8. KAPITEL
Da stand sie tatsächlich. Endlich. Gestern schon hatte Maximilian sich mindestens eine halbe Stunde im Laden aufgehalten, dann nur eine Kleinigkeit gekauft und dafür misstrauische Blicke der Angestellten kassiert.
„Hallo“, sagte er zaghaft und rechnete mit einem verständnislosen Gesicht. Aber sie lachte sofort.
„Hi. Das nenne ich Zufall. Ich war schon lange nicht mehr hier.“
Er räusperte sich. „Ich kaufe das erste Mal hier ein.“
„Ach so.“ Sie wandte sich angestrengt dem drei Meter umfassenden Angebot an Müslipackungen zu. Ihre braunen Locken hingen strähnig herunter. Das Gesicht wirkte übernächtigt und ihre Haltung kraftlos.
„Wir müssen noch Hähnchenschnitzel kaufen. Oder möchtest du lieber Pute?“, fragte er.
„Du erinnerst dich?“ Ihr ungepflegtes Äußeres verschwand hinter einem zauberhaften Lächeln.
„Ich wäre morgen wiedergekommen. Und übermorgen. Und überübermorgen“, gab er zu und staunte über seinen Mut.
„Pute. Ich glaub, ich möchte Pute zu den Pommes. Und einen frischen Salat. Den mach ich.“
Er trat ein paar verlegene Schritte zur Seite und wieder zurück und war sich sicher, dass dieses Gespräch gleich ein Ende haben würde. Denn vor der Tür des Supermarktes stand sein vollgetanktes Auto – und zu Hause die gepackte Reisetasche.
„Könnten wir unser Essen auf nächste Woche verschieben, vielleicht sogar auf die übernächste? Ich verreise heute.“
„Würde ich auch gern.“ Endlich nahm sie eine Packung aus dem Regal und warf sie mit Schwung in ihren Einkaufswagen. „Na denn. Man sieht sich.“
Der Herzschlag dröhnte in seinem Kopf. Er holte tief Luft. „Dann komm doch mit.“ Raus war er, dieser ungeheuerliche Satz.
Sie erschrak auch wirklich, starrte ihn prüfend an, dann nickte sie ein paarmal und lächelte dabei, anerkennend, wie ihm schien.
„Vorsicht. Ich könnte Ja sagen. Hab gestern überraschend meine Arbeit verloren und noch nichts Neues in Sicht. Also jede Menge Zeit.“ Sie ließ ihn nicht aus ihren schönen graublauen Augen, als wartete sie auf eine Bestätigung, dass er die Einladung nur leichtfertig dahingesagt hatte.
Er wollte wegsehen und sich auch der Auswahl eines Müslis widmen können. Aber er aß niemals Müsli, und eine tief verborgene innere Stimme riet ihm, das jetzt auszuhalten. Nicht wieder alles falsch zu machen. Hastig antwortete er. „Ich meinte das ernst. Ich fahre ein paar Tage ins Umland. Ich habe zwar noch kein Hotel, aber das könnten wir ja gemeinsam suchen. Es ist verrückt, ich weiß, aber ich habe schon ewig nichts Verrücktes mehr gemacht.“
Sie lachte leise. „Ich auch nicht“, und drehte ihren Einkaufswagen in die gleiche Richtung wie seinen. „Bei der Wärme sollten wir dann wohl auf Tiefkühlkost verzichten, oder?“
Er nickte und versuchte ruhiger zu atmen, aus Sorge, die Seifenblase um sie herum könnte platzen.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte sie.
„Maxi …“ Er stockte. „Clemens. Clemens Borchert.“
„Maxi Clemens? Komischer Name. Meiner ist allerdings auch nicht besser: Alisha. Meine Mutter war in den Siebzigern auf einem Indientrip.“
„Er klingt schön. Ich glaube, meine Mutter wäre eher gestorben, als nach Indien zu fahren.“
Sie hatten die Fenster weit heruntergekurbelt. Sein Auto hatte weder Klimaanlage noch anderen Komfort. Trotzdem hätte Maximilian in diesem Moment in keinem anderen Wagen sitzen wollen.
„Hast du’s eilig? Ich weiß ja nicht, wohin du willst, aber gibt’s dahin auch Landstraßen? Fänd ich gemütlicher und leiser.“ Das letzte Wort sprach sie besonders laut aus und lachte.
