16. KAPITEL

Andrea hatte Glück und fand sofort einen Parkplatz auf dem Mittelstreifen des Kurfürstendamms, fast unmittelbar vor dem Haus 188, in dem Oleg sein Büro hatte. Sie betrat das Gründerzeithaus und klingelte an der schweren und reich verzierten Eichentür, die sein Firmenschild trug. Ein summendes Geräusch lud sie ein, die Tür aufzudrücken. Von einem Flur mit lederbezogenen Besucherstühlen auf hochpoliertem Parkett konnte sie in einen Büroraum sehen. Oleg stand neben dem Schreibtisch einer Sekretärin und studierte Unterlagen in seiner Hand. Als er den Kopf hob, verschwand der konzentrierte Ausdruck aus seinem Gesicht, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.

„Andrea, wie schön!“

Sie hätte erwartet, dass er sie förmlich mit Nachnamen anreden würde. Schließlich dürften seine Mitarbeiterinnen, die sie gerade neugierig musterten, auch von Ehefrau und Kindern in Kleinmachnow wissen. Aber wie selbstverständlich ging er auf sie zu, legte den Arm um ihre Schultern und führte sie so in einen Raum mit schwarzen Büromöbeln, die aussahen, als seien sie dem Bauhaus in Dessau entliehen. Er schloss die Tür und küsste sie zärtlich. Sie wich aus. Erstaunt betrachtete er sie von der Seite. „Ich dachte, diese Phase hätten wir überwunden?“

Sie beachtete ihn nicht und trat an das bis auf den Fußboden reichende Glasfenster. „Bei mir war gerade jemand von der Kriminalpolizei. Er hat auch nach dir gefragt.“

„Du weißt, dass das nicht so war, wie du es jetzt gerade wirken lassen möchtest. Ich frage mich nur, warum du so merkwürdig formulierst?“

Andrea hatte das Gefühl, platzen zu müssen. Sie wusste nicht mehr, wo die einzelnen Figuren Erpresser, Maximilian, Oleg und dieser Profiler gerade auf dem Spielbrett ihres Lebens standen, während sie irgendwo zwischen Start und Ziel hin- und herirrte. „Ein Profiler, der meint, unser lieber Maximilian oder Clemens, wie auch immer, könnte irgendwas mit den Vermissten aus den Zeitungsausschnitten zu tun haben. Und zum Schluss hat er gefragt, wie gut ich dich kenne. Ziemlich eindeutig, oder?“

Erst, als er seine Hände auf ihre Oberarme legte, registrierte sie, dass Oleg dicht hinter sie getreten war. Er drehte sie sanft, aber bestimmt zu sich herum. Ungewöhnlich ernst sah er sie an, während er ihrem Gesicht immer näher kam. Schließlich verschwammen seine Gesichtszüge vor ihrem Blick, und sie schloss die Augen. Dann spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund. Alles schien sich zu drehen, und sie fühlte die Wärme seiner großen Hände, die ihren Rücken umfassten, während sie ihre Lippen öffnete und seinen Kuss erwiderte.

Dann siegte wieder ihre Skepsis. „Erkläre mir, wieso ein Profiler des BKA dich kennt“, forderte sie und schob ihn weg.

„In meiner Branche schlängeln sich nicht alle Leute ganz legal durchs Leben. Gerade einige meiner Landsleute fischen da eher im Graubereich. Was meinst du, wie oft ich hier im Büro schon eine Hausdurchsuchung hatte, weil irgendein Idiot von Geschäftspartner wirtschaftlichen oder steuerlichen Unsinn angestellt hat! Die Kripo will dann Unterlagen und Informationen haben und prüft natürlich sofort, ob ich ebenfalls einer dieser bösen Buben bin. Aber ich schwöre dir: Erstens ging es immer nur um Geld, niemals um Gewalt und schon gar nicht um Entführung, und zweitens gab es niemals irgendwelche Prozesse gegen meine Person oder gegen meine Firma. Zugegeben: Ich könnte jederzeit gewisse Dienste in Anspruch nehmen, wenn ich wollte. Aber ich denke, inzwischen weißt du, dass ich von diesen Möglichkeiten nur sehr vorsichtig und nur im Notfall Gebrauch mache.“

„Wie zum Beispiel in eine Wohnung einzubrechen, ich weiß. Aber wieso kennt dieser Matussek dich dann, wenn es angeblich nur um wirtschaftliche Dinge geht?“

„Florian Matussek, Ende dreißig, schlank, immer braun gebrannt?“

„Ja“, bestätigte sie erstaunt.

