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Drachenjünger Gen reiste nach Lireh, in die Hauptstadt an der Küste, auf einem geflügelten Drachen, den er, wie er mir später verriet, mitten in der Nacht im Wai Bayen Tempel gestohlen hatte, dem Haupttempel von Brut Re. Er flog sieben Tage ohne Pause und wurde am Morgen des achten Tages von Malaban Bri von Lireh empfangen.
Sieben Tage später erreichte Malaban Bri Brutstätte Re, nachdem er seine fünf Drachen genauso rücksichtslos zum Fliegen angetrieben hatte wie Drachenjünger Gen seinen eigenen. Am Nachmittag segelten sie in einer engen Formation über das Tal Re, und ihre ausgestreckten Flügel schimmerten wie wilder Honig, die grünen und rostroten Schuppen glänzten wie geschliffene Juwelen. Sie hielten direkten Kurs auf die Cafar.
Kratt, das sollte ich viele Monate später erfahren, spielte klugerweise den zuvorkommenden Gastgeber, dessen Wohlwollen Malaban und seine Schwester vereint hatte. Malaban seinerseits spielte vernünftigerweise diese Farce von Kratt mit und erhob keinerlei Anschuldigungen gegen ihn, solange er unter seinem Dach weilte.
Doch wie gesagt, all das sollte ich später erfahren.
Damals wusste ich nur, dass ich ein schreckliches Risiko eingegangen war und der Calim Musadish sich mit Riesenschritten näherte.
In den Stallungen herrschte reges Treiben während unserer Vorbereitungen für diesen pompösen Aufbruch. Der heilige Re, unser Drachenbulle, würde für seinen Flug nach Fwendar ki Bol, zum Dorf der Eier, fast eine Woche brauchen. Dort erhob sich das große Stadion wie ein kolossales, starres, graues Auge. Wie es die Tradition vorschrieb, würde Re in Etappen fliegen, umringt von Drachenkühen, die ihn auf Kurs hielten.
Das Abbasin Shinchiwouk, das die meisten einfach unter dem Begriff Arena kannten, sollte kurz nach Res Ankunft im Dorf der Eier beginnen.
Es war ein Zeichen der Ungnade des Ranreeb, dass er unseren Calim Musadish so knapp vor dem Beginn der Arena angesetzt hatte. Denn so blieb unserem mächtigen Re nicht viel Zeit, sich vor diesem bedeutungsvollen Ereignis von dem anstrengenden Flug zu erholen, im Unterschied zu den letzten Jahren, wo der Calim Musadish unserer Brutstätte Wochen vor der Arena stattgefunden hatte, so dass unser Bulle viel Zeit gehabt hatte, sein Ziel zu erreichen und sich von der Reise zu erholen.
Während die Diener und Novizen die Zelte vorbereiteten, die Kochgeräte zusammenpackten, die Vebalu-Waffen sowie Futter für die Reise, übten die Veteranen, Re aus seiner Stallung auf das Ausbildungsfeld zu schaffen. Während dieser Zeit schwitzte ich wie verrückt mit dem Drachenmeister, wich den Schlägen seines Prügels aus, parierte seine Angriffe mit dem Poliar und übte meinen besonderen Trick mit meinem Vebalu-Umhang.
Derweil grämte ich mich unaufhörlich.
Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, ob Drachenjünger Gen vor seinem anstrengenden Flug an die Küste mit Rutkar Re Ghepp hatte sprechen können, und malte mir immer wieder im Geiste den Wortwechsel zwischen den beiden Männern aus: Der Drachenjünger in seiner verschlissenen, schmutzigen Tracht, der von der Prophezeiung und Perfidie redete, während er seinen halb geschorenen Schädel schüttelte; und ihm gegenüber Ghepp, ein behüteter, zielstrebiger, pragmatischer Mann, der mit unverhohlenem Unglauben den Worten des Heiligen Hüters lauschte. Zweifellos hatte er Drachenjünger Gen davongejagt, ihn als Wahnsinnigen beschimpft.
