6. KAPITEL

Das Haus war einfach vollkommen.

Barbara stand auf der rückwärtigen Terrasse oberhalb vom Joshua-Fluss. Sie war sehr zufrieden darüber, dass sie Recht behalten hatte. Sie hatte gewusst, dass sie etwas in Lucys Nähe finden würde. Es war das letzte Gebäude auf dem Waldweg und lag oberhalb des Hauses dieser dummen Gans. Barbara hatte es vom Fleck weg gemietet. Jack würde zufrieden mit ihr sein.

Das Haus hatte zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer mit einem Kamin, eine komplett eingerichtete Küche, ein Arbeitszimmer und sehr viele Fenster. Auf der Veranda bot ein Dach vor Regen und ein Fliegengitter vor Moskitos Schutz. Die Zimmer waren mit modernen Möbel im Landhausstil eingerichtet, und wenn es nötig sein sollte, konnte man hier sogar eine Pressekonferenz abhalten. Nur an der Landschaft hätte man ein wenig ändern müssen – für Barbaras Geschmack gab es zu viel Wald.

Zwischen den hoch gewachsenen Schierlingstannen und Kiefern hindurch konnte man den Fluss sehen. Das klare, eiskalte Wasser schoss über silbergraue Felsen. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf das unablässig gurgelnde Geräusch des Wassers. Ein leichte Brise umwehte ihr Gesicht.

Darren weiß nicht, dass ich hier bin. Müsste ich es ihm nicht sagen?

Sie empfand den Gedanken wie einen unwillkommenen Eindringling. Fast schien es ihr, als hätte er ihn ihr geschickt, als sie sich gerade ein wenig entspannte und zu vergessen versuchte, dass sie mit einem gefährlichen Mann gemeinsame Sache machte. Sie wollten einen Senator erpressen – den Mann, den sie seit zwanzig Jahren liebte.

Wenn Darren nun hier draußen im Wald war und ihr nachspionierte?

Ein Schauder durchfuhr sie. Er konnte unmöglich wissen, dass sie schon seit Jahren besessen war von ihren Hassgefühlen gegenüber Lucy. Denn wenn er es gewusst hätte, dann hätte er sie vermutlich schon längst umgebracht.

„Du machst deinen Job, und ich mache meinen“, hatte er sie angewiesen. „Wenn du das vermasselst, ziehe ich dich dafür zur Verantwortung.“

Sie hatte vorgehabt, Lucy in Ruhe zu lassen. Aber sie hatte es nicht getan. Sie konnte einfach nicht – und sie verstand nicht, warum. Sie war eine Frau von großer Stärke und Willenskraft. Sie war weder töricht noch wankelmütig. Es fehlte ihr nicht an Selbstdisziplin.

Barbara ließ sich in einen wuchtigen Holzsessel fallen. Lucy war schuld daran, dass sie überhaupt hier war. Wäre die Frau in Washington geblieben, wo sie hingehörte, dann hätte Jack sie, seine persönliche Assistentin, nicht nach Vermont schicken müssen, um ein Haus zu mieten, damit er seine Enkelkinder sehen konnte. Sie wäre nicht in Versuchung gekommen, eine tote Fledermaus auf das Bett dieses undankbaren Miststücks von Schwiegertochter zu deponieren. Vielleicht wären sie und Lucy sogar Freundinnen geworden.

Ihr Handy klingelte.

„Das Geld liegt auf der Bank“, meldete Darren sich ohne weitere Umschweife. „Wir sind unterwegs. Wie ist es denn so in Vermont?“

„Woher weißt du, dass ich …“

„Barbara!“

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Jack hat mich hierhin geschickt. Ich soll für ihn ein Haus mieten. Während der Kongressferien will er ein paar Tage mit Lucy und seinen Enkelkindern verbringen.“

„Schon merkwürdig, auf welche Ideen solche Typen kommen, wenn sie erpresst werden.“

„Er hat vorgeschlagen, dass ich ein oder zwei Tage bleibe.“

„Aber klar doch. Hör zu, Barbie. Spürst du nicht die Schlinge um deinen Hals? Er will dich um die Ecke bringen. Du wirst nicht einmal merken, wie dir geschieht.“ Darren lachte. „Jetzt wünschst du dir bestimmt, dass du dich ihm nicht an den Hals geworfen hättest, was?“

„Du bist widerlich. Jack will mich nicht um die Ecke bringen.“ Sie rief sich eine ihrer Charakterstärken ins Gedächtnis – niemand würde sie einschüchtern. „Ich möchte nicht, dass du mich noch mal anrufst.“

„Scheiß drauf, was du möchtest, Barbie. Pass bloß auf, dass du keine Probleme kriegst. Ich melde mich wieder.“

Er unterbrach die Verbindung.

