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Die verrosteten Scharniere und Zahnräder knirschten protestierend, als das Rolltor des Lagerraums geöffnet wurde.

Der Mann ging hinein, zog das Rolltor hinter sich wieder zu und tauschte die Dunkelheit der Nacht gegen die noch tiefere Finsternis im Innern des Lagerraums. Er streckte die Hand aus, betätigte einen Lichtschalter und erhellte die mit Blechplatten beschlagene Decke und die Wände des drei mal drei Meter großen Raumes.

Zwei Wände waren mit Regalen bedeckt. An der dritten Wand stand ein alter Metallschreibtisch und ein dazu passender Stuhl. Auf den Regalen reihten sich ordentlich verstaute Kartons. Der Mann ging dorthin und überprüfte ihre Beschriftung. Sein Gedächtnis war gut, aber es lag einige Zeit zurück, dass er zum letzten Mal hier gewesen war. Gut zwei Jahre, um genau zu sein.

Robert »Bobby« Puller trug einen Army-Kampfanzug, Stiefel und eine Kappe. Das hatte es ihm möglich gemacht, sich unter die Bevölkerung einer Stadt zu mischen, die von Angehörigen der US Army geprägt wurde. Nun aber musste er sein Äußeres völlig verändern.

Bobby öffnete einen Karton. Er nahm einen Laptop heraus und schloss das Gerät an. Vielleicht würde sich der nach über zwei Jahren hoffnungslos leere Akku wieder aufladen lassen. Wenn nicht, musste er sich einen neuen Laptop beschaffen. Er brauchte ein solches Gerät dringender als eine Waffe.

Bobby öffnete einen anderen Karton, dem er eine Haarschneidemaschine, einen Spiegel, Rasiercreme, ein Handtuch, einen großen verschlossenen Wasserbehälter, eine Schüssel und ein Rasiermesser entnahm. Er setzte sich auf einen Metallstuhl, stellte den Spiegel auf den Schreibtisch, schloss die Haarschneidemaschine an und schaltete sie ein.

Während der nächsten Minuten rasierte er sich das Haar bis auf die Stoppeln. Dann rieb er die Kopfhaut mit Rasiercreme ein, goss das Wasser in eine Schüssel und entfernte die Stoppeln mit der Rasierklinge, wobei er sie regelmäßig ins Wasser tauchte, um sie zu säubern, und dann am Handtuch abwischte.

Er betrachtete das Ergebnis im Spiegel und nickte zufrieden. Mit vollem Haar sah sein Gesicht oval aus. Ohne Haar wirkte es runder. Es war ein feiner, aber wirkungsvoller Unterschied.

Er schob einen Streifen formbares Weichplastik vor die obere Zahnreihe. Das verursachte ein leichtes Ausbauchen und Verbreitern der Haut und Muskeln, als er Mund und Kiefer bewegte und damit Lage und Gestalt der Plastikeinlage so lange veränderte, bis sie bequem an Ort und Stelle war.

Abgesehen vom Spiegel, der Schüssel Wasser und dem Handtuch legte er alles wieder in den Karton und stellte ihn auf das Regal zurück.

In einem anderen Karton befanden sich Gegenstände eher technischer Natur. Bobby holte sie alle heraus und legte sie ordentlich auf den Schreibtisch wie ein Chirurg seine Instrumente vor der Operation. Er legte sich das Handtuch über Schultern und Brust und skizzierte auf einem Stück Papier, was er vorhatte. Dann trug er Hautkleber auf der Nase auf und tippte leicht mit dem Finger dagegen, damit die Substanz zäh und klebrig wurde. Rasch gab er ein paar winzige Stücke von einem Wattebällchen hinzu, bevor der Klebstoff hart wurde. Mit einem Holzstäbchen nahm er eine kleine Menge Nasenkleber aus einem Tiegel, vermischte ihn mit Hautwachs, rollte den Kleber zwischen Daumen und Zeigfinger zu einem Kügelchen und hielt ihn, damit er wärmer und damit formbarer wurde. Dann trug er ihn auf Teile seiner Nase auf und begutachtete seine Arbeit im Spiegel, zuerst frontal, dann im Profil. Anschließend glättete er den Kleber mit einem wasserlöslichen Gleitmittel. Das Glätten und Formen zog sich in die Länge, aber er war geduldig. Er hatte mehr als zwei Jahre in einer Gefängniszelle verbracht. Da lernte man, sehr viel Geduld zu haben.