Falls Gen jedoch seine Worte wohl gesetzt hatte, war es ihm vielleicht gelungen, Ghepps Skepsis zu durchdringen und den Teil des Mannes zu erreichen, der immer Ränke schmiedete, zurückzugewinnen, was rechtmäßig das seine war, wäre da nicht die glühende Zuneigung gewesen, die sein Vater einer Ebani gegenüber gezeigt, und der Stolz, mit dem er den Erben behandelt hatte, den sie ihm gebar.
Es hing sehr viel davon ab, wie Kratt jetzt seine Karten ausspielte, wie wirkungsvoll er den Tempel umwarb, während sein Vater ausgemergelt und komatös an der Schwelle des Todes schwebte. Dass Kratt mich aufgegeben hatte, dass er mich nicht mehr für die Tochter des Himmelswächters hielt, war gewiss. Nach seinem Besuch in dem vorgeblichen Mobasanin und seiner anschließenden Befragung Misutvias hielt er seine Chancen für sehr gut, das Geheimnis, wie man Bullen in Gefangenschaft züchten konnte, in Erfahrung zu bringen, ohne die Bürde auf sich zu nehmen, sich auf einen verrückten Drachenmeister und eine Ausgeburt von Schülerin verlassen zu müssen.
Ich konnte mir Kratts Diskussion mit Daron Re ganz ausgezeichnet vorstellen, konnte mir die Flut von Nachrichten ausmalen, die zwischen ihm und dem Ranreeb hin und her transportiert wurden. Konnte mir auch denken, wie der Ranreeb seinerseits mit dem Ashgon selbst beriet, wie mit Kratt zu verfahren wäre, einer gefährlichen Waffe, die, wenn sie losging, dem von Erschütterungen bereits ausreichend geplagten Tempel noch weiteren Schaden zufügen könnte.
Würde der Tempel ihn umbringen? Eher nicht.
Kratt hatte zahlreiche Verbündete in ganz Malacar und sie zweifellos darüber informiert, er wäre in der Lage, das Geheimnis der Bullenzucht zu lüften. Folglich beobachteten alle sein Schicksal sehr genau. Nein, der Tempel würde ihn nicht umbringen. Es war besser, einen solchen Feind unter seine Fittiche zu nehmen und ihn einen Verbündeten zu nennen, jedenfalls in dieser Zeit, in welcher die Fundamente des Tempels Risse aufwiesen.
So grübelte ich, konnte in der Nacht aus Furcht vor dem, worauf ich mich eingelassen hatte, kaum schlafen. Die Ausrüstung wurde verpackt, Sättel vorbereitet, und die Veteranen übten für den kurz bevorstehenden Tag, an dem sie mit den Drachenkühen aus der Stalldomäne fliegen würden, zusammen mit Waikar Re Kratt, seinem Halbbruder Ghepp, Daron Re und einer Klaue voll einflussreicher Re Bayen.
Doch dann geschah am Tag vor dem Calim Musadish etwas Unvorhergesehenes. Unerwartet deshalb, weil es wegen seines ungünstigen Zeitpunktes alle überrumpelte.
Die Neuigkeit verbreitete sich rasend schnell, eilte wie ein Lauffeuer durch unsere Brutstätte. Ein lautes Wehklagen erhob sich im Tal Re und hallte von den Bergflanken wieder. Hunde heulten; dunkle Wolken schoben sich vor die Sonne; Affenhorden heulten in den Sesalfeldern, während Raubkatzen wie abgestochene Schweine quiekten. Männer schlugen sich an die Brust und bedeckten ihre Leiber mit heiliger Asche, Frauen blieben in ihren Langhäusern und drückten ihre Kinder fest an sich.
Der Vater von Waikar Re Kratt und Rutkar Re Ghepp war im Schlaf gestorben. Roshu-Lupini Re war tot.
Also musste ein Erbe des Drachensitzes bestimmt werden.
Die Ernennung wurde jedoch verschoben.