Barbara ließ das Handy in ihre Einkaufstasche fallen. Mit Darren Mowery würde sie schon fertig werden. Es gefiel ihm, seine Spielchen mit ihr zu spielen, nur um ihr zu zeigen, wie clever er war. Aber sie war cleverer …

„Barbara? Sie sind es ja tatsächlich.“ Unvermittelt war Madison Swift aufgetaucht. Sie kam vom steil abfallenden Flussufer zu ihr hinübergelaufen. „Ich kann es nicht glauben! Meine Freundin Cindy hat mir gesagt, dass ihre Mutter jemandem aus Washington das Haus gezeigt hat, und ich habe gehofft …“ Das Mädchen lachte vergnügt. „Barbara, ich bin’s. Madison Swift. Senator Swifts Enkelin.“

Sie hatte das Mädchen sofort erkannt. Aber sie brauchte ein paar Sekunden, um sich von dem Schock zu erholen. Bestimmt war Madison zu diskret, um zu lauschen – sie konnte unmöglich etwas von der Unterhaltung mit Darren mitbekommen haben. Das Mädchen hüpfte auf die Terrasse. Madison hatte Grasflecken auf den Knien, und ihre Schienbeine waren von Schrammen übersät. Ihr hübsches Gesicht war voller Sommersprossen, und das dunkle kupferfarbene Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Es wirkte ziemlich zerzaust und war ganz und gar unmodern.

Sie sieht Colin so ähnlich, dachte Barbara. Wenn sie sauber wäre und eine ordentliche Erziehung bekäme, wäre Madison Swift eine Augenweide für Jack und hätte Colin alle Ehre gemacht.

So aber war sie nur ein Beweis dafür, dass sie, Barbara, mit ihrem Feldzug gegen Lucy genau das Richtige tat. Das hatte nichts mit ihrer Verbindung zu Darren Mowery oder ihrer Enttäuschung darüber zu tun, dass Jack nichts von ihrer Liebe wissen wollte. Was sie anbetraf, so war es eine Frage der Courage und der Selbstaufopferung. Schließlich musste jemand Lucy die Augen öffnen. Jemand musste sie dazu zwingen, die Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen.

Barbara lächelte dem aufgeregten Mädchen zu. „Natürlich habe ich dich erkannt, Madison. Senator Swifts Enkelin. Wie geht es dir denn, Schätzchen?“

„Ich langweile mich zu Tode“, antwortete sie fröhlich. „Aber das ist in Ordnung. Ich bin es ja gewohnt. Kommt Großvater diesen Sommer hier rauf?“

„Du bist ganz schön pfiffig, Madison. Das sollte doch ein Geheimnis bleiben. Dein Großvater möchte kein Aufsehen erregen – nicht für sich und nicht für deine Mama.“

„Weiß sie es denn schon?“

Barbara schüttelte den Kopf. „Er wollte erst sicher sein, auch wirklich ein Haus zu bekommen, ehe er es ihr sagte. Sonst wärt ihr womöglich noch enttäuscht gewesen, wenn es nicht geklappt hätte.“ Ihre Worte erzeugten in ihr fast Übelkeit. Madison und J. T. wären enttäuscht gewesen, wenn ihr Großvater seinen Besuch hätte absagen müssen, aber bestimmt nicht Lucy. Der war es doch egal, ob sie ihren Schwiegervater jemals wiedersah. „Trotzdem hätte er es euch sagen sollen.“

Madison kreuzte die Finger und presste sie gegen ihre Lippen. Ihre blauen Augen funkelten lebhaft. „Von mir erfährt Mama kein Wort.“

„Wie gefällt dir denn das Haus, das er gemietet hat?“ fragte Barbara mit einer ausladenden Handbewegung. „Ist es nicht wunderschön?“

„Es gehört zu meinen Lieblingshäusern hier oben.“

„Eine herrliche Umgebung.“

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Fast alles in Vermont ist herrlich. Ich weiß nicht, wie viel Herrlichkeit ich noch vertragen kann.“

Barbara lachte. „Na, na, was ist denn das für eine Einstellung?“

Madison sprang auf das Geländer, ohne dass dessen Höhe ihr etwas ausgemacht hätte. „Mir wäre es lieber gewesen, Großvater in Washington zu besuchen, als dass er herkommt. Ich werde im Herbst für ein langes Wochenende zu ihm fahren, aber das ist ja nicht besonders viel.“

„Du willst wohl immer alles haben, nicht wahr?“

„Ja.“ Sie grinste. „Sie etwa nicht?“

„Natürlich.“ Barbara ließ ihren Blick über die einsame, waldreiche Landschaft schweifen. „Du bist allein? J. T. ist nicht mit dir gekommen?“

