G. K. Chestertons, eines englischen Autors aus dem frühen 20. Jahrhundert, zu dem sich Marshall hingezogen fühlte und der ihn gleichzeitig ärgerte. Beide sehnten sie sich nach einer Struktur, einem Gerüst, das der modernen Welt einen Sinn gab. Ein berühmter »Chestertonismus« (Chesterton liebte Aphorismen und verschrobene Wortspiele) lautet: »Die gesamte moderne Welt hat sich in Progressive und Konservative aufgeteilt. Die Aufgabe der Progressiven ist es, Fehler zu machen. Die Aufgabe der Konservativen ist es, dafür zu sorgen, dass die Fehler nicht berichtigt werden.«

Nichts beschreibt besser Marshalls skeptische und eher verkrustet-konservative Haltung gegenüber der Politik, eine Haltung, die er sein ganzes Leben lang beibehielt, und ein Thema, über das er sowohl in der Öffentlichkeit als auch privat so gut wie nie sprach. In einer Gesellschaft, die sich in progressiv und konservativ aufspaltet, ist kein Platz für das Ewig-Gültige.

In Marshalls und Chestertons Leben gibt es viele Gemeinsamkeiten. Beide konvertierten in ihren Dreißigern zum Katholizismus, und beide hatten etwas opahaftes, lange bevor sie alt waren.

Am Ende war Marshalls Interesse an Chesterton eher unbeständig, so wie bei anderen älteren Persönlichkeiten in seinem Leben, die ihn beeinflussten, zum Beispiel Wyndham Lewis. Das waren Beziehungen wie die zu Elsie, ein Verhältnis zwischen Leser und Autor, Junior und Senior, Liebe und Hass, wie man es zu einer Autoritätsperson hat, die einen stark an einen selbst erinnert. In gewisser Hinsicht beschreibt diese Dynamik Marshalls Verhältnis zur Literatur und zu den Medien – voller Zuneigung, und doch auch gegen sie aufbegehrend.

Zurück in Winnipeg setzte Marshall sein Studium an der University of Manitoba fort. Außerdem verwandelte er die aufkeimende Beziehung zu einem Mädchen in eine lodernde erste Liebe. Die Flamme hieß Marjorie, studierte Medizin und war zwei Jahre älter als er. Dass er sich in eine starke Frau vergucken würde, die versuchte, sich in einer Männerwelt zu behaupten, ist wenig überraschend. Marshall schrieb Liebesgedichte an Marjorie, und die körperliche Anziehung, die er für sie empfand, beruhte auf Gegenseitigkeit. Das war mit Sicherheit die Phase in seinem Leben, in der er vom asexuellen Nerd zu einem Mann mit … Bedürfnissen wurde. Aber wenn man es letzten Endes genau und von beiden Seiten betrachtete (was erst viele Jahre später geschah), war Marjorie einfach zu alt und Marshall zu jung. Wenn man die von ihr angestrebte Karrierekurve gegen Marshalls hält, schien ihr Zusammenleben zum Scheitern verurteilt, was beiden wahrscheinlich ganz gut in den Kram passte: Einerseits machte es sie emotional unabhängig, während jeder von beiden weiter die Stufen zum Erfolg hinaufschritt, andererseits hielt es ihnen die Familie vom Leib, in einer Zeit, in der eine unverheiratete Frau mit Ende zwanzig als alte Jungfer galt und ein unverheirateter Mann mit fünfundzwanzig als etwas, über das man besser gar nicht sprach.

Währenddessen verließ Elsie Herbert endgültig und zog 1933 nach Toronto – keine Scheidung, einfach nur Trennung. Maurice nahm sie mit sich und hinterließ damit einen deutlich stilleren Haushalt in der Gertrude Street, gleichzeitig aber auch eine Wolke weiblicher Wut, weiblicher Verachtung für Männer und eine Reihe nutzloser, veralteter Ideologien und Glaubensüberzeugungen, die nie jemanden weitergebracht oder gerettet hatten.

