22
In jener Nacht bettelte ich den Drachenmeister um Gift an. Der Schmerz von meinen zertrümmerten Rippen durchströmte in quälenden Wellen meinen Oberkörper, während Eidon unaufhörlich meinen Kopf forderte, weil ich den Tod seines Liebhabers verursacht hätte. Ich wollte das Gift nicht nur, um die Schmerzen zu lindern, sondern um dieses schreckliche Bild aus meinem Hirn zu vertreiben, wie ein Junge zerfetzt wurde, wie Ringus’ Eingeweide in schimmernden Ringen über mir baumelten. Ich brauchte das Gift, um die Furcht zu bekämpfen, welche die Gewissheit in mir auslöste, dass mir morgen dasselbe Schicksal beschieden wäre.
Der Komikon verweigerte mir das Gift.
»Glaubst du, ich könnte den heutigen Erfolg wiederholen?«, brüllte er mich an. »Niemand anderer als Ringus kann so schnell neben mir mit dem Bullen arbeiten! Morgen wirst du nur mit Drachenködern die Arena betreten: einem schwer verletzten Veteranen, der dich umbringen will, und vier entbehrlichen Novizen!«
»Bitte, ich brauche Gift!«
»Du spreizfüßige Missgeburt!«, schrie der Drachenmeister. Die Onahmes in den Boxen neben uns schnaubten und trampelten vor Aufregung. »Du dotterhirnige Metze! Ruf den Dirwalan, ruf deinen Vogel!«
»Das kann ich nicht!«, brüllte ich ihn an. Der Schmerz in meinem Brustkorb machte mich schwach, und mir brach der Schweiß aus. »Sie kommt nicht, versteht Ihr das nicht? Sie hat mich verlassen; ich habe sie gerufen, aber sie ist nicht gekommen …« Meine Worte erstickten in einer Reihe schmerzhafter Schluchzer.
Ich war zerschmettert, verloren. Meine Mutter war nicht gekommen.
»Gebt mir etwas Gift, bitte!«, jammerte ich. Ich glaube, der Drachenmeister wäre geflohen, entweder, um mir einen betäubenden Trank zu bringen, oder weil er begriffen hatte, dass alles verloren und seine öffentliche Hinrichtung damit so gut wie sicher war.
Nur konnte er nicht weglaufen.
Denn jetzt hielt nicht nur ein Inquisitor in meiner Stallbox Wache. Die Onahme, die dort untergebracht worden war, war weggeschafft worden; und ihre Box wurde jetzt von vier Inquisitoren besetzt, alle groß und von Kopf bis Fuß in weiße Gewänder gehüllt. Sie bewachten den Drachenmeister und mich, damit wir morgen von Re öffentlich ausgeweidet werden konnten.
Mir war klar, dass der Tempel am nächsten Tag nicht noch einmal den Fehler begehen und zulassen würde, dass wir beide überlebten.
Der Morgen dämmerte, und ich konnte mich kaum rühren. Ohne Rücksicht auf meinen Schmerz führten die Inquisitoren mich zu dem Karren, der bereit stand, uns in die Arena zu transportieren. Ich war erneut gefesselt.
Genauso wie der Drachenmeister, der an Händen und Füßen angekettet war, sich jedoch nicht in steifer, stiller Qual bewegte, sondern gegen seine Ketten wütete, sich wand, knurrte und wilde Flüche ausstieß. Es hatte sieben kräftiger Stallburschen des Nashvenir bedurft, um ihn zu fesseln, auf Befehl von Waikar Re Kratt. Alle sieben hatten Prellungen, Bisswunden und Schnitte von dem Kampf davongetragen, einige sogar Knochenbrüche.
Der Drachenmeister stieß Beschimpfungen und Djimbi-Flüche aus, als er von drei Inquisitoren an den letzten Karren der Prozession gebunden wurde. Er musste den Weg zur Arena laufen.
Es rasselte.
Die Ketten, mit denen meine Handgelenke gefesselt waren, wurden ebenfalls an dem hinteren Ende des Karrens befestigt. Also musste auch ich zur Arena gehen.
Das würde ich niemals schaffen. Wenn ich nicht vorher vor Schmerz ohnmächtig wurde, würde ich von der Menge am Straßenrand zu Tode gesteinigt werden. Eine dumpfe Betäubung legte sich über mich, die so groß war, dass ich nichts empfand, als mein Blick auf Dono fiel, dessen linkes Auge geschwollen und blutunterlaufen war. Ich fühlte gar nichts.
Die Karren fuhren knarrend an, bogen auf die lange, von Bäumen gesäumte Allee des Nashvenir Re ein. Auf halbem Weg warteten Waikar Re Kratts Drachenjünger und Adlige auf ihren Reittieren, erfüllt von der Gewissheit, dass Kratts Dummheit, was mich anging, schon bald enden würde, dass dieser unabsehbare Fehler, mir zu erlauben, so lange zu leben, schon bald korrigiert würde.
Waikar Re Kratt setzte sich an die Spitze unserer Prozession. Er thronte gleichgültig und beeindruckend auf seiner wunderbaren Drachenkuh, führte die langsame, feierliche Fahrt zur Arena an.
Ich fiel. Wurde aufgerichtet. Stürzte erneut. Ein Inquisitor richtete mich ein zweites Mal auf, aber der Boden unter meinen Füßen wollte nicht ruhig bleiben. Der Schmerz in meinen Rippen war zu groß, ich brach zusammen.
Kratt ritt an unserer Parade entlang zum Ende und musterte mich von seinem mit Juwelen geschmückten Reittier herab. Sein goldenes Haar schimmerte wie eine strahlende Krone. »Werft sie auf den Karren«, befahl er. »Wir verschwenden nur Zeit.«
Wenigstens musste ich nicht zur Arena laufen.
