18. KAPITEL

„Es darf nichts passiert sein“, flüsterte Andrea unter Tränen. „Er hat doch geschrieben, eine Woche.“

Oleg hielt ihre Hand, während sie überlegten, was passiert sein könnte, dass ihre Mutter weder ans Handy ging noch in der Firma ihres Vaters angekommen war.

„Deine Mutter ist eine warmherzige Frau?“

Andrea verstand den Sinn der Frage nicht, nickte aber.

„Vielleicht war es gar nicht sie, der etwas passiert ist, sondern einer Bekannten, die sie getroffen hat, einem Mitreisenden, irgendein Mensch, der dringend Hilfe brauchte, und deine Mutter gab sie ihm.“

„Warum geht sie dann nicht ans Handy?“

„Kein Akku, oder sie hat es verloren?“

„Meine Mutter würde jemand anderen bitten, sein Handy zu benutzen, nur um Bescheid zu sagen. Hast du eine Ahnung, wie wichtig ihr dieser Arzttermin war?“

„Andrea, selbst wenn etwas mit deiner Mutter geschehen ist, muss es noch nichts Schlimmes sein. Der Kreislauf? Ein gebrochenes Bein? Dinge, die man reparieren kann.“

Andrea nickte nur. Er sprach weiter leise und beruhigend auf sie ein, und sie nahm es dankbar zur Kenntnis. Doch je näher sie ihrem Elternhaus kamen, umso schweigsamer wurde Oleg. Es schien ihr sogar, als würde er den Blickkontakt mit ihr meiden. Er hielt zwar nach wie vor ihre Hand, sah dabei aber ständig aus dem Fenster.

„Oleg?“

Er drehte den Kopf zu ihr und lächelte sie an. Aber es war nicht sein gewohntes Lächeln.

„Ich werde sofort, wenn wir bei meinem Vater sind, auf meiner Homepage einen großen Hinweis schalten, dass die Ausstellung Maximilian Ross abgesagt ist. Und eine Pressemitteilung verschicke ich auch. Und meine Mailingliste …“

Die Vorstellung, der Erpresser könnte vielleicht sogar auf ihrer Mailingliste stehen, getarnt als irgendein Interessent an ihrem regelmäßigen Newsletter, machte das Grauen ihrer Befürchtungen nur noch schlimmer. Sie versuchte sich auf ihre Eltern zu konzentrieren, und überlegte, welche Schritte getan werden konnten, sollte ihre Mutter noch immer nicht wieder aufgetaucht sein. Was zu vermuten war, denn ihr Vater hatte zugesagt, sie selbstverständlich sofort anzurufen. Sie kontrollierte den Empfang ihres Handys. Er war einwandfrei.

Im Rückspiegel beobachtete sie, wie Michael und Oleg Blickkontakt hielten. Fast unmerklich nickte Michael und konzentrierte sich dann wieder auf die Fahrbahn vor ihm.

„Wenn ihr was wisst, dann sagt es verdammt noch mal“, schrie sie die beiden Männer an.

„Nein, wir wissen nichts, Andrea. Aber wir haben uns eine Menge Gedanken gemacht. Es kann sein, dass wir dabei völlig falschliegen und dich dann nur unnötig ängstigen.“

„Noch mehr ängstigen könnt ihr mich nicht.“ Andrea spürte, wie sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Sie sah gehetzt von Michael zu Oleg und wieder zurück.

„Bisher sind wir davon ausgegangen, dass Maximilian Ross kein Serienmörder ist. Aber diesen, wenn es ihn denn überhaupt gibt, kennt. Doch das heißt nicht, dass diese Erkenntnisse irgendetwas mit dir und den Drohungen gegen dich zu tun haben. Es kann genauso gut, darüber haben wir gesprochen, ein Konkurrent sein, zum Beispiel der Maler, dessen Ausstellung du verschoben hast, irgendein Spinner aus der Branche oder eben Ross selbst. Denn so ganz dicht scheint er ja auch nicht zu sein.“

„Wenn aber der Serienmörder selbst durch die Presse von der Ausstellung wusste“, ergänzte nun Michael, „und vielleicht irgendwie mitbekommen hat, wie intensiv wir nach dem Maler suchen, dann könnte es doch sein, dass er sich durch die Glasbilder oder durch Maximilian selbst bedroht fühlt. Ich habe nicht die Spur einer Ahnung, warum er sich durch Bilder bedroht fühlen könnte, aber irgendeine Verbindung zwischen den beiden muss es ja schon vor Ihnen gegeben haben.“