Marshall war sich inzwischen darüber klar geworden, dass seine Karriere sich in eine akademische Richtung bewegte, und dafür war ein Literaturstudium in Cambridge der ideale erste Schritt. Er bewarb sich für ein Stipendium der Daughters of the Empire, die hoffnungsvollen Koloniebewohnern die Möglichkeit geben wollten, ihren Intellekt an einer britischen Universität zu schärfen.6 Aber einer der Juroren war ein ehemaliger Lehrer Marshalls, dessen Nerven er während seiner Zeit als Klassenschreck mit seinen unaufhörlichen Einwürfen und Verbesserungen immer wieder strapaziert hatte. Marshall musste erkennen, dass sein impulsives Verhalten sich jetzt rächte, aber diesmal kam ihm Herbert, nicht Elsie, zu Hilfe, besuchte den Herrn und brachte seinen ganzen Charme auf, um Marshall durchs Ziel zu bringen.

Die Arbeit, die Marshall das Stipendium verschaffte, beschäftigte sich mit dem Werk von George Meredith, einem Autor aus dem 19. Jahrhundert, der sich mit dem Verstand befasste und damit, wie er lernt. Marshall mochte Meredith, weil man »ihn nicht einordnen konnte«, und an anderer Stelle schrieb er, Meredith kenne »weder Ausgangspunkt noch Richtung, und dennoch schlägt er die Brücke zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert, als hätte es das viktorianische Zeitalter nie gegeben.«

Dasselbe ließe sich über Marshall sagen. Die Welt, die er beschrieb, trat erst Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Internets wirklich zutage. Das 20. Jahrhundert war ein zunehmend böser Traum, den er ausblendete, um die Brücke zwischen der Herrschaft Königin Viktorias und der Herrschaft Googles zu schlagen.

Das Leben ahmt die Kunst nach. Aber im weitesten Sinne lässt sich durchaus behaupten, dass Marshalls Ideen intellektuell die Renaissance mit dem 21. Jahrhundert verbanden – von der Gutenbergschen Buchdruck-Revolution und der durch sie ausgelösten Revolution in den Wissenschaften bis ins Zeitalter von Google, und alles dazwischen wurde einfach übersprungen, außer Pound und Joyce (die beide ähnliche Brücken bildeten).

Ein sonderbarer Bursche aus den Kolonien

Cambridge in den dreißiger Jahren war für einen Englandfreund wie Marshall ein Traum in einem Traum. Die wesentlichen ideologischen Kämpfe an der Universität kreisten um den Freudianismus und neue philosophische Systeme wie die von Wittgenstein, Russell, Whitehead und Marx. Im Fachbereich Englisch fegte der New Criticism sämtliche bestehenden Methoden der literarischen Diskussion vom Tisch. Marshalls Lehrer in Cambridge war I. A. Richards, ein Psychologe, der zum Literaturkritiker geworden war. Richards war eine Schlüsselfigur des New Criticism, der wichtigsten Bewegung in der englischen und amerikanischen Literaturkritik zwischen den Zwanzigern und den frühen sechziger Jahren, die ihren Höhepunkt in den Vierzigern und Fünfzigern hatte.7 Für die Vertreter des New Criticism zählten allein die Worte auf dem Papier. Kenntnisse über den Autor, sein oder ihr Leben, den Kontext – alle anderen Faktoren – waren irrelevant. Der New Criticism konzentrierte sich darauf zu verstehen, wie die Literatur ihre Wirkung auf den Leser entfaltete.

Marshall kam zu der Überzeugung, dass zum Beispiel der Inhalt eines Gedichts sich daraus ergab, wie die Wörter in einem formalen Kontext zusammenwirkten, und nicht aus der Absicht des Autors. Es war F. R. Leavis,8 der, ungewöhnlich für die Zeit, Marshall dazu ermutigte, die wirkliche Welt durch dieselbe Brille zu betrachten wie die literarische. Jahrzehnte später brachte dieser Ratschlag erstaunliche Ergebnisse hervor. Auf kurze Sicht rettete der Kontakt mit dem New Criticism Marshall aus dem veralteten Einheitsbrei einer von der Wirtschaftskrise geprägten Ausbildung in Manitoba und brachte ihn dazu, Autoren zu lesen, auf die er sonst nie gekommen wäre, zum Beispiel Joyce, Eliot und Yeats.