An der Straße drängten sich Menschen, noch mehr als am Tag zuvor. Händler boten Fingerkrallen und süße Kekse feil, und Kiyu-Komikon boten ihre aneinandergefesselten Mädchen an. Mischlinge in zerfetzten Hosen verkauften geröstete Coranüsse an die Kinder vornehmer Leute, die von Kindermädchen beaufsichtigt wurden, während hagere Jungen auf Holzkisten tanzten und ihre Bettelschalen mit beiden Händen ausstreckten. Geschmückte Sänften wurden von grimmigen fleckbäuchigen Dienern auf den Schultern getragen und bewegten sich wie betrunkene Boote zwischen den Händlern in ihren Gehröcken und blauäugigen xxeltekischen Seeleuten, die ihre typischen Hüte aus Tierhaut trugen. Diebe und Spielhöllenbesitzer drängten sich neben bunt gekleideten Bayen in Gewändern aus schimmernder Muschelseide, während Paras, Söldner, die keiner Armee angehörten, mit Halbpiken und Säbeln bewaffnet, die Eingänge von Tavernen bewachten. Man hatte sie engagiert, um Raufbolde fernzuhalten. Aus den Herbergen drangen Musik, Gelächter, Schreie und Grölen hinaus auf die Straße, ebenso wie der blaue Rauch von Tabakpfeifen.
Als unsere Prozession sich über diese Allee wälzte und sich der Arena näherte, wurden die Leute, welche die Straße säumten und mich mit Beleidigungen überhäuften und Steine nach mir warfen, von dem Gewühl abgelenkt, das alle Zufahrtswege blockierte, alle Türen und Balkons. Die Frauen der Bayen, unbeschwert von solchen Kümmernissen, lehnten sich aus den Fenstern der vornehmeren Herbergen, ihr Haar zu bizarren Knoten auf den Köpfen frisiert, und klapperten mit ihren silbernen Fingerkrallen, als ich vorbeikam. Eine ging sogar so weit, in ihrer selbstgerechten Empörung den Inhalt ihres Nachttopfs in meine Richtung zu schleudern. Ein Regen von Urin und Exkrementen ging auf die Menschenmenge unter ihrem Fenster herab; wütendes Gebrüll erhob sich auf der Straße, ein Tumult schien unausweichlich.
Ich fühlte mich eingesperrt, verletzlich auf meinem Karren und war vor Angst fast außer mir. Als wir durch ein weiteres Schlagloch rumpelten, zuckte ein scharfer Schmerz durch meine Rippen, und meine Blase drohte sich auf der Stelle zu entleeren. Der Drachenmeister war an das Ende des Karrens gekettet, von den weißen Gestalten der Inquisitoren flankiert. Er riss an seinen Ketten, kreischte und hatte vor Wut Schaum vor dem Mund. Ein kühner Bayen-Jüngling, der schwarz gekleidet war wie eine Katze, sprang vor und hämmerte dem Drachenmeister einen Stuhl auf den Rücken. Der Komikon stolperte, fiel und wurde einige Schritte hinter dem Karren hergezogen, bevor einer der Inquisitoren ihn recht unfeierlich auf die Füße zerrte.
Die Menge brüllte jubelnd und bewarf uns mit Steinen und faulen Früchten.
Die Schüler auf dem Karren hielten sich schützend die Arme über die Köpfe und duckten sich. Ich sah, wie an der Spitze unserer Parade Kratts Ratgeber wütend jene Zuschauer anbrüllten, die sie aus Versehen mit ihren Wurfgeschossen getroffen hatten. Die Drachenkuh, die unseren Wagen zog, warf nervös den Kopf hoch und verdrehte die Augen, und einige der Reittiere, auf denen die Adligen von Brut Re saßen, tänzelten unruhig.
Wir bogen um eine Ecke und kamen holpernd vor einem der dunklen, muffigen Tunneleingänge zum Stehen, die unter die Arena führten. Es war derselbe Gang, durch den wir die Arena am Vortag betreten hatten. Die Wachen zogen das Gitter hoch; ein Wurfgeschoss aus der Menge prallte von meinem rechten Ohr ab. Einen Moment drehte sich mir alles vor den Augen.
Als sich mein Blick wieder klärte, starrte ich in das Gesicht eines korpulenten Mannes, der auf einer Kiste stand, kaum eine Armlänge von mir entfernt. Er hielt einen Zettel in der Hand und brüllte, damit alle ihn hören konnten. Speichel flog aus seinem Mund.
»Genau um Mitternacht findet ein außerordentlicher Kampf wilder Tiere statt! Kommt und seht! Im ersten Kampf bieten wir euch einen xxeltekischen Stier, der von sechs der stärksten Hunde unseres Landes angegriffen und besiegt wird! In unserem zweiten Kampf seht ihr eine wilde Raubkatze gegen einen Bären der Nordlande. Sollte die Raubkatze nicht besiegt werden, werden wir einige Feuerwerkskörper an ihren Schweif binden, was höchst unterhaltsam sein wird! Kauft eure Eintrittskarten, kauft!«
Dann ruckte der Karren, auf dem ich saß, wieder an, und wir rollten in die dämmrige Dunkelheit unter der Arena.
Zwei Jungen in Lendenschurzen standen neben den Tunnelwachen, hielten Teerfackeln in einen Feuerkorb mit Glut und reichten die entzündeten Fackeln den Bayen der Brutstätte, die nach einer verlangten. Eidon ließ sich ebenfalls eine Fackel geben und auch zwei der vier Inquisitoren, die den Drachenmeister flankierten.
Wir stiegen in das steinerne Labyrinth aus Gängen hinab. Es roch nach Urin und Drachendung, nach kaltem Schweiß und Fackelrauch. Ich konnte die Luft kaum einatmen.
Ich zitterte, konnte nichts dagegen tun. Bei jedem Beben klapperten die Ketten an meinen Handgelenken, zuckte Schmerz durch meinen Brustkorb. Die Gestalten um mich herum wirkten nicht menschlich, wurden von den blakenden Fackeln auf wogende Umrisse reduziert. Ich betrachtete ihre Schatten, die über die unebenen Wände des Gangs tanzten.
Schließlich hielt unser Karren an. Die Veteranen brüllten Befehle, und die Schüler kletterten herunter.