„Nein, ich bin vor ihm geflohen. Er und sein Freund wollten mich zum Angeln mitnehmen, doch ich habe mich geweigert. Ich hasse Würmer. Es war o. k., als ich zwölf war, aber jetzt nicht mehr.“

„Du bist nicht gerade fürs Landleben geboren, was?“

Sie schien das als Kompliment zu nehmen. „Es ist nicht so, dass ich Vermont hasse. Aber ich mag die Großstadt nun mal lieber.“ Sie sprang vom Geländer herunter – ein rastloses Energiebündel. „Wie lange bleiben Sie denn hier?“

„Ein paar Tage. Ich mache ein bisschen Urlaub und kümmere mich darum, dass alles in Ordnung ist, wenn dein Großvater kommt. Ich fülle die Speisekammer auf, lege ihm etwas zu lesen hin – was man eben so machen muss.“

„Er könnte doch auch bei uns wohnen“, meinte Madison.

Und so willkommen sein wie eine Kellerassel. Lucy fühlte sich doch gar nicht mehr als ein Mitglied der Familie – das war ganz offensichtlich. Aber ihre Kinder waren echte Swifts, und daran würde sie nichts ändern können, gleichgültig, wie sehr es sie auch ärgern mochte.

„So ist es besser“, entgegnete Barbara in neutralem Tonfall. „Würdest du deiner Mutter und deinem Bruder bitte nicht sagen, dass ich hier bin? Ich bitte dich nicht gerne darum, ihnen etwas zu verheimlichen, aber sie würden zwei und zwei zusammenzählen.“

„J. T. sicher nicht. Mama schon …“

Da Lucys Erinnerung an die tote Fledermaus noch sehr frisch war, würde sie möglicherweise falsche Fragen stellen und zu gefährlichen Schlussfolgerungen kommen. Barbara fühlte sich zwar äußerst unbehaglich, wenn sie ein Kind bat, etwas vor seiner Mutter zu verheimlichen, doch unter den gegebenen Umständen war es die einzige Möglichkeit.

Das Mädchen lachte. „Ich liebe Geheimnisse. Natürlich werde ich keinem etwas von Ihnen erzählen. Ich möchte schließlich nicht, dass Sie Ärger mit Großvater bekommen.“

„Nein, nein, darum geht es nicht. Ich möchte ihm nur nicht seine Überraschung verderben.“

Madison nickte. „Er hat uns immer gern überrascht.“ Sie drehte sich abrupt um und fragte: „Waren Sie schon bei den Wasserfällen?“

Ja, während des heimlichen Besuchs in der vergangenen Woche, dachte Barbara. Sie schüttelte den Kopf.

„Sie müssen sie sehen. Sie sind nicht weit von hier. Haben Sie Zeit? Ich könnte sie Ihnen zeigen. Es dauert nicht lange.“

„Für eine Wanderung bin ich nicht richtig angezogen.“

„Es gibt einen Pfad, der vom Waldweg abzweigt. Er ist zwar ein bisschen länger als der Weg, der am Fluss entlangführt, aber er ist leichter zu laufen.“

Madison war so eifrig. Das lag nur an ihrem bemitleidenswerten Leben. Eigentlich müsste sie jetzt in einem exklusiven Sommerlager sein oder ein Schuljahr im Ausland verbringen. Barbara bemühte sich, ihren Zorn zurückzuhalten. Wenn Jack nur seine Reserviertheit ihr gegenüber aufgäbe und endlich sähe, was sie ihm bieten konnte, dann hätte sie Einfluss auf seine Enkelkinder nehmen können. Er hasste es, dass sie allmählich zu Bauerntölpeln verkamen. Sie wusste es ganz genau.

Sie lächelte gezwungen, als sie sich erhob.

„Na, dann wollen wir mal“, sagte sie. „Zeig mir den Weg.“

Madison sprang die Stufen von der Veranda hinunter. Barbara folgte ihr in langsamerem Tempo. In ihrer schwarzen Hose, der gestärkten weißen Bluse und den bequemen Slippern sah sie wirklich so aus wie die langjährige Mitarbeiterin eines amerikanischen Senators.

Sie gingen über den Kiesweg zur Vorderseite des Hauses und bogen in den Waldweg ein. Da das Gebäude das letzte in der Sackgasse war, machte Barbara sich keine Sorgen darüber, dass jemand vorbeifahren und sie entdecken könnte. Es war zwar ein Risiko, jedoch eins, das sie einschätzen konnte – ein weiterer Beweis ihrer klugen Voraussicht. Madison brauchte etwas Abwechslung von den eintönigen Alltäglichkeiten ihres Sommerlebens.

