8

Pine öffnete die Tür zum FBI-Büro in Shattered Rock. Der Eingang war mit einem einbruchsicheren Schloss, einer Sprechanlage und einem Videosystem ausgestattet. Das mochte bei einem so kleinen, abgelegenen FBI-Büro übertrieben erscheinen, doch es gab gute Gründe für die verstärkte Sicherheit. Ende der Siebzigerjahre waren zwei FBI-Agenten in El Centro, Kalifornien, in ihrem ungesicherten Büro mit einer Schrotflinte erschossen worden – von einem Sozialarbeiter, dem die Veruntreuung öffentlicher Gelder vorgeworfen wurde. Seit diesem Vorfall hatte das FBI die Sicherheitsvorkehrungen in allen Büros verstärkt, den größten ebenso wie den kleinsten.

»Guten Morgen, Agentin Pine.«

Carol Blum begrüßte ihre Chefin von ihrem Schreibtisch im Vorzimmer aus. Außer dem FBI-Büro waren in dem zweistöckigen Gebäude eine Anwaltskanzlei, eine Zahnarztpraxis, eine Baufirma und eine Versicherung untergebracht.

Und eine weitere Bundesbehörde, die über die Einhaltung der Gesetze wachte.

Pine trat ein und schloss die Tür.

»Wissen Sie, Carol, wir arbeiten jetzt schon eine ganze Weile zusammen«, versuchte sie es wieder einmal. »Sie können ruhig Atlee zu mir sagen.«

»Sie wissen doch, ich bin mehr für einen professionellen Umgang. Mr. Hoover soll es auch so gehalten haben.«

»Mag sein, aber mein Angebot bleibt bestehen. Und Mr. Hoover war lange vor unserer Zeit FBI-Direktor.«

Pine trug Jeans, dazu einen breiten Ledergürtel mit einer großen, viereckigen Messingschnalle, ein weißes Hemd und darüber eine Windjacke. Im Gegensatz zu ihr war Blum mit einer marineblauen Jacke und einem weißen Faltenrock bekleidet. Dazu trug sie flache Schuhe und Nylonstrümpfe. Ihr Haar war zu einem kunstvollen Knoten gebunden, und sie war dezent geschminkt. Pine fand, dass Blum es gar nicht nötig hatte. Sie sah immer noch blendend aus mit ihren großen smaragdgrünen Augen, die einen lebhaften Kontrast zu ihrem rötlich braunen Haar und ihren hohen Wangenknochen bildeten. Die Frau hatte etwas, was man früher »exotische Ausstrahlung« genannt hätte. Was ihr Verhalten und ihre Einstellung betraf, ließ es sich mit einem Wort zusammenfassen: professionell.

»Ich lege Ihnen die aktuellen Fallakten auf den Schreibtisch. Flagstaff wird heute Nachmittag anrufen; sie wollen aber nur einen routinemäßigen Bericht. Steht alles auf Ihrem Kalender.«

»Danke.«

»Wissen Sie, ich finde es gut, dass Sie nie tricksen, wenn eine Anfrage von oben kommt.«

Pine hob den Blick zu ihrer Assistentin.

»Ich habe in anderen Büros gearbeitet«, erklärte Blum. »Wenn sich ein Vorgesetzter ankündigte, hatten die Agenten es oft sehr eilig, die eine oder andere Akte zum Schein zu aktualisieren, um davon abzulenken, dass sie in Wahrheit auf der Stelle getreten sind.«

»Ich habe davon gehört, Carol.«

»Sie tun das nie.«

»Wozu auch. Ich arbeite an meinen Fällen, um sie aufzuklären, und nicht, um mit Taschenspielertricks den Schein zu wahren.«

»Wie war Ihr Kurzurlaub?«

»Ganz okay.«

»Was haben Sie unternommen?«

»Eine kleine Reise.«

»In eine schöne Gegend?«

»Eher nicht.«

Blums große Augen weiteten sich. »Möchten Sie darüber sprechen?«

»Nicht unbedingt.«

Der erwartungsvolle Ausdruck schwand aus Blums Gesicht. »Möchten Sie einen Kaffee? Ich habe gerade eine Kaffeemaschine für unser Büro besorgt.«

»Da war sicher tonnenweise Papierkram nötig, um die zu bekommen.«

»Normalerweise wäre das so, aber ich hab die Maschine von meinem Geld gekauft.«

»Hey, das ist toll. Dann würde ich gern einen Kaffee aus Ihrer neuen Maschine probieren.«

»Schwarz?«

»Wie immer.«

Pine betrat ihr kleines Büro und schloss die Tür.

