32

Es goss immer noch in Strömen, als Pine am frühen Abend erwachte. Sie drehte sich auf die Seite und stöhnte, als die Schmerzen sich mit Nachdruck zurückmeldeten.

Mit müden Schritten schlurfte sie zum Bad und nahm eine heiße Dusche. Als sie wenig später die Küche betrat, saß Blum vor dem Laptop, eine Tasse Kaffee neben sich.

»Ihr Gesicht sieht schon viel besser aus«, bemerkte Blum.

»Manchmal trügt der Schein.«

»Möchten Sie auch einen Kaffee? Ich hab gerade eine frische Kanne gekocht.«

»Nein danke.«

»Wollen Sie etwas essen?«

»Gute Idee.«

Pine holte sich einen Joghurt aus dem Kühlschrank, schnappte sich einen Löffel, setzte sich an den Tisch und aß.

»Das ist nicht sehr nahrhaft«, stellte Blum fest.

»Wenn einem ein menschlicher Presslufthammer das Gesicht bearbeitet hat, ist es genau das Richtige. Kauen funktioniert noch nicht so gut. Mit heißen Getränken sollte ich auch noch warten. Der Tee vorhin hat in meiner Mundhöhle einen ziemlichen Aufstand veranstaltet.«

»Hm, verstehe.«

Pine schaute auf den Laptop-Bildschirm. »Haben Sie das Passwort geknackt?«

»Nein. Und ich wüsste auch nicht, wie wir das ohne FBI-Ressourcen anstellen sollen.«

Pine stellte den Joghurtbecher beiseite.

»Versuchen wir doch mal, alles in einen Zusammenhang zu bringen. Also. Ich habe den Speicherstick in einem Basketball gefunden. Zusammen mit einer alten Footballtrophäe. Außerdem waren da noch Sportsocken und ein Basketballtrikot.« Sie hielt einen Moment inne, versuchte sich zu erinnern. »Das Trikot hatte die Aufschrift ›Catholic Church League‹.«

»Die katholische Kirche hat eine eigene Basketballliga?«, wunderte sich Blum.

»Sieht so aus.«

»Welches WLAN-Passwort hat Ihr Freund?«

»Semper Primus«, sagte Pine.

Blum schaute sie fragend an.

»Das ist Latein und bedeutet ›Immer der Erste‹. Das Motto der Army.«

»Okay.« Blum ging online und suchte nach katholischen Kirchen in der Umgebung von Priests Haus.

»Es gibt eine Kirche in der Old Town von Alexandria, gar nicht weit von Priests Haus entfernt. Die Basilica of St. Mary.«

Pine stand auf und zog ihre Jacke von der Stuhllehne.

»Wo gehen Sie hin?«

»In die Kirche. Irgendwo müssen wir anfangen.«

»Soll ich Sie begleiten?«

»Nein. Es ist besser, Sie bleiben hier.«

»Wenn Sie schon einen Ort des Glaubens aufsuchen, werde ich für Sie beten.«

»Kann nicht schaden«, sagte Pine über die Schulter.

Die Basilica of St. Mary in der South Royal Street war die älteste katholische Kirche in Virginia. Die Wucht und Strenge ihrer grauen Steinfassade wurde von vier hölzernen Doppeltüren ein wenig abgemildert.

Der Regen hatte nachgelassen, als Pine mit dem Mustang auf der anderen Straßenseite hielt und sich umschaute. Auf den Bürgersteigen waren nur wenige Fußgänger unterwegs, und ein einzelnes Auto rollte langsam die Straße hinunter, bis die Hecklichter in der Dunkelheit verschwanden.

Das Schild vor der Kirche verriet, dass ihre Anfänge auf das Jahr 1795 zurückgingen. In einer Nische über dem Hauptportal stand eine weiße Marienstatue.

Pine stieg aus, überquerte die Straße und ließ noch einmal den Blick schweifen, ehe sie die Stufen hinaufstieg. Der Eingang zum Gotteshaus war zum Glück nicht verschlossen.

Im Kirchenraum fiel ihr Blick zuerst auf die großen Buntglasfenster mit ihrer Farbenpracht, ehe sie nach vorn zum Altar schaute, der auf einem Marmorsockel ruhte. Darüber war Jesus am Kreuz zu sehen. Auf beiden Seiten des breiten Kirchenschiffs waren Bankreihen angeordnet.

Und nun?

Pine wusste, dass sie hier kaum weiterkommen würde. Es war eher das Eingeständnis ihrer Hilflosigkeit. Der Hinweis auf eine kirchliche Basketballliga war viel zu dürftig und wenig vielversprechend, das wusste sie. Aber der Besuch dieser Kirche war immer noch besser, als untätig dazusitzen oder auf einen Glücksfall zu hoffen. Es gab derzeit keine andere brauchbare Spur, der sie nachgehen konnte.