Barbara kannte sich auf den Waldwegen und den Pfaden in den Bergen, die oberhalb von Lucys Haus begannen, besser aus, als sie es zuzugeben wagte.

In der vergangenen Nacht war sie allein zu dem gemieteten Haus zurückgekehrt, noch bevor sie den Vertrag mit dem Makler unterzeichnet und die Schlüssel bekommen hatte. Die verglaste Veranda war nicht abgeschlossen gewesen, und als Barbara hineinschlüpfte, flatterte ihr eine Fledermaus ins Gesicht.

Es war noch sehr früh am Abend für Fledermäuse, und sie hatte befürchtet, dass diese möglicherweise Tollwut hatte.

Und dann war ihr Lucy eingefallen.

Barbara kannte sich mit Fledermäusen überhaupt nicht aus. Sie tötete keine wehrlosen Tiere. Sie hätte sie in Ruhe lassen oder versuchen können, sie herauszulocken, falls das Flattertier die Absicht gehabt hatte, sich auf der Terrasse häuslich niederzulassen.

Aber ihre plötzliche Eingebung hatte sie erst wieder losgelassen, nachdem sie einen Stock gefunden und die Fledermaus erschlagen hatte. Anschließend hatte sie den Kadaver in eine Brottüte gesteckt, die vom Frühstück übrig geblieben war.

Sie hatte ihren Wagen neben einer Kiefer am Rand des Waldwegs geparkt. Dann hatte sie den Fluss überquert. Auf dem gegenüberliegenden Ufer hatte sie einen günstigen Platz entdeckt, von wo aus sie den Garten hinter der Scheune in Augenschein nehmen konnte. Sie sah, wie Madison mit ihren Freundinnen das Haus verließ und J. T. mit seinem schmuddligen kleinen Freund fortging. Als Lucy schließlich mit ihrem Fernglas über die Felder lief, wog Barbara das Risiko und das Vergnügen gegeneinander ab. Sie wusste, dass sie erst dann aufhören konnte, an die Fledermaus zu denken, wenn sie sie in Lucys Haus gebracht hatte. Sie sollte sie finden, sich fragen, wer es gewesen sein mochte, und vor Entsetzen schreien. Aber was wäre, wenn Lucy sie durch ihr Fernglas entdeckte?

Im Handumdrehen dachte sie sich eine überzeugende Geschichte aus. Lucy! Jetzt haben Sie mich aber erwischt. Jack hat mich hergeschickt, um ein Haus für ihn für August zu mieten, und ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen, Sie und die Kinder zu besuchen. Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört, aber es war niemand im Haus.

Hätte sie bis dahin die Fledermaus schon irgendwo versteckt, dann hätte sie behaupten können, den Eindringling gehört zu haben. Und wenn nicht, wer hätte ihr dann schon Fragen wegen ihrer Brottüte gestellt?

Aber Lucy hatte sie nicht erwischt.

Stattdessen hatte sie die tote Fledermaus gefunden und geschrien.

Während sie im Wald auf der Lauer lag, hatte sie sie gehört und eine fast körperliche Befriedigung empfunden. Dann war sie zu ihrem Wagen zurückgeeilt. Sie hatte sieben weitere Moskitostiche davongetragen. Sieben weitere Tapferkeitsmedaillen.

Barbara und Madison kamen an einer mächtigen Schierlingstanne vorbei, deren Wurzeln sich wie ein dickes Spinnennetz über die Erde ausgebreitet hatten. Das Mädchen sprang den schmalen Pfad entlang, drehte sich zu Barbara um und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. „Hier entlang“, sagte sie. „Wir sind gleich da.“

Ja, dachte Barbara. Solche Risiken musste man eben auf sich nehmen, und sie hatte den Mut, es zu tun. Denn Colins Kinder – Jacks Enkel – verdienten zweifellos ein besseres Leben.

Jack Swift setzte sich an einen ruhigen Tisch in seinem Lieblingsrestaurant. Die vergangenen Tage waren eine Qual gewesen. Er hatte Sidney Greenburg nicht gefragt, ob sie mit ihm zu Mittag essen wollte. Am Abend zuvor hatten sie eine Auseinandersetzung gehabt, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte, er jedoch darauf bestanden hatte, dass alles in Ordnung war. Nun wollte er nur noch einen Martini, einige frische Krebse aus Maryland, einen knackigen Salat und die einladende Gemütlichkeit eines Restaurants, in dem die traditionelle Küche gepflegt und kein übertriebenes Theater ums Essen gemacht wurde.

Er wusste, dass er sozusagen am Abgrund stand und jeden Moment hinunterstürzen konnte. Erpressung. Um Himmels willen!