„Und in diesem Fall hieße das, dass der Serienmörder der Briefeschreiber war. Und Serienmörder ticken nicht richtig im Kopf. Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass die Wochenfrist …“

Weiter musste Oleg auch nicht sprechen. Wie in Zeitlupe hatten sich Michaels und seine Ausführungen zu der einzig möglichen Schlussfolgerung zusammengetan, die heute bereits den ganzen Tag über in Andreas Kopf spukte und weshalb sie sich fest vorgenommen hatte, heute noch Florian Matussek alles zu erzählen, was sie bisher verschwiegen hatte. Das Verschwinden ihrer Mutter war ebenso wenig Zufall wie alles andere. Der Erpresser hatte es angedroht und nun früher als gedacht zugeschlagen. Und der Erpresser war ein Mörder. Ein Serienmörder. Dieser Gedanke schien ihr den Atem nehmen zu wollen. Der Druck in ihrer Brust wuchs sich zu einem Eisenring aus, der sie zu zerquetschen drohte. Die Tränen, die sich gerade gebildet hatten, trockneten schon, bevor sie die Augen ganz gefüllt hatten. Und die gleiche Trockenheit ließ ihre Stimme rau und brüchig werden.

„Wollt ihr mir dieses Horrormärchen weismachen, damit ich froh bin, wenn meiner Mutter ein Unfall oder sonst etwas passiert ist; Hauptsache nicht das, was ihr da ausmalt? Dann ist euch das gelungen. Herzlichen Glückwunsch.“

Michael schwieg.

„Wir sind gleich da, und wir werden abwarten, was dein Vater herausgefunden hat“, sagte Oleg.

Nichts, nichts hat Papa herausgefunden, sonst hätte er längst angerufen, schoss es Andrea durch den Kopf, und ihre Finger verkrampften sich um das Handy, das sie auf dem Schoß hielt.

Wortlos umarmte sie ihren Vater, der gehetzt aussah. In der Ecke des Eingangsflures stand Frau Müller. Die Haushälterin hatte schon längst Feierabend. Aber natürlich war sie dageblieben. Verängstigt wie Andrea auch. Sie war schon im Haus gewesen, als Andrea noch ein Kleinkind gewesen war. „Andrina, ging es deiner Mutter denn gut, als du sie heute Mittag gesehen hast? Du weißt doch, ihr Blutdruck“, fragte Frau Müller, kaum dass Andrea ihren Vater losgelassen hatte.

„Doch, Mülli, es ging ihr sehr gut. Es muss eine andere Erklärung geben. Papa. Das ist Herr Wesselov. Ihr kennt euch von der Vernissage Hauswald. Wir waren gerade gemeinsam unterwegs, als dein Anruf kam. Er wird uns helfen, Mama zu finden.“

„Guten Tag, Herr Wesselov.“ Gerhard Wahrig reichte Oleg die Hand und wandte sich sichtlich verwirrt an Andrea. „Wie meinst du das? Helfen. Wobei? Ich denke, das hier ist eher eine Privatangelegenheit.“

„Gleich, Papa. Ich erkläre es dir. Ich muss nur erst etwas extrem Wichtiges tun.“ Sie zog ihr MacBook aus der Tasche, stellte die Verbindung ins WLAN des Hauses her und rief die Administration ihrer Homepage auf. Während sie hastig eine Mitteilung online stellte, dass leider aus Krankheitsgründen die geplante Vernissage des Künstlers Maximilian Ross nicht stattfinden würde, redete ihr Vater ununterbrochen auf sie ein.

