7. KAPITEL
Der Pfad, der neben dem Joshua-Fluss entlangführte, hatte sich seit Sebastians Kindheit kaum verändert. Er liebte diesen Weg. Wenn er seine Großmutter besuchte, hatte er stets darauf bestanden, einen Spaziergang zu den Wasserfällen zu machen. Daisy war nie mit ihm gekommen. Für sie waren die Wasserfälle ein Schauplatz von Tragödie, Gefahr und Verlust, kein Ort von wilder Schönheit oder für verwegene Abenteuer.
Er erinnerte sich an einen seiner letzten Besuche. Sie hatte nur noch kurze Zeit zu leben, und der Weg zu den Wasserfällen wäre nun zu anstrengend für sie gewesen. „Manchmal glaube ich, dass es besser gewesen wäre, sofort nach Joshuas Tod hinzugehen“, hatte sie ihm einmal gesagt. „Aber ich habe zu lange gewartet. Sechzig Jahre.“
„Du hast ein schönes Leben gehabt, Großmutter.“
„Ja, das stimmt.“
Aber sie hat nie mehr geheiratet, überlegte Sebastian, als er sich duckte, um dem niedrig hängenden Ast einer Schierlingstanne auszuweichen. Es gab natürlich einen anderen Grund, warum sie die Wasserfälle mied: Wenn sie nie wieder dorthin ging, konnte sie sich einreden, sie sei in der Lage, die Zeit anzuhalten und sich vormachen, Joshua Wheaton sei noch am Leben. Sebastian hatte das damals nur nicht begriffen. Sie hatte ihn begraben und ihr Leben weitergelebt. Aber tief in ihrem Inneren existierte immer noch die Vorstellung, dass er an einem nassen Märztag in den Wald ging, um einen Jungen und seinen Hund zu suchen. Er blieb immer der junge Mann, den sie geheiratet hatte – und selbst sechzig Jahre später fühlte sie sich nicht als Witwe.
Der Pfad wurde schmaler und verschwand fast im Gras und Unterholz des steil ansteigenden Hangs. Sebastian musste sich an Baumstämmen festklammern und mit den Füßen auf Felsen und aus der Erde ragenden Wurzeln Halt suchen. Nach dem Gewitter der vergangenen Nacht war der Fluss, der zu seiner Rechten vorbeirauschte, angestiegen und schneller geworden. Das Wasser schwappte über graue glatte Steine. Er befand sich jetzt unterhalb der Fälle und ganz in der Nähe des Scheitelpunktes, von wo aus sie metertief in den Abgrund stürzten.
Er hatte Madison Swift nicht aus den Augen gelassen, bis sie wieder sicher bei ihrer Mutter angekommen war. Sie hüpfte ausgelassen, als sie den Wald verließ, und er hatte sich nach dem Grund für ihre Heiterkeit gefragt. Es waren wohl kaum die Wälder von Vermont, die sie in eine so gute Laune versetzt hatten. Etwa ein Junge? Oder Freundinnen? Offenbar schien es ihr überhaupt nicht bewusst zu sein, dass eine Fünfzehnjährige allein im Wald eine Menge Schwierigkeiten bekommen konnte.
Die Luft war trockener als am vergangenen Tag, und selbst in Ufernähe schwirrten kaum Insekten umher. Sebastian ging an einem Felsblock vorbei, der fast so groß war wie er selbst. Auf dem ausgewaschenen Boden war der Pfad nun überhaupt nicht mehr zu erkennen.
Er befand sich jetzt in unmittelbarer Nähe der Wasserfälle. Nur noch ein hoch aufragender, glatter Fels versperrte ihm die Sicht auf den Fluss, die Kaskaden, die Stromschnellen und die Bassins, die das Wasser aus einem gigantischen Granitstein ausgewaschen hatte und in dem es kurzfristig zur Ruhe kam.
Die Wasserfälle waren beeindruckend. Sie waren ihm bestens vertraut, aber er hütete sich, ihre Gefährlichkeit zu unterschätzen. Vorsichtig bahnte Sebastian sich einen Weg über den steilen Felsvorsprung, der sich an die Granitwand schmiegte. Genau über ihm begann das Wasser hinabzustürzen, bahnte sich seinen Weg über glatt gewaschene, runde, pittoreske Steingebilde und sammelte sich in drei natürlichen Becken. Das erste war sehr tief und wirkte bedrohlich mit den von allen Seiten emporragenden Wänden. Es lag unmittelbar unter ihm und war nur zu erreichen, wenn man einen halsbrecherischen Sprung über einen hervorstehenden Felsen riskierte. Dennoch übte das klare, kalte Wasser eine seltsame Anziehungskraft aus, die Sebastian fast körperlich spürte – ebenso wie die Gefahr, die es verhieß.
Das Wasser floss aus diesem Becken über einen anderen Fels in ein kleineres, weniger tiefes Bassin, das weiter unterhalb der Fälle lag, ehe es sich in einem letzten, weit ausladenden und flachen Becken sammelte. Dort betrug die Wassertiefe zu dieser Jahreszeit höchstens einen Meter, an manchen Stellen war es nur knöcheltief. Wer hier schwamm, musste nicht befürchten, von der Strömung erfasst und gegen einen Felsen geschleudert zu werden. Ein typisch „Vermonter Swimmingpool“. Darunter fand der Fluss zu seiner alten Gestalt zurück und floss gemächlich an der Wheaton-Farm vorbei.
Sebastian riss sich zusammen. Jetzt gehörte sie Lucy.
Vorsichtig kletterte er über das Wurzelwerk einer dürren Schierlingstanne, das zur Hälfte über den Wasserfällen hing, und blickte hinunter. Er stellte sich vor, wie sein Großvater vor sechzig Jahren hier gestanden hatte. Nach der Schneeschmelze war der Fluss vermutlich angestiegen und zu einem reißenden Wildbach geworden. Ob Joshua Wheaton die Gewalt und Schönheit des tosenden Wasserfalls überhaupt wahrgenommen hatte? War er überhaupt für so etwas empfänglich gewesen?