Einer der Inquisitoren hob mich herunter, packte mich fest um meine Oberarme. Ich schwankte einen Moment, als meine Füße den kalten Boden berührten. Die schwere Kette um meine Handgelenke schlug an meinen Bauch. Über uns und um uns herum hallten die riesigen Quader der Arena von dem Lärm wider, den die Drachen und die Zuschauer machten.
In dem Tunnel scharten sich die Schüler in Nischen und an den Wänden zusammen. Bis auf die Veteranen waren alle bedrückt und verunsichert. Einige Schüler stimmten die Komikonpu Walan Kolriks an, und ihr atemloses Flüstern huschte durch den Tunnel wie Geisteratem. Eidon steckte seine Fackel in eine Wandhalterung. Dann begannen er und ein anderer Veteran mit ihren Prügeln zu üben, probierten Finten und sprangen aufeinander los, um ihre Muskeln aufzuwärmen. Eidon bewegte sich mit bedrohlicher Sicherheit. Sein Poliar zischte durch die Luft wie eine Drachenklaue. Dono hockte sich etwas abseits hin, ein Schatten, der sich über einen Poliar beugte. Etwas schimmerte an seinem Schenkel. Es sah aus wie ein Dolch.
Kratt und sein Gefolge aus vornehmen Bayen setzten derweil ihren Weg durch das Labyrinth fort. Das Quietschen der Achsen und Knarren des Sattelleders hallte unheimlich durch den Gang, noch lange, nachdem sie verschwunden waren. Sie waren in einen der Gänge eingebogen, die zu den unterirdischen Stallungen führten. Dort würden sie ihre Reittiere lassen und dann über eine Treppe in die strahlend helle Arena hinaufsteigen zu ihren Logen.
Ich schloss die Augen und drückte meine Ellbogen gegen meinen Körper. Ich hatte das Gefühl, wenn ich losließ, würde ich selbst das bisschen Mut verlieren, das ich noch besaß.
Ich fühlte mich klein, ohnmächtig und verraten, und mir war sehr, sehr kalt.
»Mo Fa Cinai, wabaten ris balu«, stieß ich mit klappernden Zähnen hervor. Reinster Drache, werde zu meiner Kraft.
Das Klatschen nackter Fußsohlen auf dem Boden und die hastigen Atemzüge einer Person, die sich im Laufschritt näherte, störten das grimmige Schweigen. Die Veteranen, die mit ihren Poliaren übten, hielten inne; wir alle blickten dem Geräusch entgegen. Ein Schatten tauchte auf. Im nächsten Moment erschien im Licht der Fackeln ein dürrer Rishi-Junge.
»Aufruf an die Teilnehmer des ersten Shinchiwouk aus Brutstätte Re!«, keuchte er. »Das sind: Zarq-die-Ausgeburt, Danku Res Dono, Arbiyesku Res Kaban …«
Mein Kopf schien anzuschwellen, wurde von einem Brüllen erfüllt, und mir fiel zu spät ein, dass ich meine Blase nicht geleert hatte.
Die beiden Inquisitoren neben mir traten vor. Ich schüttelte mich krampfhaft und wich in den Schatten zurück.
»Wartet, das ist zu früh!«, keuchte ich. »Wir sind doch gerade erst angekommen; man hat mir noch keine Vebalu-Waffen gegeben …«
Eine Hand packte meinen Oberam, und ich wurde hochgerissen.
Dono erhob sich aus der Hocke und kam auf mich zu. In der Dunkelheit quoll sein verletztes Auge wie eine verfaulte Pflaume unter dem geschwollenen Lid hervor. Er strahlte Hass aus, wie die Fackeln Qualm absonderten. Er trug nicht nur den Poliar in einer Hand, sondern war auch mit einer Peitsche bewaffnet, die er um die Taille geschlungen hatte, und in dieser Schärpe steckte ein Dolch. Der Handgriff aus Gold und Elfenbein verriet, dass dies die Waffe eines Bayen war.
Es war keine Vebalu-Waffe. Ein Herr unserer Brutstätte, der meinen Tod wollte, musste ihm diesen Dolch gegeben haben.
Ich sah mich hastig um. »Wo ist mein Vebalu-Umhang? Wo ist meine Waffe? Ich kann doch nicht mit leeren Händen die Arena betreten!«
»Halts Maul, Hure!«, fuhr Dono mich rau an. Seine Stimme war so verzerrt vor Verachtung, dass ich sie kaum erkannte.
Neben mir bekam der Drachenmeister einen neuen Wutanfall. Er war immer noch an den Händen gefesselt, so wie ich, und zudem noch an den Füßen. Aber das hinderte ihn nicht daran, um sich zu schlagen und wie ein Hund mit den Zähnen nach jedem zu schnappen, der ihm zu nahe kam. Der Mann hielt sich sichtlich nur noch mit der Kraft der Wahnsinnigen aufrecht.
»Bindet mich los, ihr Tempelhuren!«, kreischte er. »Kettet mich los, gebt mir meine Peitsche!«
Im Schatten machte sich Eierkopf daran, die vier Novizen zusammenzutreiben, deren Namen neben Donos und meinem auf der Liste des Ashgon aufgeführt waren. Alle vier weinten, und einer kauerte an der Wand.
»Bitte, Eierkopf, bitte«, schluchzte er und sah Eierkopf an, als wäre der sein älterer Bruder, der die Macht besaß, den Novizen vor seinem Los zu bewahren. »Zwing mich nicht, zu gehen!«
»Hoch mit dir!«, brüllte Eierkopf. Als der Junge sich nicht rührte, sondern ihn nur flehentlich ansah, gab Eierkopf ihm eine Kopfnuss. »Tu das, was ich dich gelehrt habe, dann kommst du als Diener zurück! Und jetzt hoch mit dir!«
Der Junge schlang die Arme um seinen Kopf und schluchzte. Eierkopf zog ihn hoch, stellte ihn auf die Beine; der Junge sackte sofort wieder zu Boden. Mit einem heftigen Fluch warf Eierkopf ihn sich über die Schulter und stampfte zu uns herüber. Der Vebalu-Umhang des Jungen flatterte vor seiner Brust hin und her, während er schluchzend über Eierkopfs Schulter hing und ihn immer wieder anflehte, ihn herunterzulassen.