Wieder einmal wunderte sie sich über ihre Assistentin. Es passte irgendwie nicht zusammen, dass Blum einerseits auf professionellen Umgang Wert legte, während sie sich andererseits brennend für das Privatleben ihrer Chefin interessierte. Vielleicht wollte sie einfach nur freundlich sein. Obwohl sie nun fast ein Jahr zusammenarbeiteten, hatte Pine nicht das Gefühl, die Frau besonders gut zu kennen.

Wahrscheinlich gilt das auch umgekehrt. Und das ist vielleicht auch ganz gut so.

Sie hängte ihre Windjacke in einen kleinen Schrank, setzte sich an ihren verkratzten metallgrauen Schreibtisch von der Sorte, die das FBI bevorzugte, und fuhr ihren Computer hoch.

Das Bureau war in Sachen Technologie nicht gerade auf dem neuesten Stand; Pines Computer war immerhin schon acht Jahre alt. Manchmal wunderte sie sich beinahe, sich nicht jedes Mal neu ins Internet einwählen zu müssen. Für manche Arbeiten benutzte sie lieber ihren Laptop oder ihr Handy.

Blum klopfte an die Tür und kam mit einer dampfenden Tasse Kaffee auf einer Untertasse herein.

»Haben Sie schon gefrühstückt?«, fragte sie.

»Nein.«

»Haben Sie Hunger? Ich kann schnell ein paar Bagel holen.«

»Nicht nötig, danke.«

»Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages. Ich habe sechs Kinder. Ich weiß, wovon ich rede.«

Pine schaute von der Akte auf, die sie gerade aufgeschlagen hatte. »Ich werd’s mir merken.«

»Gibt es sonst noch etwas?«

Pine wusste, dass Blum gern beschäftigt war, doch sie schaffte so gut wie alles alleine. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Vorgesetzten das spitzkriegten und ihr die Sekretärin strichen. Andererseits mahlten die Mühlen der Bürokratie beim FBI meist langsam. Vielleicht hatte Blum sich bereits in den Ruhestand verabschiedet, wenn man auf die Idee kam, ihre Stelle einzusparen.

»Nein, ich …« Pine zögerte einen Moment, während Blum sie erwartungsvoll anschaute. »Das heißt, da wäre eine Sache. Könnten Sie herausfinden, ob die Buchstaben J und K irgendeine bestimmte Bedeutung haben?«

»Inwiefern?«

»Jemand hat sie dem toten Maultier, das im Grand Canyon gefunden wurde, ins Fell geschnitten. Ich weiß, es ist ziemlich an den Haaren herbeigezogen …«

»Nein, keineswegs.« Blum wirkte mit einem Mal nachdenklich. »Mir fällt da etwas ein. Aber ich möchte erst checken, ob wirklich etwas dran sein könnte.«

Sie ging hinaus. Pine schaute ihr einen Moment lang verwundert nach, bevor sie sich ihren Akten zuwandte.

In der nächsten Stunde beschäftigte sie sich mit verschiedenen ungelösten Fällen, um sich auf ihr monatliches Telefonat mit ihrem Vorgesetzten vorzubereiten. Seit sie hier im Westen war, hatte Pine versucht, Kontakte zu den örtlichen Polizeikräften zu knüpfen. Zudem hatte sie die hier ansässigen indianischen Ureinwohner besucht, die der Region ihren Stempel aufgedrückt hatten. Sich den Respekt dieser Leute zu erwerben, war nicht einfach. Es brauchte viele kleine Schritte, um sich ihnen anzunähern. Immerhin hatte Pine erreicht, dass ihr all jene vertrauten, auf deren Unterstützung sie in ihrem Job angewiesen war, nachdem sie einen Bankräuber gefasst, einen Opiumring aufgedeckt und einen Serienvergewaltiger unschädlich gemacht hatte, der auf dem Stammesgebiet sein Unwesen getrieben hatte.

Sie schob die Fallakten beiseite und trank ihren Kaffee, der stark, aber ein wenig bitter schmeckte. Ihr Blick fiel auf die Wand gegenüber, die immer noch die Spuren eines Faustschlags zeigte.

Es war nicht Pines Faust gewesen, die den Abdruck hinterlassen hatte, sondern die eines Verdächtigen, der in seiner Wut auf sie losgegangen war.

Die zweite Delle, ein paar Zentimeter tiefer, war um einiges größer.