Sebastian erinnerte sich, dass er genauso mutig und heldenhaft wie sein Großvater hatte werden wollen. Jetzt fragte er sich, ob Joshuas Sprung in das reißende Wasser eine Kurzschlusshandlung gewesen war – eine Panikreaktion, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war, von der Joshua sich aber dennoch nicht hatte abhalten lassen, weil er keine andere Möglichkeit sah, wenn er sich später keine Vorwürfe machen wollte.
Ein Geräusch …
Felsbrocken und Sand waren in Bewegung geraten. Sebastian reagierte instinktiv, wusste jedoch bereits, dass es zu spät war. Er war in Gedanken gewesen. Jetzt blieb ihm keine Zeit mehr, lange zu überlegen, wie er sich verhalten sollte. Steine und Erdklumpen stürzten von der steil aufragenden Felswand auf den schmalen Felsvorsprung, auf dem er stand. Der bot nicht genug Platz, um der Lawine auszuweichen.
Er klammerte sich an der Schierlingstanne fest, aber ein Stein, so groß wie ein Tennisball, traf seine Kniekehle. Er glaubte, über sich ein befriedigtes Murmeln und heftige Atemzüge zu hören. In dem Moment traf ihn ein weiterer Stein im Kreuz und ließ ihn das Gleichgewicht verlieren.
Sein Körper taumelte vorwärts, und für einen endlosen Zeitraum schien er in der Luft zu hängen. Plötzlich war er selbst der Großvater, den er nie kennen gelernt hatte, und kurz davor, in den sicheren Tod zu stürzen.
Was für ein unehrenhafter Tod, überlegte Sebastian blitzschnell. Den Halt zu verlieren, während die Gedanken ganz woanders waren.
Jetzt kamen ihm seine Ausbildung und seine Erfahrungen zugute. Er vertrieb alle unnötigen Gedanken aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf das Wesentliche. Er drückte das Kinn an die Brust, um seinen Kopf zu schützen und um den Sturz mit seinen Schultern und seinem Gesäß abzufedern. Er prallte gegen Stein, stürzte tiefer, schlug noch einmal auf einen Felsen und landete im Wasser.
Mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen tauchte er in die Tiefe und spürte einen stechenden Schmerz. Das Wasser war eiskalt. Er dachte an Plato, der mit solchen Dingen sein Geld verdiente und der bestimmt ein paar passende Bemerkungen für ihn auf Lager hatte, falls er überleben sollte.
Sein Gewicht, durch die Wucht des Sturzes noch größer geworden, zog ihn nach unten. Er versuchte, kein Wasser zu schlucken. Er rutschte über den kiesbedeckten Grund und schürfte sich Gesicht und Knie auf. Schließlich kam er auf seinen Füßen zu stehen, stieß sich ab und schoss an die Wasseroberfläche. Keuchend atmete er die kühle Luft ein.
Die Lawine aus kleinen Steinen, Tannennadeln und schwarzer Erde prasselte ins Wasser. Sebastian wartete nicht, bis er von einem weiteren Felsbrocken getroffen wurde. Unter höllischen Schmerzen durchquerte er, so schnell er konnte, das Becken und erreichte die andere Seite. Er tastete sich an der steil aufragenden Wand entlang, die ihm die Sicht auf die weiteren Fälle versperrte. Ganz in seiner Nähe rauschte das Wasser über die nächste Stufe. Schließlich gelang es ihm, sich auf die Felsplatte zu hieven. Sein Gesicht war blutüberströmt, und vor seinen Augen drehte sich alles. Unmittelbar neben ihm stürzte das Wasser neun Meter tief in das darunter liegende Becken.
Wäre das Wasser tiefer und die Strömung stärker gewesen, hätte es ihn sofort mit in den Abgrund gerissen. Stattdessen lag er auf der Felsplatte in dem Bassin, die vom Wasser glatt poliert und ebenmäßig geformt war. Er spürte, wie seine Sinne schwanden. Er konnte nichts dagegen tun.
Großvater.
Er wurde ohnmächtig, und Dunkelheit umfing ihn.
Seine Ohnmacht hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Aber das war lange genug. Als er seine Schultern ein wenig bewegte, explodierte ein Schmerz in seinem Kopf. Er beachtete ihn nicht. Das Wasser rauschte an ihm vorbei. Er stützte sich auf seine Hände und seine Knie. Sie waren über und über mit Schrammen, Schnitten und Schürfwunden bedeckt, die er von dem Sturz davongetragen hatte.
Sebastian erinnerte sich an das heftige Atmen und das zufriedene Murmeln, das er gehört hatte, als Sand und Steine auf ihn herabprasselten. Das waren keine Kinder gewesen. Es war auch kein Unfall gewesen und kein Zufall. Jemand hatte es absichtlich getan, und das bedeutete, dass er immer noch in Gefahr war, in der Schusslinie stand. Jeder, der sich oben auf der Felsplatte aufhielt, konnte ihn sehen. Ein gut gezielter Schuss hätte sein Ende bedeutet.
Er hatte nichts wahrgenommen. Mit seinen Gedanken war er weit fort gewesen, nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Er nahm es als Beweis dafür, dass er niemals hierher hätte zurückkehren dürfen. Er hätte Plato oder Jim Charger oder Happy Ford schicken sollen. Auf dem Papier war er schließlich immer noch der Boss, obwohl Plato während des letzten Jahres die Geschäfte für ihn geführt hatte.
Während er an der glatten Felswand nach einem Halt suchte, verfluchte er sich für seine Unachtsamkeit. Lucy und die Erinnerungen. Eine fatale Kombination.
Schließlich hatte er eine schattige Stelle erreicht, die ihn allen Blicken entzog. Er streckte die Arme aus und bekam die hervorspringende Wurzel einer dünnen Kiefer zu fassen. In seinem Schädel pulsierte der Schmerz. Er hatte nur eine Chance. Wenn es ihm beim ersten Mal nicht gelang, sich hochzuziehen, würde er ins Wasser zurückfallen. Einer würde nachgeben – entweder er oder der dürre Baum. Vielleicht sogar beide.