Daron Re erklärte, dass seine mentalen, spirituellen, emotionalen und körperlichen Fähigkeiten ausschließlich auf den Calim Musadish gerichtet wären, den Abstieg ins Tal. Er würde also erst nach der Arena verkünden, wen der Ashgon als Herrn über Brutstätte Re eingesetzt hatte.
Er würde es also erst verkünden, wenn ich von den Klauen Res in Stücke gerissen und der Drachenmeister, der mir beigestanden hatte, entsprechend öffentlich ausgeweidet und enthauptet worden war.
Erst dann und wenn auch Kratt sich von mir losgesagt hatte, erst dann würde der Tempel ihn auf den Thron des Kriegerfürsten von Brut Re setzen.
Dafür jedoch war zunächst einmal mein Tod vonnöten.
Das bereitete mir erneut Kummer, denn wenn ich nicht in der Arena starb und Kratt folglich nicht die Gelegenheit bekam, sich öffentlich von mir zu distanzieren, würde der Tempel Brutstätte Re seinem Bruder Ghepp übergeben. Doch wer sollte dann an meiner statt Brut Xxamer-Zu regieren?
»Das ist Wahnsinn, blanker Wahnsinn«, schäumte der Drachenmeister. »Alles ist verdreht und undurchsichtig!«
Ich sehnte mich nach dem beherzten Glauben Drachenjünger Gens, nach der stärkenden Gegenwart des exzentrischen Hüters.
Aber er war unterwegs, schon lange, und erwartete den Tag der Arena in der Sicherheit von Malaban Bris Anwesen, an der Küste unseres Landes.
Er wusste nichts vom Tod des alten Roshu-Lupini Re.
Calim Musadish.
Der Abstieg ins Tal.
Obwohl die Morgenröte den aschgrauen Himmel erst leicht verfärbt hatte, klang das Murmeln der Menschenmenge, die sich vor der Sandsteinmauer um die Stalldomäne versammelt hatte, wie das Rauschen eines von der Flut geschwollenen Flusses. In den Stallungen trompeteten Drachen, brüllten Eierkopf und Ringus Befehle, umschwärmten Diener und Novizen die Drachenkühe, fixierten ihre Schwingen, pflegten sie, sattelten sie, hielten sie mit Beinfesseln und Maulstöcken ruhig.
Ich stand vollkommen reglos in dem ganzen Tumult. Man hatte mich in Fuß- und Handschellen gelegt, durch die eine Kette lief, die an einem breiten Lederhalsband endete. Ich konnte Letzteres zwar nicht sehen, aber ich spürte den Metallring sehr deutlich, der unter meinem Kinn saß, denn jedes Mal, wenn ich den Kopf drehte, rutschte die Kette durch den Stahl, und ihr Rasseln vibrierte in meiner Kehle.
Waikar Re Kratt hatte darauf bestanden, dass ich auf diese Weise zur Arena transportiert würde. Er wollte mich ganz offensichtlich nicht mehr unterstützen.
Eine Cafar Wache hielt das Ende meiner Kette in seiner Faust. Ich konnte einfach nicht aufhören zu zittern.
Als jedes Reittier, das der Drachenmeister ausgesucht hatte, gesattelt, gefesselt und mit einem Maulstock gesichert war, führten die Diener diese Drachenkühe zum Sammelpunkt, von dem sie sich erheben würden: dem Ausbildungsfeld. Die Prozession war chaotisch, weil die aufgeregten Drachen mit ihren Schweifen schlugen, scheuten, die Schnauzen hochwarfen und bockten. Ringus führte diese Schar nur durch bloße Willenskraft.
Die Wache zog an meiner Kette, obwohl das unnötig war. Ich wusste sehr genau, dass wir aufbrachen. Gefesselt und am ganzen Körper bebend, wurde ich an das Ende der Parade geführt. Ich atmete unregelmäßig, zu schnell, was meinen Lungen nicht gut bekam.
Wir durchquerten einen Stallhof, dann den nächsten. Die Drachen, die noch in ihren Stallungen warteten, trompeteten und schlugen vor Aufregung ihre gewölbten Schädel gegen Tore und Wände. Um mich herum herrschte ein Getöse. Die Luft war aufgeladen von dem Geruch der aufgewühlten Drachen – dem Geruch von frischem, dampfendem Dung und dem beißenden Aroma des Giftes.