Die drei anderen Novizen, die mit Dono und mir zum Shinchiwouk eingeteilt waren, wogen ihre Vebalu-Waffen in den Händen. Ihre Augen waren glasig vor Angst.
»Ich trage ihn hoch«, knurrte Eierkopf. Bei seinen Worten setzten sich die Inquisitoren in Bewegung und zogen den gefesselten Drachenmeister und mich hinter sich her.
Mo Fa Cinai, wabaten ris balu, dachte ich. Irgendwie verwob sich dieses verzweifelte Gebet mit dem schluchzenden Flehen des Jungen, bis ich, während wir durch den muffigen Gang gingen, am Ende nicht mehr den Beschwingten Unendlichen um Kraft bat, sondern ihn anflehte, mich freizulassen.
Schließlich schimmerte Tageslicht vor mir.
Dazu das Stimmengewirr von zweihunderttausend Menschen, die sich zum Blutvergießen und zum fröhlichen Feiern versammelt hatten.
Frische Luft drang in meine Nase, gemischt mit dem staubigen Geruch sonnengewärmter Erde und dem süßen, stechenden Duft fruchtbarer Onahmes, die darauf warteten, von einem Bullen bestiegen zu werden.
Wir erreichten das rostige Gitter; dahinter lag das staubige Rund des Kolosseums. Das harte Sonnenlicht trieb mir Tränen in die Augen.
Eierkopf versuchte, den Jungen herunterzulassen; aber er klammerte sich an Eierkopfs Hals fest, schlang seine Beine um Eierkopfs kräftige Körpermitte.
Der Diener packte das Haar des Jungen und riss ihn mit dem Kopf zuerst herunter.
»Bitte, Eierkopf, zwing mich nicht, zu gehen!«
Ich wandte mich ab, unterdrückte den Drang, mich zu übergeben.
Die Wachen, die an der Innenseite des Gitters standen, überprüften rasch die Vebalu-Waffen und Umhänge der Aufgerufenen, überzeugten sich, dass sie korrekt waren. Dono ignorierten sie.
»Er hat einen Dolch!«, rief ich. »Das ist nicht zulässig!«
Einer der Wachleute beugte sich vor. Sein Atem stank nach Maska-Schnaps. Seine verschlungenen Gesichtsnarben wirkten vor dem hellen Sonnenlicht der Arena blau, und ihm fehlte ein Schneidezahn.
»Ich würde dir das Ding selbst in den Leib rammen, wenn ich die Möglichkeit hätte«, knurrte er.
Ich schwieg.
»Kettet mich los, sonst soll euch der Zorn des Himmlischen Reiches holen!«, brüllte der Drachenmeister. »Ihr Dämonenschlampen, kettet mich los!«
Eine der Wachen löste den Riegel des Gitters, schwang es auf und trat zur Seite. Die Inquisitoren schoben zunächst mich und dann den Drachenmeister hinaus. Sie lösten weder die Ketten um die Gelenke des Drachenmeisters, noch befreiten sie mich von meinen Ketten.
Wir stolperten, geblendet vom Sonnenlicht, in den Staub der Arena. Im nächsten Moment schien ein Samum durch die Arena zu fegen; das Gebrüll der Zuschauer war so heiß und wild wie dieser trockene Wüstensturm.
Der Hagelklang von Tausenden von Fingerkrallen, der von den Rängen der Arena herabtoste, war ohrenbetäubend. Einer der Novizen hob instinktiv die Arme über den Kopf, als würden Steine auf ihn herunterprasseln. Ich stolperte von Dono weg, weg, nur fort.
Aber ich entfernte mich nicht so weit, dass der Bulle mich als sein Opfer auswählen konnte, falls er sich auf uns Schüler stürzte. Was er zweifellos tun würde.
Ich blieb stehen, atmete schnell und unregelmäßig, während bei jedem Atemzug ein stechender Schmerz durch meinen Brustkorb zuckte. Wie am Tag zuvor wurde mein Blick von dem blendend funkelnden Netz über uns angezogen, vom Firmament des Imperators.
Wie kann eine solche Schönheit von denselben Wesen geschaffen und geschätzt werden, die ebenso Lust am Tod von Kindern empfinden?, schoss es mir durch den Kopf.
Mein Blick glitt abwärts, so leicht wie Staub und verschleiert von Schmerz und Furcht, zu den Logen der Bayen. Ich fand sofort die Loge von Brut Re, die roten Banner, die über dem mit Quasten verzierten Baldachin flatterten und auf denen die eleganten violetten Symbole Cafar Res prangten. Cafar Re. Die Bastion der Tränen.
Und dort, in dieser Loge, ging eine Gestalt zwischen den üppigen Ebani umher, gekleidet in einen blassblauen Bitoo, eine Gestalt, die meinen verschwommenen Blick wie magisch anzog. Ihr geschmeidiger Gang, ihre lange, rotblonde Mähne, ihr praller, wogender Busen, der unverkennbare Schwung ihrer Hüften …
Ich schwöre, dass ich trotz der Entfernung, trotz meines entkräfteten Zustands, trotz der blendenden Lichtreflexe, die von den Tausenden von Spiegelscherben hoch oben durch die Arena tanzten, dass ich trotz all dessen sofort wusste, wer sie war.
Meine Schwester.
Danku Re Darquels Waivia.
Ich starrte sie an, und das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich hörte nicht, wie die Menge verstummte, als der Ashgon seine Hand hob, hörte nicht das Klirren, als das eiserne Gitter gehoben wurden, hörte nicht das Brüllen, als Re aus seiner Stallbox stürmte, vernahm nicht das Geschrei der Menge, die ihm antwortete. Ich hörte nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren, sah nur diese Gestalt, die neben Waikar Re Kratt stand. Ihre Nähe zu ihm verdeutlichte, dass sie seine Wai-Ebani Bayen war. Die erste Lustspenderin eines Aristokraten.