Er beachtete weder die Schmerzen noch das Blut und das Schwindelgefühl und zog sich mit aller Kraft, deren er fähig war, an der Wurzel empor. Als sie nachgab, griff er rasch mit der anderen Hand nach einem stärkeren Wurzelstück. Mühsam hangelte er sich über den Felsen auf trockenen, weichen Grund und ließ sich im Schatten der Kiefer auf den Boden fallen.
Seine Hände und Arme waren blutverschmiert, und er spürte, dass immer noch mehr Blut aus seinen Schläfen über sein Gesicht lief. Sein Rücken hatte am wenigsten abbekommen.
Er fluchte.
Dann hörte er plötzlich Stimmen, die von unten kamen, dort, wo der Fluss sich am Ende der Wasserfälle in einem flachen Becken sammelte und ideale Möglichkeiten zum Schwimmen bot. Kinder. Touristen. Lucy. Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen.
Sein Gesicht fiel auf die getrockneten Kiefernnadeln. Mist. Er rührte sich nicht. Der Weg auf dieser Seite der Wasserfälle wurde nur selten benutzt. Aber ihm blieb keine Wahl. Er musste das Risiko eingehen, dass ihn jemand fand und die Sanitäter verständigte. Ihm würde schon ein plausible Erklärung dafür einfallen, dass er hier war – eine, die nichts mit der toten Fledermaus in Lucy Swifts Schlafzimmer zu tun hatte.
„Ich bin gleich wieder da“, hörte er eine Frau in der Nähe sagen. Es war Lucy. Es kam ihm so vor, als existierte die Stimme nur in seiner Fantasie und nicht in der Wirklichkeit. „Ich bin ganz sicher, dass ich etwas gehört habe.“
Die Stimme war echt. Sie hat etwas gehört, dachte Sebastian, und schaut auf eigene Faust nach, anstatt Hilfe zu holen. Kein Wunder, dass derjenige, der in ihr Esszimmer geschossen hatte, ungeschoren davongekommen war.
„Und ich liege hier halb tot herum“, murmelte er.
Es hörte sich schrecklich an. Halb tot war wirklich untertrieben.
Durch das Rauschen des Wasserfalls und die Schmerzen, die laut in seinem Schädel pochten, hörte er Gelächter und Kinder kreischen. Dazu Stimmen von Erwachsenen. Wenigstens hatte sie Madison und J. T. nicht alleine gelassen.
„Wahrscheinlich ist es nur irgendein Tier“, rief eine Männerstimme ihr zu.
„Möglich. Aber ich will trotzdem lieber nachsehen.“
Sebastian zitterte. Das eisige Wasser auf seiner Haut ließ ihn frösteln. Er fragte sich, ob es die Kälte gewesen war, die seinen Großvater letztlich umgebracht hatte. Joshua war im März ins Wasser gefallen und nicht im Hochsommer.
Ein fetter Moskito landete auf seinem blutverschmierten Arm. Sebastian war zu schwach, um ihn zu vertreiben. Stattdessen sah er zu, wie er durch die rote Flüssigkeit krabbelte. Er fluchte erneut, aber diesmal sehr leise.
Er konnte hören, wie Lucy sich auf dem schmalen, gefährlichen Pfad auf seiner Seite der Wasserfälle vorwärts arbeitete. Sie würde den Felsvorsprung überqueren müssen, der einen guten Meter über ihm in die Luft ragte. Wenn er sich ruhig verhielt, würde sie vielleicht an ihm vorbeigehen und annehmen, dass ihr Freund Recht hatte, dass sie wirklich nur ein Tier gehört hatte, und würde umkehren.
Dann hätte er allerdings ein Problem: Wie zum Teufel sollte er in sein Motel zurückkommen? Sein Wagen stand auf dem Waldweg, wo niemand ihn finden würde. Viel zu weit entfernt in Anbetracht seines Zustands. Vermutlich würde er zusammenbrechen, ehe er ihn erreichte. Und damit hatte derjenige, der die Lawine losgetreten und Steine nach ihm geworfen hatte, ausreichend Gelegenheit, zurückzukommen und ihn endgültig zu töten. Dazu gehörte dann nicht mehr viel, und eigentlich käme es dann darauf auch nicht mehr an. Schließlich konnte er sowieso kaum noch etwas für Lucy tun.
„Du taugst nicht mehr allzu viel“, murmelte er.
Plötzlich sah er sie. Auf dem Weg, der weiter oben vorbeiführte, blieb sie stehen. Wenn sie jetzt durch die Bäume spähte, hätte sie ihn sofort entdeckt.
Er hätte auf seine innere Stimme hören und in Wyoming bleiben sollen. Mit dem Pferd ausreiten. In der Hängematte schlafen. Schon vor Monaten hatte er das Glücksspiel aufgegeben, das kam also nicht mehr in Frage. Aber er hätte Solitär spielen und Gedichte lesen können.
Er seufzte. Inzwischen schmerzten sogar seine Augen. „Hallo, Lucy.“
Ihr Schrecken war nicht so groß, wie er erwartet hatte. Vielleicht hatte sie sich daran gewöhnt, dass er in ihrer Nähe war. „Sebastian? Was machst du … oh Gott.“
Ohne lange zu überlegen, setzte sie sich hin und rutschte den Abhang hinunter. Sie hatte eben Erfahrung mit Abenteuerreisen. Sie trug Shorts und ein T-Shirt und keinen Badeanzug, was er sehr bedauerte. Aber schließlich hatte sie ja auch nicht geplant, mit den Kindern schwimmen zu gehen. Und jetzt stand sie im Wasser, das ihr bis zu den Knien reichte.
Sebastian bemühte sich, weniger zerschlagen zu wirken, als er in Wirklichkeit war. Er grinste. Zumindest nahm er es an. „Ich könnte ein paar trockene Klamotten gebrauchen.“
„Du könntest einen Krankenwagen gebrauchen. Was um Himmels willen ist passiert?“
„Ein Erdrutsch. Ich bin gestürzt.“
Ihre schönen braunen Augen wurden schmal. Er bemerkte ihren Zweifel. Und ihre Furcht. Mit der Fingerspitze berührte sie eine Stelle über seinem rechten Auge. „Du brauchst einen Arzt. Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung.“
„Unsinn.“
„Und die Wunde muss genäht werden.“
„Narben machen mir nichts aus, und ich werde schon nicht verbluten.“
Sie sah ihn forschend an. „Ein Erdrutsch, ja?“
„Ja.“
„Das war kein Unfall“, meinte sie.