Sie setzte sich in die erste Reihe und schaute sich um, wie auf der Suche nach irgendeinem Detail, das ihr weiterhelfen konnte.

Ein Geräusch hallte durch das Innere von St. Mary. Pine hob den Blick und sah, wie ein Mann aus einer Tür hinter dem Altar zum Vorschein kam.

Sein weißer Kragen ließ erkennen, dass er Priester war. Er war gut eins neunzig groß und ziemlich jung, vielleicht Ende dreißig, und hatte dichtes rotes Haar und Sommersprossen.

Als er Pine bemerkte, blieb er stehen. »Ich fürchte«, sagte er, »Sie haben die letzte Messe verpasst.«

»Ich weiß. Ich bin zufällig vorbeigekommen und dachte mir, ich schau mal kurz in die Kirche rein, um ein bisschen in mich zu gehen. Ich hoffe, das ist okay.«

»Aber ja. Wir sind offen für alle, die einen Ort der Stille suchen, an dem sie nachdenken und ihren Glauben praktizieren können.«

Er kam näher und erschrak, als er ihr lädiertes Gesicht sah.

»Was ist geschehen?«

»Ein Autounfall vor ein paar Tagen. Ich bin immer noch ein bisschen ramponiert, ich weiß.«

Er musterte sie mit offensichtlichem Zweifel. »Es waren schon öfter Frauen hier, die ähnliche Dinge gesagt haben. Falls es Probleme zu Hause gibt, bin ich gerne bereit, Ihnen zuzuhören. Niemand sollte von einem anderen misshandelt werden. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Wir bieten in solchen Fällen Schutz an. Außerdem sollten Sie daran denken, die Polizei einzuschalten.«

Pine lächelte und hielt ihre unberingte Hand hoch. »Ich bin nicht verheiratet. Außerdem mache ich Kampfsport und weiß mich zu verteidigen. Es gibt nicht viele Männer, die es mit mir aufnehmen können. Ich hatte wirklich einen Unfall.«

»Wenn Sie es sagen. Dann hoffe ich, dass es Ihnen schnell wieder besser geht.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Pfarrer Paul.«

»Ich bin Lee.« Pine schüttelte ihm die Hand.

»Wohnen Sie hier in der Gegend?«

»Nein, ich bin nur zu Besuch hier. Ich lebe im Westen.«

»Dann sind Sie mehr das weite Land gewohnt als die Enge der Stadt, nehme ich an.«

»Kann man wohl sagen. Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen, Herr Pfarrer?«

»Natürlich. Als Pfarrer bekommt man viele Fragen zu hören. Aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich auf alles die richtige Antwort habe.« Er lächelte.

Pine erwiderte sein Lächeln. »Ich glaube, ein Freund von mir gehört zu Ihrer Gemeinde.«

»Wer ist es?«

»Passenderweise heißt er Priest, Ben Priest.«

»Oh, Ben. Ja, er gehört zu uns. Obwohl ich ihn eine ganze Weile nicht gesehen habe.«

»Er hat mir erzählt, dass Sie eine eigene Basketballliga haben.«

Pfarrer Paul lächelte. »Ja, das ist ein Hobby von mir. Wir haben vor zwei Jahren damit angefangen. Ich spiele selbst – meine Körpergröße kommt mir da sehr entgegen. Aber ich bin längst nicht so gut wie Ben. Er ist ein erstklassiger Spieler, obwohl er einige Jahre älter ist als ich. Ein sehr guter Werfer. Wir treten gegen andere Gemeinden aus dieser Gegend an. Nichts Offizielles, aber es ist ein toller Sport und eine aufrichtige Kameradschaft.«

»Sie haben Ben Priest längere Zeit nicht gesehen?«

Pfarrer Paul nickte. »Wir hatten erst letzte Woche ein Spiel, zu dem er nicht erschienen ist. Ich habe ihn angerufen, doch er hat sich leider nicht zurückgemeldet. Man muss allerdings sehen, dass Ben viel unterwegs ist. Wenn er zurückkommt, meldet er sich garantiert.« Er hielt einen Moment inne. »Sie sind mit Ben befreundet, sagten Sie?«

»Ja. Auch mit seinem Bruder und der Familie.«

Der Pfarrer zog die Stirn in Falten. »Das wundert mich ein bisschen. Er hat nie erwähnt, dass er einen Bruder hat.«

»Er heißt Ed und lebt mit Frau und Kindern in Maryland.«

»Hmm. Wenn ich so überlege, hat Ben nie viel über sich gesprochen. Dafür kann er gut zuhören.«

»Ja, so ist er.«

»Woher kennen Sie ihn?«

»Über gemeinsame Freunde. So lange kennen wir uns noch gar nicht. Ich wollte ihn einfach mal besuchen, wo ich schon mal hier bin. Aber es geht mir wie Ihnen. Ben geht nicht ans Telefon, wenn ich anrufe.«