Das war schon immer ihr sehnlichster Wunsch gewesen. Als Lustspenderin Roshu-Lupinis Erstgeborenem zu dienen.
Deshalb also war der Geist meiner Mutter nicht mehr zu mir zurückgekehrt: Sie hatte keinen Grund mehr dafür. Sie hatte jemanden gefunden, den ich schon lange für tot gehalten hatte. Sie hatte meine Schwester gefunden.
Ich schwankte, taumelte.
Was mir das Leben rettete.
In dem Moment, in dem ich zu Boden sank, stieß Dono zu, der mit erhobenem Dolch auf mich zugestürmt war. Statt mich zu treffen, verfehlte er mich nun knapp. Er hatte allerdings so viel Kraft in seinen Stoß gelegt, dass es für die Zuschauer aussah, als hätte sich seine Klinge tief in meinen Hals gegraben, und die Menge sprang auf wie ein Mann und jubelte. Doch die Schneide hatte meine Haut nur geritzt, als ich fiel.
Dono wurde von der Wucht seines Stoßes vorwärts gerissen, stolperte über mich und landete im Staub der Arena. Der Drachenmeister sprang über mich hinweg. Sein grünbraun gefleckter Leib bewegte sich einen Moment lang wie der einer Gazelle, jedenfalls für meinen verwirrten Blick, obwohl das nicht sein konnte: schließlich war er gefesselt. Dann fiel er über Dono her und schlang die Kette, die seine Handgelenke band, wie eine Garrotte um Donos Hals.
Während die beiden unter dem lauten Gebrüll der Zuschauer durch den Sand rollten, erbebte der Boden unter meinen Füßen. Re griff an.
Die Novizen rannten schreiend davon. Re änderte sofort seine Richtung, verfolgte sie.
Ich sah dies alles nur aus dem Augenwinkel, denn ich lag immer noch auf dem Rücken, starrte auf den funkelnden Himmel über mir. Meine Sinne schienen gespalten zu sein, mein Körper von mir abgelöst. Meine Mutter hat mich im Stich gelassen, dachte ich, genauso wie damals, als ich neun Jahre alt war. Zugunsten Waivias. Schon wieder.
Warum? Was hatte ich ihr getan, damals, als Kind? Was hatte meine Mutter veranlasst, Waivia so bedingungslos ihre Liebe zu schenken, meiner Schwester, und nicht mir?
Diese schillernden Spiegel hoch über mir … wie hypnotisierend sie waren, wie verführerisch. Wie diese kleinen Flecken aus Quarz, die mich in meiner Nische in der Gewölbekammer der Viagand so verzaubert hatten, vor noch gar nicht so langer Zeit. Wie die Tausende von Sternen, die am Nachthimmel funkelten, damals, als meine Mutter sich erstmals offen dem Tempel widersetzte, indem sie Glasur und Lehmblöcke im Dschungel versteckte, statt sie an Sa Gikiro wegzugeben. Das war fast ein Jahrzehnt her.
Dann widerfuhr mir, dort auf dem Rücken in der Arena liegend, ein Grunu-Engros, als ich auf diese schimmernden Lichtpunkte starrte, während der gewaltige Drachenbulle einen der Jungen zerfetzte. Ich erfuhr eine Berührung durch den Drachengeist, diese Illusion, eine ähnliche Situation bereits einmal erlebt zu haben, eine, die bedeutsam für das Leben einer Person ist, die aber noch bevorsteht.
Und ich erinnerte mich.
Ich erinnerte mich an die Visionen, die ich durchlebt hatte, als ich apathisch in den Klauen des Giftes in meiner Nische in der Kammer der Viagand lag, auf die Flecken aus Quarz und Feldspat im Stein über mir starrte. Ich erinnerte mich daran, dass ich die Erfahrung gemacht hatte, ein Drachenbulle zu sein.
Nicht einmal, zweimal, nein dreimal hatte ich beim Shinchiwouk gekämpft, als ich im Bann des Giftes stand und dem Lied der Drachen lauschte. So oft, dass meine Gliedmaßen sogar noch im Schlaf zuckten, wenn ich mich an die Täuschungen und Sprünge erinnerte, die ein Drache im Kampf vollführte.
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich die Arena überleben konnte. Ohne den Schutz des Geistes meiner Mutter, sogar ohne die Sicherheit des Gefühls, von meiner Mutter jemals geliebt worden zu sein. Ich wusste, dass ich überleben konnte.
Wie?
Weil ich denken konnte wie Re, jede seiner Bewegungen vorherahnen konnte, noch ehe er reagierte.
Als diese Hoffnung in mir aufflammte, strömte Adrenalin durch meinen Körper. Die Kombination aus Hoffnung und Adrenalin war in diesem Moment so mächtig wie Gift, das direkt in meine Muskeln injiziert wurde, in meine Nerven, Sehnen und mein Fleisch.
Steif und mit ruckartigen Bewegungen erhob ich mich.
Ich atmete schwer, meine Finger kribbelten, als das Blut hineinfloss, und ich hielt nach Donos Poliar Ausschau. Ich entdeckte ihn ganz in meiner Nähe, nicht weit von der Stelle, an welcher der Drachenmeister noch immer auf Donos Rücken hockte, die Kette, mit der er gefesselt war, um Donos Hals geschlungen. Ich bückte mich nach dem Prügel. Der Schmerz, der mich bei dieser Bewegung durchzuckte, war so weißglühend wie ein Blitz. Mir verschwamm alles vor den Augen, ich tastete nach dem Poliar, bis meine Finger seinen glatten, vom Staub bedeckten Griff ertasteten. Ich wog ihn in meinen gefesselten Händen, richtete mich auf, sog scharf die Luft ein.
Langsam drehte ich mich um.
Fast auf der anderen Seite der Arena hatte Re offenbar genug davon, mit dem verstümmelten Leichnam eines der Novizen zu spielen, und hob gerade den Kopf von dem zerfetzten Kadaver. Unsere Blicke begegneten sich. Der Abstand zwischen uns schien sich rasend schnell zu verkleinern.
