9. KAPITEL

Brandon, wach auf!“ Es war die Stimme einer Frau, flüsternd, und die sachte Berührung ihrer Haarsträhnen in seinem Gesicht, die ihn aus seinem Traum aufschreckte.

„Luciana?“

Es roch nach einem erlesenen Parfum. Diesen Duft kannte er. Rosen und eine Spur Vanille.

Nicht der Duft, den er mit der Dämonin in Zusammenhang brachte.

Im frühen Morgenlicht musste er blinzeln; einen Augenblick lang war er verwirrt.

Die Augen, die ihn anschauten, waren hellblau. Nicht grün. Und sie blickten ihn voller Sorge an. Das Sonnenlicht erhellte einen Heiligenschein aus goldblondem Haar. Die Frau war so nah über ihm, dass er erschrak.

„Du musst einen Albtraum gehabt haben.“ Arielle musterte ihn eindringlich.

Sie ließ ihren Blick über ihn schweifen, erkannte seinen derangierten Zustand sofort. Was musste er für einen Anblick liefern, unrasiert, ungewaschen, verschwitzt. Ihre empfindsame Nase zuckte, den Mund hatte sie zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

Und trotzdem kniete sie ein bisschen zu lange neben ihm.

Als sie sich wieder erhob, war es ihm, als würde das Sonnenlicht verblassen, so hell und strahlend war ihre Erscheinung. Sie trug einen ihrer perfekt geschneiderten Anzüge und wirkte in dieser staubigen venezianischen Ruine völlig fehl am Platz.

Luciana ist … kein gewöhnlicher Albtraum, dachte Brandon. Er rieb sich die Augen und versuchte, die letzten Reste des Traums aus seinem Gedächtnis zu vertreiben. Aber das brauchst du nicht zu wissen, Arielle. Er hatte seiner ehemaligen Supervisorin und Exgeliebten nie von seinen Träumen erzählt, wollte sie nicht mit ihr teilen.

Nicht in der Vergangenheit. Und erst recht nicht jetzt.

Zu allem Unglück errötete Brandon. Dabei wurde er nie rot. Doch gerade fühlte er sich versetzt in sein Kinderzimmer in Detroit, als seine Mutter ihn dabei ertappt hatte, wie er ein Nacktmagazin ansah. Er rutschte unbequem hin und her und fragte sich, ob Arielle seine Erektion bemerkt hatte. Allerdings hatte die in ihrer Anwesenheit sogleich nachgelassen.

„Ich bin gekommen, weil ich dir helfen will. Es scheint, als könntest du etwas Beistand gebrauchen.“

„Ich bin seit zweieinhalb Tagen in Venedig.“ Irritiert richtete er sich auf. Sein Körper schmerzte vom Liegen auf dem harten Betonfußboden. Er drehte sich, versuchte, sich zu strecken – und bemerkte, wie sie seinen nackten Oberkörper musterte. „Ich bin kein Anfänger. Ich brauche niemanden, der mir über die Schulter guckt.“

„Ich bin zu deinem eigenen Wohl hier.“

Vielleicht zu deinem eigenen Wohl, sagte Brandon im Stillen.

Immer war alles, was Arielle tat, zum Wohle eines anderen.

Das hatte er zum ersten Mal vor zehn Jahren zu spüren be kommen, nachdem er zu ihrer Einheit in L. A. gestoßen war. Arielle hatte ihm eine Menge beigebracht, das war unbestritten. Er durfte überallhin mitgehen, und sie hatte ihm jede Frage beantwortet, die ihm zum Thema Schutzengel eingefallen war. Und vor allem hatte sie ihm beigestanden, als er in Trauer über seinen menschlichen Tod und den Verlust seiner Frau versunken war. Arielle war da gewesen, um ihn aufzufangen.

Aber seitdem hatten die Dinge sich verändert. Anfangs wusste er gar nicht so recht, was ihn störte. Da war nur ein unbestimmtes Bauchgefühl, dass irgendetwas mit Arielle nicht ganz stimmte. Und dann hatte ihr Kontrollgehabe begonnen. Jeden seiner Schritte hatte sie überprüft und ihn mit Spitzfindigkeiten genervt. Und dabei immer ihren neutralen Tonfall beibehalten. Hatte ihre Kritik mit unerschütterlicher Fassung vorgebracht.

