5. KAPITEL

Die Turmuhr auf dem Markusplatz schlug drei Uhr. Luciana stolperte über den mittlerweile menschenleeren Platz. In der mondbeschienenen Lagunenstadt herrschte Stille. Venedig schlief nach den Feierlichkeiten.

Nur draußen am Lido würden die jungen Leute bis in den Morgen hinein weiterfeiern und zu Technobeats tanzen. In den vergangenen Jahren hatte sich Luciana ihnen angeschlossen, war in ein weiteres Jahr der Freiheit hineingetanzt, bis die Sonne strahlend und hell über der Adria aufging.

Eigentlich sollte sie ein weiteres Jahr als Dämonin feiern, ein weiteres Jahr voll wiedererstarkter Vitalität.

Ein weiteres Jahr voller Macht.

Aber heute Nacht feierte sie nicht.

Heute Nacht ist die Nacht meines Scheiterns, dachte sie, als sie den Weg nach Hause einschlug.

Zweihundertfünfzig Jahre lang war es ihr gelungen, am Tag des Erlöserfestes ein Opfer zu finden und abzuliefern. Dieses Jahr hatte Luciana Rossetti ihre Pflicht nicht erfüllt.

Einmal mehr war sie der Kompanie der Engel unterlegen.

Aber wenigstens lebe ich noch, dachte sie erleichtert. Und ich bin entkommen.

Ihre Hand pulsierte.

Der Daumen hing in einem seltsamen Winkel herunter. Wenigstens war es ein sauberer Bruch, und jetzt war sie frei. Was sich in diesem grauenhaften Pensionszimmer abgespielt hatte, lag nun hinter ihr.

Ein paar Nachzügler liefen jetzt betrunken grölend an ihr vorbei. Jeder Einzelne von ihnen wäre ein leichtes Opfer.

Doch im Moment hatte Luciana nicht einmal die Kraft, eine Fliege zu töten.

Sie hinkte barfuß nach Hause, ohne die Pflastersteine unter ihren Sohlen überhaupt wahrzunehmen. Bei ihrem Palazzo angekommen, schleppte sie sich mit letzter Kraft hinein. Blutbeschmiert und voller Schmerzen ließ sie sich in einen Sessel fallen und berührte vorsichtig den gebrochenen Daumen.

„Danke, Fürst der Finsternis, dass du mich leben lässt“, flüsterte sie. „Mich und meinen Haushalt.“

Im Haus war es still, doch plötzlich öffnete sich im hinteren Teil des Palazzo eine Tür. Massimo kam herausgerannt. Er riss die Augen auf, als er im fahlen Licht seine Herrin dort sitzen sah, voller Blut. Er blinzelte und betrachtete schluckend ihre schlaff herunterhängende linke Hand und die Handschelle, die an ihrer rechten baumelte.

„Sie sind zurück, baronessa! Aber was ist passiert? Wir haben schon das Schlimmste befürchtet. Wir dachten, die Engel hätten Sie mitgenommen!“

„Es geht mir gut“, presste sie hervor. „Sie hatten mich gefangen, aber ich bin ihnen entkommen. Als ich aus der Erlöserkirche zu unserem Boot kam, war es leer. Du warst nicht da!“

Sie strich mit ihrer gesunden Hand über das fein geschnitzte Holz des Sessels. Die vertrauten Möbel wirkten tröstlich. Ein Stück Solidität in dieser Welt der Vergänglichkeit. Sie wollte Massimo am liebsten umarmen, ihn beschützen. Der Gedanke, ihn jemals zu verlieren, war so schlimm wie die Vorstellung, ein Kind oder einen Bruder oder eine Schwester zu verlieren.

Und doch stand auch nach den vielen Jahrhunderten, die sie gemeinsam miteinander verbracht hatten, eine gewisse Formalität zwischen der Adeligen und ihrem Diener. Die unsichtbare Trennungslinie des Klassenunterschieds, der in der modernen Welt nicht mehr vorhanden war, trennte sie noch immer.