„Florian Matussek ist der Bruder von Marlene Matussek, und die Bekanntschaft dieser Dame aus dem Betrugsdezernat durfte ich bereits mehrmals machen.“

„Ach, und da ist es normal, dass man die Geschwister gleich ebenfalls kennt?“

„Du bist ein misstrauischer Mensch, Andrea.“ Oleg lächelte nicht mehr. „Wenn man zu gleichen gesellschaftlichen Anlässen eingeladen wird, dann schon. Wir haben uns auf dem deutsch-russischen Ball kennengelernt. Ich hielt ihn erst für ihren jüngeren Lover. Er sieht gut aus. Sehr gut.“

„Finde ich auch“, sagte sie ernst. Dann mussten sie beide lachen. Sie sollte sich besser diese Leichtigkeit ihrer Beziehung erhalten, anstatt hinter allem, was Oleg tat, krumme Geschäfte zu vermuten. „Sollten wir nicht diesen Profiler einweihen? Ich war drauf und dran, es zu tun.“

„Hätte ich gut verstanden. Immerhin bedroht jemand deine Mutter und damit auch dich.“

Sie sah ihn überrascht an, erkannte aber keine Ironie in seinen Augen.

„Ich muss gehen. Ich treffe mich heute Mittag noch mit meiner Mutter.“

„Grüße sie bitte von mir.“

„Ich glaube, das werde ich nicht tun“, erwiderte sie lachend und verließ sein Büro.

Nur eine Stunde war seit ihrer Rückkehr vergangen, als Oleg in der Galerie stand. „Ich hatte keine Lust zu warten, um dir eine gute Nachricht zu überbringen. Und ich brauche einen Kaffee. Die letzte Nacht war zu kurz für einen alten Mann.“

„Für einen alten Mann war es aber eine unbeschreiblich schöne Nacht.“

Er schwieg und quittierte diese Aussage nur mit einem Händedruck, der sich besser anfühlte als jedes Wort, das er hätte erwidern können.

„Habt ihr etwas herausgefunden?“

„Ich glaube, meine Leute haben Maximilian Ross gefunden.“

„Deine Leute? Noch mehr Michaels?“ Sie zog die Augenbrauen hoch.

„Ja, der auch.“ Oleg zuckte mit den Schultern. „Meine schöne Andrea, ich kenne nun mal ziemlich viele Leute. Ich weiß, du denkst jetzt wieder an diesen Florian Matussek. Aber ich kann es doch auch nicht ändern, dass die Polizei in der Regel nun einmal langsamer arbeitet. Oder sagen wir, nicht so effektiv.“

Normalerweise hätte sie sich an seiner gerade wieder durchscheinenden Überheblichkeit festgebissen, so aber war sie viel zu neugierig, schwieg deshalb und schob ihm die gefüllte Kaffeetasse hin.

„Das Elternhaus des Malers gibt es noch. Ein typischer Vierseiten-Bauernhof in Retzow. Aber Maximilian Ross hat ihn nach dem Tod seiner Eltern verkauft. An einen Investor, der allerdings inzwischen insolvent ist. Das Haus steht unverändert leer. Die Eltern sind bei einem Fährunglück auf der Ostsee ertrunken. Angehörige hat er im Ort keine mehr. Es soll noch eine Großmutter in Köln gegeben haben. Aber die ist wohl ebenfalls inzwischen verstorben. Michael fiel dann ein, in Berlin und im Umkreis zwischen Berlin und Retzow bei Glasereien zu fragen. So große Glasplatten müssten ja auffallen, zumal, weil Ross aller Wahrscheinlichkeit nach die oberen Rundungen nicht selbst geschnitten haben dürfte. Die Kanten der Platten, die wir in der Wohnung gesehen haben, waren jedenfalls professionell bearbeitet. Und wir haben tatsächlich einen Glaser gefunden, der sich erinnern konnte, einige dieser Platten vor ein paar Jahren ausgeliefert zu haben. Hat Ross dir jemals erzählt, wann er mit der Glasmalerei begonnen hat?“