Als er mit der Form zufrieden war, benutzte er einen Schwamm, um dem Ganzen Struktur zu verleihen, versiegelte sein Werk und ließ es trocknen. Schließlich legte er auf dem ganzen Gesicht Make-up auf, hob Partien hervor, schattierte andere und trug abschließend einen transparenten Puder auf.

Das war’s.

Bobby lehnte sich zurück und betrachtete sich im Spiegel. Die Veränderungen waren subtil, aber der Gesamteindruck war sichtbar anders. Nur wenige Merkmale waren bei einem Menschen auffälliger als die Nase. Bobby hatte dafür gesorgt, dass man ihn nicht mehr erkennen würde.

Nun benutzte er den Hautkleber, um seine normalerweise leicht abstehenden Ohren am Kopf zu befestigen. Er musterte sich erneut, nahm jedes Detail in sich auf, suchte nach einem Fehler oder einer nicht perfekten Veränderung.

Bobby nickte zufrieden. Alles okay.

Er überprüfte die Aufschriften einiger weiterer Kisten, zog eine hervor und öffnete sie. Darin befand sich ein falscher Schnurrbart. Er trug zuerst Hautkleber auf und befestigte dann behutsam den Bart. Dabei beobachtete er sich im Spiegel. Als er fertig war, glättete er die synthetischen Haare mit einem Kamm. Gesichtshaar war beim Militär nicht erlaubt, ob nun für Gefangene oder Soldaten, deshalb war es eine gute Verkleidung.

Er zog Hemd und Unterhemd aus, nahm zwei Folien mit falschen Tätowierungen aus der Kiste, schob eine über jeden Arm, betrachtete erneut das Ergebnis im Spiegel und nickte wieder. Die Tattoos sahen wie echte aus.

Anschließend veränderte er mittels gefärbter Kontaktlinsen seine Augenfarbe und stutzte die Brauen, bis sie dünner und schmaler waren.

Wieder lehnte er sich zurück, betrachtete sich im Spiegel, zuerst frontal, dann im rechten und linken Profil.

Er war sicher, dass nicht einmal sein Bruder ihn erkannt hätte.

Noch einmal ging er im Geiste seine Checkliste durch: Haar, Nase, Ohren, Mund, Schnurrbart, Augen, Tattoos, Brauen. Überprüfen, überprüfen, überprüfen.

Er zog eine weitere Kiste hervor und nahm die Kleidung heraus. In den letzten zwei Jahren hatte er sein Gewicht gehalten, und die Jeans und das kurzärmelige Hemd passten ihm gut. Er setzte sich einen schweißfleckigen Stetson auf den rasierten Kopf, wobei er darauf achtete, die Befestigung der angelegten Ohren nicht zu beschädigen. Dann griff er erneut in den Karton und holte getragene Stiefel mit extra hohen Absätzen hervor, die seine Größe auf knapp eins neunzig erhöhten, womit er so groß war wie sein Bruder John. Schließlich zog er einen Gürtel mit einer sechs Zentimeter großen Schnalle, die einen Cowboy auf einem Bullen darstellte, durch die Schlaufen seiner Jeans und zog ihn fest. Seine Army-Kleidung, die Kappe und die Kampfstiefel legte er in den Karton und stellte ihn dann aufs Regal.

Der dritte Karton enthielt die Dokumente, die er benötigte, um in der Welt außerhalb des Knasts etwas zu bewirken. Ein gültiger Führerschein aus Kansas, zwei Kreditkarten, die jeweils noch ein Jahr lang gültig waren, und tausend Dollar in Scheinen, alles Zwanziger. Und schließlich das Scheckheft eines aktiven Bankkontos, auf dem noch 75 000 Dollar lagen, zuzüglich der Zinsen, die im Lauf der Jahre angefallen waren.

