Kapitel 2
Als Elizabeth am Abend in Lady Brumleys Ballsaal neben ihrer Mutter stand, stellte sie fest, dass Peter sie beobachtete.
Obwohl der Ball noch nicht eröffnet war, hatten sich bereits zwei Herren auf ihrer Tanzkarte eingetragen. Fast schon ungeduldig sah sie an ihnen vorbei. Sie versuchte zwar so zu tun, als würde sie nur die Gäste mustern, doch sich selbst konnte sie nichts vormachen. Sie fragte sich, was Peter Derby, Julian Parkhurst und Leo Wade heute Abend wohl anstellen würden, um sich bei so etwas Intimem wie dieser Wette auszustechen.
Peter stand allerdings nicht bei seinen Freunden, sondern bei den Clifford-Schwestern Alice und Athelina. Sie kicherten und lachten zu allem, was er sagte, und schauten dabei voller Bewunderung zu ihm auf. Elizabeth hatte den Eindruck, dass er sich etwas dichter neben ihnen hielt, als schicklich war, und fragte sich, warum die Mutter der beiden, ein Drache, wie er im Buche stand, nicht besser aufpasste.
Sonst hatte er die Grenzen des Anstands doch immer eingehalten, sagte sie sich. Andernfalls wäre ihr das bestimmt aufgefallen, oder etwa nicht?
In letzter Zeit hatte sie häufiger hier und da eine Mutter über Peters Großtaten auf der Rennbahn oder in Spielhöllen flüstern hören und dass es an der Zeit sei, von einer braven Ehefrau wieder auf den Pfad der Tugend geführt zu werden. Sie betrachteten ihn offenbar als liebenswerten Schuft, der nur gezähmt werden musste, von der eigenen Tochter am besten. Früher, als er noch ein armer Schlucker war, hatten ihn diese ehrgeizigen Ladys nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Jetzt beobachtete sie, wie Peter Lady Athelinas behandschuhte Finger nahm und sie an seine Lippen führte, dabei mit einem eindeutig sündhaften Gesichtsausdruck zu der jungen Frau aufschauend.
Was hatte solch einen Wandel bei Peter Derby bewirkt?
Es blieb ihr erspart, weiter wie gebannt in seine Richtung zu schauen, weil Lord Dekker sich näherte und sie zu ihrem ersten Walzer abholte. Ein Mann von muskulöser, stämmiger Figur mit überbreiten Schultern, jedoch kaum größer als sie. Auf der Tanzfläche führte er sicher, wenngleich nicht mit vollendeter Anmut. Er bedachte sie mit einem Lächeln, und sie erwiderte es, denn immerhin vertrieb das Tanzen die quälenden Gedanken an das dumme Gemälde.
Plötzlich spürte sie einen kühlen Luftzug im Nacken und merkte, dass Lord Dekker sich mit ihr in Richtung der Terrassentüren bewegte. Ihr Lächeln verschwand angesichts der Dunkelheit draußen, die nur von Fackeln erhellt wurde. Sie wollte innehalten, doch er vollführte eine weitere Drehung und zog sie genau vor den Augen einer Gruppe erstaunter älterer Damen halb durch die Türen.
»Lord Dekker«, zischte sie leise durch die Zähne, »die Tanzfläche befindet sich in der anderen Richtung.« Sie versuchte ihm ihre Hand zu entziehen, aber er ließ sie nicht los, zwinkerte ihr nur zu und begann sich wieder mit ihr zu drehen.
Als sie den gaffenden Damen den Rücken kehrte, legte sie ihr Lächeln ab und schaute ihn finster an. »Lord Dekker, ich habe nicht den Wunsch, den Ballsaal zu verlassen.«
»Ich bin sicher, dass Sie es wollen«, murmelte er und sah sie mit einem anzüglichen Grinsen an.
Das konnte er doch unmöglich gesagt haben? Bestimmt hatte sie sich verhört, oder? Sie war drauf und dran, ihm eine Szene zu machen und für einen kleinen Aufruhr zu sorgen, sollte er es weiter darauf anlegen, sie nach draußen zu ziehen.
