2. KAPITEL
Sebastian sprang vom Pferd und ließ sich in den Schatten der Pappeln fallen. Er war bis ans äußerste Ende seines Besitzes geritten, wo ihn eigentlich niemand finden konnte. Und trotzdem hatten die Kerle es geschafft. Sie waren zu zweit. In halsbrecherischem Tempo waren sie mit dem Jeep auf ihn zugerast. Er hatte sein Pferd durch den Fluss führen können, aber diese Dummköpfe würden vermutlich die Verfolgung aufnehmen.
Er trank einen Schluck aus seiner Feldflasche, dann nahm er den Hut ab und goss sich ein wenig Wasser über den Kopf. Eine Dusche – das war es, was er jetzt hätte gebrauchen können. Die Luft war heiß und staubig. Trocken. Er hoffte nur, dass die beiden Typen im Jeep selber über genügend Wasser verfügten. Er hatte nämlich nicht vor, seinen Vorrat mit ihnen zu teilen. Wenn sie durstig wären, könnten sie ja aus dem Fluss trinken.
Der Jeep kam näher. „Ruhig“, sagte Sebastian zu seinem Pferd, obwohl es nicht nervös wirkte. Es war noch nicht einmal verschwitzt.
Gut fünf Meter entfernt hielt der Jeep an, und ein Mann sprang heraus. „Mr. Redwing?“
Sebastian verzog das Gesicht. Es hatte nie etwas Gutes zu bedeuten, wenn jemand ihn Mr. Redwing nannte. Mal abgesehen davon war es überhaupt kein gutes Zeichen, von einem Jeep verfolgt zu werden.
Er zog den Hut über die Augen und stützte sich auf seine Ellbogen. „Was gibt’s?“
„Mr. Redwing“, wiederholte der Mann. „Ich bin Jim Charger. Mr. Rabedeneira hat mich geschickt, um Sie zu suchen.“
„Und?“
Charger sagte nichts. Er war ein neuer Angestellter und wartete wohl darauf, dass Sebastian sich so benahm wie der Mann, der die Firma Redwing gegründet hatte, eines der besten international tätigen Sicherheits- und Ermittlungsunternehmen. Doch er behielt den Hut in der Stirn, um sich nicht der Sommersonne von Wyoming aussetzen zu müssen.
Schließlich seufzte er. Jim Charger würde nicht eher verschwinden, bis er seine Nachricht überbracht hatte. Sebastian mochte Plato Rabedeneira.
Sie waren Freunde geworden, als sie beide Anfang zwanzig waren. Er hätte Plato sein Leben anvertraut und das Leben seiner Freunde. Aber wenn Plato der zweite Mann im Jeep gewesen wäre, hätte Sebastian ihn an eine Pappel gebunden und wäre gegangen.
„Nun gut, Mr. Charger.“ Er schob den Hut zurück und musterte den Mann, der vor ihm stand. Groß, blond, durchtrainiert, in teure Western-Klamotten gekleidet, die jetzt bestimmt so staubig waren wie noch nie zuvor. Ein Import aus Washington. Vermutlich ein Ex-FBI-Agent. Sebastian spürte das Blut in seinen Schläfen pochen. „Was ist passiert?“
Wenn Sebastian Redwing nicht den Erwartungen von Jim Charger entsprach, so ließ er es sich nicht anmerken. „Mr. Rabedeneira hat mich gebeten, Ihnen eine Nachricht zu übermitteln. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Darren Mowery zurückgekommen ist.“
Sebastian bemühte sich, keine verräterische Reaktion zu zeigen. Doch das Blut in seinen Schläfen klopfte noch heftiger. Vor einem Jahr hatte er Mowery für tot gehalten. „Wohin zurückgekommen?“
„Nach Washington.“
„Und was soll ich jetzt nach Platos Ansicht tun?“
„Keine Ahnung. Er hat mich nur gebeten, Ihnen das mitzuteilen. Und ich soll Ihnen auch noch sagen, dass es wichtig ist.“
Darren Mowery hasste Sebastian mehr, als es die meisten seiner Feinde taten. Vor Jahren hätte Sebastian auch Mowery sein Leben anvertraut – und das seiner Freunde. Aber das war nun vorbei.
„Und noch etwas“, fuhr Charger fort.
Sebastian lächelte schwach. „Jetzt kommt wohl der Teil, den Sie mir laut Plato sagen sollen, wenn ich nicht sofort zu Ihnen in den Jeep springe, was?“
Keine Reaktion. „Mowery hat eine Frau im Büro von Senator Swift kontaktiert.“
Jack Swift, derzeit dienstältester Senator aus dem Bundesstaat Rhode Island. Ein Gentleman-Politiker, ein Mann von Integrität, der sich voll und ganz seinem öffentlichen Amt widmete. Und er war der Schwiegervater von Lucy Blacker Swift.
Verdammt, dachte Sebastian.
Auf der Hochzeitsfeier von Lucy Blacker und Colin Swift hatte Colin Sebastian das Versprechen abgerungen, sich um Lucy zu kümmern, falls ihm irgendetwas passieren würde. „Nicht, dass Lucy gern jemanden hätte, der auf sie Acht gibt“, hatte Colin hinzugefügt. „Aber du verstehst schon, was ich meine.“
Sebastian hatte es allerdings nicht wirklich verstanden. In seinem Leben gab es niemanden, um den er sich kümmern musste. Seine Eltern waren tot. Er hatte keine Geschwister, keine Frau, keine Kinder. Beruflich gesehen war er allerdings verdammt gut, wenn es darum ging, jemanden zu beschützen. Meistens musste er dafür sorgen, dass die Betroffenen am Leben blieben und nicht bestohlen wurden. Aber das hatte nichts mit Freundschaft zu tun und einem Versprechen, das er einem Mann gegeben hatte, der dreizehn Jahre später im Alter von sechsunddreißig Jahren gestorben war.
Colin musste es geahnt haben. Irgendwie hatte er wohl gespürt, dass sein Leben nicht lange dauern würde und dass seine Frau und die Kinder, wenn er welche haben sollte, ohne ihn würden auskommen müssen.
Als Sebastian ihm das Versprechen gab, hatte er nicht im Traum daran gedacht, dass er es jemals würde einlösen müssen.
„Was soll ich Mr. Rabedeneira sagen?“ fragte Charger jetzt.