„Ich wurde angegriffen, als ich vor der Kirche auf Sie wartete“, berichtete der Türhüter. „Der Angreifer schnürte mich zusammen wie ein Paket und warf mich in die Adria. Ich wäre ertrunken, wenn er die Schnüre fester verknotet hätte. So aber konnte ich mich befreien und an Land zurückschwimmen. Ich habe überall nach Ihnen gesucht und war schließlich davon überzeugt, dass der Angreifer Sie wohl geschnappt hat.“

„Das hat er auch. Ich bin ihm nur mit viel Glück entkommen. Wo sind die anderen?“

„Immer noch unterwegs, auf der Suche nach Ihnen.“

„Ruf sie zurück. Die Qualen sind vorbei. Konntest du den Angreifer sehen?“

Massimo schüttelte den Kopf. „Er war zu schnell. Ich habe keine Ahnung, wer es war.“

„Er ist ein Mitglied der Kompanie der Engel. Sein Name ist Brandon.“

Kaum hatte sie seinen Namen erwähnt, fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe. Sie schloss die Augen und wartete, bis die Übelkeit vorbei war.

„Was hat er Ihnen angetan, baronessa? Ihre Hand! Und was ist mit Ihrem Rücken geschehen?“ Sacht nahm er sie an den Schultern und drehte sie etwas, um die Verletzungen zu betrachten.

Dann ging der Türhüter zu einer Schublade, holte eine Nadel heraus und löste die Handschellen. Luciana untersuchte den Daumen und zuckte bei der Berührung vor Schmerz zusammen.

„Es geht mir gut“, sagte sie noch einmal. „Es wird schnell verheilt sein. Das weißt du doch. So ist es immer bei den Körpern der Unsterblichen.“

Sein prüfender Blick sagte ihm etwas anderes.

Es ging ihr nicht gut. Doch er wusste, dass man ihr besser nicht widersprach.

„Was wurde aus der Jagd? Ich gehe davon aus, dass Sie Ihr alljährliches Opfer darbieten konnten.“

Zum ersten Mal in zweihundertfünfzig Jahren gab sie keine Antwort.

Massimo wurde leichenblass.

In seinen grünen Augen schien sich Lucianas eigene Furcht zu spiegeln.

„Vielleicht können wir Satan ja noch besänftigen“, überlegte er schnell. „Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“

Luciana nickte. „Geh und finde einen Menschen für mich. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“

Zu ihrer Überraschung leuchteten seine Augen bei ihren Worten auf. „Das wird nicht nötig sein. Wir haben bereits einen Menschen im Haus. Das sollte genügen.“

Luciana erinnerte sich an den Frauenschrei, den sie nach ihrer Rückkehr aus Amerika gehört hatte. An den Schuh und die Blutspur. Sie schluckte und überlegte, was die Türhüter wohl mit dieser Frau gemacht hatten und wieso sie sie hierbehielten …

„Die Türhüter halten sie sich als Spielzeug. Es waren die anderen, baronessa. Ich schwöre Ihnen, ich habe sie nicht angerührt. Ich …“

„Erspar mir die Details. Hol sie einfach!“

Was die Türhüter in ihrer freien Zeit taten, interessierte Luciana nicht. Im Moment war nur eines wichtig: wie sie ihre Verpflichtung Satan gegenüber einlösen konnte.

„Halt dich von diesem Haus fern, mein liebes Mädchen!“

Das waren die Worte von Violetta Ravellos Großvater gewesen, die er ihr jedes Mal ins Ohr geflüstert hatte, wenn sie an dem Palast aus Stein und Marmor und mit dem schönen Garten vorbeikamen, der gleich am Canal Grande stand.

„Dieses Haus ist noch mehr verflucht als die berühmte CaDario“, hatte ihr Großvater immer gesagt. Beide erschauderten bei der Erwähnung des inzwischen leer stehenden Palazzo, dessen Besitzer ein tragisches Ende gefunden hatten. „Selbst die Gondoliere bekreuzigen sich, wenn sie daran vorbeifahren.“

„Wieso?“, hatte Violetta gefragt.

„Niemand erinnert sich genau“, erklärte dann ihr Großvater und legte die Stirn in Falten. „Das Einzige, was man weiß, ist, dass dort das Böse herrscht.“

Violetta wusste nicht, wie viele Hundert Male sie an dem Palazzo vorbeigegangen war. Doch jedes Mal, wenn sie mit dem Vaporetto auf dem Weg zu ihrem Gesangsunterricht im Opernhaus an der reich verzierten Fassade vorbeikam, hoffte sie, einen schnellen Blick auf die schönen Männer und die Frau zu erhaschen, die sie manchmal durch die Fenster hindurchsah.

Das, was sie sah, wirkte nicht böse auf sie.

Sie fand den Palazzo wunderschön und romantisch.

Inzwischen war sie einundzwanzig und wusste, dass nichts davon stimmte.

Ihr Großvater hatte recht gehabt.

