KAPITEL 13

»JOE LOUIS,
RETTE MICH …«

 

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Las Vegas, 1965.
Mit Joe Louis.

 

 

In den USA war das Boxen aus der Sklaverei entstanden. Wie die römischen Kaiser, die sich im Kolosseum versammelten, um ihren Leibeigenen beim Kämpfen zuzusehen, fanden die Plantagenbesitzer des Südens Zerstreuung, indem sie ihre kräftigsten Sklaven zusammenbrachten und als Sport und Wettspiel gegeneinander antreten ließen. Die Sklaven trugen ein eisernes Halsband und kämpften häufig so lange, bis einer fast tot war. Frederick Douglass lehnte Boxen und Ringen nicht nur ab, weil es so grausam war, sondern auch, weil es den Geist der Revolte erstickte.

Selbst Ali, der im Ring Millionen Dollar verdienen sollte, der wegen seiner Fähigkeit, andere Männer zu verprügeln, berühmt und bewundert wurde, selbst er äußerte sich dem Spektakel zweier aufeinander einschlagender Schwarzer gegenüber ambivalent. »Die stehn rum und sagen: ›Guter Kampf, Junge; bist ’n guter Junge; gut gemacht‹«, sagte Ali 1970. »Die überlegen sich nicht, ob Boxer auch ein Hirn haben könnten. Die überlegen sich nicht, ob Boxer auch Geschäftsleute, menschlich oder intelligent sein könnten. Boxer sind nur Rohlinge, die die reichen Weißen unterhalten sollen. Einander verprügeln und die Nase einschlagen und bluten und sich wie zwei kleine Affen für das Publikum aufführen, einander fürs Publikum umbringen. Wir sind doch bloß Sklaven da im Ring. Die Herren holen sich zwei von uns großen alten schwarzen Sklaven und lassen uns gegeneinander antreten und wetten dabei: ›Mein Sklave kann deinen Sklaven verhauen.‹ Das sehe ich, wenn ich zwei Schwarze kämpfen sehe.«

Der erste anerkannte amerikanische Champion war ein Sklave aus Virginia namens Tom Molineaux. Viele Herren aus Virginia hatten ihre Begeisterung fürs Boxen von ihren Besuchen in England, wo der Sport äußerst beliebt war. Nachdem Molineaux alle anderen Kämpfer in Virginia geschlagen hatte, kam er als Freigelassener nach New York und schlug auch dort alle kommenden Größen, Amerikaner wie Ausländer, die auf den Piers am Hudson River boxten. Man schickte ihn nach England, wo er den großen Tom Cribb herausfordern sollte, einen Weißen und mutmaßlichen Champion des ganzen Empires. Der Kampf fand 1810 auf dem Capthall Common in Sussex statt. Runde um Runde verprügelte Molineaux Cribb, doch Cribbs Anhänger ließen nicht zu, daß er gegen einen Schwarzen verlor. Sie stützten ihren Mann – im Wortsinn – und provozierten lange Verzögerungen, damit Cribb genügend Zeit hatte, sich von seinen Prügeln zu erholen. Manche aus dem Publikum griffen Molineaux sogar an, boxten ihn, brachen ihm ein paar Finger. Schließlich war Cribb soweit wiederhergestellt, daß er in der vierzigsten Runde siegte.

Der Gestank nach Sklaverei, nach reichen Rohlingen, die die Starken und Verzweifelten ausbeuteten, verzog sich auch nicht mit der Emanzipationserklärung von 1863. John L. Sullivan, der erste Champion der Moderne, begründete die »Farbengrenze« im Boxen, indem er sich weigerte, gegen schwarze Herausforderer zu kämpfen. »Ich kämpfe nicht gegen einen Neger«, erklärte Sullivan. »Das habe ich nie getan und werde es auch nie tun.« Sullivans Nachfolger, Jim Jeffries, sagte ebenfalls, er werde sich zurückziehen, »wenn keine weißen Gegner mehr übrig sind«. Was er auch tat. Doch dann lockte man Jeffries aus seinem Pensionärsdasein, um gegen Jack Johnson anzutreten, der den Titel dem weißen Boxer Tommy Burns abgenommen hatte.