Sebastian zog den Hut wieder in die Stirn. Vor einem Jahr hatte er Darren Mowery niedergeschossen und war der festen Überzeugung gewesen, ihn getötet zu haben. Es war wirklich unvorsichtig von ihm gewesen, dass er sich nicht vergewissert hatte, ob Mowery wirklich nicht mehr lebte. In einem Geschäft wie dem seinen war ein solcher Fehler unverzeihlich. Dafür gab es keine Entschuldigung. Es spielte keine Rolle, dass Darren einmal sein Lehrer gewesen war oder sein Freund, oder dass Sebastian mit eigenen Augen gesehen hatte, wie er sich selbst ins Verderben hineingeritten hatte. Wenn man gezwungen war, jemanden zu erschießen, musste man sich auch vergewissern, ob man ihn getötet hatte. Das war ein ehernes Gesetz.
Aber hier ging es um Jack Swift. Nicht um Lucy. Plato würde sich um Darren Mowery kümmern müssen. Da Sebastian persönlich betroffen war, würde er die Sache nur vermasseln.
„Sagen Sie Plato, dass ich mich zurückgezogen habe“, meinte Sebastian.
„Zurückgezogen?“
„Ja. Er weiß Bescheid. Sie brauchen ihn nur noch mal daran zu erinnern.“
Charger rührte sich nicht vom Fleck.
Sebastian stellt sich Lucy auf der Veranda vor dem Haus seiner Großmutter vor. Fast konnte er die Sommerbrise von Vermont spüren, den Fluss hören, das kühle Wasser riechen, das feuchte Moos. Es war gut, dass Lucy Washington verlassen hatte, und er hatte dafür gesorgt. Er hatte sein Versprechen also gehalten. Seinem Freund Colin war er nichts mehr schuldig.
Er beschloss, nicht länger über Lucy nachzudenken. Das hatte ihm sowieso nie gut getan.
„Sie haben Ihre Nachricht übermittelt, Mr. Charger“, sagte Sebastian. „Jetzt überbringen Sie meine.“
„Jawohl, Sir.“
Der Mann machte sich auf den Weg. Sebastian vermutete, dass er Jim Chargers Erwartungen nicht erfüllt hatte. Aber das war ihm egal. Er erfüllte ja nicht einmal mehr seine eigenen. Warum sich Gedanken machen über das, was andere von ihm erwarteten?
Er hatte aufgehört zu arbeiten, und damit war die Sache für ihn erledigt.
Barbara Allen suchte nach dem Schlüssel für ihr Washingtoner Apartment. Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Ihre Bluse war schweißnass. Ihre Haut juckte und brannte von unzähligen Moskitostichen. Ihr war gleichzeitig zum Weinen und zum Lachen zu Mute. Es war nicht zu glauben! Endlich hatte sie etwas unternommen. Endlich!
Sie drehte den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür auf. Die stickige Luft, die ihr entgegenschlug, nahm ihr fast den Atem. Ehe sie nach Vermont aufgebrochen war, hatte sie die Klimaanlage abgestellt. Dort war es kühler gewesen als in Washington und wunderbar erfrischend. Schnell schloss sie die Tür und lehnte sich dagegen. Sie holte tief Luft. Endlich daheim.
Sie spürte keine Reue. Überhaupt nicht. Und das überraschte sie mehr als alles andere. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie etwas Unrechtes getan hatte. Die Besessenheit, mit der sie Lucy verfolgte, war vielleicht sogar ein wenig krankhaft. Normale Menschen spionierten anderen Menschen nicht nach. Normale Menschen verfolgten und terrorisierten andere Menschen nicht.
Aber wenn es jemanden gab, der es verdiente, in Angst und Schrecken versetzt zu werden, dann war es Lucy Blacker Swift. Als Mutter war sie das Schlimmste, was man sich nur vorstellen konnte. Sie war nachlässig, unbeherrscht und rücksichtslos. Colin hatte zwar die schlimmsten Auswüchse verhindert. Aber nach seinem Tod gab es keinen mehr, der ihr die Zügel anlegte.
Seit mehr als einem Jahr bereitete es Barbara ein heimliches Vergnügen, Freitagabend nach Vermont zu fahren, um Lucy zu nachzuspionieren, und sonntags nach Washington zurückzukehren. Sie war das Auge und das Ohr von Jack Swift, seine Vertraute, seine engste persönliche Assistentin. Ihm hatte sie zwanzig Jahre ihres Lebens geopfert, jede Niederlage mit ihm ertragen. Sie hatte ihn bei den Achterbahnfahrten in seiner politischen Karriere begleitet, den Attentatsversuch miterlebt, das lange, langsame und schmerzvolle Sterben seiner Frau und den plötzlichen Tod seines Sohnes gemeinsam mit ihm durchlitten.
Und dann hatte Lucy sich ärgerlicherweise entschieden, nach Vermont zu ziehen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Barbara wusste, wie sehr Jack es bekümmerte, auf welche Art und Weise sie die Kinder seines Sohnes großzog. Madison, die sich nach dem richtigen Leben sehnte. J. T., der mit seinen kleinen schmutzigen Freunden herumtobte. Aber Jack hätte nie etwas gesagt, niemals etwas unternommen, um Lucy zur Vernunft zu bringen. Deshalb hatte sie es getan. Endlich, endlich.
Es war Barbara ganz recht, wenn die Leute sie unterschätzten. Sie brauchten gar nicht zu wissen, was sie an ihr hatten. Das wusste sie schließlich selbst. Sie hatte den Mut und die Selbstdisziplin, um das zu tun, was nötig war.
Mit dem Fuß schob sie ihren Koffer in die Ecke neben den Garderobenschrank. Auspacken würde sie später. Sie stellte die Klimaanlage auf die höchste Stufe und ging ins Wohnzimmer. Es war ebenso wie die anderen Zimmer ihrer Wohnung eingerichtet: schlicht, aber modern. Die klaren Linien und die hellen Farben der Möbel und Stoffe spiegelten ihren Charakter wider. Sie hasste alles Verspielte und Verschnörkelte.
Sie setzte sich auf einen Stuhl, der neben der Lüftungsanlage stand. Ihr Apartment lag in einem unscheinbaren Haus am Ufer des Potomac. Es gehörte zu den kleinsten Einheiten und bot keinen nennenswerten Ausblick. Aber hier verbrachte sie ohnehin nicht viel Zeit. Um acht Uhr morgens war sie im Büro, und sie verließ es selten vor sieben Uhr abends.
Barbara schloss die Augen und spürte den kühlen Luftzug an ihrem Körper. Sie trug eine lange Hose und eine langärmelige Bluse, um die Moskitostiche zu verdecken. Für jeden einzelnen hätte sie eine Tapferkeitsmedaille verdient. Schließlich waren sie Beweise ihres Mutes. Sie hatte nicht aus Schwäche gehandelt, sondern aus Stärke, Mut und Überzeugung.