Schließlich erreichten wir das Ausbildungsfeld.
Und dort, in der Mitte des Feldes, umgeben von allen Veteranen des Drachenmeisters, und so stark gefesselt, dass seine Schnauze, seine Schwingen, die Hinter-und Vorderbeine wie Metallketten aussahen, stand Re.
Ich schrie auf, als ich seine Größe wahrnahm.
Er war gewaltig, wunderschön und strahlte rohe Kraft aus. Er maß fast sechs Meter an der Schulter, seine gewaltigen, braunen Schwingen waren über seinem Rückgrat gefaltet und mit Messingbolzen versehen. Der große Drachenbulle schimmerte wie ein Hügel aus Smaragden und Amthysten. Bei jedem Zucken in seinen muskulösen Hinterbeinen schimmerten die Schuppen auf, als hätte jede einzelne von ihnen die Sonne eingefangen.
Sein Kopf und Hals waren ebenfalls gefesselt, mit etlichen, dicken Tauen, und an einen der Pfosten gebunden, die in den Boden eingelassen waren. Sein gesenkter Hals vermittelte den Eindruck, als würde er einen Kotau machen. Da sein Maul so dicht über dem Boden schwebte, schleiften seine Kinnlappen über die Erde. Sie glitzerten milchig rosa und blau, trotz des roten Staubes um ihn herum. Die majestätischen Geruchsfühler, die sich in schillernden, gefiederten Sträußen über seinem gewölbten Schädel erhoben, schwenkten in die Richtung der Parade der Drachenkühe, die jetzt das Feld betraten. Sein dünner Schweif mit der rautenförmigen Membran an der Spitze zuckte durch den Staub wie eine gewaltige, aufgeregte Schlange.
Obwohl seine Schnauze fest in einem mit Edelsteinen übersäten Maulkorb steckte, trompetete Re.
Das Geräusch signalisierte blanke Wut. Sein Brüllen fegte wie ein Sturm über meine Haut und blies mir den Verstand aus dem Kopf.
Unter den Drachenkühen brach kurz Panik aus, als sie den großen Bullen sahen und hörten. Der Boden unter meinen Füßen bebte. Erdbrocken flogen in alle möglichen Richtungen durch die Luft, Schaum troff aus den Schnauzen, Peitschen knallten, und Haken schimmerten in Nüstern, als die Reittiere eingefangen und ruhig gehalten wurden. Ein Novize wirbelte herum und rannte zurück, zu der Hütte der Schüler. Ich wusste nicht, wo er sich verstecken wollte, denn es gab kein Entkommen. Selbst wenn er versucht hätte, die Stalldomäne zu Fuß zu verlassen, hätte die aufgewühlte Menge ihn zerfetzt, weil er versucht hatte, vor seinem von Re erwählten Schicksal zu fliehen.
Diese Drachenkühe waren Kampfdrachen, ausgebildet, ohne zurückzuschrecken in einen Mahlstrom aus zuckenden Krallen und rauschenden Schwingen zu fliegen; ihre Ausbildung hatte sie ausgezeichnet geschult. Denn schon nach kurzem Tumult beruhigten sie sich wieder, und Ringus konnte die Prozession weiterführen, bis sie sich aufteilten. Die einzelnen Drachenkühe wurden zu den Pfosten im Boden geführt und nacheinander dort angebunden.
Während die Novizen die Ausrüstung an den Reittieren befestigten, ging der Drachenmeister zwischen ihnen umher und gab Anweisungen. Eierkopf und Ringus blieben bei den Dienern, um weitere Drachenkühe für den Flug vorzubreiten. Re war umringt von Veteranen, die mit Peitschen, Maulstöcken, Blaspfeilen und zusätzlichen Schwingenbolzen ausgerüstet waren, beobachtete das alles bebend vor Erregung und wirbelte mit seinen Nüstern, die dicht über dem Boden schwebten, Staubwolken auf.