Ganz egal, was er vorbrachte, immer hatte sie darauf bestanden, dass alles zu seinem Besten war.

Nach drei Jahren hatte er genug davon gehabt und sich um eine Versetzung bemüht.

Nachdem sie nun ihren Lieblingssatz losgeworden war, presste sie die Lippen noch fester zusammen.

„Die Dinge sind vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Was ist los mit dir, Brandon?“

„Ich mache nur meinen Job. Falls du dich erinnerst, hatte sich die Kompanie darauf geeinigt, dass ich diese Mission allein durchführe.“

„Ich weiß, dass du einen intensiven Kontakt mit der Dämonin hattest und ihr gestattet hast, zu entkommen. Das haben mir die Mitglieder der venezianischen Einheit berichtet.“

Wahrscheinlich war es der grauhaarige, ehrwürdige Concierge in der Pension, der mich verraten hat. Aber wieso?

„Venedig ist eine kleine Stadt“, erklärte Arielle. „Neuigkeiten verbreiten sich hier schnell.“

Sie hob zu einer Belehrung an, und prompt bekam er Kopfschmerzen. Während sie durchs Zimmer ging, listete sie eine lange Reihe von Gründen auf, warum sie sich dazu genötigt sah, vor Ort sein zu müssen. Statt ihr zuzuhören, studierte Brandon ihr Gesicht. Ihm entging deshalb nicht, wie sie ihn anstarrte, als er sich ein Hemd überzog. Da war etwas Hungriges in ihrem Blick, das ihn ärgerte. Und was ihn noch mehr ärgerte, war dieses Fünkchen Emotion, das er in ihren Augen aufflackern sah, wenn sie von Luciana sprach. Wüsste er es nicht besser, könnte man es als ein Fünkchen Hass bezeichnen.

Aber er wusste es besser.

Arielle ist ein Engel, sagte er sich, und Engel hassen nicht.

„Wir müssen diese Dämonin zur Strecke bringen“, fuhr Arielle gerade unbeirrt fort. „Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir die örtliche Einheit um Unterstützung bitten. Ich habe bereits Kontakt zu Israel Infusino aufgenommen, dem Supervisor hier in Venedig. Er und einige Mitglieder seines Teams werden in Kürze hier sein. Wir sind hauptsächlich hier, um …“

„… mich zu kontrollieren“, ergänzte Brandon.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin nur gekommen, weil diese Mission von größter Wichtigkeit für die Kompanie ist. Es steht sehr viel auf dem Spiel. Wir müssen das tun, was im Interesse aller das Beste ist.“

„Was war das?“ Arielle drehte ruckartig den Kopf in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört hatte. Es kam aus einem der anderen Zimmer.

„Ich habe zwei ihrer Türhüter einkassiert und bereits befragt, aber bisher noch nichts Nützliches aus ihnen herausbekommen.“

„Einkassiert? Du hast einfach so Türhüter festgesetzt? Ohne dem Protokoll der Kompanie zu folgen?“ Arielle schüttelte den Kopf. „Das ist absolut inakzeptabel. Wir müssen sofort Verstärkung anfordern.“

„Gut.“ Mehr sagte er nicht. „Wahrscheinlich hast du recht.“

Sie stand auf und sah sich ungläubig um, als wollte sie ver-suchen, alles zu begreifen.

„Was ist uns nur dazwischengekommen, mir und dir?“, fragte sie unvermittelt. „Es könnte doch alles wieder gut sein zwischen uns, Brandon.“

Gut? Wieder? Es war nie gut gewesen zwischen ihnen. Am liebsten hätte er sie gefragt, ob sie unter Drogen stand.

Aber er behielt seine Gedanken besser für sich.