Jeffries räumte ein, daß er weniger um eines Gürtels willen in den Ring zurückkehrte, als um die weiße Rasse zu rehabilitieren. »Ich gehe in diesen Kampf aus einem einzigen Grund, nämlich um zu beweisen, daß ein Weißer besser als ein Neger ist«, sagte er. Natürlich hatte er lautstarke Unterstützung der Presse, auch die des gelegentlichen Boxkorrespondenten des New York Herald, Jack London. London hielt sich für einen großen Radikalen, einen Freund der Arbeiter, doch sein Rassismus hätte nicht klarer sein können. »Jeff muß von seiner Alfalfa-Farm kommen und Johnson das Lächeln aus dem Gesicht fegen«, schrieb er. »Jeff, auf dich kommt es an.« Die Redakteure der beliebten Illustrierten Collier’s erklärten, Jeffries werde bestimmt siegen, wegen der langen Geschichte seines Heldenmuts; schließlich greife der Weiße auf »dreißig Jahrhunderte Tradition zurück – all die großartigen Leistungen, die Erfindungen und Eroberungen und, ob er es weiß oder nicht, Bunker Hill und die Thermophylen und Hastings und Agincourt«. Jeffries konnte einfach nicht verlieren. Eine gewisse Dorothy Forrester schrieb ein Lied zum Lobe Jeffries’ mit dem Titel »Jim-ada-Jeff«, in dem sie Jeffries folgendermaßen instruierte:

Beginne nur gleich und mach dir Kondition

Und schlage den Sack Tag und Nacht,

Und schon sehr bald, wenn auf den Nigger du triffst,

Haust du ihn, daß es kracht.

 

Wer gibt dem Jack Jonce eine harte Straf?

Wer schickt ihn in einen tiefen langen Schlaf?

Wer macht aus dem Afrika ein lammfrommes Schaf?

Nur Jim-a-da-Jeff.

Als Johnson schließlich in Reno, Nevada, am 4. Juli 1910 in den Ring stieg, um gegen Jeffries zu kämpfen, skandierte die Menge »Kill the Nigger!«. Eine Kapelle intonierte »All Coons Look Alike to Me« (»Für mich sehen alle Nigger gleich aus«). Wenn das Johnson mißfiel, zeigte er es jedenfalls im Ring nicht. Johnson schlug Jeffries vernichtend, demütigte ihn sowohl mit der Faust als auch verbal, verhöhnte ihn und seine Betreuer während des ganzen Kampfs. »Kaum war der erste Treffer angebracht, wußte ich, daß ich Jeffs Herr werden würde«, schrieb Johnson in seiner Autobiographie.

Als Johnsons Triumph im ganzen Land verkündet wurde, kam es in Illinois, Missouri, New York, Ohio, Pennsylvania, Colorado und im District of Columbia zu Krawallen. In Houston schnitt ein Weißer einem Schwarzen namens Charles Williams die Kehle durch, weil sein Jubel über Johnson zu überbordend war. In Washington, D. C., erstach eine Gruppe Schwarzer zwei Weiße. In Uvalda, Georgia, eröffnete eine Gruppe Weißer das Feuer auf eine Gruppe Schwarzer, die Johnsons Sieg feierten; drei Schwarze starben, fünf wurden verwundet. In Manhattan rettete die Polizei einen Schwarzen vor dem Lynchtod. Tausende Weißer versammelten sich auf der Eighth Avenue und drohten, jeden Schwarzen, der sich blicken ließ, zusammenzuschlagen. Bis zum Attentat auf Martin Luther King 1968 löste kein rassischer Vorfall eine solche Gewaltreaktion aus. Erschrocken verabschiedete der Kongreß ein Gesetz, das den zwischenstaatlichen Vertrieb von Boxfilmen untersagte. Verschiedene religiöse und politisch rechte Gruppen, die sich davor nie besonders fürs Boxen interessiert hatten, wollten es ganz verbieten.

Natürlich wurde Johnson, wo er auch hinkam, mit Schreien wie »Lyncht ihn! Bringt den Nigger um!« verfolgt. Obwohl es die Zeit Booker T. Washingtons und der Strategien vonVerständigung und allmählicher Annäherung war, blieb Johnson rebellisch. Er war wahrscheinlich der geschmähteste Schwarze seiner Zeit, und er versuchte zu zeigen, daß ihn das nicht kümmerte. Er spielte sogar mit dem sexuellen Subtext des Hasses, der gegen ihn gerichtet war. Er hatte Affären mit jungen weißen Frauen und Prostituierten; seine Frau, eine Weiße namens Etta Duryea, erschoß sich 1912, ein Jahr nach ihrer Heirat. Als er Reporter einlud, ihm beim Training zuzusehen, wickelte er seinen Penis in Gaze und stellte seine Pracht in knappen Shorts zur Schau. Johnson war wunderbar in seinem Rebellentum. Er besaß grotesk teure Autos und trank alte Weine mit dem Strohhalm. Er las englische, französische und spanische Literatur (besonders angetan hatten es ihm die Romane von Dumas) und spielte Baßviole. Als er das Cabaret de Champion in Chicago eröffnete, stattete er das Etablissement mit silbernen Spucknäpfen aus.