Er dachte an Colin. Sein einziger Sohn, sein einziges Kind. Hatte er etwa zu der Sorte Männer gehört, die ihre Frauen betrügen? Jack war dieser Gedanke niemals gekommen, aber wer wusste schon, was zwischen zwei Menschen passierte? Außerdem spielte die Wahrheit ohnehin keine Rolle. Er wollte überhaupt keinen „Beweis“ sehen. Er wollte nur einen Schlussstrich unter diese schmutzige Geschichte ziehen.

„Senator Swift.“ Darren Mowery begrüßte ihn mit einem übertriebenen, falschen Lächeln. „Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen.“

Durch langjährige Erfahrung geschult, wusste Jack, wie er sich in der Öffentlichkeit zu verhalten hatte. Deshalb brachte er ebenfalls ein Lächeln zu Stande, auch wenn sich dabei jeder Muskel seines Körpers schmerzhaft zu verkrampfen schien. „Mr. Mowery.“

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“

In dem Restaurant verkehrten viele Reporter und ältere Kongressmitarbeiter, und alle waren immer auf frischen Klatsch scharf. Jack sah keine Möglichkeit für einen geordneten Rückzug. Darren hatte es gewusst, als er das Lokal betrat. Jack spürte, wie sein Lächeln erstarb. „Bitte sehr.“

Mowery ließ sich auf die rote Lederbank auf der anderen Seite des Tisches fallen. „Haben Sie die Krebse bestellt?“

Jack nickte. Mit seiner Bemerkung wollte Mowery ganz offensichtlich beweisen, dass er die Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen des Senators kannte und dass die vermeintlichen Informationen über Colin nur der Anfang waren. Genau das hatte Jack befürchtet – beziehungsweise gewusst –, als er zehntausend Dollar auf das Konto überwies, das Mowery ihm genannt hatte.

„Ich habe getan, was Sie wollten“, sagte Jack leise. „Zweifellos. Und dazu äußerst prompt. Ich weiß das zu schätzen.“

Der Kellner kam an ihren Tisch. Darren bestellte ein Bier. Er habe keine Zeit zum Essen, behauptete er. Jack spürte keine Erleichterung.

„Hier habe ich eine Adresse und ein Passwort.“ Mit einem Finger schob Mowery eine Geschäftskarte über den Tisch. „Damit bekommen Sie Zugang auf eine gesicherte Website. Vielleicht möchten Sie sie sich einmal ansehen.“

Jack griff hastig nach der Karte und ließ sie in seine Jackentasche fallen. „Zum Teufel, Mowery, wenn Sie Bilder von meinem Sohn in das verdammte Internet gestellt haben …“

„Entspannen Sie sich, Senator. So einfach ist es nicht. Nichts ist jemals einfach, verstehen Sie.“

„Die Leute stellen bereits Fragen wegen Ihres Besuches neulich in meinem Büro. Das ist nicht gerade förderlich.“

Das Bier wurde gebracht. Darren nahm einen Schluck und zuckte mit den Schultern. „Finden Sie?“

„Was wollen Sie von mir?“

Er trank mehr von seinem Bier. „Schauen Sie sich die Website an. Dann reden wir weiter.“

Lucy pflückte die verwelkten Blüten der Lilien und Malven ab, die vor der Garage wuchsen. Eine ganz normale Tätigkeit, aber sie machte ihr Spaß. Nach dem Erlebnis mit der toten Fledermaus hatte sie alle mit Arbeit überhäuft. J. T. und Georgie rupften Unkraut, Madison putzte die Kanus und Kajaks und säuberte die Schwimmwesten. Sie hatte ihre Kinder gebeten, heute in der Nähe des Hauses zu bleiben. Sie überlegte immer noch, ob sie sich am Abend mit ihnen zusammensetzen und ihnen den Grund dafür erzählen sollte. Aber sie wollte nichts überstürzen und ihnen keine unnötige Angst einjagen.

Ein Schatten fiel über ihr Gesicht. Sie blickte hoch und sah Sebastian. „Meine Güte, du scheinst ja immer aus dem Nichts aufzutauchen.“

Er berührte sie am Ellbogen. „Ich bin durch den Seitengarten gekommen. Ich glaube nicht, dass mich jemand gesehen hat, Lucy. Ich muss mit dir reden.“

„Komm hier herein.“

Sie gingen in die Garage, deren hinterer Teil im Schatten lag. Von hier aus konnte man sie nicht sehen. Es roch nach vermodertem Holz und altem Öl. Alles war noch genauso, wie Daisy es zurückgelassen hatte. Lucy hatte nichts angerührt, weder die Schubkarre, die älter als ein halbes Jahrhundert war, noch die gereinigten und geölten Werkzeuge, die von den Dachbalken herabhingen oder säuberlich sortiert in den Regalen lagen.

