Dreißig


JETZT

»Quinn.« Seine raue Stimme an meinem Ohr. Heute wache ich zum ersten Mal seit langer Zeit mit einem Lächeln auf. Ich öffne die Augen. Graham hat keine Ähnlichkeit mehr mit dem gebrochenen Mann, der gestern Abend in Avas und Reids Küche stand. Er presst seine Lippen auf meine Wange, dann richtet er sich auf und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Was habe ich verpasst, während du geschlafen hast?«

Wie sehr ich diese Frage vermisst habe. Vielleicht gehört sie sogar zu den Dingen, die ich in den letzten Monaten am meisten vermisst habe. Nachdem ich jetzt weiß, dass er nur deswegen aufgehört hat, mir diese Frage zu stellen, weil er mir nicht wehtun wollte, bedeutet sie mir vielleicht sogar noch mehr. Ich streiche ihm mit dem Daumen über die Lippen. »Ich habe von uns geträumt.«

Er küsst meinen Daumen. »War es ein guter Traum oder ein schlechter?«

»Ein guter«, sage ich. »Aber nicht einer von meinen verrückten Träumen, eher eine Erinnerung.«

Graham schiebt eine Hand unter seinen Kopf und sieht mich gespannt an. »Ich will jede Einzelheit hören.«

Ich lege mich auch so auf die Seite, dass ich ihn anschauen kann. »Es war unser erster Hochzeitstag. Der Abend, an dem wir beschlossen haben, dass wir ein Kind bekommen möchten. Ich habe dich damals gefragt, wie unser Leben in zehn Jahren wohl aussehen wird. Kannst du dich erinnern?«

Graham schüttelt den Kopf. »Nur vage. Was hab ich geantwortet?«

»Du hast gesagt, dass wir Kinder haben und ich einen Minivan fahren und wir in einem Haus mit großem Garten leben würden, in dem wir mit unseren Kindern spielen.« Grahams Lächeln erstirbt. Ich streiche die Falte, die sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet hat, mit dem Daumen glatt und wünsche mir sein Lächeln zurück. »Komisch, dass ich davon geträumt habe, weil ich jahrelang nicht mehr an dieses Gespräch gedacht habe. Aber es hat mich nicht traurig gemacht, Graham. Danach hast du nämlich gesagt, dass es sein kann, dass wir nichts von alldem haben werden. Dass wir vielleicht von einem Job zum nächsten wechseln und keine Kinder bekommen können. Und dass sich nach zehn Jahren vielleicht gar nichts zwischen uns geändert hätte, und wir hätten nur uns, sonst nichts.«

»Daran erinnere ich mich«, flüstert er.

»Weißt du noch, was ich darauf gesagt habe?«

Er schüttelt den Kopf.

»Ich habe gesagt: ›Das klingt auch nach einem perfekten Leben‹.«

Graham atmet aus, als hätte er sein Leben lang darauf gewartet, dass ich das zu ihm sage.

»Es tut mir leid, dass ich das aus den Augen verloren habe«, flüstere ich. »Dass ich uns aus den Augen verloren habe. Du hast mir immer genügt. Immer.«

Er sieht mich an, als hätte er meine Träume genauso sehr vermisst, wie er mich vermisst hat. »Ich liebe dich so sehr, Quinn.«

»Und ich dich.«

Er drückt seine Lippen kurz auf meine Stirn und wir liegen eng aneinandergekuschelt da.

Jedenfalls bis der Moment durch mein lautes Magenknurren unterbrochen wird.

»Sollen wir Frühstück machen?« Graham zieht mich aus dem Bett und wir schleichen uns leise in die Küche. Es ist noch nicht mal acht Uhr morgens, Ava und Reid schlafen noch. Graham und ich suchen alles zusammen, was wir brauchen, um Pancakes und Rühreier zu machen. Er schaltet den Herd an und rührt schon mal die Eier. Ich mixe den Pfannkuchenteig, als ich die Schatulle bemerke, die immer noch auf der Theke steht.