Ich hob meinen Poliar hoch, holte tief Luft und brüllte meine Herausforderung heraus.
Alle Wut, alle Furcht, aller Schmerz, die ich empfand wegen all dessen, was ich heute und in all den Tagen meines Lebens mit angesehen hatte, strömten in meinen Schrei. Das Gebrüll, das aus meinem Mund kam, schwoll an, wurde ungeheuerlich, heiser, primitiv und gewaltig. Es war kein menschlicher Schrei, nein; es waren Laut gewordenes Elend und Hoffnung, die mit der Wucht eines Orkans explodierten. Vom Rund der Arena zehnfach verstärkt, fegte dieser Schlachtruf über einen Rang nach dem anderen, und ich schwöre, dass selbst die Banner und Zelte in den Logen der Bayen unter seiner Wucht erzitterten.
Re bäumte sich auf und schüttelte den Kopf. Seine gewaltigen Kinnlappen schwangen hin und her, und das Stadion erzitterte unter seiner Erwiderung. Er kauerte sich zusammen, ehe er in die Luft sprang, die Schwingen ausgebreitet, Hals und Schnauze in den Himmel gerichtet, den Torso ungeschützt, die Hinterbeine ausgestreckt, zur Vorbereitung auf die Landung.
Es war eine verletzliche Pose, diese aufrechte Haltung, bei der er Bauch und Hoden ungeschützt präsentierte und die auch seine entfalteten Schwingen angreifbar machte. Ein Leben in Gefangenschaft hatte Re leichtsinnig werden lassen, hatte seine Dschungelinstinkte geschwächt, die Erinnerungen der Drachengesänge gedämpft. Sein Blutdurst, kombiniert mit seinen durch Wiederholungen verstärkten Erfahrungen in der Arena, hatte ihn geblendet, ließ ihn die Gefahr nicht erkennen, da er seine Schwingen im Kampf entfaltete.
Ich jedoch war nicht leichtsinnig.
Durch die uralten Erinnerungen der Drachen, die ich in der Gewölbekammer der Viagand durchlebt hatte, hatte ich nur mit angelegten Schwingen gekämpft, wie ein frisch geschlüpfter Drache, dessen Schwingengelenke nur weicher Knorpel waren. Durch diese Drachenerinnerungen hatte ich gelernt, im Bodenkampf niemals meine Schwingen auszubreiten, weil sie sonst von einem Gegner gebrochen werden konnten.
Und ebenfalls aus den Drachengesängen besaß ich die Erinnerung eines Kampfdrachen, der dazu ausgebildet war, im Flug auf die verletzlichen Schwingen seiner Widersacher zu zielen, die Haut von den Knochen zu reißen und die Gelenke mit einem gut gezielten Tritt seiner Klauen zu zerstören.
Ich hatte keine Klauen, und ich war kein Drache. Aber ich hatte Donos Poliar.
Ich stolperte auf Re zu, der mir entgegenglitt, mit ausgestrecktem Hals, die Hinterbeine zur Landung vorgestreckt, die Schwingen ausgebreitet. Bei jedem Schritt, den ich tat, schienen scharfe Eisscherben schmerzhaft durch meinen Oberkörper zu schneiden. Es fühlte sich an, als ob die zerbrochenen Enden meiner Rippen meine Eingeweide aufschlitzten.
Ich packte den Poliar fester, konzentrierte mich darauf, weiterzulaufen, nicht über Steine zu stolpern, konzentrierte mich auf diese gelbbraunen Schwingen, die sich wie die Segel eines Schiffes in der Luft entfaltet hatten.
Ich scheute nicht vor Res Zunge zurück, wie es der Drachenmeister getan hatte, am Vortag, bei seinem wahnsinnigen Angriff auf den Bullen. Nein, ich lief weiter, während mich Res lederner Gestank einhüllte, sein massiger Leib über mir schwebte und seine purpurnen und grünen Schuppen strahlend schillerten. Staubwolken erhoben sich, erstickten mich, und dann rannte ich blindlings weiter, zwinkerte hastig.
Zu spät erkannte Re meine Absicht. Zu spät durchzuckten Instinkt und Drachenerinnerung die Kampflust, die in ihm brannte. Als seine Hinterbeine auf dem Boden landeten, die gewaltigen Krallen die Erde zerfurchten und noch mehr Staub aufwirbelten, versuchte er, seine Schwingen anzulegen und mir mit seinem gewaltigen Körper seitlich auszuweichen.
Der Staub drohte mich zu ersticken. Alles war Lärm, Chaos, blitzende Schuppen. Eine Schwinge in der Farbe sonnendurchfluteten Bernsteins tauchte unmittelbar vor mir auf, die schwarzen Schwingenkrallen waren gekrümmt.
Ich ließ meinen Poliar mit aller Kraft auf den Flügel herabsausen, auf das besonders empfindliche Gelenk, das sich etwa im ersten Drittel der Schwinge befand. Re brüllte erneut, und auch ich schrie vor Schmerz bei dieser heftigen Bewegung und ließ meinen Poliar los. Re schwang herum, sank auf alle vier Beine und zog seine versehrte Schwinge nach.
Im nächsten Moment tauchte ich unter ihn, taumelnd vor Schmerz, und begann die verachtenswerte Arbeit einer Drachenhure.
Das Ding muss sich über dir bewegen, heho! Und lass dir nicht so viel Zeit! Glaubst du, Re wird stillstehen, während du das machst? Du musst ran und weg, ran und weg, sonst wirst du zertrampelt!
Eierkopfs Stimme hallte durch meinen Kopf, als Krallen sich neben mir bewegten, als Res Bauch über meinen Rücken kratzte. Sein Geruch war unvergesslich: Dung und Moschus, wiedergekäute Nahrung und Samen, heißes Leder und Drachengift. Es war ein obszöner, erdiger, wilder Geruch.
Ich breitete die Arme so weit aus, wie ich konnte, und umarmte den stinkenden Hodensack, rieb meinen Körper an seiner ledernen Wärme. Vor Schmerz waberten rote Schleier vor meinen Augen. Ich glaube, ich schrie.