Sie fuhren auf dem nördlichen Berliner Ring, und vor ihm tauchte das Schild Oberkrämer auf. Statt einer Antwort setzte er den Blinker und fuhr mit hoher Geschwindigkeit in die Ausfahrt. Wegen der Kurve am Ende musste er stark abbremsen. Aber sie lachte nur und hielt sich mit beiden Händen am Armaturenbrett fest.
Nach ein paar Minuten meinte Alisha, dass sie nun bald, oder besser noch sofort, ein WC oder wenigstens einen Busch aufsuchen müsse. Maximilian fuhr von der Bundesstraße 5 in den erstbesten Feldweg ab.
„Warum willst du ausgerechnet in diese Gegend?“, fragte Alisha. Sie lagen nebeneinander auf einer Wiese am Rande eines Feldes, das noch nicht abgeerntet war.
„Ein wenig Urlaub, um den Kopf wieder frei zu bekommen. Ich komme aus dieser Gegend.“
„Hast du Flugangst?“, fragte sie.
„Ich glaube nicht. Ich bin aber erst einmal geflogen.“
„Du könntest weiter weg Urlaub machen. Etwas Neues sehen.“
„Meine Farben, Pinsel, Leinwand. Alles ist ziemlich teuer.“
Alisha hatte ihn nach ihrem Treffen im Supermarkt nach Hause begleitet, um seine Reisetasche zu holen, bevor sie in ihre WG fuhren, damit sie für sich selbst packen konnte. Sie hatte staunend im Malzimmer gestanden und geschwiegen. Aber er hatte die Überraschung in ihrem Gesicht erkennen können, schon, als sie die Wohnung betreten hatte.
„Vor zwei Jahren bin ich in Nepal gewesen. Mit einer Freundin. Wir hatten nur das Ticket. Sind einfach so losgezogen. Mit Rucksack. Zwei Jahre hab ich dafür gespart. Aber wir wollten es unbedingt. Es war toll. Nein, mehr als das.“
Es war nicht schwer, ihr das zu glauben, während er das Leuchten in ihren Augen und ihre gestikulierenden Hände betrachtete. Und doch spürte Maximilian, wie seine gute Laune verschwand. Nepal. Nur zu zweit. Mit einem Rucksack. Das würde er nie können. In ihren Augen musste er ein Langweiler und Angsthase sein. Unversehens fühlte er sich zwei Jahrzehnte zurückversetzt, sah seine Mitschüler von damals, die ihn schon von der Einschulung an geärgert hatten. Doch wirklich schlimm war es geworden, nachdem dieses verdammte Foto in der Schule herumgegangen war: er mit hohen Sandaletten und im langen Kleid seiner Mutter, die Lippen angemalt und die Fingernägel lackiert. Rot. Keiner seiner Mitschüler hätte das Gelächter aushalten können, ohne zu weinen. Dabei hatte er doch nur einmal fühlen wollen, ob es für eine Frau schwierig war, trotz der Stöckelschuhe und des wallenden Stoffs um die Beine herum so elegant zu schweben wie seine Mama. Wenn sie und Papa Arm in Arm zum Tanzfest gegangen waren, hatten Papas Augen voller Liebe geleuchtet. Er selbst hatte im elterlichen Schlafzimmer vor dem Spiegel gestanden und Peter auf den Ästen des Baumes vor dem Fenster zu spät entdeckt. Peter. Als seine Eltern ihm zu Weihnachten einen teuren Fotoapparat geschenkt hatten, war er Fotograf der Schülerzeitung geworden. Seinetwegen hatte sich sogar einer der Lehrer versetzen lassen. Peter hatte ihn heimlich beim Sex mit der verheirateten Nachbarin fotografiert und damit einen Riesenskandal im Dorf verursacht.
„Warum sagst du nichts? Hast du nicht auch einen Traum? Einen, für den du alles andere liegen lassen würdest?“
„Ich würde gerne von meinen Bildern leben können.“
„Das wirst du. Sie sind toll.“ Alisha rollte sich aus der Rückenlage zur Seite und war ihm mit einem Mal ganz nah. Sie lächelte ihn an.
„Welche findest du gut?“, wollte er wissen.