„Deine Mutter ist verschwunden. Ich sterbe vor Angst, und du hast nichts Besseres zu tun, als irgendetwas an deiner Seite zu basteln? Könntest du mir bitte erst einmal erklären, was los ist. Warum kommst du mit einem wildfremden Mann in mein Haus? Wie stellst du dir …?“

Andrea hörte nicht mehr zu. Hastig griff sie zum Telefon und wählte die Nummer von Florian Matussek. Nur die Mailbox. „Herr Matussek. Hier Andrea Wahrig, die Galeristin aus der Gubener Straße. Sie erinnern sich: der vermisste Maler. Bitte rufen Sie mich zurück.“ Andrea ging ins Esszimmer und senkte ihre Stimme. „Es geht im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod. Bitte! Melden Sie sich, sobald Sie das hier gehört haben.“ Zurück im Wohnzimmer ignorierte sie weiterhin die fragenden Blicke ihres Vaters. „Ich habe die Polizei gerufen.“

Vom Türrahmen jammerte Frau Müller. „Die Polizei? Mein Gott, Andrina, du meinst, es ist ihr ernsthaft etwas passiert?“

„Papa, ihr habt die Krankenhäuser schon angerufen? Ihren Hausarzt? Mülli, hast du alle Bekannten und Freundinnen erreicht?“ Das erste Mal in ihrem Leben las sie nicht, wie sich Kriminalkommissare in einem solchen Fall verhielten, sondern sie lebte es. Alle ihre Sinne waren auf Handlung gerichtet. Auf Aktivität. Würde sie still hier im Wohnzimmer stehen bleiben, käme es ihr vor, als sähe sie jemanden verbluten, ohne den Arzt zu rufen. Außerdem würde sie weinend zusammenbrechen, wie es Mülli gerade tat. Das konnte sie weder ihrem armen Vater antun, der von einem gestandenen Geschäftsmann zu einem in seiner Hilflosigkeit wütenden Ehemann geworden war, noch ihrer Mutter, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach in den Fängen eines Wahnsinnigen befand. Mein Gott. Ich lese nie wieder Krimis, wenn das hier gut ausgeht.

Das Telefon klingelte, noch bevor sie zu irgendwelchen Erklärungen gegenüber ihrem Vater ansetzen konnte. Was und wie hätte sie diesen Irrsinn auch erklären können?

„Hier ist Florian Matussek“, hörte sie am anderen Ende. Sie deutete ihrem Vater an, dass es nicht seine Frau war, und flüchtete in den Flur. Frau Müller wollte ihr folgen. Aber sanft schob Andrea sie zurück ins Wohnzimmer und schloss die Tür. Mit hastigen Worten erzählte sie dem Profiler die Ereignisse und die ihm bisher verschwiegenen Informationen. Er sagte zu, sofort zu kommen.

„Soll ich trotzdem die Polizei rufen?“

„Das erledige ich von unterwegs. Versuchen Sie unterdessen alle privaten möglichen Erklärungen für das Verschwinden Ihrer Mutter auszuschließen. Spätestens in einer halben Stunde bin ich bei Ihnen.“ Sie legten auf.

Aus dem Wohnzimmer hörte sie ihren Vater schreien. Sie öffnete die Tür und sah ihn mit hochrotem Kopf unmittelbar vor Oleg stehen, der sich achselzuckend zu ihr umdrehte. „Was bilden Sie sich ein, meine Tochter und meine Frau in Ihre Machenschaften hineinzuziehen. Ich warne Sie. Ich mache Sie fertig, wenn das hier nicht zu einem guten Ende kommt.“

„Beruhige dich, Papa.“ Sie drängte ihn von Oleg weg und zwang ihn, sich auf die Couch zu setzen. Sie warf Oleg böse Blicke zu. Warum hatte er auch schon begonnen, ihren Vater aufzuklären, welch schreckliche Vermutungen sie hegten? „Oleg ist ein Freund. Nicht unser Feind. Er hat mir sehr geholfen, und er wird uns auch jetzt helfen, wenn er kann. Und er hat mit der Sache wirklich nicht das Geringste – hörst du? – nicht das Geringste zu tun.“ Sie wandte sich zu Frau Müller. „Mülli, könntest du uns bitte einen Kaffee machen? Gleich eine große Kanne, ja?“

Andrea staunte über sich selbst. Hier drehte sich gerade etwas gewaltig an der gewohnten Konstellation in diesem Haus. Ihr Vater saß wortlos auf dem Sofa – und Oleg? Es schien beinahe, als hätte der Wutausbruch ihres Vaters ihn eingeschüchtert. In dem menschlichen Dilemma um ihn herum verlor sich jede geschäftsmäßige Routine. Sie dagegen delegierte. Ein Gefühl der Stärke durchzog sie, und sie wusste, dass sie sich auf dieser Stärke keine Sekunde ausruhen durfte, sonst würde sie wie ein Häufchen Elend neben den beiden Männern sitzen.