Sie war in diesem Haus gefangen und ein Opfer des Bösen geworden. Die Männer, die sie hier gefangen hielten, zerstörten nach und nach ihre Seele, ihr Leben. Nichts war mehr real, sie konnte nicht mehr unterscheiden zwischen dem, was echt war und was nicht. Sie wusste nur, dass sie diese Männer hasste, deren Spielzeug sie geworden war, die sie zwangen, bei ihren perversen sexuellen Spielchen mitzumachen.

Diese Männer waren keine Menschen.

Diese Männer waren etwas anderes. Das Böse.

„Du wirst so viel Lust empfinden, wie du es dir in deinen wildesten Fantasien nicht vorstellen kannst“, hatten sie ihr versichert. „Wenn du kooperierst. Wenn du tust, was wir wollen.“

Sie hatte sich geweigert. Bis es nicht mehr ging.

Nun stand sie im Halbdunkel des piano nobile und rechnete fest damit, dass sie in dieser Nacht sterben würde. Das große Zimmer war anders als die Quartiere der Dienerschaft, in denen man sie in den vergangenen Wochen festgehalten hatte. Die Frau, die hier im Halbdunkel vor ihr stand, war die schönste Person, die sie kannte. Es war die Frau, die Violetta so oft durch die Fenster gesehen hatte. Sie war nur wenige Jahre älter als sie selbst, doch sie schien um ein Vielfaches schlauer und erfahrener zu sein. Sie bewegte sich mit einer außerirdischen Anmut, wie eine Traumgestalt.

Und doch stand in ihren schönen Augen etwas Seltsames geschrieben.

Etwas unerklärbar Scharfes und Dunkles funkelte darin.

„Da ist das Mädchen. So, wie Sie sie mögen – jung und unschuldig“, sagte Massimo, der sie locker am Ellbogen festhielt. „Wie heißt du, Kind?“

„Violetta.“

Die Frau kam näher und betrachtete sie, dann nahm sie Violettas Kinn in die Hand und drehte ihr Gesicht hin und her. „Ich kenne dich. Du bist …“ Sie presste die Lippen zusammen und überlegte. „Ich habe dich im La Fenice singen hören. Du bist Sopranistin. In der letzten Spielzeit hast du die Tosca gegeben.“

„Ja, das stimmt.“

„Du warst gar nicht schlecht für dein Alter. Einer der Stars von morgen, wenn ich mich nicht irre.“

Violetta sagte nichts. Bei dieser Frau, in deren Haus sie so viele Qualen erlitten hatte, würde sie sich sicher nicht für ein Kompliment bedanken. Diese Frau hielt sie gefangen und hatte vor, sie umzubringen. So viel war klar.

„Was hat sie hier zu suchen?“ Die Frau sah Massimo an und wartete auf seine Antwort. „Was habt ihr ihr angetan?“

Schweigen.

Es war Violetta nicht möglich, sich selbst zu den Geschehnissen zu äußern. Diese Erlebnisse hatte sie in ihrem Inneren; sie wollte all die Scham, Wut und Qualen nicht noch einmal erleben.

„Womit habt ihr dieses Mädchen gequält?“ Normalerweise interessiert es mich nicht, was die Türhüter in ihrer Freizeit treiben. Aber das hier ist etwas anderes. Sie ist wirklich sehr begabt.“

„Ich habe dabei nicht mitgemacht“, sagte Massimo leise.

Violetta drehte sich zu ihm um und starrte ihn wütend an. Aber du hast es zugelassen. Du hast danebengestanden, als die anderen all das mit mir gemacht haben. Du hast es nicht verhindert.

„Lassen Sie mich gehen!“, flehte Violetta plötzlich. „Das steht nicht zur Debatte.“

„Dann töten Sie mich.“ Sie war selbst überrascht über die Härte ihrer Worte. „Bringen Sie es so schnell wie möglich über die Bühne. Stehen Sie nicht herum und reden Sie nur davon!“

„Du willst sterben?“

„In diesem Haus will ich nicht am Leben bleiben. Und wenn Sie mich nicht freilassen, suche ich lieber die Erlösung im Tod. Das ist mein einziger Trost.“

„Die Seele stirbt nicht, mein Kind. Der Tod ist nicht das Ende.“

Violetta reckte trotzig das Kinn. „Das werde ich dann selbst herausfinden. Der Satan kann keine Seele behalten, die das nicht verdient hat.“

Die Frau zögerte und sah Violetta tief in die Augen.

Nach einer langen Weile sagte sie: „Leider, meine Liebe, ist das nicht immer wahr.“

Sie nahm ein Messer, das neben ihr auf dem Tisch lag.

