Prolog

Gast, Tennessee

1857

Plock!

Morris hackte dem Mädchen die Hand mit einem Beil ab, dann lachte er ausgelassen. Die arme Mulattin heulte auf und aus ihrem Stumpf pumpte das Blut.

»Wozu hast du das denn gemacht?«, brüllte Cutton. Er hatte noch nicht einmal die Hose ausziehen können, bevor Morris losgelegt hatte.

Morris hatte sich Speichel in den ungepflegten Bart gekichert. »Sie is’ ’n Mischling, Cutton, ’ne Mischlingshure. Und ich hab ihr ’n Dollar bezahlt.« Mit der abgetrennten Hand des Mädchens rieb er sich den Schritt. »Mischlinge dürfen auf kein’ Fall mehr als zwanzig Cent verlangen.«

Cutton konnte kaum sprechen, als er seinen Gürtel wieder schloss. »Du bist irre, Morris! Die Puffmutter im Zimmer nebenan wird Marschall Braden holen!«

Das Mädchen schlotterte unter Morris’ gespreizten Oberschenkeln, bekam einen Schock. »Aaaach, scheiß drauf. Der Marschall gehört Gast, und wir arbeiten für Gast. Wir haben doch bloß ’n bisschen Spaß in ’nem Hurenhaus, das ist alles.«

Spaß? Einem Mädchen die Hand abzuhacken, ist Spaß? Cutton zog einen Lederriemen aus einem seiner Jefferson-Schuhe und band damit den Stumpf des Mädchens ab. »Du bist so strunzdumm wie Hundescheiße. Das Mädchen könnte sterben.«

Morris ließ die Hand auf den bebenden Bauch des Mädchens fallen. »Sie wird nich’ sterben, Cutton. Schau her, ich mach’s wieder gut.« Er warf eine Fünf-Dollar-Silbermünze auf den Boden.

»Du bist ein verrückter Dreckskerl. Das war das letzte Mal, dass ich mit dir zum Trinken gegangen bin«, tobte Cutton und steuerte auf die Tür zu.

Morris zeigte sich ungläubig. »Willste jetzt auf einmal nich’ mehr?«

Cutton stapfte aus dem Bordell in die staubige Dunkelheit hinaus. Scheiße. Er kannte Morris schon eine ganze Weile – sie hatten zusammen an der Delaware-Strecke gearbeitet. Aber seit sie bei Gast und seiner Bahnmannschaft angemustert hatten, schien der Mann wahnsinnig geworden zu sein.

Wahnsinnig ... oder böse?, fragte er sich.

Die Number 3 Street präsentierte sich dunkel. Vom nächsten Häuserblock hörte er, dass in Cusher’s Bierstube immer noch gezecht wurde. Aber dorthin wollte Cutton nicht zurück. Die anderen würden ihn nur fragen, wie es gelaufen sei.

Hinter ihm schwang die Tür auf. Morris hatte seine Arbeitshose wieder angezogen und rief: »He, komm schon, Cutton. Wozu der Aufstand? Sie ist ’n Mischling, um Himmels willen!«

Cutton ging davon. Ihn kümmerte nicht, ob sie zur Hälfte schwarz war; es hätte nicht einmal eine Rolle gespielt, wenn sie eine vollblütige Negerin gewesen wäre. Einen Sklaven wegen Diebstahls oder Vergewaltigung aufzuknüpfen, ist eine Sache, aber was Morris getan hat, ist schlichtweg unmenschlich. Cutton stapfte weiter in die Finsternis. Es gab nicht mehr viel zu tun, außer zur Schlafbaracke zurückzukehren und sich aufs Ohr zu legen. Er hatte den Großteil des Tages auf dem Pferd verbracht, Gleise überprüft und sichergestellt, dass Gasts Sklaven schnell genug arbeiteten. Bin ohnehin hundemüde. Er hatte lediglich eine schnelle Nummer mit einer Hure gewollt.

Aber nicht ... das.

»Genug Trubel für heute?«, ließ ihn eine leise Stimme innehalten.

Cutton drehte sich an der Kreuzung um. Es konnte niemand aus dem Freudenhaus sein – das lag in der entgegengesetzten Richtung. Er kniff die Augen zusammen.

Wieder die weibliche Stimme: »Genug oder Lust auf mehr?«

Cuttons Blick heftete sich auf ein gespensterhaftes Bild, eine kurvenreiche weiße, verschwommene Kontur. Der Schatten eines Zweigs verbarg das Gesicht.

»Lady, ich bin gerade von Trubel weg, der mir überhaupt nicht gefallen hat«, gab er zurück. »Wer sind Sie?«

»Komm mit!« Eine warme Hand ergriff die seine und zog daran.

Sie führte ihn den Hügel hinauf. Sträucher raschelten. Das fleckig durch die Bäume dringende Mondlicht reichte nie, um Einzelheiten zu erkennen, doch als Cutton hinter ihr hereilte, konnte er ausmachen, dass sie unter dem hauchdünnen Nachthemd nackt war.