Schließlich setzte sich das weiße Establishment gegen ihn durch und zwang ihn zu einem längeren Exil. Johnson wurde nach dem Mann Act angeklagt, das die gewerbliche Prostitution und die Beförderung von Frauen über Staatsgrenzen zu unmoralischen Zwecken verhindern sollte. Johnson entging dem Gefängnis, indem er durch Kanada und Europa reiste. Schließlich kehrte er in die USA zurück und saß seine Strafe in Leavensworth ab; 1915 verlor er seinen Titel in Havanna an Jess Willard; später behauptete er, er habe absichtlich verloren. Er beendete seine Karriere als Promoter seines eigenen Nachlasses und als Anekdotenerzähler in einem Kuriositätenkabinett. Muhammad Ali war sich der Parallelen mit seinem eigenen Leben durchaus bewußt. Jahre später sagte er im Gespräch mit James Earl Jones, der Johnson in Die große weiße Hoffnung spielte, in seiner Verbannung aus dem Ring, nachdem er den Kriegsdienst verweigert hatte, habe sich »die Geschichte wiederholt«.

»Allmählich fand ich Gefallen an Jack Johnsons Image«, sagte er. »Ich wollte grob, hart, arrogant sein, ein Nigger, den die Weißen nicht mochten.«

Nach Johnsons Abschied vom Ring blieb die Krone bis Anfang der dreißiger Jahre bei weißen Champions. Daß sie systematisch alle schwarzen Herausforderer mieden, lag so klar auf der Hand, daß die führenden schwarzen Schwergewichtler um die Ehre, Champion ihrer Rasse zu werden, untereinander kämpften. Als Jack Dempsey 1919 gegen Jess Willard den Titel gewann, beeilte er sich, der Nation zu versichern, er werde die Herausforderungen der großen schwarzen Boxer jener Zeit, darunter Sam McVey, Sam Langford und Harry Wills, keinesfalls annehmen. Wills und Langford durften achtzehnmal gegeneinander antreten, während die offizielle Weltmeisterschaft über zwei Jahrzehnte hin ausschließlich von Weißen ausgetragen wurde: Willard, Dempsey, Gene Tunney, Max Schmeling, Jack Sharkey, Primo »the Ambling Alp« (»der gemächliche Alpenberg«) Carnera, Max Baer und Jim Braddock.

Die endlose Ära der Weißen wurde schließlich 1937 von Joe Louis beendet, als er Braddock schlug und Weltmeister im Schwergewicht wurde. Louis behielt den Titel bis zu seinem ersten Rücktritt 1948. Einige Organe der Sportpresse waren von dieser Entwicklung so schockiert, daß sie überzeugt waren, Louis habe wegen seiner Rasse gewonnen, als hätte er dadurch einen unfairen Vorteil gehabt. In einem Leitartikel im New Yorker Daily Mirror war zu lesen, daß es »in Afrika Zehntausende kräftiger junger Wilder (gibt), die mit ein wenig Unterricht Mr. Joe Louis in die Pfanne hauen könnten«. Paul Gallico von der New Yorker Daily News, auch einer jener legendären, für seine aufgeklärten Ansichten bewunderten Sportjournalisten, konnte sich Louis nur als dummen, wenn auch prachtvollen Rohling vorstellen, als Bestie, die »lebt wie ein Tier, kämpft wie ein Tier, der die ganze Grausamkeit und Grimmigkeit eines wilden Wesens eignet«.