„Es hätte aber einer sein können. Theoretisch.“
Sie nickte. „Sebastian, sag mir die Wahrheit. Muss ich einen Krankenwagen rufen?“
Er schüttelte den Kopf. Das war ein Fehler. Ihr Gesicht verschwamm vor seinen Augen, und das Einzige, was ihn davon abhielt, sich zu übergeben, war der Gedanke daran, dass sein Mageninhalt in ihrem Schoß landen würde. Und dann würde sie seinen Kopf übers Wasser halten, ihre Freunde zu Hilfe rufen und einen Krankenwagen kommen lassen. Eine tolle Szene!
Er schloss die Augen und wartete darauf, dass sich der Schwindel legte. „Nein“, sagte er, ohne die Augen zu öffnen. „Mir geht es gut.“
„Ich sollte die Polizei verständigen.“
„Die werden nichts finden. Ich habe ja auch nichts gesehen.“ Er hatte nur das Murmeln und Atmen gehört. Was nicht besonders viel war.
„Das kommt mir bekannt vor“, erwiderte sie leise.
Sebastian öffnete die Augen. „Ich brauche nur Wasser und ein paar Pflaster.“
„Unsinn.“
„Lucy?“ rief ihr Begleiter von unten herauf. „Hast du etwas gefunden?“
Sie erhob sich und rief über zurück: „Ich komme sofort.“ Sie hockte sich neben Sebastian. „Das ist Rob. Er ist ein Freund. Er kennt sich mit erster Hilfe besser aus als ich. Ich könnte ihn fragen …“
„Nein.“
„Meine Güte, bist du dickköpfig. Na gut. Er und Patti können mit den Kindern zurückgehen. Ich werde mir eine Entschuldigung ausdenken, warum ich nicht mitkomme, dich zu meinem Haus bringen und verarzten.“ Sie sah ihn aufmerksam an. „Es sei denn, du schaffst es nicht. Wenn du unterwegs zusammenbrichst, dann hole ich Sanitäter und lasse dich auf einer Trage abtransportieren.“
Sebastian verzog das Gesicht. Ihm blieben nicht viele Möglichkeiten, und keine davon war gut. „Ich schaff das schon. Ich brauche deine Hilfe nicht.“
„Ha!“ machte sie nur, bevor sie den Abhang hinunterlief.
Sebastian fühlte sich an wie ein Fleischbrocken – kalt, nass, blutig. Auf dem Weg zu ihrem Haus musste Lucy ihn zwei Mal auffangen, damit er nicht zu Boden fiel. Alle paar Meter taumelte er gegen einen Baum und griff nach einem Busch, um sein Gleichgewicht zu halten. Er konnte von Glück sagen, dass er den Sturz überlebt hatte.
Sie nahmen den längeren, aber leichteren Weg, der vom Fluss zurückführte, und schlichen sich durch die Hintertür ins Haus. Madison, J. T. und die Kileys waren bereits angekommen und spielten Volleyball im Garten neben dem Haus.
Lucy wusste, dass sie Sebastians Anwesenheit irgendwann erklären musste. Aber jetzt noch nicht.
Kraftlos lehnte er sich gegen die Küchentheke. Er hatte die Augen geschlossen und war sehr bleich. Das Blut aus der klaffenden Wunde über seinem rechten Auge war verkrustet. Er sah entsetzlich aus. Lucy überlegte, ob sie unbemerkt nach einem Krankenwagen telefonieren konnte, solange er halb ohnmächtig war.
„Ist dir schwindlig?“ fragte sie.
Seine Augen waren schmale Schlitze. „Ich muss nur tief durchatmen.“
„Na ja.“
„Du bist nicht Florence Nightingale.“
Sie schob ihre Schulter unter seinen Arm. „Stütz dich auf mich. Ich habe noch ein paar Kraftreserven.“
„Du wirst unter mir zusammenbrechen.“
„Ganz sicher nicht. Ich fang dein Gewicht mit meinen Beinen ab. Komm, lass uns gehen, bevor du ohnmächtig wirst. Es ist nämlich schwieriger, dich an den Füßen über den Boden zu schleifen.“
„Wo gehen wir denn hin?“
„In mein Schlafzimmer.“
Ihm gelang ein schwaches, ironisches Lächeln. Sie legte einen Arm um seinen Rücken, um ihn zu stützen. Er krümmte sich vor Schmerzen, und sie bemerkte weitere Schrammen und Wunden, die sie zuvor nicht gesehen hatte. Vielleicht hatte er sich auch ein paar Rippen gebrochen. Sein Zustand war Mitleid erregend.
„Du wirst eine Weile hier bleiben müssen“, stellte sie fest.
Er antwortete nicht. Er war schon zu weit weggetreten, um zu diskutieren. Lucy redete ihm gut zu, während sie ihn über den Flur in ihr Schlafzimmer führte. Kaum hatten sie den Raum betreten, als er auf dem geflochtenen Teppich zusammenbrach. Sie überlegte, ob sie die Tür schließen und ihn seinem Schicksal überlassen sollte. Und hoffen, dass nichts passieren würde, bis sie sie wieder öffnete.
„Na komm schon.“ Sie ergriff ihn am Arm und zog ihn weiter. „Wir haben’s fast geschafft.“
„Mir gefällt’s hier.“ Er rollte sich auf den Bauch. Ohne den Kopf zu heben, sagte er: „Mir geht’s gut. Du kannst jetzt gehen.“
Regungslos blieb er liegen. Lucy kniete sich neben ihn. Sie war verschwitzt und erschöpft. War er eingeschlafen oder bewusstlos? „Sebastian?“
„Ich bin noch nicht tot.“
Sie ging hinüber zum Fenster, von dem aus man den Garten an der Seite des Hauses überblicken konnte. Auf dem Platz zwischen der Scheune und der Garage ging das Volleyballspiel seinem Ende entgegen. Als sie bei Sebastian am Wasserfall stand, hatte sie Rob und Patti zugerufen, dass sie mit den Kindern schon nach Hause zurückkehren sollten; sie würde später nachkommen. Eine Erklärung dafür hatte sie ihnen nicht gegeben. Rob hatte ein wenig misstrauisch ausgesehen. Immerhin hatte er ein paar Tage zuvor mitbekommen, dass sie ziemlich durcheinander war. Ihr Verhalten am Wasserfall schien ein weiterer Beweis dafür zu sein.