Ein zitterndes, muskulöses Bein stampfte eine Handbreit von meinem rechten Fuß entfernt auf den Boden. Die Kraft dieses Aufpralls ließ den Boden erzittern und schien mich hochzuheben; mein gesenkter Kopf krachte mit voller Wucht gegen Res pralle Hoden, und mein Hals knirschte schrecklich.
Der Zusammenprall machte mich benommen, und ich verlor einen Augenblick die Orientierung.
Ein ledriges Knie prallte gegen mich, und ich kreischte vor Schmerz. Dann war alles Staub, Krallen blitzten, und plötzlich verschwand diese gewaltige Masse, unter der ich mich duckte, da Re sich umdrehte, und ich stand ungeschützt und verwirrt vor ihm.
Er brüllte. Ein warmer Windstoß, der nach Gift stank, fegte mir ins Gesicht. Gift sprühte über mich, es pfefferte meine Haut mit winzigen Tropfen, die zu strahlen schienen, bevor sie sich mir bis ins Mark brannten.
Ein gewaltiges Maul mit riesigen Zähnen öffnete sich vor mir.
»Heho, Bulle! Heho!« Es war der heisere, wilde Schrei des Drachenmeisters, dem das Knallen seiner Bullenpeitsche folgte, die direkt auf Res Schnauze landete. Das Maul schwenkte von mir ab. Die Peitsche landete erneut hart auf dem Maul. Re brüllte wütend und schwang seine Schnauze zum Drachenmeister herum, der gefesselt und angekettet vor ihm stand, Donos Peitsche in beiden Händen.
Re würde uns beide umbringen, wenn die Onahmes nicht bald herausgelassen würden.
Ich holte tief Luft, atmete körnigen Staub ein und duckte mich wieder unter den Bauch des wütenden Bullen.
Meine Welt reduzierte sich, schmolz zusammen, bestand nur noch aus dem ledrigen Gestank der Drachenhaut, dem sauren Moschusgeruch des schuppigen Hodensacks, dem körnigen, erstickenden Staub, dem Blitzen der Krallen und dem Druck des Drachenbauchs gegen meine Schultern, meinen Rücken und Kopf. Ich umarmte wieder diese stinkenden Hoden, wurde herumgeschubst und gestoßen, landete auf dem Boden, stand auf und umarmte erneut die Bullenhoden. Wäre das Gift nicht über mich gespritzt, wäre ich dazu nicht in der Lage gewesen, aber das Reiben der zerbrochenen Rippen in meinem Brustkorb und die heftigen Stöße waren durch das Drachengift erträglich geworden.
Aus dem Augenwinkel sah ich, durch eine rote Staubwolke, wie Res gewaltige Zunge auf der Brust des Drachenmeisters landete. Der Komikon segelte durch die Luft und landete mit einem lauten Krachen auf dem Boden, flach auf dem Rücken.
Doch statt aufzuspringen, um den liegenden Komikon mit dem Maul zu packen und ihn zu zerfetzen, richtete sich Re auf die Hinterbeine auf, reckte seinen langen Hals in den Himmel, und ich stand erneut ungeschützt da, direkt vor den Füßen dieses mit gewaltigen Reißzähnen bewaffneten, machtvollen Biests. Seine großen Kinnlappen blähten sich über mir auf wie schimmernde Segel, und er trompetete. Sein lustvoller Schrei ließ meinen ganzen Körper vibrieren; und einen Moment lang hörte ich das Lied der Drachen.
Dann rammte etwas Nasses, Heißes meine Brust, und ich starrte auf Res gegabelten, rotgefleckten, rosa Phallus. Ich stolperte angewidert zurück, drehte mich um und humpelte hastig von ihm weg, taumelte, als der Boden unter seinem triumphierenden Brüllen bebte.
Es war mir gelungen! Ich hatte den Bullen erregt.
Die eisernen Gitter vor den Stallungen der trompetenden, nach Pheromonen stinkenden Onahmes wurden hochgezogen. Ich sah mich erschöpft um, versuchte mich zu orientieren, sah die Öffnung des Gangs, durch welchen die Schüler und ich gekommen waren, und stolperte darauf zu.
Vor Schmerz verschwamm mir alles vor den Augen. Ich humpelte, keuchte, hielt den Blick starr auf den muffigen Tunnel gerichtet. Hinter mir strömten die Onahmes ins Stadion. Ihre heftigen Schwingenschläge entfesselten einen wahren Sturm. Das unmenschliche Brüllen der Zuschauer verzerrte sich noch mehr.
Etwas traf meine Schulter, ein Stein, eine Sandale, ich weiß es nicht. Ich stolperte. Dann traf mich erneut etwas, dann noch etwas. Ich sank auf die Knie. Schwankend starrte ich auf den Tunneleingang, der noch so weit entfernt war. Weiße Gestalten glitten aus seinen Tiefen.
Inquisitoren.
Ich versuchte, mich aufzurichten. Aber meine Beine gehorchten mir nicht mehr, und der Schmerz in meinen Rippen strahlte in meinen ganzen Körper aus. Ich sank nach vorn, auf meine Hände. Mit hängendem Kopf schnappte ich nach Luft; sie war zu heiß, zu grausam für meine Lungen. Ein Hagel von Gegenständen prasselte auf meinen Rücken herab.
Dann sah ich etwas Weißes vor mir: Den Saum eines Gewandes.
Ich hob den Kopf, folgte dem Gewand nach oben, wo der Schleier eines Inquisitors wehte. Hinter der gesichtslosen Kreatur stand noch eine andere. Eine von ihnen hatte eine Axt in der Hand. Einen Moment lang schien mir, dass sie die scharfe Schneide nach hinten hielt, weg von mir, in den Himmel. Aber dann krachte die Axt auf meinen Hals, und ich verlor das Bewusstsein.
Alles war schwarz.
In dieser Schwärze hörte ich ein Brüllen. Das blutrünstige Gebrüll der Menge. Ah, dachte ich. Ich hatte Geschichten gehört, dass Enthauptete noch mehrere Herzschläge lang Geräusche und Visionen erlebten, nachdem ihnen der Kopf schon heruntergeschlagen war.