„Alle. Besonders die Glasbilder.“
Er seufzte. Erkannte denn niemand die Faszination seiner anderen Bilder? Alisha, bisher einzigartig, schien ihm plötzlich beliebig. Enttäuscht drehte er sich auf den Rücken, schloss die Augen und schwieg. Wenig später spürte er eine sanfte Berührung. Erst entlang seines Nasenrückens, dann die Rundung seines Kinns nachzeichnend und die Wange hoch bis zur Stirn. Der Gedanke, dass Alisha diese Berührung steuerte, ließ tief in seinem Bauch ein Kribbeln beginnen. Es breitete sich aus wie Wellen auf der glatten Oberfläche eines Sees, wenn jemand einen Stein hineingeworfen hatte. Maximilian schlug die Augen auf. Alisha hatte sich über ihn gebeugt und hielt einen abgerissenen Grashalm in der Hand. Sein Herz raste, und er hatte Mühe, seinen schnellen Atem zu verbergen.
„Du bist so … so … Ich hab nur mit solchen Idioten zu tun. Sie wollen alle nur so cool sein.“ Und leise fügte sie hinzu: „Bis man selbst schließlich nur noch in die Wärme will.“
Er umfasste sanft ihr Handgelenk, um die Reise des Grashalmes in seinem Gesicht zu beenden. „Was machen wir jetzt?“, fragte er und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Du Idiot. Weshalb lässt du nicht einmal etwas geschehen?
„Baden gehen.“ Sie sprang auf und streckte ihm die Hand entgegen. „Los, steh auf.“
„Ich habe nichts dabei.“
„Quatsch. Aber wenn du dich nicht traust, warten wir eben, bis es dunkel ist.“
„Wir brauchen erst eine Unterkunft.“
„Und du brauchst etwas ganz anderes“, stellte sie fest und ging bereits vor zum Auto.
Er hätte gerne etwas von ihrer Selbstverständlichkeit. Außer in seiner Malerei hatte er diese Sicherheit noch nirgends gefunden. Noch immer wusste er jedes der Abschiedsworte seines Therapeuten. „Lassen Sie sich Zeit. In Ihrem Alter, in dem man gerade erst begonnen hat, sein eigenes Leben zu führen, erschüttert es besonders, wenn die Geborgenheit des Elternhauses zerbricht. Es ist niemand da, wie bei jüngeren Kindern, der wenigstens versucht, die verstorbenen Eltern zu ersetzen.“ Das Einzige, wovon die wöchentlichen Therapiestunden gehandelt hatten, war der plötzliche Tod seiner Eltern gewesen. Denn über alle anderen Dinge hatte Maximilian beharrlich geschwiegen. Die Welt erwartete von ihm, allein klarzukommen. Ohne Sicherheitsnetz. „Warum nehmen Sie das Angebot Ihrer Oma nicht an, zu ihr nach Köln zu ziehen?“, hatte der Therapeut abschließend gefragt.
Nur zwei Tage nach dieser Abschlusssitzung war er stattdessen nach Berlin gezogen und hatte die Studienfächer Deutsch und Geschichte gegen Kunstgeschichte eingewechselt. Er hatte das Haus der Eltern verkauft und sich die dunkle, aber billige Wohnung in der Reichenberger Straße in Kreuzberg gemietet. Dort hatte er sich vergraben. Seine Therapie war das Malen. Er malte sich die Gesichter vom Leib, die in seiner Erinnerung wüteten. Nicht Nacht für Nacht, aber häufig genug, dass sein Malzimmer jetzt eher einer Glaserei glich, die einen Großauftrag für Kirchenfenster erhalten hatte. Und Andrea Wahrig hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie mit ihrer Ausstellungsidee gerade seine mühsam gewonnene Sicherheit zwischen den Glasplatten ins Wanken brachte. Wie hatte er nur so schnell zusagen können? Dabei wurde es für ihn Zeit, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, statt die Scherben zusammenzukehren. Gut, dass er ihr eindeutig abgesagt hatte.