„Hallo, Jungs!“ rief sie durch das Fliegengitter. „Ich komme gleich runter.“
„Vergiss es“, antwortete Madison. „Die Moskitos fressen uns auf.“
Pattie klemmte den Ball unter ihren Arm. „Geht’s dir gut, Lucy?“
„Klar. Ich bin bloß ausgerutscht und habe nasse Füße bekommen.“ Das würde auch ihre feuchte Kleidung erklären, für die Sebastian verantwortlich war. Allerdings nicht die Blutflecken. „Ich ziehe mich nur schnell um und komme dann raus.“
Sie eilte zurück zu Sebastian, der immer noch ausgestreckt auf dem Teppich lag.
„Kannst du mich hören?“
„Leider.“
„Ich bin sofort zurück. Versuch nicht, ohne mich aufzustehen.“
„Keine Sorge.“
Sie stieg über ihn hinweg, holte ein T-Shirt aus ihrer Schublade und überlegte einen Moment lang, ob sie ins Badezimmer gehen sollte. Aber wozu? Wenn Sebastian die Augen öffnete, schaute er in die entgegengesetzte Richtung, und er war nicht in der Lage, den Kopf zu bewegen. Sie zog das nasse, blutverschmierte T-Shirt über den Kopf und streifte das frische über. Sobald sie den sauberen, trockenen Baumwollstoff auf ihrer Haut spürte, fühlte sie sich besser.
Als sie in den Garten trat, hatten Rob und Patti die Essensreste in die Kühlbox gepackt. Lucy war ziemlich außer Atem – ungewöhnlich für eine ganz normale Wanderung vom Fluss zum Haus.
Rob, der wusste, dass sie normalerweise eine gute Kondition hatte, blieb ihr Zustand nicht verborgen. „Hast du genug zu Abend gegessen? Du siehst ziemlich erschöpft aus.“
Sie log nicht gern. Das Vertrauen, das sie zwischen sich und den Kindern, ihren Freunden und Mitarbeitern aufgebaut hatte, basierte auf Ehrlichkeit und Offenheit. Es gefiel ihnen nicht immer, was sie sagte, aber es war stets aufrichtig. Doch jetzt war eine Ausnahmesituation. Schließlich hatte sie einen blutüberströmten Sebastian Redwing im Schlafzimmer liegen.
„Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich mich so angestrengt habe“, meinte sie. „Vielen Dank für das Essen. Nächstes Mal bin ich wieder dran.“
Er sah nicht aus, als ob er sich mit dieser Antwort zufrieden geben wollte. „Lucy …“
Patti berührte seinen Arm. „Komm, Rob, lass uns gehen. Wir wollen ihre Gastfreundschaft nicht überstrapazieren.“ Sie lächelte Lucy zu. „Pass auf dich auf. Ruf uns an, wenn du irgendetwas brauchst.“
Lucy spürte ihr Misstrauen. Patti vermutete vielleicht eine romantische Affäre, während Rob glaubte, es habe mit der Furcht einflößenden Patrone zu tun, deren Fund Lucy noch nicht zufrieden stellend erklärt hatte.
Sie riefen Georgie und stiegen in ihren Wagen. Lucy winkte ihnen nach, als sie von der Einfahrt auf die Straße bogen.
„Schade, dass Georgie nicht über Nacht geblieben ist“, sagte J. T. von der Veranda herunter.
Lucy ging zu ihm. Ihre Beine waren schwer und schmerzten bei jedem Schritt. J. T. hatte das Korbsofa mit Beschlag belegt. Madison lag in einem Korbsessel und ließ ihre langen Beine über die Lehne baumeln. Beide Kinder sahen ziemlich erschöpft aus. Sehr gut, dachte Lucy, dann werden sie heute Nacht ausgezeichnet schlafen.
„Ich erkläre es euch später“, sagte sie. „Aber eines muss ich euch jetzt schon sagen. Sebastian Redwing ist hier in unserem Haus.“
Madison fiel fast aus dem Sessel. „Was?“
J. T. wurde sofort hellwach. „Er ist hier? Wo denn?“
„Er hat das Geräusch gemacht, das ich bei den Wasserfällen gehört habe. Er ist schwer gestürzt, und ich habe ihm geholfen, hierher zu kommen. Er möchte aber nicht, dass seine Anwesenheit im Dorf bekannt wird. Deshalb habe ich Rob und Patti auch nichts davon erzählt.“
Das hätte ich besser getan, dachte sie jetzt. Dann hätte sie das Geständnis hinter sich. J. T. würde sich bestimmt verplappern.
„Warum soll denn niemand wissen, dass er hier ist?“ fragte Madison.
„Weil er von hier ist.“
„Aha. Das verstehe ich natürlich.“
„Er muss sich ein paar Tage erholen“, fuhr Lucy fort. „Wenn ihr zwei mir das Gästezimmer zurechtmacht, dann werde ich dort schlafen. Ich muss noch mal nach ihm sehen. Schafft ihr das alleine?“
„Selbstverständlich, Mom.“ Madison war schon auf den Beinen; ihr Gesicht war gerötet. In ihrem langweiligen, entbehrungsreichen Leben ist das plötzliche Auftauchen von Sebastian Redwing schon eine enorme Abwechslung, dachte Lucy sarkastisch. „Sag uns Bescheid, wenn wir sonst noch irgendetwas tun können.“
„Das werde ich. Danke.“
Als Lucy erneut ihr Schlafzimmer betrat, war Sebastian wieder auf die Beine gekommen. Er hatte sein Hemd ausgezogen. Die Jeans hingen ihm auf den schmalen Hüften. Seine Arme, seine Brust und sein Rücken waren über und über mit blauen Flecken, Kratzern und Abschürfungen bedeckt. Abgesehen von seinen Verletzungen ist sein Körper in einem beeindruckenden Zustand, stellte Lucy fest. Er konnte unmöglich die ganze Zeit in der Hängematte verbracht haben.
