EPILOG

Ein Jahr später

In den verkohlten Überresten der Casa Rossetti lief Luciana herum und durchsuchte die Asche.

Die von den Flammen verzehrten Überreste der Möbel und Haushaltswaren – hier der angekohlte Rand eines Tisches, dort ein Stapel zerbrochenes Geschirr – lagen wild durcheinander zwischen schwarzen Holzbalken und heruntergebrochenen Stuckbrocken. Die Außenwände des einst dreistöckigen Gebäudes waren einsturzgefährdet. Vom Dach war gar nichts mehr übrig, Luciana konnte den Nachthimmel sehen. Das Skelett ihres Palazzo drohte auf sie herabzustürzen.

Sie drehte sich um und blickte aufs Wasser.

Wenigstens war der Kanal wie immer. Er glänzte im Mondlicht.

Kein Wind. Keine melancholischen Weisen. Nur Frieden.

In der leeren Öffnung einer ehemaligen Holztür erschien Massimo. Sie hatte gewusst, dass er auftauchen würde.

Er verbeugte sich, und sie nickte ihm zu.

Dann standen beide eine Weile schweigend da, inmitten der Ruinen des großartigen Palasts, den sie immer liebevoll zu bewahren versucht hatten, und betrachteten die traurigen Überreste ihres Zuhauses, das sie so geliebt hatten.

„Komm, gehen wir ein Stück“, schlug sie vor. „Lass uns diesen Ort verlassen, dann erkläre ich dir, was du schon so lange wissen willst. Ich werde dir von deiner Mutter erzählen. Was ich über ihre letzten Tage als Mensch weiß, so, wie ich es von meinen Eltern, deinen Großeltern, gehört habe, als ich zurück nach Venedig kam, kurz nach Carlottas Tod.“

Seine Miene verriet nichts. Er stellte keine Fragen, gab keinen Kommentar ab.

Er hörte einfach zu.

Und sie begann zu erzählen. „Es war nicht üblich, dass eine Venezianerin in das Haus ihrer Eltern zurückkehrt, um ihr Kind zu bekommen. Doch Carlotta tat es. Vollkommen durchnässt stand sie mitten in der Nacht vor der Tür, kurz vor der Niederkunft. Noch in dieser Nacht starb sie, bei der Geburt. Der Sohn, den sie zur Welt brachte, wurde gewaschen und in das einzige Seidentuch gewickelt, das noch im Haushalt verblieben war. Dann wurde das Baby ins Arsenal gebracht und dort einem Bootsbauer übergeben, im Tausch gegen eine Handvoll Dukaten, gerade genug, um den Rest der Familie für eine Weile zu ernähren. Offiziell hieß es jedoch, auch du seist bei der Geburt gestorben.

Als ich endlich in der Lage dazu war, nach dir zu suchen, durchkämmte ich die Stadt. Doch erst nach deinem menschlichen Tod gelang es mir, dich ausfindig zu machen. Da hatte dich allerdings Satan bereits für seine Zwecke herangezogen.“

Sie erinnerte sich noch an ihre Traurigkeit, als sie herausgefunden hatte, dass Massimo schon mit Anfang zwanzig kriminell geworden war. Nachdem er mehrere junge Männer im Streit getötet hatte, starb er selbst bei einer Messerstecherei in einer Bar.

„Ich habe über die Herausgabe deiner Seele aus der Hölle verhandelt. Du selbst dachtest immer nur, du seist ein gewöhnlicher Handlanger Satans, ein Türhüter, der über einen der schönsten Paläste von Venedig zu wachen hatte.“

„Ich habe mich immer glücklich geschätzt, diesen Posten innezuhaben.“

Glücklich. Diesen Ausdruck hatte sie nicht erwartet. Über zweihundert Jahre lang hatte sie es nicht über sich gebracht, ihm seine wahre Herkunft zu offenbaren. Sie hatte sich immer nur vorgestellt, wie seine Reaktion ausfallen würde.

Die blanke Wut, gefolgt von Vergeltung.

Sie hatte es sich gut überlegt.

War es nicht besser, zu glauben, man sei als armer Sohn eines Bootsbauers gestorben, als zu erfahren, dass man das verstoßene Kind einer verarmten Adelsfamilie war, verkauft an jemanden von niederer Herkunft, um Geld für etwas zu essen zu haben. Er sollte niemals erfahren, dass seine eigene Mutter ihn ignorierte, während sie selbst in Überfluss und Luxus lebte … Nicht weit entfernt von ihrem Kind. Jahrhundertelang.