»Sie sind nicht aus dem Freudenhaus, oder?«

Ein leises Kichern ertönte. »Komm einfach mit.«

Allein das Gefühl ihrer Hand, der weichen Wärme auf seinen Schwielen, bescherte Cutton eine halbe Erektion – das und etwas Abstrakteres, eine ungewisse Vorfreude. Sie wirkte unbändig lüstern, als sie vorauslief.

»Wohin bringen Sie ...«

»Nicht reden! Wir sind gleich beim Haus ...«

Haus. Etwas Schweres plumpste auf Cuttons Herz. Auf diesem Hügel gibt es nur ein einziges Haus, wusste er. Ein Dienstmädchen? Allerdings hatte er gehört, dass Gasts gesamtes Hauspersonal aus Negern bestand. »Arbeiten Sie für Mr. Gast?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie kichernd. »Aber ich bin mit ihm verheiratet.«

Cutton blieb stehen, als hätte er eine Schrotladung in die Brust bekommen. Er drehte sie zu sich herum und sah ihr direkt ins Gesicht, ein wunderschönes Gesicht, das sich wie verschleiert mit lockigem, in der Farbe des Mondes glänzendem Haar abzeichnete. »Scheiße! Sie haben nicht gelogen!«

»Kommst du jetzt mit oder nicht?«

Cutton erstarrte. »Sie ... Sie sind die Frau meines Bosses ...«

»Sag es noch etwas lauter, damit dich auch die Sklaven drüben bei Sibleys hören können.« Das Mondlicht erfasste sie vollständig, und sie schien zu leuchten. »Mein Mann ist beim Hüttenwerk in Tredegar. Er kauft von einem Bundeshändler weitere Schienen und kommt erst morgen zurück.« Ihre Stimme klang süß wie Sirup. Dann hob sie eine Brust aus dem Nachthemd und fasste gleichzeitig in Cuttons Schritt. »Komm jetzt mit hinein ...«

Das große kantige Haus stand wie ein schattiger Tafelberg da. Bisher hatte er es nur aus der Ferne gesehen, und nun interessierte es ihn nicht weiter. Die Tür klapperte, dann befanden sie sich im Inneren, und sie führte ihn die Treppe hinauf. Cutton achtete nicht auf die luxuriöse Einrichtung. Stattdessen konzentrierte er sich auf das dünne Nachthemd, das über ihren Hintern glitt, und auf die Seiten ihrer schwingenden Brüste. Sie liefen einen mit Teppich ausgelegten, von gerahmten Bildern gesäumten Gang entlang, dann – klick – betraten sie ein Zimmer.

Puh ...

In dem Raum roch es auf Anhieb übel, und wenn das Zimmer übel roch, galt das für gewöhnlich auch für die Frau. Doch Cutton wurde – kniend – eines Besseren belehrt, als sie ihn sofort zu Boden drückte und ihr Nachthemd anhob. Es ging abrupt – kein Werben, kein Süßholzraspeln. Cutton hatte gerade noch Zeit zu denken: Worauf lasse ich mich da bloß ein? Das ist die Frau meines Bosses! Dann traf ihn schon die nächste Erkenntnis wie ein Schlag. Er hatte weiche Behaarung erwartet, die den blonden Locken auf ihrem Kopf entsprach – stattdessen befand sich vor seinem Gesicht eine unbehaarte Scham.

Cutton hatte von Frauen gehört, die so etwas machten – Frauen der vornehmen Gesellschaft –, aber er hatte es noch nie mit eigenen Augen gesehen. Ehrfürchtig starrte er darauf. Rasiert ... na so was ... Seine Finger strichen über das weiße Dreieck. Und auch noch völlig glatt, kaum Stoppeln ...

Der nackte Bauch bebte vor seinen Augen. Dann befahl sie in einem Tonfall, der irgendwie nicht mehr an eine Südstaatenschönheit erinnerte: »Leck mich.«

Die weichen Pobacken fühlten sich heiß unter seinen Händen an. Sie schmeckte wie Rosenwasser.

Allerdings konnte er sich nicht konzentrieren, und sie schien das zu spüren. Ihre Nägel bohrten sich in seinen Nacken, wenn er ins Stocken geriet. Cuttons Gedanken verschwammen, während seine Zunge forschend umherstrich. Einmal hielt er inne und schaute zu ihrem Gesicht auf. »Aber, äh, Mrs. Gast, falls Ihr Mann früher nach Hause kommt, habe ich mächtig Ärger am Hals.« Sie streifte das Nachthemd vollends ab.

»Ich hab dir doch gesagt, er kauft weitere Schienen!« Dann drückte sie ihn ganz zu Boden und setzte sich auf sein Gesicht. »Und jetzt leck mich!«

Ihre Vagina presste sich auf seinen Mund. Gast würde mich umbringen lassen, vermutete Cutton. Andere Männer hatten über die Vorzüge dieser Frau getuschelt, aber war sie es wert? Cutton verwöhnte sie, bis sie krampfhaft zuckte. Ihre Schenkel erzitterten an seinen Wangen ...