Violetta sah, wie sich das Gesicht der Frau anspannte. Sie zögerte.

Dann spürte sie die zitternde Klinge an ihrem Hals.

Spürte die rasiermesserscharfe Spitze, die ihr die Haut aufriss.

Spürte, wie sie dem Boden entgegensank, während die Frau sie auffing.

Sie wollte schreien. Aber sie biss die Zähne zusammen und gab keinen Ton von sich.

Ich werde ihnen nicht die Befriedigung verschaffen, meine Qualen herauszuschreien. Diesmal nicht.

Tausend Gefühle, tausend Bilder rauschten ihr durch den Kopf, als sie starb.

Kummer. Bedauern. Sorge.

Die Gesichter ihrer Familie. Ihre Mutter, ihr Vater, ihr Großvater tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Ihre lächelnden Freundinnen, ihre Gesangslehrer, Sängerkollegen aus der Oper. Alle Tonleitern, die sie je gesungen hatte, alle Arpeggien und Solfeggien, alle Arien. Jede einzelne Stunde, die sie alleine zu Hause geübt hatte. Jede einzelne Unterrichtsstunde, die sie in den kleinen Proberäumen am Konservatorium gehabt hatte. Endlose Proben und Aufführungen in Opernhäusern in ganz Italien. In den letzten Augenblicken ihres Lebens empfand sie eine große Sehnsucht, sich an all diesen Menschen und Erlebnissen festzuhalten.

Mit dem letzten, röchelnden Atemzug, den sie tat, dachte sie: Wenn ich nur immer so weitermachen könnte.

Und dann folgte eine unermesslich lange Pause. In diesem Moment wurde ihr klar: Das werde ich auch.

Violetta Ravello warf sich dem Tod entgegen mit der Inbrunst eines Mönchs, der sich selbst in Brand gesteckt hatte, oder eines Märtyrers, der von Pfeilen gespickt war. Im Namen alles Göttlichen begab sie sich in die Hände einer höheren Macht. Sie setzte ihr Vertrauen in das, was sie auf der anderen Seite erwartete.

Im Moment ihres Todes hörte sie einen einzigen, hohen Ton erklingen, die süßeste Musik, die sie jemals vernommen hatte. Ein Ton wie ein Lichtstrahl am Ende eines Tunnels, der nur aus Klang bestand.

Der Lärm war unerträglich, als Luciana das Messer in Violettas weiche Haut rammte. Es fuhr durch ihre Kehle wie durch Butter. Mit einem schnellen gekonnten Schnitt durchtrennte sie dem Mädchen Halsschlagader und Luftröhre. Das Blut schoss aus der Kleinen heraus und bildete auf dem Marmorfußboden eine rote Lache.

Unerklärlicherweise hätte Luciana am liebsten um dieses arme, schwache menschliche Wesen geweint.

Dabei hatte sie so etwas schon so oft getan. Unzählige Male.

So viele Opfer fanden durch ihre Hand den Tod, doch nie hatte sie dabei auch nur einen Funken Reue empfunden. So viele unschuldige Seelen hatte sie Satan dargebracht.

Es war absolut unangebracht, dass sie ausgerechnet jetzt Mitleid verspürte.

Sie hielt den Kopf des sterbenden Mädchens. Violetta schloss die Augen zum letzten Mal. Luciana streichelte ihr langes braunes Haar, dessen Spitzen in die Blutlache hingen, und flüsterte ihr ins Ohr: „Ruhe in Frieden, meine Liebe. Oder was dem am nächsten kommt.“

„Sie stirbt so friedlich. Sie wehrt sich gar nicht.“ Auch Massimo schien ergriffen zu sein.

Und tatsächlich: Sie zuckte nicht. Sie schrie nicht, und sie weinte nicht. Sie bettelte nicht um Gnade.

Luciana hatte schon alles erlebt, wenn sie ihren Opfern beim Sterben zusah. Groß. Klein. Mächtig. Schwach. Berühmte Persönlichkeiten und zurückgezogen lebende Eigenbrötler. Industriemagnaten und Straßenkehrer. Doch von allen verschiedenen Todeskämpfen, die sie gesehen hatte, war der dieses Mädchens der würdigste. So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Vielleicht war es am Ende doch das Richtige, befand Luciana.

Jung. Zart. Unschuldig. Für immer in dieser grandiosen Un- schuld der Jugend konserviert.