Sie war vorsichtig gewesen, denn sie war ja keine Närrin. Doch sie hatte nicht das Gefühl gehabt, ihre Anwesenheit um jeden Preis verhehlen zu müssen. Von Washington aus war sie mit einem Mietwagen nach Vermont gefahren, wo sie im Manchester Inn abgestiegen war. Für den Fall, dass sie entdeckt worden wäre, hatte sie sich eine glaubwürdige Geschichte zurechtgelegt.
Oh, Lucy. Ich wollte nur mal vorbeischauen, um Ihnen und den Kindern Hallo zu sagen. Ich habe ein paar Tage freigenommen, um im Outlet-Center auf Einkaufstour zu gehen und ein wenig zu wandern. Übrigens, haben Sie kürzlich mal einen Pistolenschuss gehört? Ich habe nämlich jemanden mit einem Gewehr über den Waldweg hinten beim Fluss laufen sehen. Die haben wohl ein Übungsschießen gemacht – verflixt nahe bei Ihrem Haus.
Aber so weit war es gar nicht gekommen. Sie hatte die Gegend genau in Augenschein genommen, ehe sie ihren Plan in die Tat umsetzte, und Vorsorge getroffen für ihre nächtlichen Aktivitäten. Lucy war natürlich viel zu selbstsüchtig und zu dumm, um sie zu erwischen.
Der Höhepunkt war ihr Schuss ins Esszimmer gewesen – noch besser als die Patrone auf dem Beifahrersitz. Die war dann nur noch das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem i. Barbara hatte gewartet, bis Lucy und die Kinder nach Manchester aufgebrochen waren. Sie hatte auf dem unbefestigten Waldweg geparkt, als ob sie zu den Wasserfällen wollte. Sie hatte den Joshua-Fluss überquert, indem sie von einem Felsen zum nächsten sprang. Geduckt war sie dann die steile, dicht bewachsene Uferböschung hinaufgeklettert, bis sie Lucys Haus sehen konnte. Der Länge nach hatte sie im Unterholz gelegen. Moskitos summten um ihre Ohren und fielen über jedes Stückchen blanke Haut her. Doch dank ihrer enormen Selbstdisziplin ließ sie sich davon nicht beirren.
Wenn sie jetzt erwischt worden wäre, genau in dem Moment, als sie mit ihrem Gewehr auf Lucys Haus zielte, hätte sie keine Ausrede gehabt. Das Risiko und die Herausforderung waren freilich ein Teil des Nervenkitzels und viel erregender, als sie es sich hätte träumen lassen.
Ihr Vater hatte sie und ihre drei Schwestern das Schießen gelehrt. Er hatte zwar niemals gesagt, dass er lieber einen Sohn gehabt hätte, aber sie wussten, dass es so war. Barbara war die jüngste. Die letzte, die zerbrochene Hoffnung. Sie war eine sehr gute Schützin geworden. Keiner wusste, wie gut – jedenfalls nicht in Jacks Büro. Nicht einmal Jack selbst. Sie kannten sie nur bei der Arbeit und wussten, wie sehr sie sich ihrem Job widmete und ihrem Chef ergeben war.
Erst als sie abgedrückt hatte und bewegungslos in dem heißen, dornigen Gebüsch verharrte, kam ihr der Gedanke, die Kugel zu suchen. Es war weniger der Wunsch, auf keinen Fall Beweisstücke zurückzulassen, der sie quer durch den Garten hinter die Scheune trieb; es war vielmehr das Verlangen, den Terror für Lucy noch zu steigern. Die Vorstellung, dass sie ins Esszimmer kam, das zerstörte Fenster bemerkte und dann entdeckte, dass jemand ins Haus eingedrungen war, um das Geschoss aus der Wand zu entfernen, war einfach unwiderstehlich.
Die Hintertür war nicht verschlossen. Lucy schloss nur selten sämtliche Türen ab. Vielleicht würde es der dummen Gans eine Lektion erteilen, hatte Barbara überlegt.
Die Magensäure, die ihr die Kehle hochgestiegen war, floss wieder zurück und brannte in ihren Eingeweiden. Der Wunsch, Lucy Angst einzujagen und sie aus ihrem Trott zu bringen, war mit der Zeit immer stärker geworden und bestimmte schließlich ihr ganzes Denken. Nach jedem kleinen Akt der Schikane fühlte Barbara sich ein wenig besser. Der Druck ließ nach. Jetzt konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen.
„So, so. Du bist also zurück.“
Sie fuhr zusammen und unterdrückte einen Schrei. „Darren, mein Gott. Jetzt hast du mir aber einen Schrecken eingejagt. Was machst du denn hier?“
Er stieg über ihre Füße und setzte sich auf das Sofa. „Ich habe auf dich gewartet.“
Sogar Darren Mowery nur zu kennen ist vermutlich schon riskant, dachte Barbara. Sie kannte die Gerüchte, die über ihn in Washington die Runde machten. Er war auf die schiefe Bahn geraten, er hatte seine Firma verloren, auf ihn war in Südamerika geschossen worden. Er war gefährlich. Das alles wusste sie. Sie lächelte unbehaglich. „Du hättest die Klimaanlage einschalten können.“
„Mir ist nicht heiß.“
„Dann musst du ja eine halbe Eidechse sein.“
Sie hatten sich vor einigen Wochen zufällig in einem Restaurant in Washington angerempelt, was dazu führte, dass sie ein paar Mal gemeinsam zu Abend gegessen hatten, obwohl Barbara nicht wirklich an einer ernsthaften Beziehung interessiert war. Ebenso wenig wie er, so weit sie das beurteilen konnte. Sie hatte keine Ahnung, wohin ihre Bekanntschaft führen würde, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass er für sie wichtig war. Irgendwie. Darren Mowery würde ihr dabei behilflich sein, aus der entsetzlichen Tretmühle herauszukommen, die ihr Leben geworden war. Vielleicht war er der Grund dafür, dass sie begonnen hatte, Lucy zu belästigen.
„Du warst eine ganze Woche verschwunden“, sagte er.
„Ich war nicht verschwunden. Ich habe ein paar Tage Urlaub gemacht. Das habe ich dir doch gesagt.“
„Wo bist du gewesen?“
Sie antwortete nicht sofort. Darren war ein Mann, der gerne glaubte, die Kontrolle über alles und jede Situation im Griff zu haben. Er sah sehr gut aus, das musste sie zugeben. Er war Anfang fünfzig und hatte silbergraues Haar. Wenn er es darauf angelegt hätte, dann hätte er eine imposante Erscheinung in Washington sein können. Stattdessen zog er es vor, sich mit seinen konservativen dunklen Anzügen und der eleganten Freizeitkleidung nicht von den anderen abzuheben. Das einzig Bemerkenswerte an ihm war seine ausgezeichnete körperliche Verfassung. Er hatte eine bessere Kondition als die meisten Männer, die nur halb so alt waren wie er. Aber seine größte Stärke war sein Reaktionsvermögen. Er war kein Mann, der die vergangenen dreißig Jahre hinter einem Schreibtisch gesessen hatte.
