PROLOG
IN MICHIGAN
Cassius Clay betrat den Ring in Miami Beach in einem kurzen weißen Mantel, auf dessen Rücken »The Lip« – »Die Lippe« gestickt war. Er war wieder schön. Er war schnell, geschmeidig und zweiundzwanzig. Doch zum ersten und letzten Mal in seinem Leben hatte er Angst. Der Ring war voll von Ehemaligen und Möchtegernen, Vasallen und Preisboxern. Clay ignorierte sie alle. Er begann, auf den Fußballen zu hüpfen, umherzutänzeln, freudlos zunächst wie ein Marathontänzer um zehn vor Mitternacht, dann aber zunehmend mit Tempo und Lust. Ein paar Minuten später stieg Sonny Liston, der Weltmeister im Schwergewicht, durch die Seile auf den Ringboden, vorsichtig, als stiege er in ein Kanu. Er trug einen Mantel mit Kapuze. Sein Blick war unbesorgt, leer, der tote Blick eines Mannes, dem das Leben nie etwas geschenkt hat, ebensowenig wie er ihm. Auch Cassius Clay würde er wohl nichts schenken.
Nahezu jeder Sportjournalist in der Miami Convention Hall erwartete, daß Clay den Abend auf dem Rücken beenden würde. Der junge Boxreporter der New York Times, Robert Lipsyte, wurde von seinen Redakteuren telefonisch aufgefordert, sich den Weg von der Arena zum Krankenhaus einzuprägen, um schneller hinzukommen, wenn Clay dort eingeliefert sei. Die Quote stand sieben zu eins gegen Clay, und es war nahezu unmöglich, einen Buchmacher aufzutreiben, der noch eine Wette annahm. Am Morgen des Kampfs brachte die New York Post eine Kolumne von Jackie Gleason, dem beliebtesten Fernsehkomiker des Landes, in der es hieß: »Ich sage voraus, daß Sonny Liston in der achtzehnten Sekunde der ersten Runde siegt, und meine Schätzung schließt auch die drei Sekunden ein, die das Plappermaul in den Ring mitbringt.« Selbst Clays Geldgeber, die Louisville Sponsoring Group, erwartete eine Katastrophe; der Anwalt der Gruppe, Gordon Davidson, führte zähe Verhandlungen mit Listons Team in der Annahme, es werde wohl der letzte Abend des jungen Mannes im Ring sein. Davidson hoffte nur, Clay werde »lebendig und mit heiler Haut« herauskommen.
Es war der Abend des 25. Februar 1964. Malcolm X, Clays Gast und Mentor, saß am Ring, auf Platz Nummer sieben, Jackie Gleason und Sammy Davis Jr. waren da, auch die Mobster aus Las Vegas, Chicago und New York. Zigarrenrauchschwaden verdüsterten die Ringlichter. Cassius Clay schickte Schläge in den grauen schwebenden Dunst und wartete auf den Gong.
»Sehn Sie das? Sehn Sie mich?«
Muhammad Ali saß in einem üppig gepolsterten Sessel und beobachtete sich selbst auf dem Fernsehschirm. Die Stimme war ein unterdrücktes Flüstern, und sein Finger bebte, als er auf sein jüngeres Ich zeigte, sein Ich, das auf Video konserviert ist, das sich, zweiundzwanzigjährig, in seiner Ecke warm macht, die behandschuhten Hände an den Hüften baumelnd. Ali lebt in einem Bauernhaus im südlichen Michigan. Es wurde immer gemunkelt, das Haus habe in den zwanziger Jahren Al Capone gehört. Einer von Alis besten Freunden, sein Sekundant Drew »Bundini« Brown, hatte einmal, auf der Suche nach Capones Schatz, das ganze Anwesen auf den Kopf gestellt. 1987, als er in einem billigen Motel in der Olympia Avenue in Los Angeles wohnte, fiel Bundini die Treppe hinunter. Ein Zimmermädchen fand ihn auf dem Boden liegen, gelähmt; drei Wochen später war er tot.