»Waren Sie schon bei ihm zu Hause?«

Pine nickte. »Leider war niemand da.«

»Hat er gewusst, dass Sie kommen?«

»Ja, wir wollten zusammen etwas unternehmen.«

Der Pfarrer wirkte ein wenig beunruhigt. »Ich hoffe, ihm ist nichts passiert.«

»Ach, es ist bestimmt alles in Ordnung. Wie Sie gesagt haben, Ben ist viel unterwegs.« Sie zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: »Obwohl es mich schon interessieren würde, wo er sich aufhält.«

Der Pfarrer setzte sich neben sie in die Bankreihe. »Sie sagen, Sie haben Ben über Freunde kennengelernt. Wie gut kennen Sie ihn eigentlich?«

»Nun ja … Er scheint mir ein Mensch zu sein, der wenig von sich preisgibt, wie Sie ja auch angedeutet haben. Was wissen Sie denn über ihn?«

»Wahrscheinlich nicht viel mehr als Sie.«

»Ich weiß nicht einmal, was er beruflich macht. Er hat mal erwähnt, sein Job habe mit Politik und Regierungsbehörden zu tun, irgendwas in dieser Richtung. Aber das trifft wahrscheinlich auf viele Leute in dieser Gegend zu.«

»O ja. Wahrscheinlich arbeitet die Hälfte meiner Gemeinde in irgendeinem regierungsnahen Bereich.«

Pine setzte ein Lächeln auf. »Ich weiß, das klingt jetzt wahrscheinlich dumm …«

»Was?«

»Ich hatte manchmal den Eindruck, Ben könnte eine Art Spion sein. Er hat so was an sich, finden Sie nicht auch?« Ihr Lächeln wurde breiter, als käme ihr die Vorstellung absurd vor, obwohl sie hoffte, dass der Pfarrer darauf einging.

»Wenn ich ehrlich sein soll, der Gedanke ist mir auch schon gekommen.«

Bingo!

Pine hakte sofort nach. »Wirklich? Was hat sie zu der Vermutung gebracht?«

»Kleinigkeiten, die für sich allein wahrscheinlich belanglos sind. Aber wenn man sie im Zusammenhang sieht, könnte man daraus schließen, dass Ben mit irgendwelchen geheimen Dingen beschäftigt ist. Dazu passt, dass er sehr zurückgezogen lebt.«

»Wenn ich nur wüsste, wo er steckt. Kennen Sie vielleicht Freunde von ihm?«

»Einen kenne ich recht gut. Simon Russell. Er ist auch im Basketballteam. Simon ist durch Ben zu uns gekommen. Wir hatten eine Ausnahme für ihn gemacht, weil er nicht unserer Gemeinde angehört. Ich glaube, sie sind Kollegen oder haben früher mal zusammengearbeitet.«

»Was macht er beruflich?«

Der Pfarrer lächelte. »Er hat die gleiche Eigenheit wie Ben. Er spricht nicht viel über sich. Aber er ist einer der besten Werfer, die ich je gesehen habe.«

»Können Sie mir beschreiben, wie er aussieht?«

Der Pfarrer schaute sie überrascht an. »Jetzt reden Sie wie ein Cop.«

»Ich möchte nur sicher sein, dass ich ihn erkenne, falls wir uns begegnen.«

»Nun, er ist noch ein bisschen größer als ich und sehr schlank. Schütteres Haar, kurz geschnittener Bart. Er ist ungefähr in Bens Alter, vielleicht ein bisschen älter.«

»Haben Sie seine Adresse oder Telefonnummer?«

»Da kann ich Ihnen weiterhelfen. Ich war mal zusammen mit Ben und einigen anderen aus dem Team bei ihm zu Hause auf einen Drink. Wir haben letztes Jahr die Meisterschaft gewonnen, müssen Sie wissen. Simon hatte uns spontan zu sich eingeladen, um zu feiern. Ganz anders als Ben. Der wohnt zwar ganz in der Nähe, aber eingeladen hat er uns noch nie.«

Pfarrer Paul schrieb Russells Anschrift auf einen Zettel und reichte ihn Pine. Als er sie zur Tür geleitete, sagte er: »Wenn Sie Ben treffen, richten Sie ihm bitte aus, er soll mich anrufen. Ich möchte nur wissen, ob alles in Ordnung ist.«

»Das mache ich gern.« Pine schaute sich noch einmal in der Kirche um. »Es ist wirklich schön hier.«

»O ja. Aber das ist am Ende nicht das Entscheidende. Die wahre Stärke einer Kirche liegt in den Angehörigen ihrer Gemeinde. Jesus war ein armer Mann. Sein Glaube war sein Vermögen. Sind Sie katholisch?«

»Nein. Meine Eltern sind nie mit uns in die Kirche gegangen. Und später als Erwachsene habe ich nicht mehr damit angefangen.«

»Es ist nie zu spät.«

Pine schaute ihn traurig an. »Sollte man meinen, nicht wahr?«