»Ich konnte mich des starken Eindrucks nicht erwehren, daß vor mir ein gemeiner Mann war«, schrieb Gallico, »ein wahrhaft wilder Mensch, ein Mann, auf dem die Zivilisation nicht sicherer ruhte als ein Schal, den man sich über die Schulter wirft, kurz, daß vor mir vielleicht zum ersten Mal seit vielen Generationen der ideale Preisboxer stand. Ich hatte das Gefühl, mit einem wilden Tier im Raum zu sein.«

Louis war der Sohn eines Farmpächters in Alabama, dessen zerrüttete Familie 1926 nach Detroit kam. Louis letzte Schulklasse war die sechste – ein Umstand, der es nahezu allen Sportjournalisten gestattete zu folgern, daß er ein finsterer Ignorant war. Louis sagte wenig in der Öffentlichkeit, was jedoch überwiegend auf die sorgsamen Überlegungen seiner schwarzen Betreuer zurückzuführen war. Das Team aus Jack »Chappie« Blackburn, dem Trainer und Beichtvater, sowie dem Manager John Roxborough und Julian Black formte Louis als Kämpfer wie auch als öffentliche Gestalt. Sie wollten nicht, daß ihr Mann das weiße Amerika vor den Kopf stieß – der alltägliche Rassismus in den dreißiger Jahren war noch immer derart, daß selbst die Presse des Nordens Schwarze als »darkies«, »Tiere« und »sambos« bezeichnete –, und entsprechend stellten sie für Louis ein ganzes Regelwerk auf.

 

1. Er durfte sich nie zusammen mit einer weißen Frau fotografieren lassen.

2. Er durfte nie allein in einen Nachtclub gehen.

3. Es gab keine weichen Kämpfe.

4. Es gab keine manipulierten Kämpfe.

5. Er durfte sich nicht an einem am Boden liegenden Gegner weiden.

6. Er mußte vor der Kamera eine unbewegte Miene haben.

7. Er mußte sauber leben und kämpfen.

 

Mit anderen Worten, Louis wurde als der Anti-Johnson angelegt. Sein Talent war so unbestreitbar und sein Verhalten so ehrerbietig, daß er mit der Zeit sogar die Südstaatenpresse für sich gewann, die sich herabließ, ihn einen »guten Nigger« und »ex-pickaninny« (»ehemaligen Feldsklaven«) zu nennen. Anders als Johnson schien Louis zu wissen, was ihm zustand und was nicht. Er beleidigte niemanden. Er floh nicht aus seinem Land wie Johnson, er diente ihm. Im Zweiten Weltkrieg meldete er sich zur Armee und spendete seine Kampfeinnahmen der Regierung. Natürlich nahm ein Großteil der Südstaatenpresse bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ihre besondere Form der Unterstützung ganz schnell wieder zurück. Als Louis im Juni 1936 gegen Max Schmeling verlor, schrieb William McG. Keefe von der Times-Picayune aus New Orleans, der Kampf sei ein Beweis für die weiße Überlegenheit. Keefe war erleichtert, daß »die Schreckensherrschaft im Schwergewichtsboxen von Schmeling beendet wurde«.

Louis’ Revanchekampf gegen Schmeling am 22. Juni 1938 – ein K.-o.-Sieg in der ersten Runde – war eine noch kompliziertere Metapher als Jeffries’ Niederlage gegen Johnson. Für alle Amerikaner hatte Louis das Schreckgespenst des Ariers geschlagen, den selbsternannten Nazi-Supermann; erneut hatte er sich die Bewunderung der Weißen und Jimmy Cannons berühmtes Lob verdient: »Er macht seiner Rasse Ehre – der menschlichen Rasse.« Für die schwarzen Amerikaner war der Jubel noch stärker und sogar subversiv. Zunächst hatten sie die Befriedigung, daß wenigstens ein Schwarzer vom ganzen Land gefeiert wurde, sogar von seinen krassesten Rassisten. Die Arbeit von Nichtsportlern, von schwarzen Aktivisten und so hochrangigen Wissenschaftlern wie A. Philip Randolph und W. E. B. Du Bois war für fast alle weißen Amerikaner unsichtbar, hier aber war nun eine Leistung, die nicht einmal der Großdrache des Ku-Klux-Klan übersehen konnte. Die weiße Presse war nach wie vor besessen von Louis’ Hautfarbe – er war »the tan tornado«, »the mahagony maimer«, »the saffron sphinx«, »the dusky David from Detroit«, »the shufflin’ shadow«, »the coffee-colored kayo king«, »the sable cyclone«, »the tan Tarzan of thump«, »the chocolate chopper«, » the murder man of those maroon mits«,»the sepia slugger« und, vor allem, der »braune Bomber« –, doch sie konnten ihn nicht angreifen wie damals Jack Johnson. Sein Benehmen, vielmehr sein völliger Mangel an schlechtem Benehmen, war unantastbar.