Violetta, die Glückliche. Ihr wurde der Schmerz des Daseins erspart. Weiterer Missbrauch und Folter durch die Türhüter. Und ihr blieb auch erspart, unsinnige Entscheidungen zu treffen und lächerliche Opfer darzubringen.

„Du, mein Kind, stirbst in der Blüte deiner Jugend, auf dem Höhepunkt deines Talents. Die Welt lag noch vor dir. Du wirst niemals den Niedergang deiner Schönheit oder deiner Begabung erleben.“ Beinahe tröstend waren Lucianas Worte, die sie an die nun fast leblose Hülle des Mädchens richtete.

Sie empfand ein leichtes Bedauern.

Vielleicht, weil die Welt nun um ein wahres Talent ärmer war.

Die Dämonin legte dem Mädchen tröstend eine Hand auf die Stirn, während es seinen Geist aushauchte. Das war der Moment, in dem sich die Seele vom Körper trennte.

„Jetzt.“ Luciana streckte Massimo ihre gesunde Hand entgegen.

Der Türhüter reichte seiner Herrscherin eine Spritze, in die Luciana nun etwas Blut des Mädchens hineinzog.

„Es muss schnell gehen. Während sich die Seele vom Körper trennt. Das ist der wesentliche Bestandteil meines Gifts.“

Massimo sah sie fragend an. „Blut?“

„Was ich meinen Opfern abzapfe, ist mehr als Blut.“ „Was ist es denn?“

„Es ist die Essenz des Todes.“

Die unvorstellbare Angst, die jeder Mensch in seinem letzten Moment des Daseins empfindet.

Selbst wenn Violetta beinahe leicht und zugleich friedlich gestorben war, wusste Luciana, welche Art von Gefühlen in ihrem Inneren getobt hatten. Und doch hatte sie weder geschrien noch gezuckt. Aber auch hinter ihren geschlossenen Lidern wütete die Angst vor dem Ungewissen. So lange, bis sie das Bewusstsein verlor.

Das weiß ich so genau, weil ich mich noch gut daran erinnere, dachte Luciana.

Sie hielt die Spritze hoch, die im fahlen Licht rot leuchtete. Die Essenz des Todes, die in dem Blut gefangen war, würde Luciana später ihrer Giftmischung hinzufügen.

„Bring das nach oben in mein Labor. Und dann schaff ihre Leiche zum üblichen Treffpunkt. Vielleicht haben wir Glück und können den Fürst der Finsternis mit diesem Opfer noch besänftigen, auch wenn ich etwas spät dran bin. Und die anderen sollen hier Ordnung schaffen.“

In Massimos Augen sah sie einen seltsamen Schimmer, intensiver als jemals zuvor.

„Nur aus Neugierde: Wieso haben Sie sie nicht vergiftet?“

„Das Giftmischen ist eine Kunst. Manchmal muss man auf Feinheiten zurückgreifen. Manchmal braucht es Zeit, eine Sache zu Ende zu bringen. Aber manchmal muss es auch schnell gehen.“

„Man muss mutig sein, um auf diese Weise zu töten, baronessa. Das Mädchen hätte sonst mehr gelitten.“

„Töten hat nichts mit Mut zu tun. Vor allem nicht das Töten auf diese Art.“

Plötzlich wurde Luciana wütend. Wie konnten die Türhüter es bloß wagen, ohne ihre Zustimmung eine fremde Person ins Haus zu bringen? Das ärgerte sie. Aber darum würde sie sich später kümmern, wenn Zeit dafür war. Nicht jetzt.

„Selbstverständlich, baronessa.“ Massimo nickte.

Sie folgte ihm die Treppe hinauf nach oben. Während er den Weg zum Labor einschlug, ging sie in ihr Schlafzimmer. Sie ließ Wasser in ihre große Marmorwanne ein. Kramte in der Kommode und fand eine Mullbinde, mit der sie den gebrochenen Daumen bandagierte.

Als das erledigt war, nahm sie den Lippenstift aus ihrer Tasche. Es grenzte an ein Wunder, dass er die Nacht unbeschadet überstanden hatte. Sie stellte ihn auf den marmornen Schminktisch, dann entledigte sie sich ihres blutbefleckten, ruinierten Kleides und warf es auf den Fußboden. Sie ließ sich in das warme Badewasser sinken und zuckte kurz, als die Wunden auf ihrem Rücken mit dem Wasser in Berührung kamen.

Der Schmerz ließ nach, doch die Erinnerung an die Berührung durch den Engel war noch allgegenwärtig.