Der New Criticism bestärkte Marshall in seiner sowieso schon vorhandenen Offenheit für neue Ideen. Durch ihn konnte er ein Gedicht wie einen Gegenstand in einem Glaskasten betrachten. Und als jemand, der wie ein Besessener unbekannte Wörter in sich aufnahm, spornte der New Criticism Marshall dazu an, sich weiter mit den körperlichen Empfindungen des Lesens zu beschäftigen – dem Gefühl im Hals, auf der Zunge, in den Lippen –, um am Ende stundenlang mit einem einzigen Wort, seinem Reichtum und seiner Nuancierung zu spielen. Marshall sagte einmal, ein einziges Wort in der englischen Sprache sei komplexer als das US-amerikanische Raumfahrtprogramm. Das ist sicher übertrieben, verfehlte aber nicht seine Wirkung (immerhin reden wir hier ein halbes Jahrhundert später darüber). Solche Übertreibungen brachten ihm jedes Mal Publicity ein, etwas, das er sein Leben lang genoss, auf eine liebenswerte, unzynische und unschuldige Art. (Guck mal, Mama!)

Eine besondere Fußnote aus dieser Phase in Cambridge ist der Einfluss Alfred North Whiteheads, der damals in Harvard war, ein Denker, dessen Wirken seinen Höhepunkt in den Fünfzigern und Sechzigern hatte. Marshall notierte Whiteheads Aphorismen mit Bleistift überall auf seinen Papieren, und wenn man ein paar von ihnen liest, bekommt man einen Vorgeschmack darauf, was Marshall in den folgenden Jahren erwartete:

Eine dumme Frage ist das erste Anzeichen für eine vollkommen neue Entwicklung.

Alfred North Whitehead

Wesentlicher Fortschritt hat mit der Neuinterpretation grundlegender Ideen zu tun.

Alfred North Whitehead

Die Zivilisation entwickelt sich weiter, je mehr wichtige Tätigkeiten wir ausüben können, ohne darüber nachzudenken.

Alfred North Whitehead

Der kanadische Gelehrte

1934 war Marshalls Gehirn so weit verknüpft, und er selbst sehr viel geselliger als in seiner Jugend. Er war ein fantastischer Redner, und seine Fähigkeit, Unmengen von Gedichten und Prosatexten vorzutragen, nahm seinen Kritikern jeden Wind aus den Segeln.

Regelmäßige Mahlzeiten und eine gemütliche altmodische Unterkunft stillten seine Grundbedürfnisse. Er war Mitglied der Rudermannschaft, hatte keine Freundin und sah sich gern Detektivfilme im örtlichen Kino an. Er schrieb fast jeden Tag nach Hause. Er war ein ernsthafter Mensch und von Tag zu Tag hungriger nach Religion – Elsie hatte in ihrem Sohn immer eine »Sehnsucht nach Religion« bemerkt, wie sie es nannte, und dieses Bedürfnis erreichte jetzt einen Wendepunkt. Insbesondere waren es Marshalls Begeisterung für G. K. Chesterton und seine aufkeimenden Beziehungen zu katholischen Freunden, die es ihm ermöglichten, seine protestantische Erziehung in der Prärie hinter sich zu lassen. Protestantisch ausgerichtete Religionen bedeuteten für ihn einfache Unterkünfte, Reklameschilder, für dreißig Cents die Stunde Pestizide in Straßengräben sprühen – und darüber hinaus das Fehlen so gut wie jeglicher Form von Hochkultur. Der Katholizismus bedeutete Rom! Geschichte! Kunst! Schönheit! Rituale! Aber vor allem bot er einen Ort für Marshalls kaum zu bändigendes Verlangen nach einem Standpunkt, der die Belastung und die Zerrissenheit, die er in der Welt sah, erklären, oder sie vielleicht sogar davon befreien konnte.