Sie bezeichnete die Stelle, wo der Verdächtige mit dem Kopf voran gegen die Wand gekracht war, nachdem er mit dem Fausthieb sein Ziel verfehlt und Pine die Auseinandersetzung zu einem schnellen Ende gebracht hatte.

Anschließend hatte sie dem benommenen Mann das Knie in den Rücken gerammt und ihm Handschellen angelegt, während Blum, die das Handgemenge gehört hatte, in aller Ruhe hereingekommen war und sich erkundigt hatte, ob Pine einen Kaffee wolle und ob sie den »Vollpfosten« von der Polizei abholen lassen sollten.

Es war Blums Vorschlag gewesen, die Dellen in der Wand zu belassen.

»Manche Leute sind leichter zu überzeugen durch das, was sie mit eigenen Augen sehen«, hatte sie gemeint. »Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte.«

Pine hielt es für eine großartige Idee, und so waren die Spuren der Auseinandersetzung erhalten geblieben.

Der »Vollpfosten« hatte Anzeige gegen sie erstattet und behauptet, Pine habe ihn grundlos attackiert. Daraufhin hatte sie eine versteckte Videokamera mit Tonspur in ihrem Büro installieren lassen, die sie von ihrem Schreibtisch aus bedienen konnte. Sie hatte die Kamera nicht nur zu ihrem Schutz installiert, sondern auch als vorbeugende Maßnahme, falls wieder einmal jemand sie mit einer Lüge drankriegen wollte.

Ihr Handy summte. Sie warf einen Blick auf die Nummer und zog die Stirn in Falten. Bevor sie den Anruf entgegennahm, trank sie einen Schluck Kaffee.

Es war Flagstaff. Früher als gewohnt. Kein gutes Zeichen.

»Pine«, meldete sie sich.

»Roger Avery möchte Sie sprechen, bleiben Sie bitte dran«, sagte eine Frauenstimme.

Roger Avery?

Er war nicht Pines direkter Vorgesetzter, deshalb hatte sie keinen Anruf von ihm erwartet. Avery stand zwei Stufen über ihrem Chef. Er war erst seit sechs Jahren beim FBI, nicht einmal halb so lange wie sie selbst, doch ein Agent konnte heutzutage schon nach drei, vier Jahren in eine leitende Position befördert werden. Pine hatte nie die dafür nötigen Anträge gestellt und sich bisher allen Bestrebungen widersetzt, sie von der Arbeit draußen im Feld in ein Büro zu verbannen. Sie hatte ihre ganz eigene Meinung über die Kollegen in den Chefetagen: Die saßen den ganzen Tag an ihrem Schreibtisch, sagten den Agenten, wie sie ihre Fälle lösen sollten, und gaben ungefragt kluge Ratschläge, während die anderen die Drecksarbeit erledigten.

Mit ihrem direkten Vorgestzten kam Pine ganz gut zurecht, doch Avery empfand sie nicht gerade als angenehmen Gesprächspartner. Lieber hätte sie sich einer Darmspiegelung unterzogen.

Im nächsten Augenblick hörte sie auch schon seine Stimme. »Pine?«

»Ja, Sir.«

»Sind Sie überrascht, dass ich anrufe?«

»Sagen wir mal so: Ich habe mit einem Anruf gerechnet, um meine Fälle zu besprechen. Aber nicht von Ihnen, Sir.«

»Ich bin gern hautnah am Geschehen, deshalb übernehme ich in dieser Woche die Anrufe.«

Hautnah am Geschehen?, ging es Pine durch den Kopf. Bei dir würde jeder Lügendetektor sich vor Lachen kringeln.

»Ich habe den Anruf für heute Nachmittag auf meinem Kalender eingetragen«, sagte sie.

»Ich dachte mir, ich melde mich ein bisschen früher. Aber wenn Sie gerade beschäftigt sind …?«

Das war natürlich nicht ehrlich gemeint. Doch wenn sie ihm sagte, er solle sich verpissen, wäre sie auf der Stelle ihren Job los – das wusste Pine nur zu gut. »Nein, es passt schon«, log sie und griff nach ihren Unterlagen. Doch seine nächsten Worte ließen sie innehalten.

»Ich bin sicher, Sie kommen mit Ihren Fällen gut voran. In dieser Hinsicht gab es bei Ihnen nie etwas auszusetzen.«

Die unausgesprochene Botschaft war eindeutig. Avery hatte nie etwas an ihr auszusetzen gehabt, wenn es um die Ermittlungsarbeit ging, wohl aber in manch anderer Hinsicht. Vor allem hatte er sie wiederholt ermahnt, ihren Übereifer zu zügeln. Doch Pine war der Ansicht, dass verletzte Gefühle kein zu hoher Preis waren, wenn es galt, die Wahrheit ans Licht zu bringen, nicht einmal ein gebrochener Arm.