Gott sei Dank war diese Nacht endlich vorbei.

Warum musste plötzlich alles schiefgehen?

Sie hatte schon so viele junge Frauen getötet, etliche von ihnen jünger als Violetta Ravello. Immer hatte sie Freude dabei empfunden, ihnen das Blut abzuzapfen. Nie hatte sie Schuldgefühle gehabt. Sie hatte gar nichts empfunden. Der Tod war nicht das Ende. Und Schmerz war vergänglich.

Sie selbst, Luciana, hatte es als Dämonin besser getroffen als in ihrem menschlichen Leben.

Im Jenseits hatte sie eine Macht erlangt, die sie sich niemals hätte träumen lassen.

Der Tod zahlreicher Unschuldiger war für sie ein Labsal gewesen und ließ sie hoffen, dadurch Gottes Namen zu schmälern. Während sie den Mädchen das Blut entnahm und sogar darin badete, stellte sie sich vor, dass sie ihnen dieselben Chancen ermöglichte, die ihr eigener Tod ihr eröffnet hatte.

Doch diesmal wurde ihr fast übel, wenn sie an das tote Mädchen dachte.

Vielleicht weil sie wusste, dass Violetta eigentlich auf dem Weg in den Himmel sein müsste. Doch stattdessen nahm sie den Weg in die andere Richtung.

Als sie eine Tür quietschen hörte, schrak Luciana auf. „Bist du das, Massimo? Du sollst mich doch nicht stören, wenn ich bade! Wenn es ein Problem gibt, bin ich gleich unten.“

Ein leises Lachen erklang und ließ Luciana erstarren.

Sie blickte in den Spiegel. Es war nicht Massimo, der sich darin spiegelte.

Seine bernsteinfarbenen Augen glühten im gedämpften Licht des Badezimmers, und es dampfte um ihn herum, als sei er in dieser Sekunde der Hölle entstiegen. Sein blondes Haar lag wie immer tadellos, und sein Gesicht war attraktiv wie eh und je, und dennoch bekam sie beim Anblick seiner schönen nordischen Gestalt eine Gänsehaut.

Sie fröstelte im warmen Badewasser.

Corbin Ranulfson war gekommen, um sein Spiel mit ihr zu treiben.

Er war einer der mächtigsten Erzdämonen Amerikas. Und er war vermutlich der mächtigste Dämon auf der Erde gewesen, bevor Julian Ascher ihn in der Hierarchie der Dämonen um einige Ränge nach unten befördert hatte. Monatelang hatte es Luciana ertragen, Corbins Gefährtin zu sein und seine perversen sexuellen Gelüste zu teilen, nur damit sie an Julian Ascher herankam.

Warum auch immer Corbin nun hier auftauchte – es war kein gutes Zeichen.

„Nein, meine Liebe. Massimo ist noch nicht zurück“, sagte er lächelnd und stellte sich neben die Badewanne. Er steckte eine Hand ins Wasser und wirbelte sie herum, während er ihren Körper anstierte, der unter dem sich teilenden Schaum sichtbar wurde. „Nur Wasser? Ich dachte, du badest immer im Blut von Jungfrauen, genau wie Elizabeth Báthory. Wenn ich das richtig sehe, war doch eben auch eine geeignete Person im Haus.“

In der Tat war es früher Lucianas Gewohnheit gewesen, in Blut zu baden. Ab und zu jedenfalls, vor allem auch, um ihrem Ruf gerecht zu werden. Wenn man sich in denselben Kreisen wie Corbin bewegte, war grausames Gebaren Pflicht, um die Blutrünstigkeit der anderen Dämonen abzuwehren. Und sich so vor Angriffen zu schützen.

Doch jetzt wollte sie das Blut von sich abwaschen, nicht darin baden.

„Ich habe von deiner kleinen Begegnung in der Glaswerkstatt in der Straße der Ermordeten gehört. Ich wäre ja früher gekommen, aber ich wurde aufgehalten.“ Luciana wusste, was das bedeutete.

Aufgehalten von ihrer beider Chef, in den Tiefen der Hölle. „Ich wurde nur freigelassen unter der Vorgabe, dass ich eine bestimmte Aufgabe erledige. Und die besteht darin, dich auf Spur zu halten. Denn schließlich hast du letzte Nacht versäumt, das versprochene Opfer zu bringen.“

Sie schluckte und fragte sich, worin genau Corbins Aufgabe wirklich bestand.