Ich konnte meinen Blick nicht von ihm losreißen, war fasziniert von seinen gefährlichen, gekrümmten Krallen. Jede einzelne von ihnen war mindestens halb so lang wie mein Unterarm. Selbst wenn eine mich nur streifte, könnte sie mich ausweiden.
Es wurde Mittag, die Hitze stieg, und die Fliegen summten umher. Waikar Re Kratt und sein Gefolge auf dem Flug zur Arena tauchten vor der Sandsteinmauer auf, unter großem Jubel der Menschenmenge. Ich wusste natürlich nicht, dass es Kratt war, bis eine kleine Seitentür in der großen Mauer um die Stalldomäne am Ende des Ausbildungsfeldes geöffnet wurde. Obwohl ich weit von ihm entfernt war, sah ich im selben Moment, dass Kratt durch diese Tür schritt. Sein Haar glänzte in der Sonne wie gesponnenes Gold. Er folgte Daron Re, der als Erster durch die Pforte geschritten war. Sein weißer Umhang war so strahlend wie die Brust einer Taube, und auf dem Kopf trug er einen Dreispitz mit den wippenden Bullenfühlern.
Rutkar Re Ghepp duckte sich als Dritter durch die niedrige Tür. Sein schwarzes Haar bot einen starken Kontrast zu dem blonden seines Halbbruders. Nach einer Reihe von Drachenjüngern und Bayen trat als letzte eine mit Kapuze und Schleier verhüllte, ganz in Weiß gekleidete Gestalt durch die Pforte.
Ich stöhnte unwillkürlich. Ein Inquisitor.
Der Mann ließ seinen Blick über das riesige Ausbildungsfeld gleiten, das vor Geschäftigkeit brodelte, bis seine Augen auf mir ruhten. Er kam auf mich zu, glitt über den aufgewühlten Boden, als würde er vom Wind über das Wasser getrieben.
Als er mich erreichte, streckte er der Cafar Wache seine kalkweiße Hand entgegen. Der Soldat reichte ihm das Ende meiner Kette, ohne die Hand des Tempelhenkers zu berühren, und trat dann mehrere Schritte zurück.
Ich schwöre, dass die Kettenglieder um meinen Hals kalt wurden. Mir brach eiskalter Schweiß aus, und ich starrte über das Feld, versuchte den großen Säbel zu ignorieren, der an der Taille des Inquisitors hing.
Schließlich waren alle Reittiere bereit, mit Futter und Ausrüstung beladen oder gesattelt. Jeder Bayen und jeder Heilige Hüter, der die Ehre hatte, Re auf seiner langen Reise begleiten zu dürfen, war anwesend. Alle Schüler des Drachenmeisters standen auf dem Feld, und alle Reittiere in den Stallungen waren ebenfalls gesattelt und beladen.
Die Zeit der Abreise war gekommen.
Um mich herum stimmten meine Kameraden die Cinai Komikon Walan Kolriks an, die Gebete der Schüler des Drachenmeisters um Führung durch Re. Meine Lippen bewegten sich wie aus eigenem Antrieb, meine Stimme mischte sich unter das eindringliche Dröhnen, als wäre ich verzaubert. Vereint schienen unsere Stimmen die Kraft eines Sandsturms zu entwickeln.
Anschließend entfernten die Schüler die Fußfesseln und Schwingenbolzen der Drachen und klemmten die Messingfesseln und -bolzen an den Sätteln fest.
Die Drachenkühe wussten, dass sie gleich fliegen würden. Während die meisten angespannt und aufmerksam dastanden, mit zitternden Hinterbeinen, stampften einige der Jährlinge unruhig und ungeduldig hin und her, schlugen mit ihren Schwingen und rissen an den Tauen, mit denen sie an die Pfosten gebunden waren.
Die Bayen näherten sich den Reittieren, sprachen mit ihrem jeweiligen Tier, streichelten die gebundenen Schnauzen mit vertrauter Zuneigung. Erst jetzt begriff ich wirklich, dass diese Drachen nicht dem Drachenmeister gehörten. Überhaupt nicht. Diese einflussreichen und wohlhabenden Bayen waren die Herren dieser wundervollen Tiere; einigen gehörten sogar zwei oder drei, und Waikar Re Kratt war, mit Zustimmung des Tempels, der Wächter von allen, einschließlich des großen Re.