In den schwarzen Gemeinden war Louis ein Gott, so auch im West End von Louisville. Er war Surrogat und Erlöser. »Wir haben ihn in unserer Familie geliebt«, sagte Cassius Clay senior einmal. »Größer als Joe Louis geht es nicht.« 1940 schrieb Franklin Frazier, daß Louis den Schwarzen gestattet, »die Aggression, die sie wegen der erlittenen Diskriminierungen und Beleidigungen gern gegen Weiße ausführen würden, in seine Hände zu legen«. In ähnlicher Weise erinnert sich die Dichterin Maya Angelou, wie sie als Kind Louis verehrt hatte, »den einen unbesiegbaren Neger, den einen, der sich gegen den weißen Mann erhob und ihn mit den Fäusten niederschlug. In gewisser Weise trug er so viele unserer Hoffnungen, vielleicht sogar Träume von Rache.«

Die Verehrer Joe Louis’ reichten von Count Basie, der ihm zu Ehren einen Song schrieb (»Joe Louis Blues«), bis hin zu Richard Wright, der über seine Kämpfe für The New Masses berichtete (»Joe Louis zeigt Dynamit«). In Warum wir nicht warten können erinnerte sich Martin Luther King: »Vor über fünfundzwanzig Jahren führte einer der Südstaaten eine neue Methode der Todesstrafe ein. Giftgas ersetzte den Galgen. In den Anfängen wurde ein Mikrofon in die abgedichtete Todeskammer gestellt, damit wissenschaftliche Beobachter die Worte des sterbenden Häftlings hören konnten, um sich ein Bild zu machen, wie sich das Opfer in dieser neuen Situation verhielt. Das erste Opfer war ein junger Neger. Als das Kügelchen in den Behälter fiel und das Gas frei wurde, kamen durch das Mikrofon die folgenden Worte: ›Joe Louis, rette mich. Joe Louis, rette mich. Joe Louis, rette mich …‹«

 

Anfang der sechziger Jahre, als aus der Bürgerrechtsbewegung verschiedene Richtungen militanter Politik hervorgingen, fanden viele Schwarze, daß die Amerikaner ihren Sporthelden zuviel und dem Leiden von Millionen normaler Menschen zuwenig Beachtung schenkten. 1962, am Tag des ersten Kampfs zwischen Patterson und Liston, berichtete Bob Lipsyte in der Times über einen Marsch in New York, mit dem gegen Wohnungsdiskriminierung demonstriert wurde. Einer der jungen Schwarzen im Zug sagte ihm: »Wir sind darüber hinweg, daß wir uns über einen Neger, der einen Homerun schlägt oder eine Meisterschaft gewinnt, begeistern.«

Doch die Begeisterung am Sport ist in Amerika eine Konstante des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Boxen wurde in den sechziger Jahren verstärkt zur Rassenmetapher. Und auch wenn Ali nicht jeden Artikel über sich gelesen hat, war er sich seiner Position im Verhältnis zu Jack Johnson wie auch Joe Louis sehr bewußt. Ali konnte die vorhersehbaren Beschimpfungen ertragen: die Zeitungen, die ihn weiterhin Clay nannten, die Attribute, die er von Jimmy Cannon und Dick Young erhielt. Was ihn allerdings schmerzte, war die Ablehnung durch den Helden seiner Kindheit, Joe Louis.

»Clay wird sich wegen seiner Verbindung mit den Black Muslims den Haß der Öffentlichkeit zuziehen«, sagte Louis Reportern gegenüber. »Was sie predigen, ist das genaue Gegenteil dessen, woran wir glauben. Der Schwergewichtschampion sollte ein Champion aller Menschen sein. Er trägt Verantwortung allen Menschen gegenüber.