In der Vergangenheit hatte er vor ihren Augen barbarische Taten begangen. Sie hatte ihm dabei zugesehen, wie er eine Frau bei lebendigem Leib zerstückelte und seine Zähne in ihr Fleisch grub. Luciana hatte furchtbare Angst gehabt, sich aber nichts anmerken lassen.

Und jetzt …

„Die Kompanie der Engel hat einen Schutzengel auf mich angesetzt“, erklärte sie schnell. „Es war mir nicht möglich, die Jagd zu beenden. Doch das Problem hat sich zwischenzeitlich gelöst. Die Türhüter hatten ein Mädchen hier, und wir … ich habe sie bereits vorbereitet.“

„Aber meine liebe Luciana! Das wird nicht annähernd an die Strafe heranreichen, die dich erwartet.“

„Fein. Wenn ihr ein zweites Opfer wollt, besorge ich gern eins.“ Sie durfte sich ihre Furcht nicht anmerken lassen. „Nicht einfach irgendein Opfer. Satan will den Engel.“ „Unmöglich.“ Sie setzte sich auf und bedeckte ihre Brüste mit den Händen. Beinahe wäre das Badewasser über den Rand der Wanne geschwappt. „Kein Dämon hat jemals einen Schutzengel getötet!“

„Du unterschätzt deine Fähigkeiten, meine Liebe. Ich glaube an dich. Es ist ganz leicht. Ich sage dir, was du tun wirst. Lass ihn glauben, du wärst an einer Einigung interessiert. Überzeug ihn davon, dass du genug hast von deiner Rumhurerei und den Lügen. Lock ihn in dein Haus! Und dann …“

„Was dann?“

Corbin griff blitzschnell nach ihrem Handgelenk und dem gebrochenen Daumen. „Spiel nicht das Dummchen, Luciana. Ich kenne dich. Du bist eine erfahrene und herzlose Killerin. Du hast ein ganzes Labor voller Spielzeuge. Ich bin mir sicher, da ist auch für ihn das Richtige dabei.“

Er drückte so fest zu, dass sie vor Schmerz aufschrie. Corbin öffnete seinen Griff, und ihre Hand fiel kraftlos zurück ins Wasser und begann zu bluten. Ihr Blut mischte sich mit dem Badewasser.

„Du hast eine Woche Zeit.“

„Du musst den Verstand verloren haben.“

„Serena St. Clair hat Julian Ascher innerhalb einer Woche bekehrt. Er hat sein Dämonen-Dasein aufgegeben und sich vollkommen gewandelt – zu unserem Pech. Deine Aufgabe ist wesentlich leichter. Wir sind nicht auf die Loyalität des Mannes aus – wir wollen einfach, dass du ihn tötest. Du hast doch dein wertvolles Gift. Damit wirst du ihn ja wohl ausschalten können.“

Sie dachte an den goldenen Lippenstift, der auf dem marmornen Schminktisch stand.

Nicht hingucken, befahl sie sich. „Es ist weg.“ Sie sah ihn gequält an.

Corbin ging hinüber zu dem Schminktisch und hielt den Lippenstift hoch. „Du meinst, es ist nicht hier drin?“

Dann ging er zurück zur Badewanne, bückte sich und flüs-terte ihr ins Ohr: „Vergiss nicht, dass ich alle deine Tricks kenne.“

Ohne Vorwarnung drückte er ihr den Kopf unter Wasser, bis sie zu zappeln begann. Sie versuchte, die Luft anzuhalten, aber es war sinnlos. Das Wasser strömte in ihre Lungen und in ihren Magen. Ihr wurde schwarz vor Augen. Sie drohte, ohnmächtig zu werden.

Dann ließ er sie wieder los.

Und flüsterte ihr zu: „Vergiss das nicht.“

„Warte.“ Luciana schnappte nach Luft und hustete Wasser aus. „Ich habe nichts mehr von diesem Gift. Wie soll ich den Schutzengel töten?“

„Dir wird schon etwas einfallen. Wie immer.“

Und damit verschwand der Erzdämon aus ihrem Badezimmer. Er schloss sogar die Tür hinter sich.

Und ließ sie allein.

Ein Pfand der Männerwelt.

Sie hasste es. Seit Jahrhunderten hatte sie sich versklavt, um aus dieser Nummer herauszukommen.

Luciana legte den Kopf auf den Badewannenrand und wünschte, sie könnte dieses schmutzige Gefühl abwaschen. Dann schwor sie sich, dass sie sich – egal, was sie dafür tun musste – eines Tages an ihnen allen rächen würde.