Frau Müller brachte einen starken Kaffee, und der half Andrea, endlich ihrem Vater mit ruhigen Worten alles zu erzählen, was sie wussten. Egal, wie schonend sie das versuchte, nahm mit jedem ihrer Worte der Schrecken bei ihrem Vater und Frau Müller zu. Sie ignorierte ihre Fragen – was hätte sie auch für Antworten? – und berichtete weiter bis zum Ende. Nach einer Weile des Schweigens, die keiner zu unterbrechen wagte, stand ihr Vater auf. Seine Stimme begann leise und schwoll immer weiter an. „Deine verdammte Galerie. Deine verdammten Künstler. Diese Arschlöcher, die meinen, mit ihren Klecksen könnten sie die Welt schöner machen. Elende Spinner sind das. Lebensuntaugliche Idioten, die hinter der Kunst verstecken, dass sie nichts zustande bringen. Und du hofierst diese Idioten. Jetzt siehst du, wo du deine Mutter damit hingebracht hast.“

Der Berg aus Stärke, auf dem sie noch eben gestanden hatte, rutschte unter Andreas Füßen weg, als sei er aus Puderzucker. So also dachte ihr Vater über sie. Aber egal, was er im Einzelnen gesagt hatte, der Kern seiner Aussage, sie sei schuld an der Gefahr, in der ihre Mutter schwebte, stimmte und erstickte jeden Widerspruch. Auch Oleg und Frau Müller waren aufgestanden. Die Haushälterin ging auf Gerhard Wahrig zu. „Herr Wahrig. Ich bitte Sie. Was kann denn Ihre Tochter dafür?“, flüsterte sie und legte die Hand auf seine Schulter. Oleg stellte sich neben Andrea, eigentlich halb vor sie.

„Was macht eigentlich Michael?“, fragte sie leise.

„Er sitzt im Auto und ruft einige Leute an, die bei der Suche helfen könnten.“

Gerhard drehte sich um, ohne auf Frau Müllers Besänftigungsversuche zu achten. „Wer ist Michael? Mit welchen Leuten telefoniert er? Hat das etwas mit meiner Frau zu tun? Dann möchte ich das bitte jetzt sofort wissen.“

Es war offensichtlich, dass ihr Vater den Blickkontakt zu ihr mied. Er sah nur Oleg herausfordernd an.

„Michael ist ein Mitarbeiter Olegs. Er hat gute Kontakte“, antwortete Andrea, bevor Oleg es tun konnte. Das erste Mal am heutigen Abend ging ein leichtes Schmunzeln über Olegs Mund. Er stand jetzt dicht neben ihr und griff unauffällig ihre Hand und drückte sie.

„Kontakte zu Serienmördern und irren Malern, ja?“

„Herr Wahrig, glauben Sie mir bitte mein vollstes Verständnis für Ihre Erregung. Aber ich stehe auf Ihrer Seite und auf der Ihrer Tochter. Dieser Mitarbeiter trommelt ein paar Leute zusammen, falls wir einen Anhaltspunkt für den Aufenthaltsort des Malers oder Ihrer Frau haben sollten. Wir wollen keine Zeit verlieren.“

„Überlassen Sie das bitte der Polizei, und halten Sie sich da raus.“

Das Klingeln an der Haustür enthob Andrea einer Reaktion. Draußen standen Florian Matussek und zwei uniformierte Beamte.

„Was passiert denn jetzt?“, fragte Gerhard Wahrig, nachdem Andrea und Oleg, was sie wussten, auch Matussek ausführlich berichtet hatten.

„Ich kann Ihnen leider nicht verhehlen, dass dieser Fall auch für uns schwierig ist. Wir haben gestern eine Sonderkommission gegründet. Da wir durch die Hinweise, die Ihre Tochter in der Wohnung des Künstlers gefunden hat, von einem Zusammenhang vieler ungeklärter Vermisstenfälle ausgehen müssen. Der Maler steht zu diesen Fällen in einer uns nicht bekannten Beziehung.“

„Wenn wir nur wüssten, in welcher!“, unterbrach Andrea ihn.