Wenn der Weg sich gabelt

Je nach Glaubensrichtung gibt es diverse Möglichkeiten, was nach dem Tod passiert. Vielleicht gar nichts. Vielleicht wird man wiedergeboren (Diese Vorstellung fand Marshall lächerlich). Oder man landet in der Ewigkeit. Aber was wird dann aus der Welt, die man hinterlässt? Wie erklärt sich, dass, während man selbst in der Ewigkeit herumtreibt, die Welt selbst gerade mal ein ödes Fitzelchen Zukunft vor sich hat? Ewigkeit ist nicht Zukunft und vice versa. Auch wenn er das nie so formuliert hat, aus der Unvereinbarkeit der Welt mit dem Jenseits entstanden die Widersprüche, die einen Großteil von Marshalls Karriere bestimmen. Zum einen war die Technik ein Spielzeug angesichts der irdischen Mühsal. Sie verdiente nicht den Respekt, den man der Religion zuteil werden ließ. Zum anderen veränderte sie das Denken und die Gesellschaft. Man musste ihr genauso viel Beachtung schenken wie der Literatur. Diese Losgelöstheit vom Weltlichen verlieh ihm eine Objektivität, die andere Gesellschaftstheoretiker vermissen ließen. Sein Bewusstsein für das Alte und das Göttliche erlaubte ihm eine unsentimentale Sicht auf Technik und Kultur, sowohl auf die Moderne als auch auf ihre Zukunft. Die Welt war bloß die Welt. Deswegen suchte er nach Gemeinsamkeiten, wenn er zwei Epochen miteinander verglich, statt nur auf die Unterschiede zu achten. Denkt man dann noch an Marshalls angeborene Gabe, übergreifende Muster zu erkennen (von denen manche noch so undeutlich sind, dass sich seine Beobachtungen erst fünfzig Jahre später als zutreffend erweisen sollten), bekommt man allmählich ein Bild von ihm.

Das Neue Spektrum

Marshall legte zeitlebens eine gewisse Selbstvergessenheit an den Tag – er war der Inbegriff des zerstreuten Professors. Er konnte nicht Auto fahren und lebte umgeben von heillosem Durcheinander. Er stieg in Gespräche ein und schaltete dann plötzlich ab, egal ob mit Freunden oder Unbekannten, und lief im Unterricht geistesabwesend umher, offenbar ohne seine Umgebung wahrzunehmen. Viele seiner Zeitgenossen berichteten über ihre Zusammenkünfte mit Marshall, man habe ein paar Sekunden Zeit gehabt, um Hallo zu sagen oder irgendeinen Standpunkt zu äußern, dann sei er wieder auf seinen eigenen Planeten abgetaucht. Wohlgemerkt, die Rede ist von Selbstvergessenheit, nicht davon, dass er keinen blassen Schimmer gehabt hätte. Marshall hatte ein reiches Innenleben entwickelt. Warum es verlassen, wenn er es nicht musste?

Vielleicht kann man diese Abspaltung, wie auch andere von Marshalls Eigenschaften, auf dem Autismusspektrum ansiedeln. Das lässt sich im Übrigen für jeden Menschen behaupten. Autismus ist keine Entweder-oder-Diagnose mehr, sondern eine Frage der Verortung auf einem Spektrum, ähnlich wie bei Depression und Schizophrenie. Zum Beispiel reagierte Marshall überempfindlich auf laute, plötzliche und unerwünschte Geräusche.9 Er mochte es nicht, in seinem Tagesablauf gestört zu werden. Und er mochte es nicht, wenn man ihn berührte oder versehentlich anstieß. Er stand auf Rituale. Er spielte gern mit Worten (Wortspiele sind eine Form von Enthemmtheit, die mit den Nervenleitungen im limbischen System des Gehirns zusammenhängt). Wie viele andere Schriftsteller auch, ob manisch oder nicht, erfreute sich Marshall an sogenannten Klangassoziationen.10 Er war außerdem besessen davon, Worte auswendig zu lernen, und das obwohl er, wie wir wissen, vergesslich bis zur Selbstvergessenheit war – das machte ihn zwar nicht lebensunfähig, aber es beeinträchtigte ihn doch in seiner Fähigkeit, persönlich zu kommunizieren, was zumindest nicht gerade hilfreich war. Ältere Menschen empfanden seine Geistesabwesenheit als Arroganz, jüngere empfanden sie als cool.