Ich stelle den Mixer ab, streiche über den Deckel und frage mich, ob der Tag heute so wäre, wie er ist, wenn Graham uns in unserer Hochzeitsnacht nicht dieses Geschenk gemacht hätte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich ihm seinen Liebesbrief geschrieben und zuletzt das Nacktfoto in den Umschlag geschoben habe. Ob ich mich seit damals sehr verändert habe?

Ich klappe den Deckel auf, um seinen Brief herauszunehmen, als ich entdecke, dass außer den Umschlägen noch etwas in der Schatulle liegt. Die gelbe Haftnotiz, die ich sechs Monate an meiner Wand kleben hatte, und die Papierstreifen aus unseren Glückskeksen.

Ich nehme sie heraus. »Wahnsinn, dass du die wirklich die ganze Zeit aufgehoben hast. Das ist so süß.«

Graham kommt zu mir. »Süß?« Er nimmt mir einen der Streifen aus der Hand. »Das ist nicht süß. Das ist der Beweis, dass es wirklich so etwas wie Schicksal gibt.«

Ich schüttle den Kopf. »Auf deinem steht, dass du eine von Erfolg gekrönte Entscheidung bezüglich deiner Arbeit treffen wirst, dabei bist du an dem Tag nicht mal zur Arbeit gegangen. Was ist daran schicksalhaft?«

Er grinst. »Genau das. Wenn ich zur Arbeit gegangen wäre, hätte ich dich nie getroffen, Quinn. Ich würde sagen, das ist die vom größten Erfolg gekrönte Entscheidung, die ich in meinem ganzen Leben je getroffen habe.«

Okay, da ist tatsächlich was dran.

»Und dann ist da noch … das da.« Graham dreht seinen Papierstreifen um, hält ihn hoch und zeigt auf die Ziffer, die auf die Rückseite gedruckt ist. Eine Acht.

Ich schaue auf meinen Zettel. Auch eine Acht.

Zwei Achten. Der 8. 8. Das Datum, an dem wir uns vor all den Jahren wiedergetroffen haben.

»Du hast mich angelogen.« Ich sehe ihn an. »Du hast damals gesagt, es wäre nur ein Witz von dir gewesen, dass zwei Achten auf der Rückseite gestanden hätten.«

Graham nimmt mir den Glückskeksstreifen aus der Hand und legt beide wieder in die Schatulle zurück. »Ich wollte nicht, dass du dich in mich verliebst, weil es Schicksal ist«, sagt er und klappt den Deckel zu. »Ich wollte, dass du dich in mich verliebst, weil du einfach gar nicht anders konntest.«

Ich lächle. Ich liebe ihn dafür, dass er so romantisch ist. Ich liebe ihn dafür, dass er mehr an Schicksal glaubt als an Zufälle. Ich liebe ihn dafür, dass er glaubt, dass ich sein Schicksal bin.

»Graham …« Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn, worauf er mit beiden Händen meinen Hinterkopf umfasst und den Kuss mit genauso viel Liebe erwidert, wie ich sie hineinlege.

Irgendwann reißt er sich von mir los. »Das Rührei verbrennt!« Ich streiche mir über die Lippen und lächle versonnen, als mir bewusst wird, dass er mich gerade geküsst hat und ich überhaupt kein Bedürfnis hatte aufzuhören. Im Gegenteil, der Kuss hätte für mich am besten noch ewig dauern können. Ich habe nicht gewusst, dass es jemals wieder so werden würde.

Kurz kommt mir der Gedanke, ob ich ihn noch einmal an mich ziehen soll, aber er hat schon angefangen, die Pancakes zu machen, die köstlich duften, also lasse ich ihn und nehme den Brief aus der Schatulle, den ich ihm damals geschrieben habe. Jetzt, wo ich das Gefühl habe, dass wir uns auf einem guten Weg befinden, möchte ich gern noch einmal lesen, was ich ihm ganz am Anfang unserer Reise geschrieben habe. Ich drehe den Umschlag um und will meinen Brief rausziehen, stelle aber fest, dass er noch zugeklebt ist.