„Meine Mutter ist schon lange tot“, sagte er leise. „Sie starb an dem Tag, an dem ich geboren wurde.“

„Wie lange weißt du es schon? Dass sie … dass Carlotta …“

Er zuckte die Schultern. „Wie sollte ich nicht gewusst ha-ben, dass sie meine Mutter ist? Ich bin mir sicher, es hatte et-was mit Instinkt zu tun. Ich brauchte nie zu fragen, weil ich es schon wusste.“

Luciana suchte nach Worten, doch sie fand keine Möglichkeit, sich auszudrücken. „Deine Mutter hat dich sehr geliebt. Als sie noch lebte, war sie anders. Der Tod hat sie verändert. Wie er uns alle verändert.“

Massimo nickte, und sie erkannte an seinem Blick, dass er verstand.

„Ich weiß nicht, wo sie jetzt ist“, fuhr Luciana fort. „Es gibt Tausend Möglichkeiten und Tausend Orte, zu denen die Seelen gehen. Orte, die wir nicht kennen. Aber ich bin mir sicher, dass Carlotta dort, wo sie jetzt ist, endlich frei ist. Dass sie die Hölle und die Erde hinter sich gelassen hat.“

Massimo nickte mit gesenktem Kopf. „Und Sie? Was haben Sie im vergangenen Jahr gemacht?“

„Ich habe nach einer Möglichkeit gesucht, so zu leben, wie ich es möchte, und nicht, wie es Satan gefällt. Ich kann das nicht mehr, Massimo“, erzählte sie ihm. „Wie dem auch sei, man muss seine eigenen Entscheidungen treffen. Ich überlasse dir gern die Casa Rossetti zum Wiederaufbau, wenn du möchtest, die nötigen finanziellen Mittel inklusive. Unsere alten Feinde existieren leider immer noch, wie in all den Jahrhunderten zuvor. Sicher werden sie versuchen, dich aufzuhalten. Aber du bist ein Überlebenskünstler. Du hast die Kraft, das durchzustehen.“

„Und was werden Sie nun tun, baronessa? Wohin gehen Sie?“

Sie lächelte und schaute hinauf in den mondhellen Himmel. Sie würde weitersuchen.

Und in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass jedes Gebet, das sie jemals geflüstert oder auch nur gedacht hatte, dass jedes verzweifelte Flehen um Gnade, das sie in den Momenten schlimmster Hoffnungslosigkeit ausgestoßen hatte, dass all das Gute, was sie jemals gewollt hatte, auf bestmögliche Art beantwortet worden war.

Bis auf eine krasse Ausnahme.

Einer monumentalen, herzzerreißenden Ausnahme, nämlich dass sie ohne Brandon würde leben müssen.

Obwohl genau das das Beste für sie war.

Luciana verspürte ein seltsames Prickeln am Handgelenk. Sie untersuchte ihren Arm. Auf ihrer hellen Haut war eine Tätowierung zu sehen – eine Feder. Eine ordinäre Taubenfeder, wie die, die sie von ihrem Arbeitstisch gefegt hatte, als sie zum ersten Mal Brandons Anwesenheit in Venedig gespürt hatte.

Die Feder war oben grau und unten farblos.

Das Tattoo war in der Nacht vor einem Jahr aufgetaucht, als sie aus Venedig hatte fliehen müssen.

Sie berührte die Zeichnung und schloss die Augen. Sofort wurde sie wieder von diesem inneren Frieden erfüllt, den Brandons Nähe in ihr verursacht hatte, immer, wenn sie zusammen gewesen waren. Dieses Gefühl überkam sie jedes Mal, wenn sie an ihn dachte.

Er ist in der Nähe, dachte sie. Ich muss gehen, bevor er hier auftaucht.

Eines Tages würde sie alles wiedergutmachen.

Ich weiß, dass dieser Tag kommen wird. So sicher, wie ich weiß, dass jedes Wesen auf der Erde Frieden finden wird.

Rasch schritt sie durch die Straßen Venedigs davon, ohne eine bestimmte Richtung, ohne Ziel, bis das Prickeln verschwunden war. Sie lief so lange, bis sie am Ufer des Bacino di San Marco stand, wo Stein und Wasser zusammentrafen. Da stand sie und beobachtete aus der Ferne ein Flügelflattern. Ein Schwarm Vögel, der sich am Horizont in die Lüfte erhob.