Wir sind einfach zu unterschiedlich, Arielle.“

„Du bist ein komplizierter Mann, Brandon, mit komplizierten Wünschen.“

„Lass gut sein. Und ruf von mir aus die örtliche Einheit zu Hilfe. Du und ich werden einander in Stücke reißen, wenn wir allein zusammenarbeiten müssen.“

Wenige Stunden später kehrte Arielle mit der venezianischen Einheit zurück, die sich mit ihrer gesamten Ausrüstung im Palast einquartierte.

„Das ist Infusino, der Supervisor der Einheit“, stellte Arielle den grauhaarigen Mann vor, den Brandon sofort wiedererkannte. Es war der Concierge aus der Pension. „Er und sein Team werden uns ab sofort unterstützen.“

„Sie haben mir gar nicht gesagt, dass Sie Supervisor sind.“ Brandon musterte den Mann.

„Sie haben nicht gefragt“, erwiderte Infusino knapp.

In Venedig wurden die Dinge offensichtlich anders gehandhabt.

Picknickdecken wurden auf dem Boden ausgelegt, Essen und Wein ausgepackt, Kerzen im ganzen Raum aufgestellt und angezündet – und schon war die Unheil verkündende Atmosphäre des alten Gemäuers verschwunden. Das venezianische Team plapperte munter auf Italienisch drauflos. Man lachte unbeschwert.

Luciana war eine lebende Legende.

Im Schein der Kerzen sprachen die Venezianer von ihr nur im Flüsterton. Die Geschichten, die sie einander erzählten, waren die Geschichten von einer mythischen Frau, die nicht wirklich zu existieren schien. Dabei gab es sie, die fleischgewordene Inkarnation einer Frau. Sie befand sich auf der anderen Seite des Kanals und plante dort die Vernichtung der Kompanie und all derer, denen sie zur Seite stand.

„… sie badet im Blut von Jungfrauen …“

„… sie isst Menschenfleisch zum Frühstück …“

„… sie hat die Hälfte der venezianischen Männer verführt …“

Es machten so viele Gerüchte über Luciana Rossetti die Runde, dass Brandon nicht wusste, was er noch glauben sollte.

„Eins wissen wir zumindest sicher: Nämlich dass Luciana in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten immer wieder unserer Einheit entkommen konnte“, stellte Infusino klar. „Niemand wusste, wo sich ihr Palazzo befand. Es war alles ein großes Geheimnis – bis Sie auftauchten, Brandon.“

Die Engel erhoben die Gläser auf ihn, ihre Augen leuchte-ten im Kerzenschein.

Warum laden wir nicht gleich die gesamte Nachbarschaft zur Party ein, dachte Brandon. Wen interessiert es schon, dass die Leute genau gegenüber unsere eingeschworenen Feinde sind?

Dennoch war er dankbar für das bisschen Komfort, das die Engel mitgebracht hatten, und freute sich über ihre Gesellschaft. Trotzdem: Er musste seine Mission beenden. Also trank er sein Glas Wein leer und setzte sich abseits von der Gruppe auf seinen angestammten Platz ans Fenster.

Unruhig rutschte er herum, während er nach draußen sah. Und wartete.

„Warum schlafen Sie nicht ein bisschen, Brandon.“ Infusino war zu ihm herübergekommen und legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter.

Brandon schüttelte den Kopf. „Wenn ich einschlafe, geht die ganze Mission vor die Hunde.“

Die Zeit rennt mir davon, dachte Luciana. Sie spürte, wie sie ihr durch die Finger rann. Noch vor Sonnenaufgang war sie aufgestanden und hatte sich an ihren Arbeitstisch gesetzt. Jetzt begutachtete sie, was sie bisher zustande gebracht hatte. Nicht genug. Das Gift war nicht stark genug. Wirkte nicht schnell genug. War nicht tödlich genug. Alles in allem … nicht genug, stellte sie fest.

Sie senkte den Kopf auf die Tischplatte und schloss für einen Moment die Augen. Sofort wurde sie von einer Welle von Gedanken erfasst, die sie davonzureißen drohte. Wenn ich nur mehr Zeit hätte … Wenn nur Corbin nicht die verdammte Phiole mit Gift an sich genommen hätte … Wenn ich doch nur niemals in der Erlöserkirche diesem Brandon begegnet wäre … Wenn doch nur Julian Ascher nicht vor über zweihundert Jahren in mein Leben getreten wäre, damals, in der Nähe der Rialto-Brücke … Wenn doch nur …

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie zusammenfahren.