»Verzeihung, Lady Elizabeth«, hörte sie eine Stimme hinter sich. »Ich glaube, das ist mein Tanz.«
Dekker ließ sie sofort los, und beide drehten sich um. Vor ihnen stand Lord Thomas Wythorne, der jüngere Sohn eines Herzogs. Es waren die ersten Worte, die sie von ihm hörte, seit sie vor etwa einem Jahr seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Ihr Bruder war darüber sehr enttäuscht gewesen, weil er den jungen Mann als die bestmögliche Partie für sie betrachtete. Desgleichen schien die Verbindung für die beiden Mütter seit Langem beschlossene Sache gewesen zu sein, und in der Gesellschaft war man offenbar ebenfalls der Meinung, dass sie vom Schicksal füreinander bestimmt seien. Doch die Erwartungen anderer, fand Elizabeth, waren noch lange kein Grund zu heiraten.
Thomas Wythorne lächelte treuherzig, während er zwischen ihr und ihrem Tanzpartner hin und her schaute. Dekker verbeugte sich.
»Mein Fehler«, sagte er und ging weg.
Elizabeth lächelte ihren Retter zwar dankbar an, rieb sich indes nervös die Hände an ihren Röcken. Das Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals, ohne dass sie zu sagen vermocht hätte, warum. Schließlich stand sie nicht das erste Mal auf einer mondbeschienenen Terrasse. Und bestimmt waren sie auch nicht alleine hier draußen, sondern befanden sich in Gesellschaft anderer Paare, die eine Abkühlung suchten.
»Geht es Ihnen gut, Lady Elizabeth?«
Sie nickte und bemühte sich, etwas aufrichtiger zu lächeln. »Natürlich, Mylord. Nur ein Missverständnis, das ist alles.«
Er zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Sein welliges braunes Haar umrahmte ein schmales, aristokratisches Gesicht, dem man die edle Abstammung schon von Weitem ansah. Sie hatte ihn immer sehr gemocht, aber Gernhaben war etwas anderes als Liebe. In diesem Punkt war sie durch und durch Romantikerin und würde auf den einzig Richtigen warten. Zum Glück erlaubten ihre familiären Verhältnisse das.
Wythorne räusperte sich. »Da haben vermutlich mehrere Gentlemen bereits am frühen Abend zu viel getrunken.«
»Das muss es wohl sein«, erwiderte sie, während sie sich zu entspannen versuchte.
»Sie könnten mit mir tanzen, Lady Elizabeth«, meinte er und legte den Kopf auf die Seite, als würde er auf ihre Antwort warten.
Es wäre nur höflich, auf sein Angebot einzugehen, zumal er offenbar seine Verärgerung über ihre Ablehnung seines Antrags vergessen wollte. Doch ehe sie seine Einladung zum Tanz annehmen konnte, entdeckte sie Peter Derby, der neben ihrer Mutter stand. Er würde nicht etwa …? Der Abend wurde ja mit jeder Minute schlimmer.
Die Witwe des vorherigen Duke of Madingley war Teil einer der Skandalgeschichten der Cabots. Bevor er den Titel erbte, begegnete ihr Vater auf einer Reise durch Spanien einem einfachen Mädchen, verliebte sich in sie und heiratete sie gegen alle Widerstände seiner hochgestellten Familie. Die unstandesgemäße junge Frau wurde zwar nicht gerade mit offenen Armen in den englischen Adelskreisen aufgenommen, jedoch zumindest nicht völlig geschnitten. Trotzdem fühlte sie sich nie wirklich dazugehörig, und so zog sie es vor, sich lieber auf dem Landsitz in Cambridgeshire als in London aufzuhalten.
»Bitte entschuldigen Sie mich, Lord Thomas. Ich muss zu meiner Mutter, die sich den ganzen Tag schon nicht sonderlich gut fühlt.«
Er verbeugte sich wortlos, und sie machte einen eiligen Knicks. Natürlich würde er ihr die Abfuhr übel nehmen, aber sie konnte Peter nicht mit ihrer Mutter alleine lassen! Wer wusste schon, was ihm vielleicht herausrutschte?