„Ich war in einem Outlet-Center einkaufen“, antwortete sie.
„Wo?“
„In Neu-England.“ Sollte er doch ruhig denken, dass sie ausweichend antwortete. Das war ihr egal. Er sollte wissen, dass sie stark war, während er gleichzeitig glaubte, selbst stärker zu sein. Es war ein spannender Balanceakt.
Er kratzte sich am Mund. Irgendwie wirkte er immer entspannt und im Einklang mit seiner Umgebung. Aber er war ein scharfer Beobachter und reagierte wachsam auf alles, was um ihn herum geschah. Barbara wusste, dass sie in Gegenwart eines solchen Mannes keinen Fehler begehen durfte. Sie war sich im Klaren darüber, dass er vermutlich ihre Wohnung durchsucht hatte. Doch damit hatte sie ohnehin gerechnet.
Nein, sie machte sich nichts vor. Sie war sich zwar noch nicht sicher, was für ein Spiel sie miteinander spielten, aber sie wusste, dass Darren Mowery sie töten würde, wenn sie seine Pläne durchkreuzte. Sie musste vorsichtig sein, stark und selbstsicher. Und klug. Klüger als er selbst.
„Wir sind jetzt lange genug um den heißen Brei herumgeschlichen“, meinte er. „Lass uns die Karten auf den Tisch legen. Ich will alles wissen. Keine Geheimniskrämerei.“
Was sollte das denn nun bedeuten? Wusste er etwa über sie und Lucy Bescheid? Barbara bemühte sich, den Anflug von Unsicherheit zu verbergen, und unterdrückte die Welle der Panik, die in ihr aufstieg, weil sie einander nun endlich reinen Wein einschenken würden. Sie zuckte leichthin mit den Schultern. „Einverstanden. Fang du an.“
Er beobachtete sie. Sie hatte sehr blaue Augen. Eiskalte blaue Augen. „Lucy Swift ist heute nach Wyoming geflogen.“
Mit dieser Bemerkung hatte Barbara nicht gerechnet. Eine andere, schwächere Frau hätte vermutlich bestürzt reagiert. Sie aber lehnte sich nur in ihren Stuhl zurück und gähnte. Sie war nicht umsonst die persönliche Assistentin eines mächtigen amerikanischen Senators und bestens darin geübt, mit unerwarteten Situationen fertig zu werden. Über Lucys Trip nach Wyoming wusste sie längst Bescheid. Sie hatte davon erfahren, als sie sich gestern in Jacks Büro zurückgemeldet hatte. Lucy musste Jack davon erzählt haben, und einer seiner Mitarbeiter hatte ihr die Nachricht routinemäßig weitergegeben. Das Unerwartete daran war nur, dass Darren im Bilde war. „Ja, ich weiß. Es hat etwas mit ihren Abenteuerreisen zu tun, glaube ich.“
„Die Firma Redwing hat ihren Sitz in Wyoming.“
„Ja, stimmt. Sebastian Redwing hat Lucy das Haus in Vermont verkauft. Es gehörte seiner verwitweten Großmutter. Nach allem, was ich von Jack weiß, sind er und Lucy nicht gerade enge Freunde. Hat Sebastian nicht auch mal für dich gearbeitet?“ Sie hätte gerne einen juckenden Moskitobiss gekratzt, ließ es aber bleiben. „Ich glaube, seine Firma läuft ausgezeichnet.“
Mowery zeigte keine Reaktion. Das gefiel Barbara. Es bedeutete nämlich, dass er sich in der Gewalt hatte. Den Gerüchten aus Washington zufolge herrschte zwischen Sebastian Redwing und seinem alten Lehrmeister keine große Zuneigung. Es hieß sogar, dass Mowery Sebastian für die Pleite seiner privaten Sicherheitsfirma DM Consultants verantwortlich machte.
Es war theoretisch möglich, vermutete Barbara, dass Lucy Sebastian über die Zwischenfälle der vergangenen Woche die Ohren voll jammern würde. Aber sie bezweifelte es. Lucy war fest entschlossen zu beweisen, dass sie alleine zurechtkam. Dass sie unabhängig war – was natürlich nicht stimmte. Barbara hatte schon damit gerechnet, dass Lucy sich nicht an Jack oder die Polizei wenden würde. Denn mit den Swifts wollte sie nichts zu tun haben.
„Ich habe den Eindruck, dass du Lucy Swift nicht besonders gut leiden kannst“, meinte Darren.
„Warum sollte dich das kümmern?“
Er beugte sich nach vorn. „Leg die Karten auf den Tisch, Barbie. Ich habe mit deinem Boss ein Hühnchen zu rupfen. Ich will, dass er ins Schwitzen gerät. Und ich will deine Hilfe.“
„Meine Hilfe?“
„Ich glaube, du stehst auf ihn“, sagte Mowery. Er klang überzeugt und selbstgefällig.
„Unsinn. Senator Swift ist ein Mann von unbestechlicher Integrität.“
Mowery warf den Kopf zurück und lachte.
Barbara war pikiert. „Ich meine es ernst.“
„Ja, klar, genau wie ich. Barbie, Barbie.“ Er schüttelte den Kopf und seufzte. „Im Büro erzählt man sich, dass du dich dem alten Knaben vor einigen Wochen an den Hals geworfen hast. Aber er hat dich ausgelacht und rausgeschmissen.“
Plötzlich hatte sie einen Knoten im Magen. „Das ist nicht wahr.“
„Was ist nicht wahr? Dass du dich ihm an den Hals geworfen hast oder dass er gelacht hat?“
„Du bist widerwärtig. Ich möchte, dass du gehst.“
„Nein, das möchtest du nicht. Du möchtest mir helfen, bei Jack Swift eine Rechnung zu begleichen. Du möchtest ihn schwitzen sehen. Du möchtest, dass er leidet, weil er dich gedemütigt hat.“
„Er … er war nicht vorbereitet auf diese Ebene der persönlichen Beziehung, die ich ihm vorgeschlagen habe. Das war alles. Er hatte Angst.“
„Angst, ja?“
„Er weiß, dass ich für ihn da bin. Jederzeit. Und für immer.“
Mowerys Blicke durchbohrten sie. „Was hast du mit ihm?“
„Nichts!“
„Barbie, ich werde Senator Jack in die Zange nehmen. Ich werde ihn bluten lassen. Und du wirst dabei zusehen. Die Show wird dir gefallen.“ Er streckte die Hand aus und berührte ihr Knie. „Rache kann so süß sein.“
Sie sagte nichts.