Sebastian schienen all die Einzelheiten seiner Umgebung vollkommen vertraut zu sein. Schließlich ist er hier aufgewachsen, sagte Lucy im Stillen zu sich. Er kannte diesen Ort und seine Geschichte besser als sie. Sie spürte seine Verbundenheit mit der Umgebung. Er fand sich sofort zurecht, ohne viele Fragen stellen zu müssen. Seine Anwesenheit wirkte so unmittelbar und überwältigend auf sie; ein Gefühl, gegen das sie sich nicht zur Wehr setzen konnte.

„Was gibt’s?“ fragte sie. „Ist irgendwas passiert?“

„Hast du Madison alleine in den Wald gehen lassen?“

Lucy war verblüfft. „Wie bitte? Nein! Sie und J. T. arbeiten heute im Haus. Sie reinigt die Kanus und Kajaks hinter der Scheune.“

„Das glaubst du aber auch nur. Sie hat sich davongemacht. Ich habe sie eben im Wald gesehen.“

Lucy ballte die Hände zu Fäusten. „Dieses kleine Miststück.“

„Das Mädchen ist eben unternehmungslustig“, meinte Sebastian.

„Sie hat mir nichts davon gesagt. Ich hatte keine Ahnung.“

„Ich wollte ihr erst folgen.“ Sein Blick taxierte sie, aber auf sehr zurückhaltende Weise. „Doch dann habe ich mir gedacht, dass ich dich erst fragen sollte. Ich möchte mich nämlich nicht in Angelegenheiten zwischen Eltern und Kindern einmischen.“

„Sie hat einen Anruf von einer Freundin bekommen. Ich habe ihr gesagt, sie solle erst zurückrufen, wenn sie hier fertig ist …“ Lucy war wütend auf ihre Tochter. „Wo ist sie jetzt?“

„Wieder auf dem Rückweg. Ich bin vor ihr her gegangen.“

„Du wolltest dich wohl davon überzeugen, dass ich sie und J. T. nicht allein herumlaufen lasse, wenn ein irrer Fledermaus-Killer es auf mich abgesehen hat.“ Der Zorn wuchs in ihr, und gleichzeitig fühlte sie sich frustriert. Sie rieb mit dem Fuß über einen Ölfleck auf dem Zementboden. „Ich hätte besser aufpassen müssen.“

Sebastian blieb ruhig. „Ich kann ein Überwachungsteam kommen lassen; morgen früh wären die Männer hier. Plato kann ein paar Leute abstellen. Die würden auf jeden Fall herausfinden, wer dir nachspioniert. Und warum.“

„Ach, hör auf.“

„Lucy, wer immer diese Fledermaus in dein Bett gelegt hat, wusste, dass du nicht zu Hause warst. Und das bedeutet, dass man dich beobachtet.“

Sie verschränkte die Arme und klopfte nervös mit dem Fuß auf den Boden.

Heute trug sie ein luftiges Sommerkleid, Sandalen und winzige Ohrringe. Ihr Haar hatte sie locker zurückgekämmt und mit einem roten Halstuch zusammengebunden. Madison hatte es gefallen und gesagt, es sähe „ultra“ aus. Lucy hatte keine Ahnung, was das bedeutete.

„Ich hasse das alles“, sagte sie.

Sebastian gab keine Antwort.

„Wenn deine Leute im Haus sind, kann ich genauso gut den Sicherheitsdienst vom Capitol um Hilfe bitten, und das wär’s dann. Mir ist es egal, wie diskret deine Jungs sind, Sebastian. Man wird sie bemerken. Das weißt du ganz genau. Es gibt hier nicht viele Typen, die keinen Hals haben und mit Ohrstöpseln durch den Wald laufen.“

„Heißt das Nein?“

Sie wich seiner Frage aus. Aber war sie nicht überhaupt deshalb zu ihm gefahren? Damit er ihr sagen konnte, was er davon hielt. Sie wusste nicht, was sie von verrückten Spionen und Sicherheitsleuten, die diese Spione ausspionierten, halten sollte.