„Vor sieben Jahren. Aber er hat gesagt, dass er alle Platten auf einmal gekauft habe, weil es so billiger gewesen sei.“

„Hat er dir auch gesagt, wie viele?“

„Ich kenne elf Bilder plus ein begonnenes.“

„Der Glaser sprach nur von insgesamt fünf – und die auch nicht alle zusammen, sondern erst zwei und dann im Abstand von jeweils einem Jahr.“ Oleg wirkte nachdenklich.

Viele der vermissten Personen waren ebenfalls im Abstand eines Jahres verschwunden. Hatte Maximilian noch weitere gemalt? Welche, deren Models dies nicht überlebten? Andrea schüttelte ungläubig den Kopf.

„Die genauen Daten konnte er nicht mehr sagen. Die alten Auftragsbücher seien längst irgendwo in einem Keller. Er meinte sich zu erinnern, dass der erste Kauf schon Anfang der Neunziger gewesen sei.“

„Dann kann Maximilian kaum der Käufer gewesen sein.“ Andrea wusste nicht, ob sie sich über diese Schlussfolgerung freuen oder noch beunruhigter sein sollte, als bisher schon.

„Ich weiß. Andererseits glaubst du, dass es zwei Menschen gibt, die genau solche Platten brauchten? Vielleicht hat sich der Glaser auch einfach im Datum geirrt.“

„Vielleicht waren sie für echte Kirchenfenster.“

Oleg lächelte sie breit an. „Du bist gut. Michael hat herausgefunden, dass Anfang der Neunziger die Kirche in Retzow renoviert wurde, und weil überall Geld fehlte, und natürlich besonders für die Kirchen in der ehemaligen DDR, sind dort tatsächlich Mosaikfenster ersetzt worden, die nur als Mosaik gemalt waren. Michael meint, man könne die ersetzten Fenster kaum von den echten Mosaikfenstern unterscheiden.“

„Aber, dann ist doch alles klar. Diese Glasplatten haben nichts mit Ross zu tun.“

„Der letzte Kauf war aber erst vor ein paar Jahren, also lange nach der Kirchensanierung. Und das Auftragsbuch hatte der Glaser auch noch da. Mit Lieferanschrift. In seinem Keller archiviert. Er hat uns versprochen, es in der Mittagspause herauszusuchen und will uns danach sofort anrufen.“ Oleg machte eine bedeutsame Pause.

„Und du meinst, das könnte der Ort sein, wohin sich Ross zurückgezogen hat?“

„Willst du mitfahren?“

„Das fragst du noch?“

„Kannst du die Galerie einfach schließen? Was ist mit Hauswald?“

„Ich treffe mich jetzt sowieso mit meiner Mutter, die Galerie öffne ich abends wieder.“

Er stand auf und umarmte sie. Obwohl in diesem Moment ihre Gedanken noch immer aufgeregt um Maximilian Ross schwirrten, verspürte sie sekundenlang die Ruhe und Vertrautheit der gestrigen Nacht. Bei Olegs Berührungen verschwand wie von Geisterhand alle Abwehrspannung, die sie normalerweise reflexartig aufbaute, wenn jemand anders als ihre Eltern sie berührte. Ihr Körperempfinden nahm stark zu, sodass sie jede kleinste Berührung seiner Finger und seines Mundes auf ihrer Haut so intensiv spürte, dass sie sich sofort nach mehr sehnte. Sie zwang sich, einen Schritt zurückzutreten, und sah Oleg prüfend ins Gesicht.

„Du bestimmst Maß und Zeit“, sagte er ungewöhnlich ernst. Sie nickte dankbar und begleitete ihn zur Tür. Als er sich auf der Straße noch einmal umdrehte, warf sie ihm eine Kusshand zu und fand sich selbst dabei erstaunlicherweise gar nicht lächerlich.