„Es sind bisher leider nur reine Vermutungen, zu denen ich mich im Moment nicht äußern möchte. Auf jeden Fall konzentriert sich die Suche auf den Maler Maximilian Ross alias Clemens Borchert. Wenn wir ihn finden, werden wir mehr wissen. Frau Wahrig, haben Sie die Unterlagen, die Sie uns, sagen wir mal, verschwiegen haben, bei sich?“

Gerhard Wahrig stöhnte auf. „Es wird ja immer besser. Heißt das, meine Tochter hat wichtige Beweismittel unterschlagen, mit deren Hilfe Sie den Maler schon längst gefunden hätten?“

„Nein, das bedeutet das nicht. Ihre Tochter ist erst seit Kurzem im Besitz dieser Unterlagen, von denen wir die meisten von ihr erhalten haben und weswegen gestern die Sonderkommission ihre Arbeit aufgenommen hat.“

„Ich habe die Unterlagen in der Galerie. Aber was ist mit der Adresse, die ich Ihnen gegeben habe? Wohin wir unterwegs waren, als mein Vater anrief?“, antwortete Andrea.

Matussek schüttelte den Kopf. „Ein leer stehender, verfallener Bauernhof in der Nähe des Elternhauses Borchert, keine Spuren, dass dort in den letzten Wochen oder Monaten jemand gewohnt haben könnte. Es tut mir leid.“

Er reichte Andrea, ihrem Vater und Oleg Visitenkarten mit handschriftlicher Ergänzung. „Hier ist die Nummer, unter der Sie rund um die Uhr jemanden von der Sonderkommission erreichen können. Egal, was Ihnen noch einfällt oder wer sich bei Ihnen meldet, rufen Sie uns bitte an. Wir gehen nicht davon aus, dass sich ein Entführer bei Ihnen melden wird. Trotzdem wird ein Kollege hierbleiben, falls das doch geschieht oder Sie Hilfe benötigen. Könnten wir gleich in die Galerie fahren, Frau Wahrig?“

Sie nickte.

„Ich habe mein Handy ununterbrochen bei mir. Wir rufen uns gegenseitig an, sobald einer etwas Neues weiß, Papa.“

„Du kommst nicht wieder nach Hause?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann hier nichts helfen.“

Oleg und sie folgten Florian Matussek. An der Haustür drehte sie sich zu Frau Müller um. „Könntest du es irgendwie einrichten und hierbleiben?“

„Selbstverständlich mache ich das. Nimm es dir nicht so zu Herzen, was er gesagt hat. Er macht sich Sorgen.“

„Die mache ich mir auch. Pass ein wenig auf ihn auf, ja?“ Andrea küsste sie zum Abschied.

„Sie wissen schon, Frau Wahrig, dass ich Ihnen ein Nachspiel wegen des Einbruchs und der falschen Angaben bei der Vermisstenanzeige nicht ersparen kann?“, fragte Florian Matussek, als sie auf der Straße standen.

„Das dürfte jetzt nicht das Wesentliche sein“, entgegnete Oleg schroff.

„Es war aber das Wesentliche, lieber Herr Wesselov. Bis Clemens Borchert auf der Bildfläche erschien, gab es lediglich meine persönliche Theorie, dass sich hinter einem gemeinsamen Datum von vermissten Personen ein Serienmörder verstecken könnte. Man hat mir an höherer Stelle diesen Verdacht nicht abgenommen, weil es keinerlei weitere Gemeinsamkeiten gab. Jährlich werden hunderttausend Menschen in Deutschland als vermisst gemeldet. Aber mit Clemens Borchert und den Drohbriefen gegen Frau Wahrig haben wir jetzt unter Umständen einen Schlüssel zu dem Ganzen. Und der erste Drohbrief ist nach ihren eigenen Angaben bereits vor über einer Woche eingetroffen. Lassen Sie uns also keine Zeit mit irgendwelchen Rechtfertigungen vertun, warum Sie wertvolle Informationen verschwiegen haben. Frau Wahrig? Wir treffen uns in Ihrer Galerie?“

Andrea war kaum in der Lage zu nicken. Sie trug die Schuld an der Entführung ihrer eigenen Mutter. Ihr Vater hatte vollkommen recht. Dieser Gedanke hämmerte in ihrem Kopf, als schlüge jemand eine Riesenmetallglocke neben ihrem Ohr. Dass sie niemals wieder verstummen würde, war sich Andrea in diesem Moment sicher.