Als Peter sich der Cabot-Familie näherte, hatte er mit widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen. Der Kontakt war längst nicht mehr so eng wie früher – wenn sie in London weilten, erst recht nicht. Eine Ausnahme bildete Elizabeths Cousin Matthew Leland, dem er sowohl geschäftlich als auch privat verbunden war. Er und seine Frau nickten ihm freundlich zu, als sie sein Kommen bemerkten. Emily war eine klassische Schönheit mit hellblondem Haar und schlanker Figur, zu der er aus früheren Tagen eine besondere, wenngleich nicht unproblematische Beziehung hatte, weshalb er sich in ihrer Gegenwart immer etwas unbehaglich fühlte. Er kannte zu viele ihrer Geheimnisse, auch wenn er sie nie ausplaudern würde. Und sie wusste hoffentlich, dass er sein Schweigen dauerhaft wahren würde.
Wenngleich ihre blauen Augen ein bisschen größer wurden, als sie ihn entdeckte, schenkte sie ihm ein leichtes Lächeln und nahm ihm damit ein wenig von seiner Sorge.
»Euer Gnaden«, sagte Peter und verbeugte sich vor Elizabeths Mutter.
Die Herzoginwitwe war immer noch eine schöne Frau, durch deren tiefschwarzes Haar sich silberne Fäden zogen. Aufgrund ihres dunklen Teints und der ausgeprägten Nase erkannte man sie auf den ersten Blick als Südländerin. Elizabeth besaß zwar das ungewöhnliche Äußere ihrer Mutter, jedoch weniger ausgeprägt und weniger dunkel durch das englische Erbe, was eine rundum faszinierende Mischung ergab.
»Mr Derby, wie schön, Sie zu sehen«, erwiderte die verwitwete Duchess. Ihre Stimme hatte einen melodischen Klang mit leicht spanischem Akzent. »Meine Tochter hat mir von Ihrer Fortüne in letzter Zeit erzählt.«
»Ja, Madam, ich habe viel Glück gehabt.«
»Ich glaube nicht an Glück, junger Mann«, meinte sie. »Sie sind immer sehr fleißig und gewissenhaft gewesen, und das schätze ich wirklich.«
»Mama.« Von hinten wurde ein Ruf laut.
Alle drehten sich um und sahen, dass Elizabeth ihnen zuwinkte, während sie sich eilig zwischen tanzenden Pärchen und plaudernd herumstehenden Gästen hindurchschob.
Peter wusste auf Anhieb, was ihr Sorge bereitete, denn sie lächelte ihn viel zu demonstrativ an. Dachte sie etwa, er würde ihrer ganzen Familie von ihren Eskapaden erzählen? Sie sollte es besser wissen, denn schließlich waren ihre Geheimnisse bei ihm immer sicher gewesen.
Er nutzte den kurzen Moment, um ihre strahlende Erscheinung zu bewundern. Die mit Kerzen bestückten Kronleuchter ließen die winzigen Diamanten auf ihrem blassrosa Kleid glitzern, ihr dunkles Haar schimmerte, und ihr Blick war ganz sanft. Er kannte diesen Ausdruck, hatte beobachtet, wie sie ihn jedem einzelnen Familienmitglied schenkte und bisweilen auch guten Freunden wie ihm. Peter war dankbar für diese kleinen Zuwendungen gewesen und hatte sich damit begnügt.
Aber jetzt reichte ihm das nicht mehr.
Als Elizabeth sich schließlich zu ihnen gesellte, meinte ihre Mutter: »Gibt es einen Grund für solch undamenhafte Eile, mein Kind? Ich habe Mr Derby seit Monaten nicht mehr gesehen.«
Peter bedachte Elizabeth mit einem Lächeln. »Ich habe heute Nachmittag in Madingley House meine Aufwartung gemacht, Euer Gnaden. Lady Elizabeth war gerade dabei, viele junge Verehrer zu begrüßen.«
Mir nichts, dir nichts wandte sich die Duchess dem Lieblingsthema einer jeden Mutter zu und stieß einen leisen Seufzer aus. »Ich hätte die Einladung, mit meiner Freundin einkaufen zu gehen, nicht annehmen sollen.«
Unter ihren ausladenden Röcken trat Elizabeth ihm fest auf den Fuß. Fast hätte er dem Impuls nachgegeben, es genau wie in ihrer Kindheit zu tun, seinen Fuß zu heben und zuzuschauen, wie sie das Gleichgewicht verlor. Doch sie war kein Kind mehr. Zum Glück.