Die Adligen bestiegen ihre Tiere, und die Schüler banden sie los.
Insgesamt dienten vierundfünfzig Schüler in den Stallungen des Drachenmeisters, von denen vierundzwanzig Novizen waren, wie ich. Heilige Wächter stiegen hinter den höchstrangigen Bayen in die Doppelsättel. Die niederen Bayen nahmen Diener mit. Ein berauschter Bayen schien nicht mehr in der Lage zu sein, selbst zu fliegen, und tatsächlich, er nahm hinter einem ausgewählten Veteranen Platz. Diese Ehre fiel an Dono. Einige Drachenkühe wurden gar nicht von Bayen geflogen, sondern von Veteranen. Manchmal ritten zwei auf einem Tier.
Schließlich wurden die niedersten Bayen gebeten, einen oder zwei Novizen hinter sich aufsteigen zu lassen. Der Drachenmeister würde den großen Bullen fliegen, allein. Waikar Re Kratt flog seinen eigenen Kampfdrachen, eine imposante Drachenkuh, deren Zaumzeug mit edel geschmiedetem Metall und kostbaren Juwelen geschmückt war.
Ich musste mit dem Inquisitor fliegen. Kein Bayen würde eine Ausgeburt wie mich mitnehmen.
Unter dem vom Schleier verhüllten Blick des Inquisitors löste die Cafar Wache meine Fesseln, damit ich aufsteigen konnte. Ich zitterte immer noch, als ich meine linke Hand auf den Sattel legte, den linken Fuß in einen Steigbügel stellte und mich hinaufschwang.
Ich nahm sofort die Flughaltung ein, beugte mich nach vorn, über das Rückgrat des Drachen. Das Sattelleder fühlte sich zwischen meinen Schenkeln glatt und von der Sonne erwärmt an. Ich streckte meine gefesselten Hände aus und hielt mich an den Sattelringen an beiden Seiten des Halses des Reittieres fest.
Der Sattel ruckte, als der Inquisitor hinter mir aufstieg. Ich verkrampfte mich, konnte nichts dagegen tun, und zuckte vor seinem Gewicht zurück, als er sich über mich legte. Sein Gewand glitt über meine Seiten wie ein Leichentuch.
Es war merkwürdig, dass ich vorn reiten konnte, während alle anderen Schüler in der hinteren Position saßen. Vielleicht war es ja unschicklich für eine Frau, auf dem Rücken eines Mannes zu liegen. Oder es war nur eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, mein Erscheinen in der Arena zu sichern, zu verhindern, dass ich mich während des Fluges in den Tod stürzte.
Die säuerliche Cafar Wache fesselte meine Fuß- und meine Handgelenke an den Sattel. Dann legte der Inquisitor seine weißen Hände auf meine.
Alle waren aufgestiegen, bis auf zehn Veteranen. Vier von ihnen machten sich daran, Res Schwingen zu lösen. Zwei hockten wartend vor den Fesseln an Res Hinterbeinen, und die restlichen vier standen an den Pfosten, an die Re gebunden war. Der Drachenmeister saß bereits auf dem großen Bullen. Nur sein kahler Schädel ragte noch über Res gewaltigen Schwingen heraus, die er über seinem Rückgrat gefaltet hatte.
Es lag eine ungeheure Spannung in der Luft.
Dann wurde der letzte Schwingenbolzen gelöst. Im selben Moment lösten die Veteranen, die neben Res Hinterbeinen kauerten, seine Fußfesseln, und die vier anderen Veteranen an dem Pfosten lösten die Taue aus den Ringen, die Res Schnauze am Boden hielten. Anschließend rannten die Veteranen geduckt und so schnell sie konnten davon, um so weit wie möglich von Re wegzukommen.