Der »Vollpfosten«, mit dessen Kopf sie die Wand eingedellt hatte, hatte sie nach Strich und Faden verklagen wollen. Die Klage wurde jedoch abgewiesen, nachdem bekannt geworden war, dass der Mann wiederholt Cops und Zivilpersonen angegriffen hatte.

»Gut zu wissen«, sagte Pine. »Gibt es sonst noch etwas? Ich war gerade im Aufbruch.«

»Wir müssen uns über den Canyon unterhalten.«

Pine beugte sich auf ihrem billigen Bürostuhl vor. Das klapprige Ding hatte keine ordentliche Rückenlehne und keine Armlehnen. Es fühlte sich an, als würde man während eines Erdbebens auf einem Berg aus Wackelpudding sitzen. Wahrscheinlich würde sie sich irgendwann einen Stuhl auf FBI-Kosten zulegen und den Anschiss in Kauf nehmen, weil sie nicht die nötigen Anträge gestellt hatte. Falls die Bürokraten im Bureau unbedingt nach Shattered Rock kommen und ihr auf die Finger klopfen wollten, weil sie sich ein anständiges Sitzmöbel zugelegt hatte – nur zu.

»Über den Canyon?«, fragte sie.

»Das tote Maultier.«

»Ach so, ja.«

»Wie kommen Sie voran?«, wollte Avery wissen.

»Ich habe eben erst die Ermittlungen aufgenommen.«

»Ich weiß. Ich wollte nur ein paar Einzelheiten hören.«

»Ich habe Ihnen doch einen ersten Bericht geschickt.«

»Den habe ich gelesen. Mich interessiert, was seitdem geschehen ist.«

»Nichts. Ich meine … Ich weiß noch nicht, wer es getan hat. Auch nicht, wie oder warum. Aber sonst komme ich gut voran.«

Zu ihrer Überraschung ließ Avery ihr die sarkastische Bemerkung durchgehen. »Benjamin Priest?«, hakte er nach.

Pine hatte bisher niemandem erzählt, dass der Mann, der im Canyon als Benjamin Priest aufgetreten war, gar nicht Benjamin Priest war.

»Ich habe gestern Abend mit seinem Bruder telefoniert.«

»Und was ist dabei herausgekommen?«, fragte Avery geduldig.

Ich glaube, er kennt die Antwort und will von mir eine Bestätigung hören.

»Sein Bruder konnte mir nichts über Capricorn Consultants sagen. Keine Adresse, keine Kontaktdaten. Priest hat anscheinend nie über seine Arbeit gesprochen. Und ich finde keine Hinweise darauf, dass es die Firma überhaupt gibt.« Bevor Avery etwas erwidern konnte, beschloss Pine, den Spieß umzudrehen. »Haben Sie konkretere Informationen, Sir?«

»Ich bearbeite den Fall nicht, Pine. Das ist Ihr Job.«

»Ja, Sir.«

»Was können Sie mir sonst noch sagen?«

Pine beschloss, eine Bombe platzen zu lassen. »Anscheinend interessiert sich die Abteilung Nationale Sicherheit für diesen Fall. Vielleicht wissen Sie mehr darüber …?«

Avery schwieg ein paar Sekunden lang. Pine kamen sie wie eine Ewigkeit vor. Sie hörte nur sein Atmen, in dem Anspannung mitschwang.

Habe ich gerade meine Karriere in den Sand gesetzt?

»Bleiben Sie am Ball, Pine«, sagte Avery schließlich. »Und wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie’s.«

»Ja, Sir.«

»Und … Atlee?«

Jetzt auf einmal »Atlee«? Das wird ja immer verrückter.

»Ja?«

»Sie sollten Ihre Augen vorne und hinten haben.«

Die Verbindung brach ab.

Pine hatte diesen Rat nur ein einziges Mal in ihrer Karriere zu hören bekommen.

Im Zuge eines Falles, bei dem sich später herausstellte, dass das FBI sie, Atlee Pine, überwacht hatte.

Im nächsten Augenblick öffnete Blum die Tür. Offenbar hatte sie gehört, dass ihre Chefin telefoniert hatte.

»Alles in Ordnung, Agentin Pine?«

Pine hob den Blick.

»Ja, alles bestens, Mrs. Blum.«