Brandon konnte ihre Anwesenheit spüren, hier in dieser Stadt, die sie so liebte. Doch obwohl er in den Überresten der Casa Rossetti noch ihre Schwingungen wahrnahm, war sie nicht mehr da. Auch in der Glasgalerie war keine Spur von ihr, auch nicht in den verlassenen Zimmern des ehemaligen Bordells ein Stockwerk höher. Ihre Zweitwohnung am Lido lag ruhig und verlassen da. Er durchkämmte die verwinkelten Gässchen auf der Suche nach ihr, hoffte, irgendwo einen zufälligen Blick auf sie erhaschen zu können. Doch sie war nirgends zu finden.

Der letzte Ort, an dem er nachsah, war die Erlöserkirche.

Die gleichen Menschenmassen, dachte er, als er sich hineinschob. Die gleiche unerträgliche Hitze.

Doch auch hier war Luciana nicht.

Er war in der naiven Hoffnung hierhergekommen, sie in einer der Seitenkapellen vorzufinden, wo sie in Reue vor dem Altar kniete, bei dem Versuch, sich selbst ihre lange Liste von Sünden vergeben zu können. Dass sie die Erleuchtung gefunden hatte.

Ob sie wieder getötet hat? fragte er sich. Es gab keine Möglichkeit für ihn, es herauszufinden.

Er kehrte zurück an den Ort ihres ersten Beisammenseins, die heruntergekommene Pension. Dort hatte er sie ans Bett gefesselt, ihr die Glasscherben aus dem Rücken gezogen und mit ihr das Feuerwerk über der Stadt betrachtet, in der sie jetzt spurlos verschwunden war. Doch als er zu dem einst sicheren Hauptquartier der Kompanie kam, war es nicht etwa Luciana, die dort auf ihn wartete.

In der bescheidenen Eingangshalle saß Arielle, makellos frisiert wie eh und je.

Der perfekte Engel.

„Dich hätte ich hier nicht erwartet“, begrüßte er sie.

Und das war nicht als Scherz gemeint. Im vergangenen Jahr hatten er und Arielle nicht ein einziges Wort miteinander gewechselt. Trotzdem wusste er sofort, was sie hier wollte. Da die Pension nach den Vorkommnissen im letzten Jahr nicht mehr als sicher galt, konnte es nur einen Grund geben, weswegen sie hier war.

Sie wartet auf Luciana. Oder auf mich. Oder auf uns beide.

„Es ist wichtig, dass wir zusammenarbeiten.“ Arielle blickte ihn mit ihren blauen Augen unerschütterlich an. „Um sicherzustellen, dass es in dieser Gegend nicht zu weiteren Aufständen kommt. Ich erwarte ein wenig mehr Dankbarkeit von dir, wo Infusino und ich doch im vergangenen Jahr in letzter Minute die Fabrik in die Luft gesprengt haben, um dich zu retten.“

„Ihr wart das?“, fragte er, nur wenig überrascht. „Ich hatte eigentlich geglaubt, es wäre ein Akt Gottes gewesen.“

„War es das nicht?“ Arielle lächelte matt. „Wir hatten extremes Glück. Wir feuerten einen Flammenwerfer vom Boot aus in einen der Öfen. Die meisten dieser alten Gebäude sind nicht sehr stabil, sie wurden vor über tausend Jahren auf Holzpfählen in die Lagune gebaut. Darum ging es so schnell.“

„Und jetzt soll ich mich bei dir bedanken? Obwohl du mich hast degradieren lassen?“

„Die Degradierung ist nur zeitweilig. Ich bin mir sicher, dass du binnen kürzester Zeit wieder in die Position eines Supervisors aufsteigen wirst. Außerdem war nicht ich es, die für deine Degradierung gesorgt hat. Das warst du selbst.“

Selbst wenn es so gewesen wäre – das war es wert, dachte er. Alles, was ich letztes Jahr getan habe, um Luciana deinen Klauen zu entreißen, war es wert.