Lange bevor er ins Gefängnis gekommen war, hatte er mehrere Daueraufträge eingerichtet, die er über die Kreditkarten von seinem Konto abbuchen ließ. Auf diese Weise hatte er diesen Lagerraum und andere laufende Kosten bezahlt. Unter seiner falschen Identität hatte er außerdem Geschenke und Geldbeträge an Pflegeheime, Krankenhäuser und Einzelpersonen geschickt, von denen er herausgefunden hatte, dass sie knapp bei Kasse waren. Der Spaß hatte ihn mehrere Tausend Dollar gekostet, aber auf diese Weise hatte er gleichzeitig etwas Gutes tun können. Und er hatte dafür gesorgt, dass Bewegung auf seinen Konten war, die dank der zuverlässigen Zahlungen eine Kreditgeschichte hatten. Andernfalls hätte irgendjemand ein ruhendes Konto bemerken können, das nach mehr als zwei Jahren zu plötzlicher Aktivität erwachte. Und man sah sehr genau hin, das wusste Bobby, denn er war einer derjenigen gewesen, die solche Vorgänge beobachtet hatten.

Er holte die letzten Gegenstände hervor. Eine Neunmillimeter Glock und zwei Schachteln Munition, dann einen M4-Karabiner mit drei Schachteln Munition. Kansas war ein Bundesstaat, in dem man Schusswaffen offen tragen konnte. Das bedeutete, dass man keine Lizenz benötigte, solange die Schusswaffe zu sehen war. Führte man eine Waffe verdeckt mit sich, war allerdings eine Lizenz erforderlich. Aber auch die hatte Bobby, ausgestellt vom Bundesstaat Kansas auf seine fiktive Identität und gültig für weitere achtzehn Monate.

Bobby steckte die Glock in ein Halfter, das er am Gürtel befestigte, und bedeckte es, indem er eine Jeansjacke anzog, die er zuvor aus dem Karton mit den Kleidungsstücken geholt hatte. Er nahm die M4 auseinander und verstaute die Einzelteile in der dafür vorgesehenen Tasche, die er dann in eine Reisetasche steckte. Dann legte er eine Uhr an, die er aus demselben Karton geholt hatte, und stellte sie. Schließlich schob er eine Sonnenbrille in seine Jackentasche.

Inzwischen hatte man mit Sicherheit zur Jagd auf ihn geblasen. Und obwohl er nun keine Ähnlichkeit mit seinem früheren Ich mehr hatte, durfte er sich nicht den geringsten Fehler leisten.

Bobby konnte sich vorstellen, welches Chaos jetzt im Gefängnis herrschte. Er wusste nicht genau, wie es zu dem Stromausfall gekommen war, aber ihm war klar, dass er sich einen der glücklichsten Menschen auf diesem Planeten nennen konnte – eine besonders befriedigende Erkenntnis, da Bobby im Laufe der letzten Jahre sehr unglücklich gewesen war. Es machte ihn beinahe schwindlig, wie grundlegend sein Schicksal sich gewandelt hatte.

Er hatte eine Gelegenheit beim Schopf gepackt, als sie sich ihm geboten hatte. Nun lag es an ihm, sie bis zu ihrem Abschluss voranzutreiben. Doch er ging immer streng logisch vor. Man hatte ihm sogar gesagt, er sei manchmal zu logisch.

Vielleicht stimmte das. Es schien in der Familie zu liegen, denn auch sein Vater hatte diese Eigenschaft. Und John, sein jüngerer Bruder, war in dieser Hinsicht vielleicht der konsequenteste der drei Pullers.

Mein kleiner Bruder John, dachte Bobby. Was würde er von alledem halten?

Brüder auf den gegenüberliegenden Seiten einer Zellentür. Und nun Brüder auf unterschiedlichen Seiten.