Clay hat für eine Million Dollar Selbstvertrauen und für zehn Cent Mut«, fuhr Louis fort. »Er hat keinen Punch. Er kann einem nicht weh tun, und ich glaube, er kann auch nicht einstecken. Er hat Glück, daß es zur Zeit keine guten Kämpfer gibt. Ich würde ihn auf eine Stufe mit Johnny Paycheck, Abe Simon und Buddy Baer stellen … Ich hätte ihn verprügelt. Er hat keine Ahnung, wie man an den Seilen kämpft, und genau da wäre er bei mir. Ich würde weniger versuchen, besser zu boxen, als vielmehr, härter zu schlagen. Ich würde ihn unter Druck setzen, ihn durch den Ring prügeln, ihn fertigmachen, mit allem, was ich habe, auf ihn eindreschen, sein Tempo bremsen, ihm auf die Rippen gehen. Clay hätte Schwellungen am Körper. Er hätte Schmerzen. Vor Schmerz würde er den Mund fest zusammenpressen, und in seinen Augen würden Tränen brennen.«

Ali hätte Louis ignorieren können. Anfang der sechziger Jahre war Louis kokainsüchtig, hatte mit verkorksten Liebesgeschichten, geistigem Verfall und horrenden Steuerproblemen zu kämpfen. Um seine Schulden abzubezahlen, versuchte Louis sich als Berufswrestler, eine Karriere, die an dem Tag endete, als ein 135 Kilo schwerer Klotz namens Rocky Lee auf seiner Brust landete, ihm zwei Rippen brach und den Herzmuskel verletzte. Ash Resnik, Sonny Listons guter Freund, besorgte Louis schließlich einen Job im Caesars Palace als Grußonkel. Louis bekam Lohn und aß und spielte kostenfrei, als Gegenleistung stand und saß er herum und war Joe Louis. Für jeden mit einem Gedächtnis und einem Herz war Louis ein geschlagener Mann, einer, der sich seines Beitrags nie so recht bewußt war. »Manchmal«, sagte er einmal, »wünschte ich, ich hätte das Feuer eines Jackie Robinson, dann würde ich mich äußern und die Geschichte der Schwarzen erzählen.« Als Louis schließlich 1981 im Alter von sechsundsechzig Jahren starb, wurde er im Caesars Palace feierlich aufgebahrt.

Es fiel dem stolzen jungen Ali schwer, Louis seine verletzende Kritik zu verzeihen. Und so zahlte Ali es ihm mit gleicher Münze zurück. Er nannte Louis einen Onkel Tom und gelobte laut, er werde »nie so enden wie Joe Louis«. In einem Dokumentarfilm antwortete Ali auf Louis’ Kampfansage folgendermaßen: »Der langsame, schlurfende Joe Louis will mich schlagen? Er schlägt vielleicht hart, aber das heißt überhaupt nichts, wenn man nichts findet, was man schlagen kann. Ich bin kein unbeweglicher Kämpfer … Joe Louis hatte mal so was wie den ›Nulpe-des-Monats-Club‹. Die Männer, gegen die Joe Louis geboxt hat, wenn ich heute gegen die im Madison Square Garden antreten würde, die würden aus dem Ring gebuht.«

Mit der Zeit brauchte Ali Joe Louis nicht mehr, um seine Größe zu bestätigen, und indem Louis immer schwächer wurde, veränderte sich ihre Beziehung. Louis anerkannte Alis Fähigkeiten als Kämpfer, auch wenn er nach wie vor glaubte, er würde ihn noch schlagen, aber nicht so leicht, wie er Johnny Paycheck abgefertigt hatte. Mitte der siebziger Jahre lud Ali ihn in sein Trainingscamp ein und bot ihm 30 000 Dollar als Geschenk an.

Als Louis starb, erinnerte ein Reporter Ali an seine früheren Schwierigkeiten mit dem großen Champion. Doch der wollte davon nichts wissen. »Das habe ich nie gesagt, jedenfalls nicht so«, sagte Ali. »Das ist erniedrigend. Sehen Sie sich Joes Leben an. Jeder hat Joe geliebt. Wäre er böse gewesen, dann wäre er auch als böse gezeichnet worden, aber jeder hat Joe geliebt. Von den Schwarzen bis hin zu den Rednecks von Mississippi, alle haben sie ihn geliebt. Nun weinen alle. Das sagt doch alles. Howard Hughes mit allen seinen Milliarden stirbt, keine Träne. Joe Louis, alle weinen.«

 

So ruinös das Boxen für den Boxer ist, so wenig bestreitbar ist auch, daß ein Teil von Alis Reiz vom Boxen kam, davon, daß er in den Ring stieg, nackt bis zur Taille, ein schöner Mann, allein, im Kampf. Es ist völlig plausibel, daß er als Basketballspieler oder selbst als gepanzerter Halfback nicht weniger berühmt und lebhaft gewesen wäre. Aber der Boxer stellt eine unmittelbarere Form der Supermännlichkeit dar, und wenn sie noch so rückwärtsgewandt ist. Bei all seiner Begabung als Redner war Ali zuvorderst ein hervorragender Körperdarsteller mit einer ungeheuren sexuellen Präsenz. »Bin ich nicht schön?« fragte er immer wieder, und natürlich war er es. Ali hatte Glück gehabt. Hätte er das Gesicht Sonny Listons gehabt, ihm hätte viel von seinem Reiz gefehlt.