Sie winkte gleichgültig ab. »Es war völlig uninteressant, Mama.«
Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Ich bin mir sicher, dass viele junge Damen nicht so darüber denken würden.«
Peter zog eine Augenbraue hoch, als Elizabeth versuchte, die Situation zu retten. »Natürlich habe ich mich gefreut und geschmeichelt gefühlt von so viel Aufmerksamkeit«, erklärte sie deshalb hastig.
»Hat irgendeiner der jungen Männer dir gefallen?«, bohrte die Mutter nach.
»Sie waren alle sehr nett …«
Die Duchess drehte sich zu Peter um. »Was meinen Sie dazu, Mr Derby?«
Mehrere weibliche Augenpaare richteten sich auf ihn.
Er wusste, dass sie sich nur für die Männer interessierte, die Elizabeth den Hof machten. Nie käme sie auf die Idee, dass er sich selbst als ein solcher betrachten könnte. Schließlich handelte es sich um die einzige Tochter eines Duke, nach dem Königshaus der höchste Adelstitel, und da war man natürlich auf eine ebenbürtige Verheiratung aus, die zudem den gesellschaftlichen und politischen Einfluss der Familie steigern würde.
Nein, ihn sah man bloß als lieben alten Freund und Nachbarn aus früheren Tagen.
Dass sich für ihn seit gestern alles geändert hatte, ahnte niemand. Er sah Elizabeth nun mit anderen Augen.
Peter richtete den Blick auf ihre Mutter. »Lady Elizabeths Verehrer wirkten ziemlich jung, Madam.«
»Sie sondieren das Terrain und üben noch ein wenig beim Flirten, Mama«, warf Elizabeth schnell ein. Falls sie ihm dankbar dafür war, dass er die Gedanken ihrer Mutter in eine andere Richtung gelenkt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Nach wie vor überwog ihre Wut.
»Lady Elizabeth, würden Sie wohl mit mir tanzen?«, fragte er, die Gelegenheit nutzend.
Ihre dunklen Augen glitzerten, doch ganz sanft erwiderte sie: »Aber natürlich, Mr Derby. Vielleicht brauchen Sie ja genau wie meine Verehrer ein bisschen Übung.«
Die Herzoginwitwe holte geräuschvoll Luft.
Peter lachte. »Versuchen Sie bitte, mir nicht auf die Zehen zu treten.«
Elizabeth zuckte zusammen, als er sie mitzog. Die Kapelle spielte erneut einen Walzer, und unwillkürlich richtete sie den Blick auf die Terrassentüren. Sobald niemand mehr mithörte, wurden ihre Gespräche vertraulicher.
»Möchtest du gerne mit mir draußen im Mondschein tanzen?«, fragte er.
Sie runzelte die Stirn. »Nein, das wäre unschicklich.«
»Unschicklich?«, wiederholte er und sah sie an. Wirklich interessant, dass sie so etwas sagte. »Ich meine mich zu erinnern, mit dir im Sonnenschein auf der Terrasse von Madingley Court das Tanzen geübt zu haben. Ich glaube sogar, dass ich derjenige war, der dir das Tanzen beibrachte, nachdem dein Tanzlehrer angesichts deines totalen Desinteresses die Segel gestrichen hatte.«
Sie wich seinem Blick aus. Warum wohl, fragte er sich. Weil er das kompromittierende Gemälde von ihr kannte und wusste, wie sie unter ihren Kleidern aussah? Der Gedanke erfüllte ihn mit Befriedigung.
Bei einer schnellen Drehung zog er sie ein bisschen enger an sich. Ihr Busen drückte sich kurz an seine Brust, und er spürte, wie sein Körper reagierte. Elizabeth riss den Kopf hoch und sah ihn an.
»War das unschicklich?«, fragte er mit Unschuldsmiene. »Ich wollte nur nicht, dass wir mit diesem langsamen Paar dort zusammenstoßen.«
»Früher hättest du es nie gewagt, so etwas mit mir zu machen«, erklärte sie grimmig. »Das traust du dich nur wegen des Gemäldes.«
»Deswegen halte ich nicht weniger von dir. Ich will einfach nur wissen, warum du es getan hast. Was dich dazu bewogen hat, ein solches Risiko einzugehen. Ich dachte, du hättest es inzwischen aufgegeben, spontanen Launen zu folgen, und wärst eine sittsame junge Lady geworden.«
»Es ging um etwas anderes«, erwiderte sie schließlich.