Seine Augen verengten sich, und er lächelte. „Nur dass es nicht die Rache ist, die du haben willst, stimmt’s, Barbie? Ich fange an zu verstehen. Du möchtest, dass Jack leidet und zu dir kommt, zu der einzigen Frau, die ihn bedingungslos liebt. Das ist etwas Kostbares. Etwas wirklich Kostbares.“
„Meine Motive spielen keine Rolle“, antwortete Barbara.
„Hat der alte Jack in den ganzen zwanzig Jahren jemals einen Annäherungsversuch unternommen?“
„Das hätte er niemals getan. Außerdem war er ja fast die ganze Zeit verheiratet.“
Mowery brach in schallendes Gelächter aus. „Meine Güte, bist du komisch. Das wird bestimmt sehr lustig.“
Sie bewegte sich auf gefährlichem Gelände. Auf tödlichem Gelände.
Ihr Magen revoltierte. Sie lief ins Badezimmer und übergab sich.
Oh Gott. Ich kann das nicht tun.
Aber sie musste es tun. Sie hatte es Darren Mowery unmissverständlich klar gemacht. Er wusste, was sie wollte. Sie suchte keine Gelegenheit, um Jack eins auszuwischen, weil er ihr einen Korb gegeben hatte. Sie wollte ihm die Möglichkeit geben, sie um Hilfe zu bitten und Trost zu finden in ihrer Stärke und Klugheit. Sie war nach Vermont gefahren und hatte Lucy terrorisiert, weil sie hoffte, dass es den Druck von ihr nehmen würde, Jack ebenfalls verletzen zu wollen. Doch das war nicht geschehen. Sie liebte ihn, und wenn sie jemanden liebte, ließ sie ihn nicht so schnell los.
Als sie ihm ihre Liebe gestanden hatte, war Jack nicht ärgerlich geworden. Er hatte keine Leidenschaft, keine Erregung, keine tieferen Gefühle gezeigt. Er war freundlich gewesen, hatte besorgt und sachlich reagiert. Wie erwartet sprach er darüber, wie sehr er sie schätzte, wie sehr er sie als Mitglied seines Teams mochte und wie viel sie gemeinsam in den vergangenen zwanzig Jahren für die Menschen dieses wunderbaren Landes getan hatten.
Bla-bla-bla. Er hatte ihr sogar eine goldene Brücke aus der peinlichen Situation gebaut, indem er ihr sagte, dass sie alle in den letzten Tagen unter einem enormen Druck gestanden hätten und dass sie ein paar Tage Urlaub machen sollte.
Und das hatte sie ja dann auch getan, nicht wahr?
Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Augen waren nach dem anstrengenden Würgen blutunterlaufen, die Wimpern vom Wasser und von Tränen verklebt. Sie war gerade einundvierzig; das war nicht alt. Sie konnte noch Kinder bekommen. Sie kannte viele Frauen, die erst jenseits der vierzig Mutter geworden waren.
Aber sie würde keine Swift-Kinder bekommen. Jack wollte sie nicht. Zwanzig Jahre hatte sie sich ihm und seiner Arbeit gewidmet, und was war nun der Dank dafür?
Lucy war diejenige, die die Swift-Kinder hatte.
Barbara trocknete ihr Gesicht ab. Sie hätte Colin haben können. Mit ihm hätte sie die Swift-Kinder haben können. Stattdessen hatte sie auf Jack gewartet.
Während sie sich auf dem Waschbecken abstützte, öffnete Darren die Tür. „Es tut mir Leid. Ich habe mir ein wenig den Magen verdorben. Muss wohl an der Hitze liegen.“
Er war verdammt selbstgefällig. „Erpressung ist nichts für Leute mit schwachem Magen.“
Das war der heiße Brei, um den sie seit Beginn ihrer Bekanntschaft geschlichen waren. Erpressung. Sie nickte gelassen. Es war nur zu ihrem Vorteil, wenn er glaubte, er sei der Sicherheitsexperte mit der dunklen Vergangenheit, der undurchsichtige und gefährliche Insider, der davon überzeugt war, besser zu wissen, wie es im „wirklichen Leben“ zuging, als es ein kompetenter, hinter dem Schreibtisch hockender Bürokrat jemals ahnen konnte.
„Colin und ich“, begann sie, schluckte und sah in Mowerys kalte Augen. „Wir hatten eine Affäre, ehe er starb. Jack weiß nichts davon. Lucy auch nicht. Keiner weiß es.“
„Und?“
„Ich habe Fotos.“
Mowery nickte nachdenklich. „Perverse Fotos?“
„Du bist ekelhaft.“
„Nun, wenn es Bilder sind, die euch beide auf Daddys Wahlkampfspuren zeigen …“
„Nach deinen Maßstäben sind die Bilder vielleicht pervers. Für mich sind sie der Beweis für unsere körperliche und emotionale Bindung.“
„Ah ja.“
„Willst du sie sehen?“
Er rieb sich das Kinn. „Du hast also den Sohn gevögelt, und die verwitwete Schwiegertochter und die unschuldigen Enkelkinder wissen davon nichts.“
„Musst du so vulgär sein?“
„Das musst du gerade sagen, Barbie. Schließlich warst du es, die eine Affäre mit dem Mann einer anderen Frau hatte. Dem Sohn des Chefs. Und das erzählst du mir keine zwei Wochen, nachdem du dich dem Alten an den Hals geworfen hast, weil du’s auch mal mit ihm treiben wolltest. Wer ist denn hier nun vulgär?“
Sie schwieg betroffen.
„Das ist zwar nicht die feine Art“, fuhr Mowery fort, „aber es könnte klappen.“
„Es wird klappen. Jack wird viel dafür bezahlen, um diese Informationen geheim zu halten.“ Sie richtete sich auf und musterte ihn mit einem kalten Blick. Er sollte den Eindruck bekommen, dass sie alles unter Kontrolle hatte, und sie bloß nicht für dämlich halten. „Wenn du nicht davon überzeugt bist, dann verschwinde, und zwar sofort. Und ich werde vergessen, dass dieses Gespräch jemals stattgefunden hat.“
Er lachte kurz auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Ohne sich umzudrehen, bedeutete er ihr mit dem Finger, ihm zu folgen.
Barbara tat es. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht zu zittern. Die kühle Luft aus der Klimaanlage verursachte ihr eine Gänsehaut. Jetzt fror sie. Du bist weder nervös noch verängstigt, redete sie sich ein. Wahrscheinlich hatte sie nur zu wenig getrunken und war dehydriert. Auf jeden Fall war sie davon überzeugt, dass dies die beste – und einzige – Möglichkeit war zu handeln.