„Du kannst heute Nacht hier bleiben“, sagte sie. „Ich stecke deine Sachen in die Waschmaschine. Die Kinder und ich können morgen zu deinem Motel fahren und alles holen, was du brauchst.“
„Ich kann selbst zum Motel fahren.“
„Diskutier jetzt nicht mit mir. Ich bin dazu nicht in der Stimmung.“
Sein Lächeln wirkte abwesend. „Jawohl, Ma’am.“
Egal, wie viele Verletzungen er hat und wie sehr er humpelt – dieser Mann lässt sich einfach nicht unterkriegen, dachte Lucy bewundernd. „Setz dich hin, bevor du umfällst.“ Sie öffnete den Schrank und holte einen Schuhkarton hervor, in dem sie ihre Medikamente aufbewahrte. „Brauchst du Hilfe, um deine Hose auszuziehen?“
„Nein. Ganz und gar nicht.“
Etwas in seiner Stimme entfachte in ihr ein warmes Gefühl, das sich von ihrem Unterleib aus in ihrem ganzen Körper verbreitete. Aber sie konzentrierte sich auf ihre Aufgabe und kramte im Schuhkarton. Für ihre Arbeit hatte sie nur einen Erste-Hilfe-Kurs absolvieren müssen. Rob dagegen hatte eine Ausbildung für medizinische Notfälle gemacht: Er brauchte selbst längere Reisen durch den Urwald und die Wüste nicht zu fürchten. Dummerweise hatte sie ihn nach Hause geschickt. Jetzt musste sie also alleine zurechtkommen.
Zunächst einmal griff sie nach einer antibiotischen Salbe und dem Handbuch für Notfallmedizin. Alles Weitere würde sich schon ergeben.
Sebastian war unter die Bettdecke gekrochen, die seine Großmutter zu ihrer Hochzeit angefertigt hatte. Seine Jeans hatte er ordentlich über den Pfosten am Fußende des Bettes gehängt. Er deutete mit dem Finger darauf. „Die kann da heute Nacht trocknen. Ich trenne mich nie von meinen Hosen.“
„Ich kann sie in die Waschmaschine werfen. Es dauert nicht lange.“
„Untersteh dich. Ich habe keine Ersatzhose. Und ich habe auch niemanden in diesem Haus gesehen, der meine Größe hat.“
Lucy zuckte mit den Schultern. „Wie du willst.“
„Was ist das für ein Buch?“
„Mein Handbuch für Notfallmedizin. Ich schau nur noch mal nach, ob ich auch nichts falsch mache.“
„Lucy.“ Sein Blick war düster. „Du wirst überhaupt nichts machen.“
Sie beachtete ihn nicht und blätterte bis zu der Seite, auf der die Behandlung schwerer Stürze beschrieben wurde. Das Kapitel mit der Rettung von Ertrinkenden überging sie. Das würde ihr jetzt wohl kaum etwas nützen. „Zunächst einmal müssen wir nachsehen, ob die Blutungen aufgehört haben und ob du dir nichts gebrochen hast.“
„Abgehakt. Weiter?“
„Dein Kopf. Möglicherweise hast du eine Gehirnerschütterung.“
„Wenn es so sein sollte, wäre sie ziemlich leicht, braucht also nicht weiter beachtet zu werden. Sieh mal.“ Er drehte den Kopf und zuckte zusammen. „Kannst du also auch streichen.“
Sie durchbohrte ihn mit ihrem Blick. „Ich hätte dich auch bei den Moskitos lassen können.“
„Glaubst du wirklich, dass das schlimmer gewesen wäre?“
„Ich bewundere deine Tapferkeit, aber meinst du nicht, dass du jetzt ein wenig übertreibst? Warum hältst du nicht einfach den Mund und lässt mich dich behandeln? Ich habe schließlich Grundkenntnisse in erster Hilfe. Abgesehen von kleinen Schürfwunden und Bienenstichen habe ich sie noch nie gebraucht. Rob hat mehr Erfahrungen.“ Sie setzte sich auf die Bettkante. „Willst du wirklich nicht, dass er mal einen Blick auf dich wirft?“
„Das dauert jetzt zu lange, Lucy.“
Sie legte das Handbuch auf den Nachttisch mit der aufgeschlagenen Seite, die sie brauchte, nach unten. „Und du bist sicher, dass du keinen Lungenriss hast oder ein paar gebrochene Rippen?“
„Die Rippen sind okay“, antwortete er. „Und die Lunge ist auch in Ordnung.“
Trotz seiner provozierenden Reaktionen merkte sie, dass ihn das Sprechen anstrengte. Sie untersuchte die klaffende Wunde über seinem Auge, die schlimmste von allen. „Die müsste wahrscheinlich genäht werden.“ Er antwortete nicht, und sie schloss daraus, dass auch dieses Thema beendet war. „Ich muss die Wunden säubern.“
„Das hat der Fluss schon getan.“
„Flusswasser ist kein geeignetes Desinfektionsmittel.“
Seine Augen verdunkelten sich, sein Blick machte ihr unmissverständlich klar, dass er mit seiner Geduld bald am Ende war. Er war kein Mann, der gerne jemandem auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war.
Lucy entschied sich, ihm zu glauben, dass weder seine Rippen noch die Lunge etwas abbekommen hatten. „Ich muss noch ein paar andere Dinge holen. Ich bin gleich wieder zurück.“
Sie suchte weiter in ihrem Schuhkarton, aber als sie nach kaum einer halben Minute zu ihm zurückkam, war er eingeschlafen. Oder bewusstlos? „Sebastian?“
Sie setzte sich auf die Bettkante und beugte sich über ihn. Sein Atem ging regelmäßig. Er war wohl weggedöst. Auch gut. So schnell wie möglich tauchte sie einen sterilen Verband in die Desinfektionslösung und säuberte die klaffende Wunde sowie die schlimmsten anderen Blessuren. Die kleineren Abschürfungen beachtete sie nicht. Anschließend behandelte sie die Verletzungen mit dem Antibiotikum. Die Wunde über seinem Auge musste verbunden werden. Sie ging so vorsichtig wie möglich vor und berührte ihn nur dort, wo es absolut notwendig war.