Der Bulle hob den Kopf vom Boden und schüttelte ihn. Die großen Kinnlappen funkelten im Sonnenlicht. Dann bog er den Hals zum Himmel, trompetete, trotz des Maulkorbs, und entfaltete seine gewaltigen Schwingen.
Er hatte mehr als dreizehn Meter Flügelspannweite, aber auf dem Boden wirkte es noch viel größer.
Ein gewaltiger Schrei brandete auf, erregend und aufwühlend. Die Bayen von Brut Re trieben ihre Drachen an, schwangen sich in die Luft. Der Inquisitor über mir brüllte ebenfalls, und die Erregung und Kraft dieses Augenblicks war so berauschend und schrecklich wie der erste Geschmack des Giftes.
Wir erhoben uns in einem gewaltigen Schwarm, sämtliche Drachen auf dem Feld, und der mächtige Re flog in unserer Mitte.
Ich wurde vollkommen von Getöse, Wind, Staub und dem Geruch der Drachen eingehüllt, schloss die Augen und presste mich in den Sattel, umklammerte ihn mit Schenkeln und Händen. Unter mir arbeiteten die gewaltigen Muskeln des Drachen, seine Flanken hoben und senkten sich, wie auch seine Rippen, wenn er Luft holte.
Dann flogen wir, über die Gassen hinweg, in denen sich die Menschen drängten. Es sah aus wie ein Bienenkorb voller wimmelnder Insekten.
Die Reise nach Fwendar ki Bol wurde rasch zur Routine. Auch wenn jede Landung und jeder Start aufregend war, machten die Reittiere ein ums andere Mal der Stalldomäne von Brutstätte Re Ehre. Sie waren beherzte, sehr disziplinierte Drachen, und auch wenn sich der ein oder andere gelegentlich eigensinnig und gereizt verhielt, kontrollierten die Bayen und Veteranen sie mit wundersamer Geschicklichkeit. Falls einer sein Tier jedoch gar nicht zur Vernunft bringen konnte, machte dies der Drachenmeister; mit Geschick, Willenskraft, Djimbi-Flüchen und unbändiger Kraft. Mein Respekt vor diesem krummbeinigen Schecken wuchs noch mehr.
Der große Bulle benahm sich ebenfalls manierlich, obwohl seine vibrierende Kraft und sein wütendes Trompeten den Eindruck hinterließen, dass er nur seine lauernde Wut zurückhielt. Während des Fluges und auf dem Boden behielt der Bulle seinen Maulkorb aufgesetzt, und jede Nacht schlief er an einen großen Pfosten gebunden, der tief in den Boden eingelassen war. Jede Landestelle wies einen solchen Pfosten auf.
Der Flugweg nach Fwendar ki Bol war vor über anderthalb Jahrhunderten festgelegt worden und wurde seitdem jedes Jahr von allen Brutstätten benutzt, die an dieser Route lagen. Jedes Landefeld wurde jedes Jahr brandgerodet, von Schösslingen und Schlingpflanzen befreit und lag an einem Fluss oder einem kleinen See. Die Schüler errichteten Zelte, welche sich Bayen und Drachenjünger jeden Abend teilten und die sie am Morgen wieder abbauten. Wir anderen schliefen auf dem Boden, zwischen den gefesselten Drachen.
Als Frau, verfluchte Ausgeburt und Novizin, wurde ich ständig gemieden. Nur der Inquisitor blieb in meiner Nähe; so stumm wie Nebel. Man gab mir die gesamte Reise über weder zu essen noch zu trinken, obgleich der Inquisitor aß, was ein Novize ihm brachte. Nicht ein Mal zog der Tempelhenker sein langes Gewand aus oder zeigte sein Gesicht, sondern schob sich stattdessen Speisen und Wasser unter dem weißen Schleier in den Mund, durch einen kaum sichtbaren Schlitz zwischen den Falten, unmittelbar unter der Stelle, wo ich sein Kinn vermutete.
Was ich aß, stahl ich aus dem Futtersack unseres Reittiers. Was ich trank, schlürfte ich aus Flüssen und Seen, auf allen vieren neben den Drachen, wenn der Inquisitor mich mit ihnen jeden Abend zum Tränken führte.