Als Ali mit zweiundzwanzig Weltmeister wurde und seine Zugehörigkeit zur Nation of Islam öffentlich machte, besaß er eine sexuelle Anziehungskraft wie später nie wieder. Am Abend des Kampfs sagte Gloria Guinness, eine Berühmtheit in der Modewelt, die für Harper’s Bazaar vom ersten Kampf gegen Liston berichtete, zu George Plimpton: »Für ihn wäre ich einfach gestorben

Und dennoch war Ali, anders als Jack Johnson, zunächst ein sehr zurückhaltendes Sexsymbol. Vor seinem Titelgewinn waren seine Erfahrungen mit Frauen, nach allem, was man hörte, auch von ihm selbst, äußerst beschränkt. Ironischerweise entdeckte er seinen sexuellen Appetit erst, als er sich auch gerade als Black Muslim entdeckte.

»Ich schäme mich dessen, aber manchmal habe ich mich dabei ertappt, daß ich mir wünschte, ich hätte den Islam vielleicht erst fünf Jahre später entdeckt«, sagte er zu Alex Haley. »Bei den vielen Versuchungen, denen ich widerstehen mußte. Aber ich küsse sie nicht einmal, denn wenn man einander zu nahe kommt, ist es fast unmöglich aufzuhören. Sehen Sie, ich bin ein junger Mann in der Blüte seines Lebens. Alle möglichen Frauen, auch weiße, machen bei mir Annäherungsversuche. Mädchen bringen in Erfahrung, wo ich wohne, und klopfen bei mir um ein oder zwei Uhr morgens an die Tür. Sie schicken mir Bilder von sich und ihre Telefonnummer und sagen: ›Ruf mich bitte nur mal an.‹ … Es sind sogar auch schon Mädchen mit Schleier auf dem Kopf erschienen, ohne Make-up und so, und haben versucht, sich als Muslim-Schwestern auszugeben. Aber es ist bloß so, eine Muslim-Schwester würde so was nie machen.«

Vor seinem Titelgewinn war Alis Privatleben so verhalten, daß manche Sportjournalisten schon spekulierten, ob er möglicherweise insgeheim homosexuell sei. (»Na ja, wir haben uns eben alle gefragt, was das für einer ist, der keine Verabredungen hatte und ständig erzählte, wie schön er ist«, sagte einer.) Doch für seine Umgebung war es ziemlich offensichtlich, daß er Frauen bevorzugte. In der halbfiktionalen Autobiographie The Greatest beschreibt Ali (oder vielmehr sein Ghostwriter), wie er seine Unschuld bei einer Prostituierten verlor und am Anfang seiner Karriere einen Kampf verlor, weil er die Nacht davor unklugerweise mit einer Frau verbracht hatte.

Als Ali im Frühjahr 1964 Ägypten bereiste, beobachtete Herbert Muhammad belustigt, wie sich der neue Champion schon wieder in eine hübsche Bedienung verliebte. »Ich hab ein Mädchen in den Staaten, die sieht besser aus als die«, sagte Muhammad zu ihm. Vor der Abreise nach Afrika hatte Muhammad einige Bilder von Sonji Roi in seinem Fotostudio gemacht. Eines davon hatte er in seiner Brieftasche, das zeigte er Ali. Der Champion war beeindruckt und hoffte, Herbert werde sie ihm vorstellen, wenn sie wieder zu Hause seien.