„Ich bitte um Entschuldigung, baronessa.“ Massimo war hereingekommen und verbeugte sich nun leicht.

Luciana runzelte die Stirn. Langsam hatte sie das Gefühl, verrückt zu werden. Sie fühlte sich, als hätte sie Jahre in diesem Labor zugebracht, um ein Gift zu kreieren, das einen so mächtigen Engel zerstören konnte wie den, dessen Anwesenheit in nur ein paar Hundert Metern Entfernung sie deutlich spüren konnte.

„Einen Moment, Massimo. Ich brauche deine Hilfe.“ „Ja, baronessa. Gerne.“

„Fang einen der Kobolde! Ich muss meine Rezeptur ausprobieren.“

Binnen kürzester Zeit war ihr Diener zurück. Sie verabreichte der Kreatur eine Spritze, und der Kobold fiel um. Er hatte Schaum vor dem hässlichen Mund. Doch kurze Zeit später stand er wieder auf und würgte nur noch ein bisschen. Immer noch bedeckte weißer Schaum seine Mundwinkel, aber er war noch am Leben. Jetzt begann er zu keckern, sprang dann vom Tisch und versteckte sich unter der Werkbank.

Das Gift hatte ihn nicht töten können.

Luciana ließ wieder den Kopf auf den Arbeitstisch sinken und schloss erschöpft die Augen. Wenn nur … „Was ist schiefgegangen, baronessa? Egal. Wir werden es sicher beheben können.“

Luciana öffnete die Augen und seufzte. „Wahrscheinlich war Violettas Blut nicht stark genug. Sie starb so vollkommen gefasst – normalerweise fange ich solches Blut gar nicht erst auf. Es ist gut möglich, dass der Kobold erst in den nächsten Tagen stirbt. Und wenn ja, wird es vermutlich ein sanfter Tod sein. Aber das ist alles reine Spekulation. Was genau mit dem Gift nicht stimmt, ist mir nicht ganz klar.“

Noch viel bedenklicher war, dass mit ihr selbst etwas nicht stimmte.

Den Grund dafür kannte sie nur zu gut.

Er war groß, dunkelhaarig und Amerikaner.

Luciana konnte ihn spüren. Näher und stärker als jemals zuvor.

Wo bist du? fragte sie sich.

„Wie dem auch sei, Massimo. Wir müssen eine Lösung finden. Entweder finden wir ein anderes Opfer, oder wir peppen die Mixtur mit einer weiteren Zutat auf. In jedem Fall müssen wir schnell sein. Es gilt, in Windeseile zu handeln.“

Massimo spähte durch einen Schlitz im Fensterladen. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, war er kreidebleich.

„Was ist denn los?“ Luciana stand auf, um selbst nachzusehen, was der Grund für Massimos Verhalten war.

Der verlassene Palazzo auf der anderen Seite des Kanals war nicht länger verlassen.

Luciana sah das flackernde Licht von Kerzen und Gestalten, die sich bewegten.

Massimo brachte es auf den Punkt. „Er ist nicht mehr allein.“

Nicht einschlafen, ermahnte Brandon sich zum wiederholten Mal. Er hatte seinen Beobachtungsposten bezogen und schaute zum gegenüberliegenden Palazzo hinüber. Die Casa Rossetti kam ihm vor wie ein Mausoleum. Nicht schlafen. Nicht jetzt.

Nicht nur wegen der Träume selbst.

Sondern auch, weil jetzt eine ganze Einheit Engel da war, um seine Träume zu überwachen. Inklusive Arielle.

„Sie müssen schlafen.“ Infusino schüttelte den Kopf, als er sah, wie Brandon sich abmühte, wach zu bleiben. „Ihr Körper ist vollkommen erschöpft.“

Brandon schloss die Augen und lehnte den Kopf an den Fensterrahmen. Nur einen Moment.