Als sie fertig war, öffnete er ein Auge. „Schwester Lucy.“
„Du bist wach?“
„Ich habe mir gedacht, es ist für uns beide einfacher, wenn ich so tue, als ob ich schlafe. Du bist nicht so nervös, und ich muss hier nicht so lange rumliegen.“
Ihre Haltung wurde starr. „Du machst mich nicht nervös, Redwing.“
Das erheiterte ihn. „Ach so.“
„Ich sehe, dass der Sturz dem Esel in dir nichts anhaben konnte.“ Sie erhob sich. „Soll ich dir ein paar Schmerztabletten geben, oder bevorzugst du die Macho-Tour mit Märtyrer-Appeal?“
„Zeig mir die Schachtel. Ich will wissen, ob es wirklich nur Schmerztabletten sind.“ Er studierte die Packung. Sie enthielt extrastarke Tabletten.
Lucy starrte ihn an. „Du denkst doch nicht etwa, dass ich dich in den Wasserfall gestoßen und mit Felsbrocken beworfen habe?“
Er gab keine Antwort. Sie sagte sich, dass es an den Schmerzen liegen musste. Sogar ein Mann, der schon aus beruflichen Gründen zynisch und paranoid geworden war, konnte doch unmöglich glauben, dass sie fähig war, jemanden zu töten.
Sie merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorüber war, setzte der Schock ein. „Glaubst du wirklich, dass das kein Unfall war?“
„Ja.“
„Aber du bist dir nicht sicher. Es hätten auch spielende Kinder sein können, oder ein plötzlicher Erdrutsch …“
„Möglich.“
Lucy spürte, dass er nicht daran glaubte. Wie denn auch? Sein Leben und seine Arbeit hatten ihn so geprägt, dass er immer mit dem Schlimmsten rechnete. „Meinst du, dass derjenige, der das getan hat, dich umbringen wollte?“
„Ich glaube nicht, dass das eine Rolle gespielt hat.“
Seine Augen fielen zu. Entweder war er schon eingeschlafen oder einfach nur zu müde, um weiterzusprechen. Lucy blieb neben dem Bett stehen. Seine Verletzungen begannen sich zu verfärben oder anzuschwellen, aber keine sah wirklich Besorgnis erregend aus. Jetzt war er nicht mehr in der Lage, sie daran zu hindern, die Polizei anzurufen.
Sie stellte den Ventilator an, ging hinaus in den Flur und schloss die Schlafzimmertür. Dann blieb sie stehen, um sicherzugehen, dass sie kein Geräusch hörte. Wenn er jetzt noch einmal aufstehen und zusammenbrechen würde, müsste sie ihn auf dem Boden liegen lassen. Sie hatte nicht mehr genügend Kraft, um ihn wieder ins Bett zu hieven.
Lucy biss sich auf die Lippen. Ihr wurde heiß, als sie sich an den leidenschaftlichen Kuss vom vergangenen Abend erinnerte. Nun gut, das war vorbei. Heute Abend konnte der Mann ja nicht einmal aufrecht stehen.
Sie ging nach oben. Madison und J. T. hatten das Bett im Gästezimmer zurechtgemacht und eine von Daisys zahlreichen Decken darauf ausgebreitet. Es war ein kleines Zimmer mit schlichten Möbeln und einem Gaubenfenster, durch das man den Vorgarten sehen konnte.
„Wie geht es Sebastian?“ wollte Madison wissen.
„Er wird’s überleben. Aber er hatte einen ziemlich üblen Sturz.“ Sie zog einen gelb gestrichenen Stuhl unter Daisys alter mechanischer Nähmaschine hervor und setzte sich hin. Ihre Beine zitterten vor Überanstrengung und Anspannung. „Madison, als du heute Nachmittag im Wald warst … hast du da jemanden gesehen?“
Madison schüttelte den Kopf. „Nein.“
Lucy schwieg. Ihr Mutterinstinkt sagte ihr, dass ihre Tochter etwas vor ihr verbarg. „Du bist ganz sicher?“
„Natürlich. Ganz bestimmt.“
„Nicht mal die Sommergäste?“
„Ich habe den Optiker in seinem Auto gesehen.“ Eines der Ferienhäuser, die weiter oben auf dem Waldweg standen, gehörte einem Optiker aus Boston. „Oder meinst du, als ich spazieren gegangen bin?“
„Genau das meine ich.“
J. T. sprang vom Bett auf. „Ich und Georgie haben gesehen, wie ein Truck auf der Straße gewendet hat.“
Lucys Blick blieb auf ihrer Tochter haften. „Sag es mir, wenn dir sonst noch etwas aufgefallen ist.“
Madison nickte. Kein Streit. Kein Sarkasmus. Sie war auch nicht ungeduldig, weil ihre Mutter sie ausfragte. Genau das erregte Lucys Verdacht.
Entweder sah sie wirklich so fix und fertig aus, dass Madison ihr eine Ruhepause gönnen wollte – oder sie sagte ihr nicht die Wahrheit.
„Hört mir mal zu“, sagte Lucy. „Alle beide. Mir geht so viel im Kopf herum, und ich brauche eure Unterstützung. Sebastian hat sich bei einem Erdrutsch oben bei den Wasserfällen verletzt. Ich möchte vorerst nicht, dass ihr beide allein in den Wald geht.“
„Mama, ich bin fünfzehn …“
„Es bleibt dabei, Madison.“
Lucy überlegte kurz, ob sie den beiden von den unheimlichen Vorfällen erzählen sollte, aber sie wusste, dass sie ihnen damit Angst machen würde. Das war allein ihre Angelegenheit. Ihren Kindern musste sie nur einschärfen, sich keinesfalls in Gefahr zu begeben. Aber sie sollten nicht vor Angst schlaflose Nächste haben.