Mit Sonji Roi hatte Muhammad, der Sohn des Verkünders, eine eigenartige Wahl getroffen. Sie war hinreißend schön und, in den Worten von Alis erstem Muslim-Lehrer, Jeremiah Shabazz, »ein raffiniertes Stück«. Sie war eine Partybiene, die ihre Nächte in Bars und Nachtclubs verbrachte. Ali sollte nicht der erste Sportler sein, mit dem sie etwas hatte. Elijah Muhammads eigenes Sexualverhalten war zutiefst heuchlerisch, seltsam ist aber, daß Herbert sich eine Frau aussuchte, die so sehr im Gegensatz zum puritanischen Stil der Nation stand. Sonjis Vater starb beim Kartenspielen, als sie zwei Jahre alt war, und ihre Mutter, als sie acht war; sie wuchs bei Pateneltern auf. Noch keine zwanzig, bekam sie ein Kind, ging von der Schule ab, arbeitete in Nachtclubs, nahm an einigen kleineren Schönheitswettbewerben teil. Nachdem sie Herbert Muhammad in dessen Fotostudio kennengelernt hatte, stellte er sie an, um Telefonwerbung für Muhammad Speaks zu machen.

Zum ersten Mal ging Ali mit Sonji Roi am 3. Juli 1964 aus, nur fünf Monate nach seinem Titelgewinn. »Noch am selben Abend machte er mir einen Heiratsantrag«, sagte sie zu Thomas Hauser. »Ich wußte nicht, ob er das ernst meinte. Ich wußte überhaupt nichts über ihn. Aber ich war allein auf der Welt. Ich hatte keine Mutter, zu der ich gehen, die ich fragen konnte. Ich mußte selbst entscheiden. Nachdem wir einige Zeit zusammen verbracht hatten, hatte ich das Gefühl, von ihm gebraucht zu werden. Er war stark, aber eine Menge Sachen wußte er nicht. Er brauchte einen Freund, und wer war dafür besser geeignet als ich? Ich sagte mir, ich fange ja sonst nichts mit meinem Leben an. Das kann ich machen. Ich kann diesem Mann eine gute Frau sein. Jemand muß für ihn da sein, und das hab ich als eine Chance für mich gesehen, jemandem wirklich zu helfen. Ich wollte seine Frau und seine beste Freundin sein. Ich hab das nicht wegen Geld gemacht.«

Nach ihrem ersten Treffen waren Ali und Roi ständig zusammen, was den Muslims in seinem Camp Sorgen bereitete und die anderen amüsierte. Viele Jahre später, als er zum vierten Mal verheiratet war, räumte Ali ein, daß seine größte Schwäche und sein eklatantester Verrat an der Muslim-Ideologie sein unstillbares Verlangen nach Frauen gewesen sei. Verheiratet oder nicht, er hatte so viele Affären, daß Ferdie Pacheco ihn einen »Beckenmissionar« nannte. Der Tiefpunkt dieser Geschichte ereignete sich in Manila vor dem dritten Kampf gegen Joe Frazier, als Ali, verheiratet mit Belinda Ali, seine Liebhaberin, Veronica Porsche, als seine Frau vorstellte. Daraufhin bestieg Belinda das Flugzeug nach Manila, und der darauffolgende Krach führte zur Scheidung und Heirat mit Porsche. Der hartnäckige Mythos um Ali und Sex ist der, daß Sonji seine große Lehrmeisterin war. »Es ging immer das Gerücht«, sagte Pacheco, »daß Sonji eine Künstlerin war, die das Kamasutra in all seiner Pracht vorführen konnte.«

»Anscheinend bin ich so eine Art Sexobjekt, und die Leute glauben das noch heute«, sagte Sonji Hauser. »Vor ein paar Jahren rief mich eine Freundin von der University of Texas an. Sie machte ein Psychologieseminar und rief mich an, um mir zu sagen, daß ich in einem ihrer Lehrbücher vorkomme … In dem Buch stand, wie Ali hin und her gerissen war, weil er an seine Religion glaubte und mich doch wegen meiner Schönheit und Sinnlichkeit liebte, daß ich mich auf eine Art und Weise benahm, die sich für die Religion nicht schickte, daß er aber von meiner Sexualität so gebannt war, daß er mich einfach haben mußte. Und wenn Sie das lesen, stellen Sie sich eine vor, die ständig in der Unterwäsche rumläuft. Ich sage Ihnen daher, daß ich ihm nichts über Sex beigebracht habe. Als ich ihn kennenlernte, wußte er, was da zu tun war. Vielleicht habe ich in ihm den Wunsch ausgelöst, es zu tun.«

Am 14. August 1964 heirateten Ali und Sonji; sie nahm den Namen Clay an, wenngleich sie einwilligte, eine gute Muslim-Frau zu sein. Auch mit Sonny Liston traf er eine Vereinbarung: Am 16. November 1964 sollte es im Boston Garden zu einem Rückkampf kommen.