„Lassen Sie mich nirgendwo hingehen und nichts tun …“, murmelte er gegen Infusinos Schulter, als der Mann ihn zu einer Pritsche führte, die die venezianische Einheit mitgebracht und in einer Ecke des großen, staubigen Raums aufgestellt hatte. „Und wenn ich anfange, im Schlaf zu sprechen, wecken Sie mich auf.“

Brandon legte sich hin, den Blick zur Decke gerichtet, auf die abblätternden Überbleibsel der Gemälde von Engeln, die ihn auszulachen schienen.

Während er in den Schlaf hinüberglitt, begann sich um ihn herum ein Schleier zu formen …

Der sich aber nicht in seinen üblichen Albtraum verwandelte. Da war nur Schwärze, in dichten Nebel gehüllt.

Er fasste in seine Tasche, berührte seine Uhr.

Im Nebel war sie. Schneller als je zuvor nahm sie Gestalt an. Wie ein Blitz raste sie vom Himmel und landete auf festem Boden, keine drei Meter von ihm entfernt. Sie kam auf ihn zu, umgeben von einem tosenden Sturm. Sie schien nur aus langen Beinen, flatterndem Haar und den stechenden grünen Augen zu bestehen.

„Du. Wo zum Teufel sind meine Türhüter? Ich will sie zurückhaben.“ Luciana packte ihn am Kragen und starrte ihn wütend an.

„Vergiss es.“

„Du glaubst mir also nicht, dass ich es wahr machen kann?“, fragte sie und hob trotzig ihr Kinn. „Du hast keine Ahnung, wozu ich in der Lage bin, Engel. Du wirst kommen, wie du noch nie gekommen bist – nicht einmal in deinen wildesten Träumen.“

Er machte sich von ihr los. „Danke für das Angebot, aber ich verzichte.“

Sie fuhr mit der Hand über seinen Oberkörper, nach unten bis zu seinem Hosenbund.

„Du weißt wohl selbst nicht, was du willst.“ Ihre Stimme war jetzt nicht viel mehr als ein Schnurren. „Ein Mann wie du hatte wahrscheinlich noch nie Gelegenheit dazu, seine geheimsten Wünsche auszuleben. Ich habe dir so viel zu bieten, weißt du. Du kannst von mir haben, was du willst. Du könntest in einem Haus leben, das größer ist als mein Palast, wenn du magst. Eine ganze Flotte exotischer Wagen fahren. Eine Segeljacht besitzen. Ständig von Frauen umringt sein. Frauen wie mir.“

Bei ihrem letzten Wort zuckte er leicht zusammen und hoffte sofort, dass sie es nicht bemerkt hatte. Aber natürlich war ihr seine Reaktion nicht entgangen.

„Was ist los, großer Junge? Ist ein Monster unter dem Bett? Soll ich es wegjagen?“

„Mach, was du willst. Ich gehe nirgendwo mit dir hin.“

„Stattdessen stehst du lieber herum und wartest auf deinen immer wiederkehrenden Albtraum. Wie du willst.“ Sie winkte ab. „An deiner Stelle würde ich mich lieber auf das Unbekannte einlassen, anstatt darauf zu warten, wieder erschossen zu werden.“

„Woher weißt du das?“

„Nur so eine Vermutung. Aber vediamo … Wir werden sehen. Ich habe ja schon während des Feuerwerks vermutet, dass du mal Opfer einer Schießerei wurdest. So, wie du zögerst und dich kleinmachst, wenn du bestimmte Gassen betrittst … Na ja.“

„Und der Traum?“

Sie schloss die Lider. „Das war ein Schuss ins Blaue, sozusagen.“

„Du bist die Erste, die das herausgefunden hat.“ Brandon wusste nicht, wieso er ihr das erzählte. „Außer dir weiß es nur Michael.“

„Vielleicht bin ich auch die Einzige, die sich Gedanken darüber macht. Komm, ich helfe dir, deinen Schmerz zu lindern.“ Sacht strich sie mit den Fingerspitzen über seinen Unterarm. „Komm mit mir!“

„Ich will meinen Schmerz lieber behalten, vielen Dank.“ Seine Worte waren der reinste Hohn, denn am liebsten hätte er sie gepackt und sofort genommen.