Zumindest redete sie mit ihm darüber. Er hielt sie fest in seinen starken Armen und wirbelte mit ihr über die Tanzfläche, bis ihre Röcke flogen und ihre Füße kaum noch den Boden berührten.
»Elizabeth …«
»Ich will nicht darüber reden«, sagte sie leise.
Auf ihrem Gesicht spiegelten sich heftige Empfindungen, ließen erkennen, dass in ihr ein Vulkan brodelte. Vermutlich das spanische Blut ihrer Mutter. So aufgewühlt wie in diesem Moment hatte er sie allerdings noch nie erlebt.
Sie schien sein leichtes Erschrecken zu bemerken. »Verzeih mir«, murmelte sie. »Normalerweise führe ich mich nicht so auf – nicht einmal, wenn man mich provoziert.«
»Ich freue mich schon darauf herauszufinden, womit man dich provozieren kann.«
Der Tanz war zu Ende, und sie sah ihn durchdringend an, während sie den geforderten Knicks machte. Er wollte sie zu ihrer Mutter zurückführen, doch sie schüttelte ihn ab und ging alleine.
Unvermittelt kreuzte Lucy ihren Weg, und beinahe wären die beiden zusammengestoßen. Lucy lachte.
»Na, das war vielleicht ein Tanz«, meinte ihre Freundin, als sie schließlich eingehakt am Rand des Parketts entlangschlenderten.
Elizabeth erstarrte und dachte sofort an Lord Dekker, der sie gegen ihren Willen nach draußen zu ziehen versuchte. »Welcher Tanz?«
»Der mit Peter Derby.« Lucy stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Ihr macht gemeinsam eine sehr gute Figur.«
»Ach ja«, meinte Elizabeth fröhlich und gestand dann: »Er hat häufig als mein Tanzpartner herhalten müssen, als ich diese Kunst erlernen sollte.«
»Heute sah er aber ganz und gar nicht so aus, als würde er nur herhalten müssen. Er schien richtiggehend seinen Spaß zu haben – ganz im Gegensatz zu dir.« Lucy warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Erzähl.«
»Es gibt nichts zu erzählen. Peter und ich sind alte Freunde.«
»Bestimmt nicht einfach für ihn, einerseits eine recht enge Beziehung zu deiner Familie zu haben und gleichzeitig zu wissen, dass er immer nur eine Randfigur bleiben kann.«
Elizabeth öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen, verkniff es sich jedoch lieber. Stimmte das? Peter sah das bestimmt anders. Sie erinnerte sich, dass er eine Zeitlang heftig mit ihrer Cousine Susanna geflirtet hatte. Zwar war es nichts Ernstes gewesen, bewies aber ihrer Meinung nach immerhin, dass Peter über genug Selbstbewusstsein verfügte, sich in ihren Kreisen wohlzufühlen.
»Und wo ist nun William?«, fragte Elizabeth und wechselte geschickt das Thema.
Lucy verzog das Gesicht. »Er ist noch nicht da. Er wollte sich mit ein paar von seinen blöden Freunden im Club treffen. Hoffentlich sind sie nicht alle beschwipst.«
Elizabeth konnte nur hoffen, dass William einem anderen Club als Peter angehörte. Nicht auszudenken, wenn er ebenfalls das Gemälde sah und entsprechende Andeutungen mitbekam. Obwohl ihn das vielleicht endlich dazu bringen würde, von ihr gebührend Notiz zu nehmen. Gütiger Himmel! Auf was für Ideen kam sie da eigentlich? Vielleicht würde er sie am Ende gar nicht mehr sehen wollen.
Vorerst war es wichtig, die Ruhe zu bewahren. Susanna hatte einen Plan – zumindest ließen Andeutungen von ihr darauf schließen. Sie würden diese drei Schufte besiegen, das Gemälde an sich nehmen und es vernichten!
»Ich sehe ihn«, rief Lucy plötzlich.
Elizabeth wurde von ihrer Freundin einfach mitten durch die Menge der Tanzenden geschoben, und schließlich standen sie vor Baron William Gibson, der so gut aussah, dass Elizabeths Augen schon der reine Anblick schmerzte.