»Graham?« Ich sehe ihn überrascht an. »Du hast deinen ja gar nicht aufgemacht!«

Graham wirft mir einen Blick über die Schulter zu. »Ich musste ihn nicht lesen, Quinn. Ich hebe ihn mir für unseren fünfundzwanzigsten Hochzeitstag auf.« Er dreht sich wieder zum Herd, als hätte er gerade eben nicht etwas gesagt, das mir mehr Zuversicht gibt als alles, was er je gesagt oder getan hat.

Ich betrachte den verschlossenen Umschlag mit einem Lächeln. Obwohl das Nacktbild sicher eine Versuchung war, scheint Graham sich seiner Liebe zu mir so sicher zu sein, dass er kein Bedürfnis hatte, meinen Brief zu lesen, um sich zusätzliche Bestätigung zu holen. Am liebsten würde ich ihm gleich noch einen schreiben und ihn zu dem hier in die Schatulle legen. Vielleicht mache ich es ja auch so wie er und füge immer mal wieder einen neuen Brief dazu, sodass wir, wenn wir die Schatulle in vielen Jahren aus den richtigen Gründen öffnen, eine ganze Woche lang nur mit Lesen beschäftigt sein werden.

»Was glaubst du, wie wir unseren fünfundzwanzigsten Hochzeitstag verbringen?«, frage ich.

»Zusammen«, sagt er ganz sachlich.

»Meinst du, wir ziehen jemals aus Connecticut weg?«

Er sieht mich an. »Willst du denn weg?«

Ich zucke mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Manchmal denke ich schon auch darüber nach, wie es wäre, woanders zu wohnen«, gibt er zu. »Ich habe ein paar Mandanten, die ich sicher mitnehmen könnte, wenn ich mich selbstständig machen würde. Wenn ich noch ein paar dazubekäme, wäre das zumindest mal ein Anfang. Wahrscheinlich würde ich erst mal nicht so viel verdienen, aber ich wäre flexibel. Wir könnten reisen, mal ganz woanders leben. Ein, zwei Jahre. Vielleicht auch länger, wenn es uns Spaß macht.«

Ich muss an das Gespräch mit meiner Mutter denken, als ich mit ihr auf der Treppe vor dem Haus saß. Sie hat damals etwas gesagt, von dem mir mittlerweile klar geworden ist, wie wahr es ist. Ich kann meine Zeit entweder damit verschwenden, dem Traum von einem Leben nachzutrauern, das ich nie bekommen werde, oder mich darauf konzentrieren, das Leben zu genießen, das ich habe. Ich hätte so viele Möglichkeiten, tolle Dinge zu machen, wenn ich es endlich schaffen würde, mich von der Fixierung auf eine Wunschvorstellung freizumachen.

»Ich hatte so viele Träume, bevor ich mich darauf versteift habe, unbedingt Mutter werden zu müssen.«

Graham lächelt mich liebevoll an. »Ich erinnere mich gut. Du wolltest ein Buch schreiben.«

Es überrascht mich, dass er das noch weiß, weil ich schon so lange nicht mehr davon gesprochen habe. »Stimmt, wollte ich. Will ich immer noch.«

Er dreht sich wieder zum Herd, um die Pancakes zu wenden. »Was willst du sonst noch machen?«

Ich stelle mich neben ihn und lege den Kopf auf seine Schulter, er schlingt einen Arm um mich und befördert mit der anderen Hand die Pancakes auf eine Platte. »Ich möchte die Welt sehen«, sage ich leise. »Und ich würde gern eine Fremdsprache lernen.«

»Vielleicht sollten wir einfach auch nach Italien ziehen und uns in Avas Sprachkurs mit reinsetzen.«

Ich lache, aber Graham legt den Wender zur Seite und sieht mich mit leuchtenden Augen an. »Lass uns das machen, Quinn. Lass uns hierherziehen. Es gibt nichts, was uns zurückhält.«

Ich sehe ihn mit schräg gelegtem Kopf an. »Meinst du das ernst?«

»Es wäre bestimmt aufregend, mal etwas ganz anderes zu machen. Es muss ja nicht Italien sein. Wir können hinziehen, wohin du willst.«

Die Vorstellung, etwas so Verrücktes und Spontanes zu tun, lässt mein Herz wie wild schlagen.