Sie sah sich prüfend in der Galerie um. Alle Spuren der gestrigen Vernissage waren beseitigt. Sie schloss die Tür und machte sich auf den Weg zum Ernst-Reuter-Platz. Ein Treffen mit ihrer Mutter fand immer im Berliner Westteil statt, und da ihre Mutter heute nicht mit dem Auto unterwegs war, hatte Andrea ein Café in der Nähe einer U-Bahn-Station ausgewählt.

Das Wetter hatte umgeschlagen. Heute Morgen noch hatte trotz des Regens in der Nacht die Sonne am blauen Himmel gestanden. Jetzt hielt sich ein kilometerdickes Wolkenband über der Stadt, das den Häuserfassaden jegliche Farbe nahm und die Temperatur gefühlte fünf Grad weniger sein ließ, als das Thermometer zeigte. Andrea stieß die Tür zum Café auf, in dem es anheimelnd nach gerösteten Bohnen und frischem Gebäck duftete. Die Tische waren besetzt mit Studenten, die an ihren Laptops arbeiteten, und älteren Geschäftsleuten, die eine Pause zwischen ihren Terminen einlegten. Andrea nahm am letzten freien Tischchen mit altmodischen, aber bequemen Sesseln Platz, und nur eine Minute später fragte eine junge Frau nach ihren Wünschen. Andrea musste lächeln. Es war noch gar nicht so lange her, dass sie in Cafés wie diesem hier den elterlichen Unterhaltsbetrag aufgefrischt hatte. Sie hatte ihre Bestellung noch nicht zu Ende gesprochen, als ihre Mutter durch die Tür trat.

Mit knappen Worten berichtete Giorgia, was in der letzten Woche in ihrem ereignisarmen Leben in Hermsdorf vorgegangen war. „Aber nun zu dir, Andrina, mein Schatz. Konntest du endlich diesen merkwürdigen Maler finden, den du unbedingt ausstellen willst?“

„Noch nicht, aber das ist eine lange Geschichte.“

„Dann erzähl schon. Deshalb freue ich mich doch immer so auf unsere Treffen.“

Andrea berichtete von der plötzlichen Absage des Künstlers, ihrer Vermisstenanzeige und vom Besuch des Profilers. Sie tat, wie zuvor bei Florian Matussek, als hätte sie alle Informationen aus dem vergessenen Ordner in ihrer Galerie. Den Einbruch und die Bedeutung Olegs in ihrem Leben und die Drohbriefe verschwieg sie wohlweislich. Zu Recht, denn ihre Mutter stöhnte bei jedem neuen Fakt, den ihre Tochter von sich gab, entsetzt auf. Andrea hoffte, ihre Erzählungen würden sich im Unterbewusstsein ihrer Mutter als Warnung einnisten. Abrufbar, sollte dieser Erpresser sie wirklich irgendwo und irgendwann ansprechen.

„Kind. Um Himmels willen. Wo bist du da nur hineingeraten? Beende diese Suche. Auf der Stelle. Schlag dir diese Ausstellung aus dem Kopf. Bitte. Versprich es. Ich kann keine Minute mehr schlafen, wenn du mir das nicht auf der Stelle schwörst.“ Sie blickte wie ein erschrockenes Häschen um sich und deutete dann eine schnelle Bekreuzigung an. Wie die meisten Italienerinnen war sie katholisch, konnte dies aber nur im Stillen leben. Wie so vieles, dachte Andrea traurig. Ihr Vater bestimmte nicht nur, wo es in der Familie langging, sondern auch, in welche Kirche man zu gehen hatte. Bei jeder Geschäftsreise ihres Mannes, die über einen Sonntag hinausging, besuchte ihre Mutter den Gottesdienst der kleinen katholischen Kirche Maria und hielt auch die Woche über den Kontakt zur Gemeinde.