Sein zerzaust wirkendes Haar war weizenblond mit noch helleren, von der Sonne gebleichten Strähnen, und seine Augen strahlten frühlingshaft grün. Er liebte es, mit seinen Pferden durch London zu rasen, und nicht selten hatte sie ihn selbst seinen Phaeton kutschieren sehen, wenn sie draußen spazieren ging. Jedes Mal überkam sie in diesen Momenten das Gefühl, die Sonne sei aufgegangen, um sie mit ihrer Schönheit zu blenden.
Lachend drehte William sich von seinen Freunden weg und sah seine Schwester. Er tätschelte sie am Kinn. »Hallo, Lucy.«
Und dann bemerkte er Elizabeth. Wieder wartete sie auf den verzauberten Augenblick, dass er sie wirklich wahrnahm wie damals am ersten Abend ihres Debüts.
Aber er tätschelte sie bloß genauso wie seine Schwester.
»Hallo, Elizabeth.«
»Guten Abend, William«, sagte sie und unterdrückte ihre Enttäuschung, während sie einen perfekten Knicks zur Begrüßung machte. Warum sagte er nicht, dass sie reizend aussehe? Warum bemerkte er ihr Kleid nicht und schmeichelte, wie verführerisch es ihre Figur betone? Nichts dergleichen geschah. Keinerlei Bewunderung blitzte in seinem Blick auf wie gerade erst bei Peter …
Sie versagte sich solche Gedanken sofort. William und Peter hatten nichts miteinander gemein.
»Denkst du daran, einen Tanz für mich zu reservieren?«, bat William sie.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie blickte prüfend auf ihre Tanzkarte. »Sie ist ziemlich voll, aber der nächste Walzer wäre noch frei.«
Er schüttelte den Kopf. »Da kann ich nicht, weil ich zum Kartenspiel im Salon verabredet bin. Ich komme später zu dir.«
Und dann war er auch schon fort. Elizabeth stand neben Lucy und schaute dem Trupp junger Männer hinterher, die den Ballsaal verließen.
»Tut mir leid«, sagte Lucy leise.
»Es ist nicht deine Schuld.«
»Er wird bestimmt wiederkommen.«
»Natürlich.« Obwohl Elizabeth ruhig und gelassen klang, war sie in ihrem Innern völlig aufgewühlt. Sie spürte, dass es ein in jeder Hinsicht enttäuschender Abend zu werden versprach.
Elizabeth ging in ihrem Schlafzimmer auf und ab und war so unruhig, dass sie nicht einmal still sitzen konnte, um sich von ihrer Zofe das Haar bürsten zu lassen. Also schickte sie Teresa zu Bett und erledigte die notwendigen Handgriffe alleine. Finster betrachtete sie sich im Spiegel und zerrte die Bürste unsanfter durchs Haar als nötig.
Ihr ganzes Leben schien seit gestern auf den Kopf gestellt, und das missfiel ihr gewaltig. Sie mochte es nicht, dass dieses Gemälde solche Macht über sie hatte. Wer wusste schon alles davon? Vielleicht auch Lord Dekker? Hatte er deshalb geglaubt, er könne sich solche Freiheiten herausnehmen und sie auf die Terrasse ziehen?
Daran war nur Peter schuld. Sie dachte an sein selbstgefälliges Grinsen, während er sie beim Walzer so unschicklich eng an sich zog. Was war nur mit ihm los? Eigentlich sollte er sie gegen seine schwachsinnigen Freunde verteidigen. Stattdessen behandelte er sie wie … Ach, sie wusste nicht, wie. Sie wollte den alten Peter zurückhaben; nicht diesen ihr letztlich fremden Mann, dessen blaue Augen zu lodern schienen.
Ein kurzes Klopfen ertönte, dann spähte Susanna durch die Tür und winkte ihr zu. Erleichtert warf Elizabeth ihre Bürste zur Seite und folgte der Cousine zu Rebeccas Schlafzimmer. Es amüsierte sie, dass die sonst so zurückhaltende Susanna, die allgemein als Blaustrumpf galt, ihnen einen Schlachtplan unterbreiten wollte. Und Rebecca, seit sie endlich die zahlreichen Krankheiten, die Kindheit und Jugend überschatteten, hinter sich gelassen hatte, schien vollends vor Abenteuerlust zu sprühen.