„Das ist die Abmachung, Barbie. Wer A sagt, muss auch B sagen. Ich mache keine halben Sachen.“
Trotzig streckte sie ihr Kinn vor und sah ihm direkt in die Augen. „Ich bin nicht begriffsstutzig.“
Mit übereinander geschlagenen Beinen und verschränkten Armen saß sie auf ihrem Stuhl und rührte sich nicht. Sie wappnete sich gegen die Kälte der Klimaanlage, die juckenden und beißenden Moskitostiche und das untrügliche Gefühl, dass Mowery mehr über sie wusste, als sie ahnte. Sie durfte nicht vergessen, welche Art von Job er machte, und sie musste auf der Hut sein.
Allmählich ließ das Zittern nach.
„Hast du den Sohn wirklich gevögelt?“ fragte er. „Oder hast du dir das nur ausgedacht, weil Jack dich nicht will?“
Sie blieb ruhig. Jetzt kam ihr die Zurückhaltung gelegen, die sie sich während der vergangenen zwanzig Jahre als Jack Swifts vertrauenswürdigste Mitarbeiterin angeeignet hatte. „Männer wie du haben kein Verständnis für Loyalität und Hilfsbereitschaft und wirkliches Engagement.“
„Da hast du verdammt noch mal Recht.“ Er grinste. Offenbar amüsierte er sich über seine Antwort. „Na, ist ja auch egal. Schließlich kannst du so viel fantasieren, wie du willst, Barbie.“
„Ich gehöre nicht zu den Frauen, die fantasieren.“
Wirklich nicht, dachte sie. Schließlich wäre sie nicht zu Jack gegangen, wenn sie nicht aus voller Seele, mit Herz und Verstand geglaubt hätte, dass er nach all den Jahren endlich ihr Geständnis erwartete. Solche Sachen dachte sie sich nicht aus, nicht nach zwei Jahrzehnten in Washington. Sie hatte die Zeichen nicht falsch interpretiert. Jack Swift war einfach nicht darauf vorbereitet gewesen, sich zu seinen Gefühlen zu bekennen. Er war vor ihr geflohen. Und jetzt musste sie ihm die richtige Richtung weisen – zurück zu ihr.
Darren sprang auf, ergriff ihre Hände und zog sie vom Stuhl hoch. Sie hielt den Atem an. Was sollte das denn jetzt? Was hatte er vor? Er war muskulös und stark. Kräftemäßig hätte sie sich niemals mit ihm messen können. Sie musste sich auf ihren Verstand verlassen, ihre Intelligenz und unglaubliche Selbstdisziplin.
Aber die Art, wie er sie hielt, hatte nichts Erotisches. „Wie lange ist es her, Barbie? Wie lange hast du schon keinen Mann mehr gehabt?“ Er umklammerte ihre Taille und schnürte ihr die Luft ab. „Nicht mehr seit Colin Swift? Nicht ein einziges Mal?“
„Das geht dich nichts an.“ Ihr Ton war absichtlich kalt und beherrscht. „Unsere Beziehung ist rein beruflich. Wir erpressen einen Senator. Mehr nicht.“
Er drückte sie jetzt so fest, dass es schmerzte. Sie konnte sich nicht bewegen. „Keine Dummheiten, Barbie, ist das klar? Wenn die Sache hier funktionieren soll, will ich alles wissen.“
„Ich habe dir bereits gesagt …“
„Hattest du eine Affäre mit Colin Swift?“
„Ja.“
Das sollte wohl ein Test sein. Und sie hatte keine Ahnung, was sie machen musste, um ihn zu bestehen. Schreiend davonlaufen? Ihn bitten, mit ihr zu schlafen? Ihn ohrfeigen?
Nein, dachte sie. Sie wollte, dass er sie unterschätzte . Und er sollte keinesfalls denken, dass er sie herumkriegen konnte.
„Was Frauen angeht, kannst du wohl nur in Klischees denken, Mr. Mowery? Das ist ziemlich riskant“, meinte sie. „Ich bin kein vertrocknetes Mauerblümchen, das sich nach einem Mann verzehrt, den es nicht haben kann.“
„Wo warst du letzte Woche?“
„In Urlaub. Ich habe sämtliche Outlet-Center in Neu-England abgeklappert.“
„Auch in Vermont?“
„Was?“
Er schob seine Hände höher und quetschte ihre Rippen. „Bist du nach Vermont gefahren?“
„Ich kriege keine Luft mehr …“
„Sag einfach Ja oder Nein.“
Sie nickte keuchend. „Ja.“
„Hast du Lucy Swift besucht?“
Weil sie nicht reden konnte, schüttelte sie den Kopf.
„Sie hat sich ganz kurzfristig entschlossen, nach Wyoming zu fliegen. Und sie hat ihre Kinder mitgenommen. Ich will wissen, warum.“
„Ich … kriege keine Luft … ich …“
Er lockerte seinen Griff, aber nur ein wenig.
Barbara hustete und schnappte nach Luft. „Du verdammter …“
„Erzähl mir von Lucy.“
„Ich weiß überhaupt nichts. Du musst sie schon selber fragen. Ich habe eine Einkaufstour gemacht. An einem Tag war ich in einem Outlet-Center in Manchester. Das ist alles.“
Es ist gefährlich, ihn anzulügen, dachte Barbara. Aber es war noch gefährlicher, ihm die Wahrheit zu sagen.
Mit den Daumen fuhr er über die Stelle unterhalb ihrer Brüste. Er hatte es nicht auf Sex mit ihr abgesehen. Dafür war er zu sehr auf seinen Auftrag konzentriert. Er ist kein so komplizierter Mann, dachte Barbara. Und sie war keine so unattraktive Frau. Offenbar war seine Besessenheit in Bezug auf Jack etwas, das sie erst noch besser verstehen musste.
Sein Blick war kalt, als er sie losließ. „Arnika“, sagte er.
„Was?“
„Reib die Verletzungen mit etwas Arnika ein.“
Sie lief wieder ins Badezimmer. Diesmal übergab sie sich nicht. Sie wusch ihre Hände, klappte den Toilettendeckel herunter und setzte sich hin. Sie riskierte alles. Sie hatte einen interessanten Job, eine hübsche Wohnung, eine Menge patenter Freunde. Es gab Männer, die sie begehrten. Anständige, erfolgreiche Männer.
Sie hatte es nicht nötig, sich von einem schmuddligen Darren Mowery in ihrem eigenen Wohnzimmer betatschen zu lassen.
Nachdem Jack ihr einen Korb gegeben hatte, so höflich, als ob sie Mitleid erregend gewesen wäre, hatte sie herausgefunden, dass er sich mit Sidney Greenburg traf, einer Kuratorin an der Smithsonian Institution. Sie war fünfzig Jahre alt, nie verheiratet gewesen und hatte keine Kinder. Warum sie? Warum nicht sie, Barbara?