Das soll nicht heißen, dass Marshall autistisch gewesen wäre oder auch nur am Asperger-Syndrom gelitten hätte. Aber wenn man seine Symptome als psychopathologisch hätte bezeichnen wollen, dann ginge es in diese Richtung. Depressiv war er nicht. Schizophren war er auch nicht. Er war weder alkoholsüchtig noch sonst etwas in der Art. Er war ein glücklicher Mann mit einer wunderbaren Familie und einer tollen Karriere, der zu einer kuriosen, aber auch schöpferischen Selbstvergessenheit neigte. Sein Biograph Philip Marchand schrieb:

Wenn er eine Schwäche hatte, dann war es seine Unfähigkeit, Menschen zuzuhören, die weniger eindringlich sprachen als er. Seine Stärke war es wiederum, unermüdlich zu reden, und zwar nicht nur in brillant formulierten Sätzen, sondern ganzen Absätzen – eine Kommunikationsform, die er dem Schreiben um Einiges vorzog.

Vielleicht könnten die Biographien visionärer Köpfe in Zukunft so aussehen, dass der Biograph historische Schilderungen mit medizinischen Erkenntnissen in Beziehung setzt, um so etwas wie eine Pathographie zu liefern – ein Versuch, die Gehirnfunktionen eines Menschen darzustellen und zu zeigen, wie aus ihnen das, was wir das Selbst nennen, hervorgeht. Marshall lebte im Zeitalter der Lobotomien und der Barbiturate. Heute, hundert Jahre nach seiner Geburt, gibt es PET-Aufnahmen, Kernspintomographien, Genkarten und eine regelrechte Forschungswelle auf dem Gebiet der Psychopharmaka, sowie fundierte neue Erklärungsansätze über die Auswirkungen der Struktur und Chemie des Gehirns auf die Condition humaine. Ironischerweise beschäftigte Marshall sich zuletzt selbst lange mit dem Gehirn. Doch dazu später mehr.

Der AQ-Test

Der Psychologe Simon Baron-Cohen11 und seine Kollegen am Autism Research Centre in Cambridge haben einen Autismus-Spektrum-Quotienten, AQ, als Maßstab für autistische Züge bei Erwachsenen entwickelt. Bei einer ersten großen Studie mit dem Test betrug die durchschnittliche Punktzahl in der Kontrollgruppe 16,4. Achtzig Prozent der Teilnehmer, bei denen Autismus oder eine ähnliche Störung diagnostiziert wurde, erzielten 32 oder mehr Punkte. Der Test ist jedoch kein Diagnose-Instrument, und viele, die 32 oder mehr Punkte erzielen und darüber hinaus die Kriterien für eine gemäßigte Form von Autismus oder Asperger-Syndrom erfüllen, berichten über keinerlei Schwierigkeiten in der Bewältigung ihres Alltags.