„Mach dir keine Sorgen, Mama. Wir glauben, dass Maximilian Ross auf keinen Fall als Täter mit dieser Sache zu tun haben kann. Er war viel zu jung, als die ersten dieser Vermisstenfälle auftraten. Wer weiß, aus welchen Gründen er diese Artikel ausgeschnitten hat? Er ist eben ein wenig schwierig. Aber fast alle Künstler, mit denen ich zu tun habe, sind das. Mir geht es nur um seine Bilder.“ Während sie sprach, wurde Andrea schlagartig bewusst, was diese Aussagen eigentlich bedeuteten. Jemand anderes als Maximilian war der Täter und hatte wohl auch die Drohbriefe geschrieben. Und in diesem Moment wurde ihr klar, dass sie noch heute Florian Matussek informieren würde. Alle Gründe, die das bisher angeblich verhindert hatten, waren Unsinn. Diese ganze mysteriöse Angelegenheit war eine Sache für die Polizei. Nicht für Oleg, nicht für Michael und nicht für sie.

„Wer ist wir?“ Die fast schwarzen Augen ihrer Mutter durchdrangen Andrea, und sie biss sich auf die Lippen. Sie fühlte sich von jeher bei ihrer Mutter sicher und war es in ihrer Gegenwart nicht gewohnt, zu überlegen, was sie sagte oder wie sie sich verhielt. Zögerlich erzählte sie von dem Kunden Oleg, der schon ein paar Bilder gekauft hatte, und von seiner Hilfe in dieser Angelegenheit. Ihre Mutter hörte schweigend zu, aber ihre Augen verrieten, dass sie aufmerksam auf die kleinsten Gesten ihrer Tochter achtete.

„Welche Rolle spielt er noch in deinem Leben?“

In Momenten wie diesem verwünschte Andrea das gute Verhältnis zu ihrer Mutter. Was sollte sie jetzt antworten? Es waren alles noch ungelegte Eier. Im selben Moment wusste sie, dass für ihre Mutter allein ihr Zögern Antwort genug war.

„Nein. Die Trennung von Martin ist noch viel zu frisch“, sagte sie und hoffte, dass ihre Mutter den energischen Unterton verstand.

Wie immer ignorierte ihn Giorgia. „Dann wende dich an diesen Polizeibeamten. Er hat mehr Erfahrung. Auf keinen Fall suchst du allein weiter nach dem Maler. Versprich mir wenigstens das.“

Andrea nickte. Sie hatte sich soeben vorgenommen, genau dies zu tun, und vielleicht sollte sie dem Profiler bei der Gelegenheit auch gleich mitteilen, wohin Oleg und sie nachher fuhren. Sie verwarf die Idee gleich wieder. Oleg hätte sicher wenig Verständnis dafür, dass sie vor seinem Büro mit einem Kriminalbeamten aufkreuzte und er erklären musste, woher er die Informationen hatte.

Sie versuchte, das weitere Gespräch von der Galerie abzuwenden, und fragte nach den Lieblingsnachbarn in derselben Straße in Hermsdorf, drängte ihre Mutter dazu, über die neuesten Pflanzungen im Garten zu reden, und erzählte von Martins Berichten über die Wahnsinnsstadt Singapur. Ihre Ablenkungsmanöver wirkten, und als ihre Mutter das nächste Mal zur Uhr sah, stellte sie erschrocken fest, wie spät es schon war.

„Warum? Was hast du denn noch vor?“, fragte Andrea.

„Heute ist doch der Termin bei Professor Jungstein, dem Kardiologen. Ich bin so froh, dass er Papa noch dazwischenschieben konnte. Normalerweise muss man mindestens drei Wochen auf einen Termin warten. Selbst als Privatpatient.“ Sie winkte heftig in Richtung Bedienung. So entspannt sie die letzten Minuten ihrer Tochter zugehört hatte, so unruhig schien sie jetzt.

Ach Mama. An dich denkst du immer zuletzt, dachte Andrea liebevoll. Sie bezahlten und verließen das Café.

„Warum fährst du nicht gleich zu Papa? Dann kann er nicht mehr kneifen“, schlug Andrea vor. Die Firma ihres Vaters befand sich in Wittenau, ein Stadtteil, der genau an der S-Bahn-Strecke lag, die ihre Mutter nehmen würde, um nach Hause zu kommen.