Sidney gehörte zu den Freunden, die Lucy in Washington hatte.
Ich hätte Colin heiraten können. Ich musste nicht auf Jack warten.
„Barbie?“
Darren stand vor der Badezimmertür. Barbara rührte sich nicht.
„Hör zu, wie es funktionieren wird“, sagte er. „Ich werde mich mit Jack treffen. Ich werde ihn unter Druck setzen. Er wird seinen guten Ruf nicht riskieren, und er wird auch den seines toten Sohnes nicht beschmutzen wollen. Er wird zahlen. Und du kriegst zehn Prozent.“
Sie sprang hoch und riss die Tür auf. „Zehn Prozent! Vergiss es. Ich werde sofort die Polizei verständigen. Ohne mich hättest du gar nichts. Ich hatte die Affäre mit Colin. Ich habe die Fotos.“
„Du wirst die Polizei nicht anrufen“, erwiderte er ruhig.
„Und ob. Du erpresst einen amerikanischen Senator.“
„Barbara.“ Er war kalt und herablassend. „Wenn du auch nur eine falsche Bewegung machst, wenn die Sache erst mal ins Rollen gekommen ist, bin ich da. Darauf kannst du Gift nehmen. Und es wird dir nicht gefallen.“
Ihr Magen krampfte sich erneut zusammen. Sie presste die Hand dagegen, stumm vor Schmerz. Wenn Lucy sich nun bei Sebastian Redwing wegen ihres Rachefeldzugs ausweinte? „Mistkerl.“
„Bingo. Damit hast du vollkommen Recht.“
Barbara streckte das Kinn vor. Immerhin konnte sie zwanzig Jahre Erfahrung aufbieten, wenn es darum ging, die Hochnäsigkeit anderer Leute für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Und für Jacks Zwecke. „Jack würde keine Woche ohne mich in dieser Stadt überleben, und das weiß er. Wenn er zu mir kommt, dann solltest du besser ganz weit weg sein. Und das sage ich dir nur einmal.“
„Ach, wirklich? Jetzt pass mal auf, Barbie.“ Mowery beugte sich leicht nach vorn und betonte jedes Wort klar und deutlich. „Mir ist es egal, ob du mit Swift-Vater und Swift-Sohn gleichzeitig gevögelt hast. Mir ist es auch egal, ob du die ganze verdammte Kiste nur erfunden hast. Wir werden das Geschäft in Gang setzen, und wir werden es auf meine Weise tun.“
Wieder hatte sie diesen bitteren Geschmack im Mund. „Ich kann nicht glauben, dass ich dir erlaubt habe, mich anzufassen.“
Er lachte. „Du wirst es wieder tun, Barbie. Glaub mir.“
Er schlenderte über den Flur zurück. Sie spuckte aus und verfehlte ihn um wenige Zentimeter. Er lachte noch lauter.
„Fünfzig Prozent“, schrie sie.
Er blieb stehen und schaute sie an.
Sie rang nach Luft. Lieber Gott, was hatte sie getan? „Ich will fünfzig Prozent vom Deal.“
„Vom Deal? Okay, Dick Tracy. Ich gebe dir fünfundzwanzig.“
„Fünfzig. Die habe ich verdient.“
Er zwinkerte ihr zu. „Ich mag dich. Barbie. Du sitzt am kürzeren Hebel bei den Swifts, aber du kämpfst weiter wie eine Löwin. Ja. Ich mag dich wirklich sehr.“
„Es ist mir ernst. Ich will fünfzig Prozent.“
„Barbie, vielleicht solltest du noch mal darüber nachdenken.“ Er wippte auf seinen Fersen vor und zurück. „Ich bin kein sehr netter Mensch. Ich nehme an, du hast das inzwischen mitgekriegt. Meine Sympathie für dich ist gerade mal so groß.“ Mit Daumen und Zeigefinger deutete er etwa zwei Zentimeter an.
Sie zögerte. In ihrem Kopf drehte sich alles. Aber das war jetzt nicht die richtige Zeit, um kalte Füße zu bekommen oder Zeichen von Schwäche zu zeigen. „Also gut. Fünfundzwanzig Prozent“, sagte sie.
Jack Swift goss sich ein zweites Glas Wein ein. Es war ein trockener Obstwein aus Äpfeln und Birnen, und er stammte von einem neuen Weingut in seinem Heimatstaat. Er prostete Sidney Greenburg zu, die noch bei ihrem ersten Glas war. „Auf die Weine von Rhode Island.“
Sie lachte. „Ja, aber nicht auf diesen. Ich liebe Obstweine, Jack, doch der hier schmeckt einfach schauderhaft.“
Er lachte ebenfalls. „Das stimmt. Nun, ich bin noch nie ein besonderer Weinkenner gewesen. Ein guter Scotch – davon verstehe ich mehr.“
Der Abend war warm, feucht und ruhig. Sie saßen in dem kleinen, von einer Ziegelmauer umgebenen Garten seines Hauses in Georgetown. Rhode Island, der Bundesstaat, aus dem er kam und den er zuerst im Abgeordnetenhaus und anschließend im Senat vertreten hatte, schien weit entfernt in diesen Stunden. Hier hatte er seinen Sohn großgezogen, hier hatte er seine Frau während ihres langen und schließlich verlorenen Kampfes gegen den Krebs betreut. Und jetzt waren beide nicht mehr da. Er hatte daran gedacht, das Haus zu verkaufen. Er hatte es in seinen frühen Washingtoner Jahren erworben, und er würde es mit einem stattlichen Gewinn veräußern können. Er hatte sogar daran gedacht, aus dem Senat auszuscheiden. Barbara Allen hatte ihm beides ausreden können. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte sie ihn vor manch einer überstürzten Handlung bewahrt.
„Ich weiß nicht, was ich machen soll, Sidney.“ Jack schaute in den hellen Wein. Die meiste Zeit des Abends hatten er und Sidney über Barbara Allen gesprochen. „Immerhin arbeitet sie für mich, seitdem sie ihr College-Praktikum bei mir gemacht hat.“
„Du wirst überhaupt nichts unternehmen.“
„Ich kann doch nicht so tun, als ob …“
„Doch, das kannst du, und du tust ihr damit sogar einen Gefallen.“
Sidney stellte ihr Glas auf dem Gartentisch ab. Es erstaunte ihn immer wieder, dass sie so viel für ihn empfand. Er war ein alter Witwer, ein grauhaariger, dickbäuchiger Senator, der sich nicht einmal besonders wichtig nahm. Sie war eine erstaunliche Frau mit sehr dunklen Augen und dunklem, von zahlreichen grauen Strähnen durchzogenem Haar. Sie benutzte wenig Make-up, und sie beklagte sich darüber, dass sie um die Hüften und Oberschenkel zu viel Gewicht angesetzt hatte. Jack war das überhaupt nicht aufgefallen. Sie war klug, freundlich, kompetent und selbstsicher. Sie fühlte sich wohl in ihrer Haut. Mit Lucys Eltern hatte sie in der Smithsonian Institution zusammengearbeitet und kannte sie, seitdem sie ein kleines Mädchen war – lange, bevor Lucy Colin getroffen hatte.