J. T. umarmte sie. „Magst du Sebastian?“
„Ich weiß nicht. Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Er hat sich verletzt, und ich versuche ihm zu helfen.“ Sie tätschelte ihrem Sohn den Rücken, der trotz seiner zwölf Jahre immer noch ein kleiner Junge war – und noch verschwitzt vom Volleyball-Spiel. „Ich denke, er ist in Ordnung.“
„Spielt er wieder Clint Eastwood?“ fragte Madison.
„Ich glaube nicht, dass er überhaupt jemanden spielt. Jedenfalls trägt er weder seinen Cowboyhut noch seine Cowboystiefel.“
J. T. löste sich von ihr. „Kann ich ihn sehen?“
„Morgen früh.“ Lucy stand auf. „Jetzt sollten wir alle mal duschen. Ich gehe zuerst. Dann suche ich mir ein gutes Buch und entspanne mich. Einverstanden?“
Sie umarmte und küsste beide. Trotz ihrer Müdigkeit ging sie noch einmal hinunter, um nach Sebastian zu sehen. „Schläfst du?“ flüsterte sie, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.
„Nein.“
„Brauchst du noch irgendetwas?“
Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen. Er saß halb aufrecht im Bett, und sein Gesicht verschwamm in der zunehmenden Dämmerung. Der Ventilator surrte. „Dein Instinkt hat dich nicht getäuscht. Irgendetwas geht hier vor.“ Er ließ sich zurück auf das Kissen fallen. „Du solltest Plato anrufen.“
„Was kann er tun, das du nicht tun könntest? Ich habe dir doch schon mal gesagt, dass ich nicht die Armee bei mir haben möchte, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.“
„Plato ist nicht aus der Übung – so wie ich. Er hat immer noch eine Waffe bei sich.“ Er machte eine Pause, dann fuhr er mit leiser Stimme fort: „Ich nicht.“
„Sebastian, wenn wir jetzt darüber reden, dass du befürchtest, jemanden erschießen zu müssen, dann rufe ich die Polizei an. Und zwar sofort.“
„Ich will nichts mehr von Gewalttätigkeiten wissen.“
Sie starrte ihn an. „Wie bitte?“
„Im letzten Jahr musste ich einen Mann erschießen, den ich mal für einen Freund gehalten hatte. Ich habe ihn töten wollen – ich glaubte das tun zu müssen.“
„Meine Güte“, murmelte Lucy.
„Ich habe Plato die Leitung der Firma Redwing anvertraut und bin ausgestiegen.“ Sein Blick schien sie zu durchbohren. „Wegen dir bin ich noch einmal zurückgekommen. Aber ich werde nicht mehr töten.“
Lucy straffte sich, als sie versuchte, den Anflug von düsterer Stimmung zu vertreiben. „Madison hatte doch Recht gehabt. Du führst dich auf wie Clint Eastwood in Erbarmungslos.“
Sie glaubte, ein leises Lächeln auf seinen Lippen zu sehen, aber in der Dämmerung war sie sich nicht sicher. „Ich war niemals ein Säufer.“
„Ruh dich jetzt erst mal aus. Wir reden morgen darüber. Ich möchte nicht, dass du jemanden tötest. Obwohl du den Bastard damit zur Strecke bringen könntest“, fügte sie mit einem Lächeln hinzu.
Jack Swift gab den Code ein, der auf der Karte stand, die Mowery ihm beim Mittagessen gegeben hatte. Es war schon spät, und in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock war es ruhig. Die Messinglampe auf seinem Schreibtisch war die einzige Lichtquelle im Zimmer. Sidney hatte bei einer Veranstaltung im Kennedy Center zu tun, und er war allein.
Er musste lange warten, bis die Bilder sich aufgebaut hatten. Sein Computer war alt und langsam, aber Jack gehörte zu der Generation, die ihre technischen Geräte nicht fortwährend auf den neuesten Stand brachte, sondern erst dann etwas unternahm, wenn sie nicht mehr funktionierte – egal, ob es sich um einen Toaster oder eben einen Computer handelte. Er war schon froh, dass er überhaupt einen PC im Haus hatte.
Langsam tauchten die Fotos auf dem Bildschirm auf. Er war auf das Schlimmste gefasst. Er erwartete illegale, pornografische Bilder von seinem Sohn und einer anderen Frau.
Lucy.
Jack saß kerzengerade. Ein Schmerz schoss durch seine Brust. „Lieber Gott“, flüsterte er.
Sie stand vor der Scheune neben ihrem Haus in Vermont. Sie trug Shorts und ein T-Shirt, und im Garten blühten die Blumen. Das Foto war erst vor kurzem aufgenommen worden.
Das nächste Bild erschien. Madison. J. T. Seine Enkelkinder zusammen mit ihrer Mutter. Sie alle sahen so aus, als seien sie erst in der vergangenen Woche entstanden.
„Dieses Schwein“, sagte Jack und griff sich an die Brust. Dieses Schwein.
Am unteren Ende des Bildschirm standen in großen, schwarzen Buchstaben die Worte „Die reizende Familie von Jack Swift, Senator der Vereinigten Staaten“.
Mit den Bildern wollte Mowery beweisen, dass er an Jacks Familie herankam. Dass er bereits an sie herangekommen war.
Jack schaltete den Computer aus. Er wartete eine Weile, bis der Schmerz in seiner Brust nachließ. Wenn er jetzt einen Herzinfarkt erlitt und tot umfiel, würde Mowery dann aufhören? Oder würde er sich an Lucy und die Kinder heranmachen, frustriert und rachsüchtig?
Den Sicherheitsdienst vom Capitol konnte er nicht verständigen. Für den offiziellen Dienstweg war es zu spät. Den wäre er besser sofort gegangen.
Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, griff er zu seiner Telefonkartei. Er suchte eine Karte heraus und wählte die Nummer, die darauf gekritzelt war. Seine Anweisungen lauteten, zu jeder Tages- oder Nachtzeit anzurufen.
„Firma Redwing.“
„Hallo“, sagte er so bedeutungsvoll, wie er es immer tat, wenn er als Senator in Erscheinung trat. „Hier spricht Jack Swift. Bitte verbinden Sie mich mit Sebastian Redwing.“