Er sah sich um. Alisha war verschwunden. Schnell lief er zum Auto zurück. Doch sie hatte sich nur in den Schatten der Beifahrerseite auf den Boden gehockt. Er stieg ein und Alisha lachte ihm übermütig und herausfordernd durch die Fensterscheibe entgegen und presste dabei Nase und Mund an das Glas. Der Anblick durchfuhr ihn wie ein Messerstich. Sein Mund wurde trocken. Nein, er wollte sie nicht mehr malen. Oder doch. Später einmal und nicht auf Glas. Dafür kannte er sie schon zu gut. Und im Moment war er einfach nur froh, sie gefunden zu haben.
Ein Handy klingelte. Der gleiche Klingelton wie seines. Was für eine schöne Übereinstimmung! Alisha kramte in ihrem Rucksack und wurde endlich fündig. Während sie dem Anrufer zuhörte, hellte sich ihr Gesicht auf. Sie drehte es zur Seite und sah Maximilian strahlend an, während sie mit hastiger und freudiger Stimme einen Termin und einen Treffpunkt bestätigte.
„Stell dir vor. Wahnsinn. Das war einer meiner Profs von der Uni. Er mochte mich schon immer. Und jetzt will er mir eine Assistentenstelle vermitteln. Irre, oder?“ Sie wurde wieder ernst. „Ich muss zurück. Dabei wär ich so gern mit dir weitergefahren. Aber es ist die Chance für mich. Gibt’s hier einen Bahnhof in der Nähe?“
„Was studierst du?“ Sie war mindestens ein paar Jahre jünger als er. Sie konnte noch nicht fertig sein.
„Ich – studieren? Nee, leider hat’s dazu nicht gereicht. Hab nur mittlere Reife, aber die letzten Jahre hab ich mich immer, wenn ich keinen Job hatte, in die Vorlesungen geschlichen. Philosophie und Psychologie. Hat mich schon immer brennend interessiert. Irgendwann hat’s einer der Profs dann gemerkt und mich rausgepickt, als ich wie immer in der Menge untertauchen wollte. Aber er war wirklich nett und hat mir einen Ausweis als Bürokraft an der Uni besorgt. Ab da musste ich nicht mehr aufpassen. Die Vorlesungen waren eh immer proppenvoll.“
„Ich fahr dich zurück.“
„Brauchst du nicht. Du hast Urlaub. Mann, genieße ihn.“
„Musst du in Berlin bleiben oder dich nur vorstellen?“
„Ja, der Hammer ist, dass ich morgen bei irgendeinem Projekt mitmachen kann. Sozusagen Probe arbeiten. Und der Prof meinte, wenn ich das nur lange genug gemacht habe, sei das auch eine Möglichkeit, mich danach vielleicht als Quereinsteiger einzuschreiben. Irre, oder? Ich als Studentin.“ Ehe sich Maximilian versah, hatte sie ihm ein Küsschen auf die Wange gegeben. Wenn er Alisha so ansah, gab es keinen Zweifel, dass auch für sie dieser Termin nur eine Unterbrechung ihrer gemeinsamen Geschichte sein würde. Und er? Nicht im Traum würde er daran denken, sie jetzt mehr als nötig wieder loszulassen. Er fuhr bis zur nächsten Kreuzung und wendete. Nach nur zwei Stunden erreichten sie die Berliner Innenstadt, und er setzte sie an der Humboldt-Universität ab.
„Ich ruf dich an, sobald ich was weiß, okay?“, sagte Alisha.
„Mach das. Ich werde mir bis dahin die Zeit vertreiben“, antwortete er.
Bevor sie ausstieg, lehnte sie sich zu ihm herüber, griff mit ihren schlanken Fingern nach seinem Kinn und drehte sein Gesicht ganz zu sich herum. Ihr Kuss auf seinen Mund ließ ihn schweben. Am liebsten hätte er sie fest in seine Arme genommen und wäre mit ihr fortgeflogen. Über die Dächer Berlins der Sonne entgegen.
„Ich kümmere mich jetzt kurz um meine Karriere. Und danach kümmern wir uns um deine Ausstellung, einverstanden?“ Sie wartete keine Antwort ab, stieg aus und lächelte ihm noch einmal zu. Er konnte nur nicken. Alisha wusste ja nicht, dass es seine Ausstellung nicht mehr geben würde.
Hinter ihm hupte es. Widerwillig riss er sich vom Anblick der davonstürmenden Alisha los und fädelte seinen Wagen in den fließenden Verkehr ein.