„Jetzt hör mir mal zu, Jack“, sagte sie. „Barbara ist keine Mitleid erregende Frau. Sie braucht dir nicht Leid zu tun, nur weil sie vierzig und nicht verheiratet ist. Wenn sie sich ohne Rücksicht auf ihr Privatleben der Arbeit widmet, so ist das ihre Entscheidung. Die Würde, diesen Entschluss getroffen zu haben, musst du ihr einfach zugestehen. Und glaube ja nicht, dass sie kein erfülltes Leben führt, nur weil sie keinen Mann und keine Kinder hat.“
„Das tue ich auch nicht. Ich würde niemals …“
„Selbstverständlich würdest du. Die Leute tun es doch andauernd.“ Mit einem Lächeln nahm sie ihrer Bemerkung die Schärfe. „Wenn Barbara Allen sich derzeit ein bisschen tollpatschig vorkommt und merkwürdig verhält, nimm es einfach hin und gib ihr die Gelegenheit, darüber hinwegzukommen.“
Jack seufzte. „Sie hat sich mir praktisch an den Hals geworfen.“
„Und ich nehme an, dass sich dir noch niemals eine verheiratete Frau an den Hals geworfen hat?“
„Nun ja …“
„Ach komm, Jack. Wenn Barbara sich unverheiratet verrückt benimmt, dann wird sie sich auch verheiratet verrückt benehmen.“
Er musste ein Lächeln unterdrücken. Sidney war zwar wohl erzogen und kultiviert, aber sie redete nie lange um den heißen Brei herum. „Ich habe nicht behauptet, dass sie verrückt ist.“
„Das meine ich ja gerade.“ Ihre Augen funkelten. Sie sprach mit Nachdruck und lächelte über sein Stirnrunzeln. „Für einen Mann, der in der Öffentlichkeit steht, bist du sehr naiv. Jack, die Frau hat einen Annäherungsversuch gemacht. Colin ist jetzt drei Jahre tot und Eleanor fünf. Du hast gerade erst wieder angefangen, dich umzuschauen. Für mich ist ihre Handlungsweise …“, sie zuckte mit den Schultern, „vollkommen normal.“
Er nahm noch einen Schluck Wein. Seiner Meinung nach schmeckte das ganze Zeug gleich, egal, ob es aus Äpfeln, Birnen oder Trauben gemacht war. „Vielleicht hast du Recht.“
„Aber?“
„Ich weiß nicht.“
„Die ledige Vierzigjährige macht die Leute in der Firma nervös. Sie wissen nämlich nicht, ob sie ein bisschen meschugge ist und in verwahrloster Umgebung mit fünfundzwanzig Katzen lebt.“
„Das ist veraltetes Denken, Sidney.“
Sie machte eine ablehnende Handbewegung. „Aber es stimmt. Wenn Barbara verheiratet wäre und dir Avancen machen würde, dann wärst du geschmeichelt. Dann würdest du nicht hier sitzen und dir den Kopf darüber zerbrechen, was du tun könntest. Du würdest sie für eine normale, gesunde Frau halten.“ Sie griff nach seiner Hand. „Jack, das habe ich auch schon durchgemacht.“
„Niemand würde jemals vermuten, dass du den Verstand verlierst.“
Sie lächelte. „Ich habe zwei Katzen. Man weiß, dass ich ihnen ihr Futter in Porzellanschalen serviere.“
Er sah das Zwinkern in ihren Augen und lachte. Das mochte er an Sidney am liebsten: Sie brachte ihn zum Lachen. Sie war schlagfertig, selbstironisch und respektlos. Weder ihre Arbeit noch sich selbst oder das Leben in und um Washington nahm sie allzu ernst.
Trotzdem konnte Jack ein gewisses Unbehagen nicht abschütteln. „Aber irgendetwas ist mit Barbara los.“
„Dann ist eben etwas los mit Barbara. Punkt.“
„Ich verstehe, was du sagen willst …“
„Na endlich!“ Sidney ließ sich gegen die Rückenlehne ihres Stuhls fallen, als ob seine Begriffsstutzigkeit sie erschöpft habe. „Können wir jetzt vielleicht das Thema wechseln?“
Er lächelte. „Mit Vergnügen.“
Sie grinste ihn schelmisch an. „Reden wir über meine Katzen.“
Sidney blieb nicht über Nacht. Beide hatten am Samstag einen außerplanmäßigen Termin, aber Jack wusste, dass dies nicht der eigentliche Grund war. „Ich bin noch nicht so weit, dass ich meine Strumpfhose im Badezimmer eines Senators aufhängen kann“, sagte sie leichthin und gab ihm einen Abschiedskuss.
Er erinnerte sich an ihren Ratschlag, als er am nächsten Morgen in sein Büro kam und Barbara Allen wie immer hinter ihrem Schreibtisch saß. Ehe er etwas sagen konnte, lächelte sie ihn freudestrahlend an. „Guten Morgen, Senator.“
„Guten Morgen, Barbara. Ich dachte, Sie hätten noch Urlaub.“
Sie machte eine Handbewegung. „Ich hatte nur ein paar Tage frei, keinen Urlaub. Heute Morgen wollte ich sowieso zurück sein. Sie haben heute doch einen wichtigen Termin.“
Er lächelte. „Und wie waren Ihre freien Tage?“
„Perfekt“, sagte sie. „Genau das, was ich gebraucht habe.“
Sie drehte sich mit ihrem Stuhl herum und tippte etwas in den Computer ein. Sie sieht fantastisch aus, dachte Jack – erholt, gepflegt, professionell. Nichts war zu spüren von der wilden Verzweiflung, die sie beide vergangene Woche in eine so peinliche Situation gebracht hatte.
Er fühlte sich erleichtert. Ein paar Tage an einem anderen Ort hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Er würde sich an Sidneys Rat halten und so tun, als wäre nichts geschehen. Es ging nicht nur darum, Barbara einen Gefallen zu tun – er tat sich auch selbst einen Gefallen. Auf ihre Fähigkeiten, ihr Wissen, ihre Kompetenz und ihre langjährige Erfahrung war er schließlich angewiesen.
Er ging in sein Büro. Sie war wieder ganz die Alte. Gott sei Dank.