Luciana ist immer noch sexy, auch wenn sie eine manipulative Schlampe ist, dachte Corbin grübelnd, als er ihren Palast verließ. Aber sie ist nicht die einzige Hure in der Stadt.

Und dann machte er sich daran, zu erkunden, was Venedig zu bieten hatte.

In dieser Stadt der Ausschweifungen war so vieles, was Corbin gefiel, so schnell zur Hand.

Die Nacht war noch lange nicht vorbei. Unzählige Möglichkeiten warteten auf ihn.

Mitten auf dem Bacino di San Marco, der Wasserfläche zwischen dem Markusplatz auf der einen und der Erlöserkirche auf der anderen Seite, warteten Massimo und Giancarlo im Boot. Auf dessen Boden lag der tote Körper des Mädchens, ordentlich verpackt in einen großen schwarzen Leinensack.

„Das ist die verabredete Stelle“, sagte Massimo. „Aber wir haben noch nie verspätet geliefert. Die baronessa bringt ihr Opfer normalerweise weit vor Mitternacht. Sie ist eine äußerst fähige Jägerin.“

„Nicht dieses Jahr.“ Giancarlo blickte grimmig an ihm vorbei. „Es war nicht ihre Schuld.“

„Das habe ich auch nie behauptet“, erwiderte Giancarlo rasch und sah Massimo verstohlen an. „Sag ihr nicht, ich hätte so etwas angedeutet.“

Sie warteten.

Doch die schwarze Begräbnisgondel war nirgends zu sehen. Keine Spur von der Gestalt mit der dunklen Kapuze. „Satan kommt nicht“, flüsterte Giancarlo.

Massimo warf einen Blick auf den schwarzen Sack und versuchte, nicht an den blassen, kalten Leichnam darin zu denken. Er verscheuchte die Erinnerung an Violettas Gesicht, an ihre Haare, die sich über die Blutlache auf dem Fußboden ausgebreitet hatten.

„Du hast was verpasst. Die Kleine war ein geiler Fick.“ Giancarlo lachte genüsslich, als er Massimos verbissene Miene bemerkte.

„Sprich nicht so über sie. Man soll Respekt vor den Toten haben.“

Giancarlo schnaubte verächtlich. „Lieber jung sterben und seinen schönen Körper behalten.“

Das war etwas, was ihnen beiden nicht unbekannt war.

Sie waren auf die Erde zurückgekehrt in der Gestalt und dem Alter, in dem sie den Tod gefunden hatten.

Es begann zu dämmern, und erst jetzt bemerkten die beiden Türhüter, dass sie viel zu spät dran waren. Was nun mit der baronessa geschehen würde, wusste Massimo nicht. Er war ernst-haft besorgt um sie. In den vergangenen zwei Jahrhunderten hatte er sie noch nie so müde, so erschöpft gesehen. „Was sollen wir jetzt mit der Leiche machen?“, fragte Giancarlo. „Sollen wir sie über Bord werfen?“

Massimo blickte über den Rand des Boots ins Wasser. Sie konnten sie genauso gut gleich hier vor der Erlöserkirche versenken. „In Ordnung.“

Sie beschwerten den Körper mit Betonblöcken, die sie für den Notfall immer dabeihatten, aber heute Nacht zum ersten Mal benötigten. Dann rollten sie das tote Mädchen über den Rand. Es platschte leise, als sie ins Wasser fiel. Das oberste Tuch, das um sie gewickelt war, löste sich und gab ihr braunes Haar frei. Es schien nach ihm greifen zu wollen, während das Mädchen in die Tiefen des Kanals sank.

Nachdem sie verschwunden war, startete er den Motor.

„Das wäre erledigt.“ Giancarlo nickte zufrieden.

Doch als sie wieder im Palazzo eintrafen, mussten die beiden Männer feststellen, dass sie nicht gut genug gearbeitet hatten.

Denn das Mädchen wartete schon auf sie.

Nicht in ihrer körperlichen Gestalt, sondern als ein Flackern ihres Geistes, und zwar in einem der Fenster in dem Raum, in dem sie gestorben war. Ihre Stimme, geisterhaft schön, erscholl über dem Kanal. Es war eine Arienmelodie aus Puccinis Oper Tosca, der letzten Partie, die sie gesungen hatte.

Ich lebte für die Kunst, ich lebte für die Liebe,
tat nie einem lebenden Wesen etwas zuleide …

„Das wird der baronessa nicht gefallen“, stellte Giancarlo fest und sprach damit aus, was sie beide dachten. „Und zwar ganz und gar nicht.“