Als unsere Drachen schließlich Fwendar ki Bol erreichten, fühlte ich mich schwach, benommen und fast orientierungslos durch die Anstrengungen der Reise und den Mangel an Speise und Trank.
Fwendar ki Bol, das Dorf der Eier, liegt einen halben Tagesflug vor den Außenbezirken von Liru, Malacars Hauptstadt. Umgeben von Sesalfeldern, Obstplantagen und Weinbergen, ist diese ausgedehnte Ortschaft die Heimat von Malacars Nashvenirs oder Bruthöfen.
Nashvenir Re ist ein wundervoller Ort, der sich eines Weinbergs rühmt, einer Obstplantage, die dreimal im Jahr Früchte trägt, und eines Melonenfeldes; ich konnte nichts davon bewundern, weil ich vollkommen ausgelaugt war.
Jede Brutstätte, die etwas auf sich hält, besitzt einen Nashvenir, und die sich das nicht leisten konnten, mieteten einen Teil der Nashvenirs einer wohlhabenderer Brutstätte. In diesen Bruthöfen hielten die Brutstätten die besten jener nicht beschnittenen Drachenkühe, die jedes Jahr in der Arena von einem Bullen gedeckt wurden. Diese Brutdrachen oder Onahmes, wie sie in der Sprache des Imperators genannt wurden, legten exakt zweiundneunzig Tage nach ihrer Befruchtung in der Arena ihre Eier. Welche in Inkubationskarren zu den Brutstätten gebracht wurden, wo die Drachen entweder das Schicksal einer Schwingen-, Zungen-und Giftsackamputation und danach ein Leben in den Brutställen erwartete oder aber der Dienst an einer anderen Stelle auf dem jeweiligen Drachensitz. Ein paar glückliche Drachenjungen behielten ihre Schwingen, Zungen und Giftsäcke und kamen in die Stallungen eines Drachenmeisters.
In Nashvenir Re waren siebzig Onahmes untergebracht. Im Schnitt legte jede Onahme jährlich sechs befruchtete Eier. Bis auf die Klaue voll, die verkauft wurden, und ein oder zwei, welche die Stallungen des Nashvenir auffüllten, wurde der größte Teil dieser vierhundertzwanzig befruchteten Eier nach Brut Re transportiert, um die Herde Res zu vergrößern. Angesichts der vierzig Jahre Lebenserwartung, die ein Brutdrache hatte, und abzüglich der wenigen Jungen, die in den Inkubationskarren vor dem Schlüpfen starben, sicherte ein gut ausgestatteter Nashvenir den Wohlstand einer umsichtig geführten Brutstätte.
Waikar Re Kratt führte trotz seiner vielen Makel diesen Eier-und-Drachen-Teil von Brut Re höchst umsichtig und geschickt.
Am westlichen Ende der Ebene von Fwendar ki Bol erhob sich die Arena wie ein merkwürdiger Monolith. Dort wurden während der Zeit der Arena die Bullen aller Brutstätten untergebracht, in schwer bewachten, unterirdischen Gewölben unter dem gewaltigen Kolosseum. Draußen schmiegte sich ein Labyrinth von Tavernen, Herbergen und eleganten Häusern an seine Mauern, fast wie Untertanen, die ihrem Lehnsherren Tribut zollen. Bis auf die Zeit des Abbasin Shinchiwouk, wenn Horden von Bayen und Rishi diese Häuser und Tavernen überfluteten, standen sie leer. Nur die Familien der Wirte lebten dann dort, die den Rest des Jahres in den Obstplantagen oder den Ställen arbeiteten.
Als Novize stieg ich natürlich weder in einem Haus noch in einer Herberge ab. Ich blieb in den Stallungen des Nashvenir Re, an einen Trog gekettet, aus dem ich ebenso aß und trank wie die Onahme, deren Bestimmung es war, sich mit dem Bullen zu paaren, der mich töten würde.
Der Inquisitor wich mir dabei nie von der Seite.