Sie wollte die Garage verlassen, aber am Eingang drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Welchen Weg hat Madison denn genommen?“

„Den, der am Fluss entlangführt.“

„Ich werde sie abfangen. Und dann kann sie mal sehen, was es für eine Arbeit ist, ein Kajak mit einer Zahnbürste sauber zu machen.“

Sebastian grinste. „Gut. Ich habe nämlich schon befürchtet, dass du zu nachsichtig mit den Kindern bist.“

„Wenn ich deinen pädagogischen Sachverstand benötige, dann frag ich dich, Redwing.“

„Das hast du doch schon getan, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Und wenn ich mich richtig erinnere, hast du mich fortgeschickt. Außerdem habe ich dich nicht um deine Meinung bezüglich meiner erzieherischen Fähigkeiten gefragt.“

Er war in den vorderen Teil der Garage zurückgegangen, blieb aber im Schatten. Da sie im gleißenden Sonnenlicht stand, konnte sie seine Augen nicht erkennen. Sein Gesichtsausdruck war ernst, und sie fragte sich, ob er jemals wirklich lachte. „Nein“, sagte er. „Es ging um die Frage, wer eine tote Fledermaus in dein Bett legen könnte.“

Sie presste die Lippen zusammen. Irgendwie beunruhigte die tote Fledermaus sie mehr als das Loch in der Wand, das die Pistolenkugel hinterlassen hatte.

„Sie ist keines natürlichen Todes gestorben“, fügte Sebastian hinzu.

„Was für eine Überraschung.“

„Lucy …“

Sie sah ihm ins Gesicht. „Keine Sicherheitsleute oder Leibwächter.“

„Ich kann nicht überall gleichzeitig sein.“

Sie nickte. „Ich weiß. Ich will noch mal darüber nachdenken. Lass mir …“ Sie blinzelte, um einen beginnenden Kopfschmerz abzuwehren. „Lass mich erst meine Tochter finden.“

„Bleib bei J. T. und seinem Freund. Ich sorge dafür, dass Madison heil zurückkommt.“

„Im Grunde ist sie ein braves Mädchen, Sebastian. Sie ist gerade fünfzehn …“

Aber er war schon verschwunden, und Lucy ging zurück zum Gemüsegarten, wo J. T. und Georgie eifrig das Unkraut zwischen den Bohnensträuchern zupften. Als sie sie erblickten, arbeiteten sie schneller. Die Kürbisse hatten sie nicht angerührt. Sie ging zu dem aufgeschütteten Hügel und begann ebenfalls, Unkraut auszurupfen, und zwar vor allem die großen, wild wuchernden Pflanzen. Sie riss die Wurzeln heraus, schüttelte die Erde ab und warf die Pflanze auf einen Haufen. Eine nach der anderen. Sie arbeitete automatisch, ohne nachzudenken.

„Mensch, Mama“, sagte J. T.

Sie verlangsamte ihr Tempo nicht, als sie sprach. „Ich bin sauer auf Madison. Geh mir lieber aus dem Weg.“

Das musste sie ihm nicht zweimal sagen. „Komm, Georgie, wir gehen zum Fluss hinunter …“

„Nein!“ Lucy drehte sich zu den Jungen herum. Sie hielt ein Unkraut mit langen Wurzeln in der Hand. „Jetzt nicht. Geht in die Küche und holt euch etwas zu trinken. Ich habe euch Eis am Stiel gekauft.“

„Welche Sorte?“ fragte Georgie zweifelnd. „Meine Mom kauft immer das Fruchteis. Es schmeckt scheußlich.“

Lucy musste lächeln. „Ich habe diese dicken, ekelhaften Dinger mit Zucker und künstlichen Farben gekauft.“

Er lachte und klatschte in die Hände. „Okay, J. T., gehen wir.“

Kurze Zeit später sah sie Madison vom Fluss zurückkommen. Sie bog um die Scheune und schien keine Ahnung von dem Donnerwetter zu haben, das gleich über ihr ausbrechen würde. Lucy hörte mit dem Unkrautzupfen auf und atmete dreimal tief durch, um für die Auseinandersetzung mit ihrer Tochter gewappnet zu sein.

Eine leichte Brise bewegte die warme Luft. Der Sommernachmittag war vollkommen, und das Gras unter ihren Füßen war weich. Sie wollte jede Kleinigkeit von dieser angenehmen Atmosphäre in sich aufnehmen, um sich nicht von ihrem Zorn, ihrer Enttäuschung und Angst überwältigen zu lassen.

Madison war in blendender Stimmung. „Hallo, Mom. Ich muss nur noch zwei Kanus sauber machen, dann hab ich’s geschafft.“

„Wo bist du gewesen?“

„Ich habe eine kleine Pause gemacht, als ich mit den Kajaks fertig war. Ich war bei den Wasserfällen. Keine Sorge, ich bin nicht zu nahe herangegangen.“

„Madison, ich habe dich darum gebeten, eine Arbeit zu erledigen. Du hast es nicht getan.“ Lucy holte wieder tief Luft. Sie wollte offen mit ihr reden, unnachgiebig wirken und trotzdem vernünftig sein. „Wenn du einen Spaziergang machen willst, dann hättest du es mir sagen sollen.“

„Mom, was ist denn los? Ich gehe doch immer alleine in den Wald.“

„Aber nicht heute. Ich habe dir ausdrücklich gesagt …“

„Ich weiß. Ich mach diese blöde Arbeit ja jetzt zu Ende. Es war nur furchtbar langweilig, deshalb. Ich habe gedacht, du würdest dich freuen, wenn ich einen Spaziergang mache. Schließlich kann ich ja nicht einfach mal so zur Abwechslung in ein Einkaufszentrum gehen.“

Nicht schon wieder dieses Thema. Lucy biss die Zähne zusammen.