Nun flüsterte Ali wieder: »Sehn Sie? Sehn Sie mich?« Und da war er, umgeben von seinem Trainer Angelo Dundee und Bundini, der, mondgesichtig und jung, Ali Voodoo-Inspirationen ins Ohr flüsterte: »Den ganzen Abend! Den ganzen Abend! Schweb wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene! Rumble, young man, rumble!«
»Das war das einzige Mal, daß ich je im Ring Angst hatte«, sagte Ali. »Sonny Liston. Zum ersten Mal. Erste Runde. Hat gesagt, er würd’ mich umbringen.«
Ali war füllig geworden. Er hatte die typische Abneigung des Sportlers gegen Fitneßübungen und aß mehr, als ihm guttat. Sein Bart war grau, und auch seine Haare ergrauten schon. Ich war nach Michigan gefahren, um ihn zu besuchen, weil ich darüber schreiben wollte, wie er sich in den frühen sechziger Jahren selbst kreiert hatte, darüber, wie ein junger Schlaks aus Louisville zu einer der aufregendsten amerikanischen Persönlichkeiten werden konnte, zu jemand, der seine Zeit prägte und sich zugleich in ihr spiegelte. Als Cassius Clay hatte er die Welt des Berufsboxens zu einer Zeit betreten, als von einem schwarzen Boxer erwartet wurde, daß er absoluten Respekt vor weißen Empfindlichkeiten zeigte, daß er in der Welt der Rassentrennung im Süden und der Heuchelei im Norden den edlen und dankbaren Krieger abgab. Als Sportler hatte er sich aus den rassischen und politischen Umwälzungen, die sich um ihn herum abspielten, herauszuhalten: den Sit-ins der Studenten in Nashville 1960 (dem Jahr, in dem er die Goldmedaille in Rom gewann), den Freedom Rides (Fahrten von Bürgerrechtlern durch die Südstaaten, um, etwa auf Busbahnhöfen, zu überprüfen, ob noch Rassentrennung galt), dem Marsch auf Washington oder den Studentenprotesten in Albany, Georgia, und in Ole Miss (während er die Schwergewichtsleiter emporkletterte). Doch Clay sagte nicht nur etwas zu den Umwälzungen, er sagte es auch auf eine Weise, die jeden, vom weißen Rassisten bis hin zu den Führern der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), empörte. Er wechselte die Religion und den Namen, er erklärte sich unabhängig von jeder Schablone und Erwartung. Cassius Clay wurde Muhammad Ali. Heute denkt nahezu jeder Amerikaner mit verschwommener Zuneigung an Ali – paradoxerweise war er ein Krieger, der letztlich die Liebe verkörperte –, doch dieser Wandel setzte erst weit nach Alis Periode der Selbstkreierung Anfang der sechziger Jahre ein, jener Periode, über die das vorliegende Buch berichtet.
Ali und ich unterhielten uns an jenem Nachmittag über die drei führenden Schwergewichtler jener Zeit – Floyd Patterson, Sonny Liston und Clay selbst – und darüber, wie sie auf geradezu gespenstische Weise die politischen und rassischen Veränderungen repräsentierten, die im Gange waren, während sie gegeneinander um den Titel kämpften. In den frühen sechziger Jahren besetzte Patterson die Rolle des Guten Negers, eines zugänglichen und eigenartig bänglichen Mannes, eines respektvollen Verfechters der Bürgerrechte, der Integration und des christlichen Anstands. Liston, der vor seiner Karriere schon im Gefängnis gesessen hatte, nahm dagegen die Rolle des Bösen Negers an, nachdem er gemerkt hatte, daß man ihm keine andere zugestehen würde. Für die meisten Sportjournalisten war Liston monströs, unerklärbar, ein »Bigger Thomas« (nach einer Figur aus Richard Wrights Roman Native Son: ein böser Nigger), ein Caliban, der ihr Begriffsvermögen überstieg. Diese Geschichte beginnt daher mit Patterson und Liston, ihrem Leben und ihren beiden kurzen, dramatischen Kämpfen 1962 und 1963. Beide repräsentierten auf ihre jeweilige Art die Welt, auf die Ali stieß und die er dann überwand. Ali sollte sich von den Stereotypen, denen Patterson verpflichtet war, für unabhängig erklären; ebenso wurde er unabhängig von der Mafia, die das Boxen im allgemeinen und Liston im besonderen jahrelang beherrscht hatte.
»Ich mußte beweisen, daß man ein neuartiger Schwarzer sein konnte«, sagte Ali zu mir. »Das mußte ich der Welt zeigen.«
Zuweilen war Ali mit sich selbst beschäftigt, manchmal aber blinzelten seine schweren Lider ein paarmal und blieben schließlich geschlossen, dann schlief er mitten im Gespräch fünf oder zehn Minuten lang. Das hatte er auch schon getan, als er jung war. Jetzt passierte es aber viel häufiger. Sosehr langweilte ihn manchmal die Gegenwart, das Leben, das um ihn herum ablief – die Festessen, die Meisterschaftsspiele, die Besuche beim König von Marokko oder bei den Ratsherren von Chicago. Er denke jetzt unablässig an den Tod, sagte er. »Gutes tun. Krankenhäuser besuchen. Das Jüngste Gericht kommt. Du wachst auf, und das Jüngste Gericht ist da.« Ali betete fünfmal am Tag, in Gedanken immer beim Tod. »Ich denke an das Danach. Ich denke ans Paradies.«
Der Kampf begann. Cassius Clay, in Schwarz und Weiß, stürmte aus seiner Ecke und begann sofort auf dem Quadrat zu kreisen, zu tanzen, bewegte sich unablässig durch den Ring, vor und zurück, der Kopf zuckte hin und her, als befreite er sich morgens von einem steifen Hals, alles leicht und flüssig – Liston dagegen, ein mächtiger Bulle, dessen Schultern den Zugang zum halben Ring abzusperren schienen, schoß eine linke Gerade ab. Sie verfehlte ihn um einen halben Meter. In diesem Augenblick deutete Clay nicht nur an, was an jenem Abend in Miami geschehen würde, sondern auch, was er im Boxen und im Sport ganz allgemein einführen würde – die Verbindung nämlich von Masse und Geschwindigkeit. Ein massiger Mann brauchte nicht mehr umherzutapsen und zu prügeln, er konnte zuschlagen wie ein Schwergewichtler und sich bewegen wie Ray Robinson.