Trifft eindeutig zu

Trifft teilweise zu

Trifft eher nicht zu

Trifft überhaupt nicht zu

  1. Ich mache lieber etwas mit anderen als allein.

  2. Ich erledige etwas am liebsten immer auf dieselbe Art.

  3. Es fällt mir leicht, mir etwas bildlich vorzustellen.

  4. Ich bin häufig so sehr in etwas vertieft, dass ich alles andere um mich herum vergesse.

  5. Ich höre oft leise Geräusche, die andere nicht hören.

  6. Ich achte auf Autokennzeichen und andere Zeichenfolgen.

  7. Man sagt mir oft, ich hätte etwas Unhöfliches gesagt, obwohl ich dachte, es sei höflich gewesen.

  8. Wenn ich eine Geschichte lese, kann ich mir gut vorstellen, wie die Figuren darin aussehen.

  9. Datumsangaben faszinieren mich.

  10. Ich kann in einer Gruppe leicht mehreren Gesprächen gleichzeitig folgen.

  11. Ich habe keine Probleme mit gesellschaftlichen Anlässen.

  12. Ich bemerke Details, die anderen Menschen nicht auffallen.

  13. Ich gehe lieber in die Bibliothek als zu einer Party.

  14. Mir fällt es leicht, Geschichten zu erfinden.

  15. Ich fühle mich eher von Menschen angezogen als von Gegenständen.

  16. Bestimmten Interessen gehe ich sehr gezielt nach und ärgere mich, wenn ich daran gehindert werde.

  17. Ich führe gern Smalltalk.

  18. Wenn ich rede, fällt es anderen schwer, zu Wort zu kommen.

  19. Zahlen faszinieren mich.

  20. Wenn ich eine Geschichte lese, fällt es mir schwer, die Absichten der Figuren zu durchschauen.

  21. Es macht mir keinen großen Spaß, Romane zu lesen.

  22. Es fällt mir schwer, Menschen kennenzulernen.

  23. Mir fallen ständig Muster auf.

  24. Ich gehe lieber ins Theater als ins Museum.

  25. Es macht mir nichts aus, wenn mein Tagesablauf durcheinandergebracht wird.

  26. Es fällt mir oft auf, dass ich Schwierigkeiten habe, ein Gespräch am Laufen zu halten.

  27. Es fällt mir leicht, »zwischen den Zeilen zu lesen«, wenn jemand mit mir redet.

  28. Normalerweise konzentriere ich mich mehr auf das Gesamtbild als auf Details.

  29. Ich kann mir schlecht Telefonnummern merken.

  30. Kleine Veränderungen in einer Situation oder an einer Person fallen mir meistens nicht auf.

  31. Wenn ich jemandem etwas erzähle, merke ich, ob er oder sie anfängt, sich zu langweilen.

  32. Es fällt mir leicht, mehrere Sachen gleichzeitig zu tun.

  33. Wenn ich mit jemandem telefoniere, bin ich manchmal nicht sicher, wann ich etwas sagen soll.

  34. Ich bin gern spontan.

  35. Ich verstehe bei einem Witz die Pointe oft als Letzter.

  36. Ich sehe einem Menschen schnell an, was er denkt oder empfindet.

  37. Wenn ich bei einer Tätigkeit unterbrochen werde, kann ich sie danach problemlos wieder aufnehmen.

  38. Ich bin gut darin, Smalltalk zu führen.

  39. Ich bekomme häufig zu hören, dass ich stundenlang über dasselbe rede.

  40. Als Kind habe ich gerne Rollenspiele mit anderen Kindern gespielt.

  41. Ich sammele gern Informationen über bestimmte Arten von Dingen (z.B. Autos, Vögel, Züge oder Pflanzen).

  42. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, jemand anderes zu sein.

  43. Unternehmungen, an denen ich teilnehme, plane ich gern sorgfältig.

  44. Ich bin gern zu gesellschaftlichen Anlässen eingeladen.

  45. Es fällt mir schwer, anderer Leute Absichten zu erkennen.

  46. Ungewohnte Situationen machen mir Angst.

  47. Ich lerne gern neue Leute kennen.

  48. Ich bin diplomatisch geschickt.

  49. Ich kann mich schlecht an Geburtstage erinnern.

  50. Es fällt mir leicht, mit Kindern Rollenspiele zu spielen.

Auswertung: Wenn Sie »Trifft eindeutig zu« oder »Trifft teilweise zu« bei 2, 4, 5, 6, 7, 9, 12, 13, 16, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 26, 33, 35, 39, 41, 42, 43, 45, 46 angekreuzt haben, erhalten Sie 1 Punkt.

Wenn Sie »Trifft überhaupt nicht zu« oder »Trifft eher nicht zu« bei 1, 3, 8, 10, 11, 14, 15, 17, 24, 25, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 34, 36, 37, 38, 40, 44, 47, 48, 49, 50 angekreuzt haben, erhalten Sie ebenfalls 1 Punkt.