„Wenn du nicht kooperieren willst, auch gut. Ich brauche deine Erlaubnis nicht. Wo waren wir stehen geblieben, als wir das letzte Mal zusammen waren?“ Luciana drängte sich eng an ihn. „Wenn ich mich richtig entsinne, standen wir in einem Türeingang in der Nähe des Markusplatzes, als dein Boss uns unterbrach.“

Der dunkle Nebel um sie herum begann sich zu verdichten, und die Kulisse wurde zu dem Ort, an dem sie in der Nacht zuvor gewesen waren. Sie presste sich an ihn, und diesmal war sie es, die ihn gegen die Tür drängte.

„So war es doch, nicht wahr?“, sagte sie verführerisch und streichelte seinen Oberkörper mit der flachen Hand.

„Lass mich“, knurrte er, schnappte sich ihr Handgelenk und zerrte sie von sich weg. Michaels Warnung fiel ihm wieder ein. „Nicht so.“

Sie zögerte, ließ von ihm ab. „Was willst du dann? Ihr Engel seid so langweilig! Deine geheime sexuelle Fantasie ist wahrscheinlich ein Dreier im Heu mit zwei Cowgirls! Lass mich dir doch einfach zeigen, welche Möglichkeiten sich dir auftun könnten!“

Um sie herum veränderte sich wieder die Kulisse, die Farben von Venedig verschwanden in einem Wirbel.

Als die Szene wieder konkreter wurde, sah man einen Strandabschnitt, der sich zu einer langen, weiten, von Palmen gesäumten Bucht öffnete. Zwei junge Frauen, eine blond, die andere rothaarig, tollten oben ohne im Meer und winkten Brandon zu, hereinzukommen. Als er keine Anstalten machte, sich zu ihnen zu gesellen, kamen sie aus dem Wasser. Kichernd liefen sie auf ihn zu. Auf ihrer nackten Haut glitzerte in der Sonne das Salzwasser.

„Das ist keine meiner Fantasien.“

Luciana neigte den Kopf und beäugte ihn neugierig. „Ach nein? Was willst du dann? Mehr Frauen?“

Aus dem Nichts tauchten plötzlich weitere Frauen in der Brandung auf.

Brandon verschränkte die Arme. Er wollte nichts von diesen Frauen.

Wieder veränderte sich die Szenerie. Diesmal hatte Luciana ihn in ein üppig dekoriertes Schlafzimmer gebracht, in dem eine Frau und zwei Männer auf einem Bett lagen. Die Männer waren durchtrainiert und knackig, und als sie Brandon sahen, lächelten sie einladend.

„Willst du mitmachen?“, fragte einer der beiden. „Oder soll ich euch Jungs alleine lassen?“

Luciana stand im Hintergrund und hob fragend die Brauen. „Tut mir leid, schon wieder falsch.“

„Was ist es denn dann?“ Luciana blickte ihn frustriert an. „Sag es mir!“

Alles, was ich will, bist du.

Die unausgesprochenen Worte hingen zwischen ihnen, so sichtbar, als hätte er sie schwarz auf weiß niedergeschrieben. So laut, als er hätte er sie durch ein Megafon gebrüllt. Er wusste, dass diese Worte ihr Angst einjagten. Nur deshalb hatte sie ihm so viele Personen präsentiert, die ihm Lust bereiten sollten.

„Hast du solche Angst vor dem, was passieren könnte, wenn wir zwei miteinander allein sind? So wie beim letzten Mal?“

Als du davongelaufen bist?

„Nein, natürlich nicht.“ Doch ihr Zittern sagte das Gegenteil.

„Mir reicht es. Bring mich zurück nach Venedig!“

„Va bene.“

Sie schluckte. Ihre Entschlossenheit schien zu wanken, das konnte er in ihren Augen lesen.

Ein letztes Mal wandelte sich die Szenerie. Als der Nebel verschwunden war, begann Brandons Herz so stark zu klopfen, dass es fast in seiner Brust zersprungen wäre.

Denn er hatte nach unten geblickt, und der Boden befand sich mindestens neunzig Meter unter ihm.

Und er hing in der Luft.