Die beiden Inquisitoren packten meinen Leichnam und zerrten mich durch die von Krallen aufgewühlte Arena zum Gang, während mein Kopf von dem halb durchtrennten Hals auf meine Brust herunterhing.
Ich erinnerte mich verschwommen daran, wie Prinrut aus der Gewölbekammer der Viagand und aus meinem Leben gezerrt worden war, erinnerte mich daran, wie ihre nackten Füße über den Boden geschleift waren, so wie jetzt meine.
Wieder wurde alles schwarz.
Dann wurde es hell.
Es war das Licht von Feuer, von einer blakenden Fackel. Ich sah mich erschöpft um, verwirrt, schmerzerfüllt, würgend.
Ich befand mich in dem muffigen, dämmrigen Gang der Arena. Das gedämpfte Brüllen der Zuschauer schwoll an, ebbte ab, und Onahmes trompeteten.
Zwei Inquisitoren lagen auf dem Boden des Gangs; die Kragen ihrer weißen Gewänder färbten sich rot. Neben ihnen lagen zwei Wachen der Arena, mit trüben Augen, während das Blut aus ihren Halsschlagadern strömte. Ich erkannte die verschlungenen Gesichtsnarben und die Zahnlücke eines der Wächter.
Ich hob matt den Kopf.
Vor mir hing der Drachenmeister schlaff in den Armen zweier Inquisitoren. Die Schwellung vom Gift der Drachenzunge auf seiner Brust war so dick und lang wie mein Arm. Er murmelte, während der Speichel ihm in Fäden über die schlaffen Lippen troff und sein Kopf willenlos hin und her pendelte. Seine Augen waren weit aufgerissen.
»Sie wollen Nashe«, schrie er, dann sank sein Kopf wieder auf seine Brust, und er wurde von Krämpfen geschüttelt.
»Wir müssen es ihm abwischen!«, blaffte einer der Inquisitoren. Er riss am Saum einen Fetzen von seinem Gewand ab, wickelte ihn sich rasch um die Hand und wischte das zähe Gift von der zuckenden Brust des Drachenmeisters.
»Das genügt. Er hat schon Schlimmeres überstanden. Nehmt das Mädchen und lasst uns verschwinden, rasch! Wir haben nicht viel Zeit.«
Ich starrte den Inquisitor an, als er den von Gift verklebten Fetzen Stoff von seiner breiten Hand schüttelte. Sie war nicht kalkweiß, diese Hand.
Und ich war nicht tot, mein Hals kein blutender Stumpf.
Der Inquisitor beugte sich über mich. Ich schrie auf, als er und sein identischer Gefährte mich aufrichteten.
»Schon wieder bei Bewusstsein? Nach dem Schlag, den ich dir versetzt habe? Großer Drache, Babu, du hast Muskeln aus Stahl!«
»Drachenjünger Gen!«, keuchte ich.
»Sprich den Namen nicht laut aus, Mädchen. Nicht, ehe wir hier verschwunden sind.«
»Ihr habt mich geholt.«
»Natürlich hab ich das. Tut mir leid, das mit dem Axthieb. Aber es musste echt wirken, heho!« Er berührte sanft meinen Nacken. »Ich glaube nicht, dass ich dich zu hart getroffen habe. Aber du wirst ein paar Tage heftige Kopfschmerzen haben, darauf wette ich.«
Wette.
Ich erinnerte mich an alles.
»Xxamer-Zu?«, keuchte ich.
»Gehört dir, Mädchen, gehört dir. Malaban Bri hat sich durchgerungen, so wie am Ende auch Ghepp. Ich kann mir vorstellen, dass Ghepp sich in diesem Moment das Land von Roshu Xxamer-Zu überschreiben lässt.«
Ich schloss die Augen. Schluckte. Verlor kurzzeitig das Bewusstsein. Der Schmerz in meinem Brustkorb war so scharf, als würden gezackte Messer meine Rippen durchtrennen, und das Übelkeit erregend Pochen, wo mich Gen mit dem stumpfen Ende seiner Axt getroffen hatte, war schrecklich.
Aber ich hatte es geschafft. Ohne die Macht des Geistes hatte ich die Arena überlebt. Und ich hatte mir eine Brutstätte gesichert.
»Gebt mir ein bisschen Gift von diesem Stofffetzen«, bat ich Gen.
Der Drachenjünger zögerte, knurrte schließlich: »Aber nur ein bisschen, gegen den Schmerz. Nur ein kleines Bisschen.«
Das Brennen in meinem Mund kam von dem Feuer des Himmlischen Reiches. Es durchströmte mich, erfüllte mich mit der Kraft des Drachen, mit einer außerweltlichen Hoffnung.
Ich erinnerte mich an den Geist meiner Mutter, erinnerte mich daran, dass ich Waivia in Kratts Loge in der Arena gesehen hatte.
Wie hatte der Geist meiner Mutter meine Schwester gefunden? Warum, vor allem, war ihm das nicht schon Jahre früher gelungen?
Ich wusste es nicht.
Ebenso wenig wusste ich, was diese bizarre Wiedervereinigung von Mutter und Tochter für die Zukunft bedeutete. Dass meine Schwester die Wai-Ebani Waikar Re Kratts war, eines Mannes, der von einer starken Gier nach Macht getrieben wurde und dem ebenso großen Verlangen, anderen Schmerzen zuzufügen, verhieß nichts Gutes für Brutstätte Re. Aber Waivia würde sicher nicht an der Seite dieses sadistischen Kriegerfürsten bleiben, wenn sie die Macht des Himmelswächters hinter sich hatte. Ganz sicher nicht.
Aber selbst wenn sie es doch tat, konnte mich das nicht betreffen, da ich sicher und anonym in der Brutstätte Xxamer-Zu leben würde.
Ganz bestimmt.
Ich seufzte müde auf und nickte Drachenjünger Gen zu.
»Gehen wir also nach Xxamer-Zu«, sagte ich. »Machen wir uns auf den Weg nach Hause.«