»Schön, nicht?«
Ali lächelte. Es kostete ihn große Mühe zu lächeln. Parkinson ist eine Erkrankung des Nervensystems, das die Muskeln versteift und das Gesicht zu einer stumpfen Maske erstarren läßt. Die Motorik läßt nach. Das Sprachvermögen läßt nach. Manche halluzinieren oder haben Alpträume. Im weiteren Verlauf der Krankheit kann sogar das Schlucken zur schrecklichen Qual werden. Parkinson befällt das Opfer in unregelmäßigen Schüben. Ali konnte noch gut gehen. Er hatte noch immer mächtige Arme und eine massige Brust; er brauchte einem nur die Hand zu schütteln, um zu beweisen, daß er noch immer einen tödlichen Punch besaß. Nein, seine besondere Folter waren Sprache und Ausdruck, als hätte die Krankheit zuerst das treffen wollen, was ihm selbst, wie allen anderen, einmal am meisten Vergnügen bereitet hatte – oder sie am meisten geärgert hatte. Er litt sehr unter der Mühe, die ihm das Sprechen nun bereitete. (»Manchmal werden Sie mich nicht verstehen«, sagte er mir bei unserer ersten Begegnung. »Aber das ist schon okay. Dann sag ich’s eben noch mal.«) Vor laufender Kamera riskierte er kaum einmal ein Wort. Und ein Lächeln war meistens eine ungeheure Anstrengung für ihn. Ich sagte, ich wisse, wovon er spreche. Mein Vater hat Parkinson. Er kann nur noch wenige Schritte gehen, und Sprechen kann, je nach Tageszeit, eine Qual sein. Ich wußte also Bescheid. Was ich ihm nicht sagen konnte, war, daß mein Vater über siebzig ist. Er kann besser sprechen als Ali. Doch mein Vater hat nicht über Jahrzehnte hinweg Hunderte, Tausende von Schlägen der besten Schwergewichtler seiner Zeit eingesteckt.
Ali lächelte nun, als sein jüngeres Ich, Cassius Clay, einen bösen Jab an Listons linke Braue schnippte.
»Sehn Sie das? Sooo schnell! Sooo schön!«
Liston wirkte verletzt und verwirrt. Auf diese neuartige Gattung Sportler fand er keine Antwort.
Alis vierte Frau, Lonnie, kommt die Treppe herauf und legt Ali die Hände auf die Schulter. Sie ist eine kräftige, gutaussehende Frau, ihr Gesicht ist übersät mit Sommersprossen. Lonnie ist fünfzehn Jahre jünger als Ali. Sie wuchs im West End von Louisville auf, ganz in der Nähe von Clays Familie. Sie war an der Vanderbilt-Universität und arbeitete als Vertreterin bei Kraft in Los Angeles. Als Alis dritte Ehe, mit Veronica Porsche, dem Ende zuging, bat er Lonnie, zu ihm zu ziehen. Schließlich heirateten Ali und Lonnie. Lonnie ist genau das, was Ali braucht. Sie ist klug, ruhig und liebevoll, und sie behandelt Ali nicht wie ihren Patienten. Neben Alis engstem Freund, dem Fotografen Howard Bingham, ist Lonnie wahrscheinlich der einzige Mensch in seinem Leben, der mehr gegeben als genommen hat. Zu Hause in Michigan führt Lonnie Haushalt und Hof, sind sie auf Reisen, was über die Hälfte der Zeit der Fall ist, wacht sie über Ali, sorgt dafür, daß er genügend Ruhe bekommt und seine Medikamente nimmt. Sie kennt seine Stimmungen und Eigenarten, weiß, was er kann und was nicht. Sie weiß, wann er leidet und wann er sich hinter seinen Symptomen versteckt, um sich einen Auftritt, der ihn langweilt, zu ersparen.