»Ich finde es hier schön«, sage ich. »Sehr schön sogar. Und Ava hat mir gefehlt.«

Graham nickt. »Ja. Mir hat Reid auch gefehlt. Aber sag ihm das nicht.«

Ich ziehe mich neben dem Herd auf die Arbeitsfläche hoch. »Letzte Woche war ich ein bisschen im Viertel spazieren und habe ein paar Querstraßen weiter ein Haus gesehen, das zu vermieten ist. Wir könnten es ja zumindest eine Zeit lang ausprobieren.«

Graham sieht mich an, als wäre er vollkommen begeistert von der Idee. »Dann lass uns da doch nachher gleich mal vorbeigehen.«

»Okay«, sage ich und muss kichern, weil ich selbst kaum glauben kann, dass wir wirklich ernsthaft darüber reden, nach Italien zu ziehen. Ich merke, dass ich mir aus Gewohnheit auf die Wange beiße, um mein Lächeln zu verstecken, aber Graham hat es weiß Gott verdient, dass ich ihm mein Glück zeige. Und ich bin schon sehr lange nicht mehr so glücklich gewesen wie jetzt in diesem Augenblick.

Zum allerersten Mal habe ich die Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut werden kann. Dass das mit uns wieder gut werden kann. Ich sehe Graham an, und es ist das erst Mal seit Langem, dass ich mich nicht schuldig fühle wegen etwas, das ich ihm nicht geben kann, sondern erkenne, wie dankbar er für das ist, was ich ihm geben kann.

»Danke«, flüstere ich. »Für alles, was du in deinen Briefen gesagt hast.«

Er stellt sich zwischen meine Beine und legt die Hände um meine Taille, ich schlinge die Arme um seinen Nacken, küsse meinen Mann und spüre seit langer Zeit wieder, wie es sich anfühlt, von Dankbarkeit erfüllt zu sein. Vielleicht verläuft mein Leben nicht in jeder Hinsicht perfekt, aber ich glaube, ich bin endlich dabei zu lernen, die Dinge wertzuschätzen, die perfekt laufen. Und das sind so viele. Mein Beruf, der mir Flexibilität ermöglicht, mein Mann mit seiner großen Familie, meine Schwester, meine Nichten, mein Neffe …

Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Ich lehne mich zurück und sehe ihn an. »Was stand noch mal genau auf dem Zettel in meinem Glückskeks? Weißt du den Spruch noch auswendig?«

»›Wenn du das Licht immer nur auf deine Makel richtest, liegen all deine Perfektheiten im Schatten.‹«

Es ist fast schon unheimlich, wie gut dieser Spruch auf mein Leben passt. Ich habe mich viel zu lange nur damit beschäftigt, dass ich keine Kinder bekommen kann. So sehr, dass ich meinen Mann und all die anderen Dinge in meinem Leben, die perfekt sind, aus den Augen verloren habe.

Als wir die Sprüche damals aus unseren Glückskeksen gezogen und uns gegenseitig vorgelesen haben, habe ich darüber gelacht und sie nicht ernst genommen. Aber vielleicht hat Graham recht. Vielleicht ist unsere Begegnung damals kein Zufall gewesen. Vielleicht waren wir wirklich füreinander bestimmt.

Falls ja, steht mein Seelenverwandter wohl gerade direkt vor mir.

Graham hebt die Hand und fährt zärtlich mit den Fingerspitzen meine Lippen nach. »Du hast keine Ahnung, wie viel mir dieses Lächeln bedeutet, Quinn. Ich habe es so vermisst.«