Madison scharrte mit dem Fuß über die Erde. „Dir kann man es aber auch nie recht machen.“

„Das führt doch zu nichts.“

Lucy blinzelte in den Himmel und überlegte, was sie tun sollte. Ihrer Tochter Hausarrest erteilen? Ihr von den Ereignissen der letzten Tage erzählen? Sie war ratlos. Leider gab es für solche Fälle keine festgeschriebenen Regeln, denen sie hätte folgen können. Sie wollte ihre Kinder beschützen. Das war klar. Aber wie?

Sie sah wieder zu Madison und bemerkte die Schrammen und den Schmutz auf ihrem Arm, eindeutige Spuren ihres Waldspaziergangs. Zwei Wochen zuvor wäre sie noch entzückt gewesen, wenn ihre Tochter freiwillig und auf eigene Faust die Landschaft erkundet hätte. „Ich will einfach nur wissen, wo du bist, das ist alles. Und in den nächsten Tagen möchte ich nicht, dass du oder J. T. alleine in den Wald geht.“

„Na, prima. Toll. Dann bleibe ich hier und langweile mich zu Tode.“

„Madison …“

Sie stürmte ins Haus, trampelte die Stufen der Veranda hinauf und schrie ihren Bruder und Georgie an, die in der Küche waren. Eine Minute später dröhnte laute Musik aus ihrem Zimmer.

Lucy widerstand der Versuchung, hinaufzugehen, die Musik selbst leiser zu stellen und ihre Tochter wegen ihres Benehmens zur Rede zu stellen. Denn das würde ihnen beiden nichts bringen, und die Situation würde es schon gar nicht entspannen. Nach Madisons Ansicht hatte sie auf ihre Unfolgsamkeit zu heftig reagiert. Aber Madison hatte auch zu heftig reagiert.

Lucy ging zum Haus. Ob Sebastian die Szene zwischen Mutter und Tochter wohl mitbekommen hatte?

In dem Moment bog Rob und Patti Kileys betagter Wagen in die Einfahrt ein. Patti sprang heraus und winkte ihr fröhlich zu. Sie war eine kluge Frau mit ergrauendem Haar, die ständig in Bewegung war. Mit ihrem breiten, schelmischen Lächeln verstand sie es immer, die ganze Umgebung zu beschwichtigen. „Wir haben das Abendessen mitgebracht. Uns ist nämlich aufgefallen, dass du ein bisschen gestresst aussiehst. Wir essen auf der Veranda und machen dann einen Spaziergang zu den Wasserfällen. Vielleicht werfen wir alle Vorsicht über Bord und springen in den Fluss.“

Lucy machte keinen Hehl aus ihrer Erleichterung. „Schön, dass ihr hier seid.“

Rob stieg aus dem Wagen und deutete mit dem Kopf auf Madisons Zimmer. Das ganze Haus erzitterte von ihrer Musik. „Ist es in deinem Sinne, wenn ich zu ihr gehe und ihr bestätige, dass ihre Mutter eine verrückte Person ist und kein Verständnis für sie hat?“

Patti warf ihm einen Blick zu. „Rob.“

Er grinste. „So denken doch alle Teenager über ihre Mütter, oder?“

„Nein. Das ist nur ein Vorurteil.“

„Na dann.“ Er zuckte mit den Schultern. Bei ihm wusste man oft nicht, ob er es ernst meinte oder Witze machte. „Dann gehe ich eben nach oben und lade sie zu einer Autofahrt ein. Lucy?“

Lucy spürte, dass ihre innere Anspannung nachließ. Es war nicht nur Madison oder der oder die Unbekannte, die sie nervös machten. Auch Sebastian war dafür verantwortlich. Seine Direktheit und Ernsthaftigkeit machten ihn zum idealen Mann für Katastrophen. Das konnte sie nachvollziehen. Schließlich musste sie in ihrem Geschäft auch immer mit dem Schlimmsten rechnen. Aber darüber wollte sie jetzt lieber nicht nachdenken.

Sie lächelte. „Gute Idee, Rob. Gott sei Dank, dass es Freunde wie euch gibt.“