Ali wandte den Blick nicht vom Fernseher.
»Muhammad, du mußt zwei Bilder signieren, ja?« sagte Lonnie. Sie legte ihm zwei große Hochglanzfotos hin.
Cassius Clay tanzte im Ring umher und hielt nur inne, um auf dem Fleisch von Sonny Listons Gesicht eine Tätowierung anzubringen.
»Ali, kannst du da ›für Mark‹ schreiben? M-A-R-K. Und ›für Jim‹. J-I-M. Und nachher mußt du noch ein paar Bilder und Boxhandschuhe signieren.«
Damit verdient Ali heute einen Großteil seines Lebensunterhalts. Ali hat viel Geld mit Boxen verdient, aber nicht so viel davon behalten, wie möglich gewesen wäre. Es ging drauf für Alimente, Kletten, das Finanzamt, schöne Zeiten, die Nation of Islam. Doch der Vorteil, die charismatischste Gestalt im Sport des zwanzigsten Jahrhunderts zu sein, ist, daß er selbst in seinem geschwächten Zustand, langsam und nahezu sprachlos, bei einem Bankett oder einer Versammlung auftauchen und mit einem dicken Scheck in der Tasche wieder gehen kann. Von all den Ikonen der sechziger Jahre – den Kennedys, Martin Luther King, Malcolm X, John Lennon, Elvis Presley, Bob Dylan, Mickey Mantle – sind nur noch wenige übrig, und keiner von ihnen wird so bewundert wie Ali.
»Ich unterschreib, wir essen«, sagte er verlegen.
Das Band lief weiter. Cassius Clay hatte den Gegner völlig im Griff. Liston hatte unter beiden Augen Schwellungen. Binnen einer Viertelstunde war er um zehn Jahre gealtert. Ali hatte damals wie heute seinen Spaß daran. »Jedesmal wenn Liston einen Treffer landete, brüllten die Leute«, flüsterte er. »Die warteten. Aber jetzt können sie es nicht fassen. Die haben gedacht, Liston haut mich ins Publikum. Sehn Sie mich nur!« Clay tanzte und jabbte. In der sechsten Runde war Clay ein Torero, der den Nacken eines Stiers mit Degen spickte.
Am Ende der sechsten Runde setzte Liston sich auf seinen Hocker und blieb sitzen. Er gab auf. Ali lächelte, als er sah, wie sein jüngeres Ich im Ring umhertanzte und schrie: »I’m the King of the world! King of the world!«, auf die Ringseile stieg und auf die vielen Sportjournalisten zeigte: »Eat your words! Eat your words!« (»Nehmt das zurück! Nehmt das zurück!«) Am folgenden Tag sollte Clay verkünden, daß er nicht nur Weltmeister im Schwergewicht sei, sondern auch Mitglied der Nation of Islam. Binnen weniger Wochen sollte er einen neuen Namen haben. Und binnen zweier Jahre sollte er, der schnelle und witzige Junge aus Louisville in Kentucky, sich zu einer der bezwingendsten und aufregendsten Gestalten des Amerika seiner Zeit entwickelt haben. Er wurde so berühmt, daß er auf seinen Reisen um die Welt aus dem Fenster des Flugzeugs blicken – auf Lagos und L. A., auf Paris und Madras – und sicher sein konnte, daß praktisch jeder dort wußte, wer er war. Er hatte Phantasien, daß er um die ganze Welt trampen würde, im Wissen, daß jeder ihn aufnehmen, ihm zu essen geben, ihn bewundern würde. In jenen frühen Tagen, als er noch Cassius Clay war, wurde er in der Presse und auch anderswo häufig verunglimpft, doch mit der Zeit wurden diese Stimmen immer schwächer. Er verdiente sein Geld damit, auf Leute einzuschlagen, und dennoch wurde er in seinen mittleren Jahren ein Symbol nicht nur des Mutes, sondern auch der Liebe, des Anstands, sogar einer Art Weisheit.
Eine Putzfrau kam herein, stellte den Staubsauger ab und setzte sich ebenfalls vor den Fernseher. Noch immer schrie Cassius Clay: »König der Welt!«
»Bin ich nicht schön?«
»Ach, Ali«, sagte sie, »was hattest du damals für eine große Klappe.«
»Stimmt«, sagte er lächelnd. »Aber bin ich nicht schön? Da war ich zwanzig … zwei-, dreiundzwanzig? Zweiundzwanzig. Jetzt bin ich vierundfünfzig. Vierundfünfzig.« Ungefähr eine Minute lang sagte er nichts. Dann sagte er: »Die Zeit verfliegt. Fliegt. Fliegt. Sie fliegt davon.«
Dann hob Ali die Hand, ganz langsam, und seine Finger flatterten wie Vogelflügel.