Energisch schüttelte Giorgia den Kopf. „Die Überweisung und die notwendigen Unterlagen von seinem Hausarzt liegen noch zu Hause. Ich habe ja nicht gedacht, dass ich so die Zeit vergesse. Nein, ich fahre jetzt schnell zurück und nehm dann zu Papa das Auto. Oh Gott, hoffentlich ist kein Stau. Melde dich heute Abend auf jeden Fall, mein Schatz. Ich will wissen, wie es mit dieser abenteuerlichen Sache weitergeht, und ruf gleich diesen Kriminalkommissar an, ja?“

„Profiler, Mama. Ja, versprochen. Außerdem rufe ich sowieso an. Schließlich will ich wissen, ob Papas Herz noch an der richtigen Stelle schlägt.“ Sie zwinkerte ihrer aufgeregten Mutter zu, um sie ein wenig zu beruhigen.

Ihre Mutter entfernte sich in Richtung U-Bahn-Eingang, und Andrea sah ihr nach, bis sie auf der Treppe in den Untergrund verschwunden war. Sollte sie jetzt bereits zu Oleg fahren? Ihr fiel eine Secondhandboutique ein, die hier ganz in der Nähe Designermode führte und in der sie schon oft eingekauft hatte. Eine gute Idee, sich die Pause bis zu ihrem Treffen zu vertreiben.

Eine Stunde später trat sie hochzufrieden wieder auf die Straße. Einen tollen engen Rock hatte sie erstanden; zwei Cashmerepullover für den nahenden Herbst und eine lange weiße Bluse, die hervorragend zu Jeans passte. Ihr schlechtes Gewissen hinsichtlich der nächsten Rate für den Gerichtsvollzieher besänftigte sie mit dem Gedanken, dass die Kleidung schließlich nicht neu war und sie für alle Teile zusammen so viel bezahlt hatte wie für ein neues Stück. Und das musste ja wohl auch in ihrer Lage möglich sein. Sie warf die Tüten in den Kofferraum und beeilte sich, zum Ku’damm zu fahren.

Michael und Oleg waren bereits abfahrbereit.

„Hast du einen richtigen Parkplatz gefunden?“

„Ja“, antwortete Andrea.

„Schön, dann lass dein Auto da stehen. Wir fahren zusammen in Michaels Wagen.“

Es war Andrea egal, mit welchem Auto sie fuhren, Hauptsache, sie fanden dort tatsächlich Maximilian Ross, und sie konnte endlich mit ihm persönlich sprechen. Oleg setzte sich anstatt auf den Beifahrersitz zu ihr auf die Rückbank. Und obwohl Michael einen geräumigen Range Rover fuhr, saßen sie eng beieinander. Michael grinste ihnen aus dem Rückspiegel zu, und Andrea fragte sich, wie oft er schon seinen Chef, oder was auch immer Oleg für ihn war, mit einer anderen als Frau Wesselov auf der Rückbank chauffiert hatte. Sie widerstand dem Reflex, von ihm wegzurücken, genoss stattdessen die Berührung und erwiderte seinen Händedruck.

Ungeduldig hielt Andrea Ausschau nach den Hinweisschildern. Die Fahrt würde nur eine knappe Stunde dauern, und ihre Aufregung wuchs. Ihr Handy klingelte. Sie kramte es gerade noch rechtzeitig, bevor die Mailbox ansprang, aus der Handtasche.

„Ja, Papa?“

„Mama und ich waren für halb drei verabredet. Sie wollte mich zu diesem Professor schleppen. Aber sie ist noch nicht da. Frau Müller sagt, sie sei von eurem Treffen gar nicht nach Hause gekommen, und sie geht auch nicht an ihr Handy. Kannst du dich erinnern? Hat sie vielleicht gesagt, dass wir uns direkt im Virchow-Krankenhaus treffen? Dann müsste ich jetzt nämlich sofort losfahren. Den Termin zu versäumen würde deine Mutter mir nie verzeihen.“ Er lachte.

Andrea sah auf ihre Uhr. Es war fast halb vier.

„Nein. Sie wollte nach Hause, die Unterlagen holen und dann zu dir in die Firma. Vielleicht gab es einen Stau, und ihr Akku ist alle? Sie wird bestimmt gleich da sein“, sagte sie mit aller Mühe, ihre Stimme ruhig zu halten, denn eine wahnsinnige Angst schnürte ihr die Kehle zu.