Wie üblich konnte es Arielle nicht dabei belassen und fing an, ihn wieder einmal zu belehren. „Du hättest damals den Hubschrauber nicht stehlen dürfen. Du hättest nicht mit der Gefangenen fliehen dürfen. Du hättest unter keinen Umständen zulassen dürfen, dass sie entkommt. Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast. Aber es gibt eine Menge Dinge, die du besser sein gelassen hättest, Brandon.“

„Du hattest niemals vor, Luciana zu bekehren.“ Brandon widerte ihr ausdrucksloses Gesicht an. „Du hattest vor, sie dazubehalten und zu foltern und sie für deine eigenen Zwecke zu benutzen.“

„Mach dich doch nicht lächerlich! So etwas würde ich niemals tun.“ Dann stand sie abrupt auf und wandte sich zum Gehen. Als sie schon mit einem halben Fuß aus der Tür war, fügte sie noch hinzu: „Selbst wenn es so gewesen wäre, könntest du mir das niemals beweisen.“

Und dann lächelte sie. Verbissen. Zum ersten Mal dachte Brandon, dass ihr Markenzeichen, diese verkrampfte Neutralität, kein Zeichen von Gelassenheit war.

Sondern einfach nur pathologisch.

Oben in seinem Zimmer setzte er sich auf den Rand des harten Betts, nahm die Packung Streichhölzer und zündete die Kerze auf dem Nachttisch an. Er öffnete das Fenster und sah hinaus auf die Adria.

Er wartete.

Sie hat versprochen zurückzukommen.

Dann legte er sich aufs Bett, weder voller Angst noch voller Hoffnung.

Seit einem Jahr hatte er keine Albträume mehr gehabt.

Sie hatte ihn davon befreit, jede Nacht seinen menschlichen Tod wieder zu erleben. Seine Träume waren jetzt wieder ganz normal, so ähnlich wie damals, in seiner Zeit als Mensch. Voller Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, Erfahrungen und Seltsamkeiten – alles bunt durcheinandergemischt.

Doch auch von Luciana hatte er seit einem Jahr nicht mehr wieder geträumt.

Er schloss die Augen.

Und schon tauchte sie in seinem Unterbewusstsein auf. Nicht als scharfe Kontur und so lebendig wie in früheren Träumen. Nein, ihr Bild war vage, vernebelt und mystisch wie eine ferne Fata Morgana. Als er auf sie zuging, entpuppte sie sich nur als das Phantom einer Frau, als die zitternde Berührung einer Hand und einem kurzen Blick auf volle Lippen, die sich hinter einem Vorhang aus dunklen Haaren verbargen.

Sie blieb nur für einen kurzen Moment. Doch er spürte, wie ihre Liebe auf ihn abstrahlte, ihn umfing und in ihn eindrang. Er hörte ihre Stimme, weit entfernt und doch so klar, dass er keinen Augenblick an der Wahrhaftigkeit ihrer Worte zweifelte.

Ti amo.

Auch als sie schließlich verschwand, spürte er ihr Bild stärker als alles, was er in dem vergangenen Jahr in wachem Zustand erlebt hatte.

Doch jeder Traum endet. Und jeder Schlafende wacht auf.

Brandon erwachte mit der Erinnerung an Luciana und dem Bedürfnis, sie zu berühren. Und mit dem Wissen, dass sie nicht wirklich an seine Seite gehörte – so, wie der Drache, der aus den Tiefen der Lagune aufgetaucht war, im wirklichen Leben nichts zu suchen hatte.

Und trotzdem würde er nie aufhören, nach ihr zu suchen.

Ich werde die Jahrhunderte überschreiten und die Kontinente durchqueren, um dich zu finden. Ich werde Gipfel bezwingen und Ozeane durchschwimmen, um bei dir zu sein. Ich werde warten. Bis zum Ende aller Zeiten, wenn es sein muss.

Er stellte sich an das Fenster, aus dem sie einst gesprungen war, und betrachtete das Feuerwerk, das nun über ihrem geliebten Venedig abgeschossen wurde. Die bunten Farben regneten auf ihn herab, und von den Nachbarbalkonen und umliegenden Dächern schepperten Opernmelodien aus Lautsprechern. Eine einzelne grüne Flamme schoss hinauf in den Himmel, nur um kurz darauf als eine Million glitzernde Glühwürmchen am Firmament zu verglimmen.

Ich werde Drachen töten, um bei dir sein zu können, versprach er ihr stumm. Ich werde eine Möglichkeit finden.

Und bis dahin würde er auf ihre süße Stimme lauschen, die ihm in seinen Träumen etwas zuflüsterte.

– ENDE –


hosted by www.boox.to