Kein gutes Gefühl. Jetzt nicht, früher nicht, und sicher auch in Zukunft nicht. Doch im Augenblick konnte Bobby nichts tun, um etwas daran zu ändern.

Er steckte alles weg und wandte sich dem Laptop zu. Zu seiner Freude konnte er ihn hochfahren, obwohl der Akku sich noch auflud. Er zog den Stecker heraus und legte das Gerät in eine Segeltuchtasche. Aus einem anderen Karton nahm er ein paar weitere ausgewählte Kleidungsstücke und Toilettengegenstände und verstaute sie in der Reisetasche. Dann warf er sich die Tasche über die Schulter, knipste das Licht aus, verließ den Lagerraum, schloss das Rolltor ab und entfernte sich mit schnellen Schritten.

Er ging zu einem Diner, das gerade aufmachte, und folgte zwei Cops ins Innere. Beide wirkten müde; vielleicht kamen sie gerade von der Schicht. Bobby setzte sich an einen Tisch, so weit wie möglich von den beiden entfernt. Dann ging er in Deckung hinter der Speisekarte aus Plastik, die die Kellnerin ihm gab, und bestellte Kaffee, schwarz.

Er wurde in einer angeschlagenen Tasse serviert, doch Bobby trank ihn genüsslich mit langsamen Schlucken. Es war die erste Tasse Kaffee außerhalb des Gefängnisses seit über zwei Jahren – die Zeit, die er vor seinem Prozess vor dem Kriegsgericht in Gewahrsam verbracht hatte, nicht mitgerechnet.

Er genoss den Kaffee in vollen Zügen, studierte dabei die Speisekarte und bestellte dann die Karte rauf und runter. Als sein Frühstück kam, aß er langsam und kostete jeden Bissen aus. Das Essen im DB war passabel, aber wenn man es in einer Gefängniszelle zu sich nahm, nachdem es durch einen Schlitz in der Stahltür durchgeschoben worden war, schmeckte es widerlich.

Bobby aß den letzten Bissen Toast und Speck und trank noch eine Tasse Kaffee. Er hatte so langsam gegessen, dass die Cops ihr Frühstück beendet hatten und gegangen waren. Womit er kein Problem hatte.

Er hätte jedoch darauf verzichten können, dass zwei Militärpolizisten die Plätze der beiden Cops einnahmen, kaum dass sie gegangen waren – genau in dem Augenblick, als die Kellnerin ihm die Rechnung an den Tisch brachte.

»Schönen Tag noch, Süßer«, sagte sie.

»Danke«, erwiderte Bobby, bevor ihm auffiel, dass er Tonfall und Kadenz seiner Stimme nicht verändert hatte.

Konzentrier dich, Mann. Nimm endlich dein Spiel auf.

»Haben Sie WLAN hier, Süße?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, hier gibt’s nur was zu essen und zu trinken. Wenn Sie WLAN haben wollen, müssen Sie zum Starbucks an der nächsten Ecke.«

»Danke, Schätzchen.«

Er zog den Reißverschluss seiner Jacke hoch und achtete darauf, dass seine Pistole bedeckt war.

Als er an den beiden Militärpolizisten vorbeiging, warf einer von ihnen ihm einen Blick zu und nickte.

»Schönen Tag noch, Jungs«, sagte Bobby gedehnt. »Go Army!« Er grinste schief.

Der Mann dankte ihm mit einem müden Lächeln und widmete sich wieder der Speisekarte.

Bobby achtete darauf, die Schwingtür hinter sich behutsam zufallen zu lassen, damit sie nicht laut knallte und die beiden Militärpolizisten vielleicht einen zweiten Blick auf ihn warfen.

Nach kaum einer Minute war Bobby in der Dunkelheit verschwunden, die bald der Morgendämmerung weichen würde. Zum ersten Mal seit langer Zeit würde er die Sonne als freier Mann aufgehen sehen.

Nach dreißig Sekunden war Bobby um die nächste Ecke und außer Sicht.