Susanna stemmte die Hände in die Hüften. »Ihr hört euch jetzt beide meinen Plan an.«
»Natürlich«, sagte Rebecca und fing an, sich das Haar zu bürsten. »Erzähl uns alles.«
»Wir können nicht in London bleiben und uns diesen drei Männern ausliefern, die nur nach Schwachstellen suchen und die gesammelten Informationen miteinander vergleichen.«
Elizabeth runzelte die Stirn. »Aber wollen die nicht in erster Linie einen Wettstreit gegeneinander führen?«
»Ich weiß nicht. Allmählich bekomme ich das Gefühl, dass es für sie reizvoller ist, uns gemeinsam in die Knie zu zwingen.«
Rebecca lächelte Elizabeth an. »Susanna nimmt das an, weil sie zu wissen meint, was in einem Mann vorgeht und wie ein Mann denkt.«
Susanna war Künstlerin und ging ihrem Vater, einem Anatomieprofessor, zur Hand, indem sie für ihn Skizzen von sezierten Leichen anfertigte. Ziemlich mutig für eine junge Frau aus ersten Kreisen. Allerdings leitete Susanna von daher den Anspruch ab, auch von lebenden Männern mehr zu verstehen, was immer wieder zu Diskussionen zwischen den Schwestern führte.
Elizabeth winkte ungeduldig ab.
Jetzt lächelte Susanna. »So habe ich das nicht gesagt. Aber ich glaube, wir können unser Geheimnis am besten bewahren, indem wir getrennte Wege gehen. Dadurch wird es für sie schwieriger, uns eine nach der anderen auszufragen.«
Elizabeth schaute sie zweifelnd an.
»Getrennte Wege?« Rebecca verzog das Gesicht.
»Irgendwann wird eine von uns einen Fehler machen«, fuhr Susanna fort. »Diese Gefahr verringern wir, wenn wir ihnen die Möglichkeit nehmen, auf jede von uns Zugriff zu haben und unsere Reaktionen und Aussagen zu vergleichen.«
»Aber das ist ja so, als würde man das Spiel verlassen.« Rebecca ließ die Schultern hängen.
Elizabeth verstand die Enttäuschung ihrer Cousine nicht. Es ging doch nur darum, das Spiel zu gewinnen. Nur so konnten sie das Gemälde in die Hände bekommen und sich vor eventuellen Folgen schützen.
»Nein, es ist eher so, als würde man die Spielregeln ändern«, sagte Susanna, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Sofern sie darauf verzichten, uns zu folgen, gewinnen wir. Siehst du das nicht?«
»Ich kann nicht weg«, sagte Elizabeth. »Meiner Mutter geht es im Augenblick nicht so gut, und ich muss bei ihr bleiben.« Sie ließ unerwähnt, dass auch William bei ihren Überlegungen eine Rolle spielte.
Susanna nickte. »Das ist in Ordnung. Wir müssen schließlich nicht alle weg. Ich bin zu einem Fest auf dem Land eingeladen worden und werde daran teilnehmen.«
»Mama hat so etwas erwähnt.« Rebecca klang unsicher. »Sie wird darauf bestehen, dass ich ebenfalls hingehe.«
»Nicht wenn du Großtante Rianette besuchst.«
Rebeccas Hand, die die Bürste hielt, erstarrte mitten in der Bewegung. »Wie bitte?«
»Sie hat darum gebeten, dass eine von uns sie besucht«, fuhr Susanna fort, »und Mama bekommt bereits Schuldgefühle, weil wir alle zu beschäftigt sind. Es wäre also eine elegante Lösung.«
Elizabeth drückte ein Kissen auf ihren Mund, um ihr Lachen zu verbergen, während die Schwestern sich weiterhin zankten und gleichzeitig Rebeccas Zugreise planten.
Als schließlich alles zufriedenstellend geklärt war, sah Rebecca ihre Schwester und Elizabeth zuversichtlich an. »Sollen wir uns gegenseitig viel Glück wünschen?«
Elizabeth griff nach den Händen der Schwestern, und sie lächelten einander an, auch wenn sie selbst nicht ganz so optimistisch war, doch das verbarg sie vor den beiden.
Es gab jetzt einen Plan, und sie waren entschlossen zu gewinnen. Rebecca freute sich auf ein Abenteuer; Susanna darauf, einem vermeintlich schlichten männlichen Gemüt ihre geistige Überlegenheit demonstrieren zu können, und da würde sie doch nicht mit kleinlichen Bedenken kommen.