»Das war herrlich«, sagte sie und rollte sich herum. »Ein perfekter Anfang.«

Wenigstens das hörte Cutton gern.

»Jetzt ins Bett«, forderte sie ihn auf.

Das Bett stank, aber Cutton war kein empfindlicher Mann. Sie legte sich neben ihn, ließ ihre Hände über den weißen Körper wandern, drehte dunkle Brustwarzen zwischen ihren Fingerspitzen. »Ich muss mich für den Geruch entschuldigen. Ich muss Jessa die Matratze wieder austauschen lassen.«

Wieder. Cutton vermutete, dass sie schon viele Männer in diesem Bett gehabt hatte, die meisten dreckig vom Feld, und – soweit er gehört hatte – wohl auch einige Sklaven direkt von der Trasse. Doch was hatte sie noch gesagt? Einen Namen.

Jessa?

Das Hausmädchen!, begriff Cutton. »Was, äh, ist mit dem Hausmädchen? Was, wenn sie uns hört? Was, wenn sie hereinkommt?«

»Das Hausmädchen tut, was ich sage.«

»Und Ihre Kinder. Sie haben nicht mal die Tür abgeschlossen. Sie könnten jeden Moment rein...«

»Sie schlafen wie alle anständigen Leute um diese Uhrzeit.« Die Andeutung ließ sie lächeln.

In der Regel besaß Cutton ein gutes Urteilsvermögen; dies war die Frau seines Arbeitgebers, er sollte nicht hier sein. Er hätte weggehen sollen, als er ihr auf der Straße begegnet war. Und wenn es sich herumspräche? Gast würde mich lebendig begraben lassen. Davon war er überzeugt. Einige Männer, die für Gast gearbeitet hatten, waren verschwunden, nachdem Gerüchte aufkamen, und mehrere der Sklaven waren wegen derselben Behauptungen auf dem Feld hingerichtet worden ...

Ihr sanfter Akzent verschwand. »Also, wirst du mich jetzt ficken oder zwingst du mich, mir jemand anderen zu suchen?«

Die Worte genügten, um Cuttons gutes Urteilsvermögen auszulöschen, als hätte es nie existiert.

Zwei Stunden später lag er erschöpft da. Sie hielt die Arme und Beine um ihn geschlungen, sein mittlerweile erschlafftes Glied steckte noch in ihr.

Selbst nachdem Cutton ihr alles gegeben hatte, ließ ihre Geilheit nicht nach. Hitzige Erregung hatte ihre Wangen ebenso wie ihren Bauch und die weiche Haut unter ihrem Hals gerötet.

In kehligem Tonfall meinte sie kichernd. »Du bist wirklich ein richtiger Mann.«

Ein richtig TOTER Mann, wenn ich nicht von hier verschwinde, dachte er. Mittlerweile war seine Lust befriedigt – seine Vernunft kehrte zurück. »Ich muss meinen Hintern hier rausschaffen, Mrs. Gast.« Er wollte sich hochstemmen, doch ihre Arme und Beine verstärkten ihre Umklammerung. Sie ließ ihn nicht los, gestattete ihm nicht, sich aus ihr zurückzuziehen.

»Noch nicht«, flüsterte sie. Etwas blieb noch für ihn zu tun.

Am nächsten Morgen beobachtete Cutton, wie zwei Aufseher einen der Neger auf dem Feld enthaupteten. Es war das Erste, was er sah, als er vom Pferd abstieg.

Jetzt töten sie schon wieder einen ...

Cutton hatte nichts darüber gehört.

Bohnen- und Baumwollfelder säumten beide Seiten der mehrere Meilen langen Gleise, die sie bereits verlegt hatten. Cutton hatte erfahren, dass es sich bei den Bohnen um diese neumodische Sorte aus dem Orient handelte, etwas, das Soja genannt wurde. Für gewöhnlich arbeiteten die Sklavinnen auf den Feldern, während die Männer die Gleisnägel einschlugen. Nun bot sich ein seltsamer Anblick ...

Völlige Stille beherrschte den sonnigen Morgen. Die rund hundert Sklaven standen zusammen mit Gasts weißen Vorarbeitern und anderen Hilfskräften fast wie eine militärische Formation in strammer Haltung da.

»Das war ’n guter, sauberer Schnitt«, meinte Morris vom Feld. Der Aufseher, der das Werk vollbracht hatte, hatte dafür eine Dechsel benutzt, ein Werkzeug ähnlich einer Axt, allerdings mit quer zum Stiel stehenden Blatt. Er stand neben Morris und hielt den abgetrennten Kopf, damit ihn alle – insbesondere die Sklaven – sehen konnten.

Morris ergriff lautstark das Wort. »Wie ihr alle wisst, is’ es das, was Negern blüht, die Verbrechen begehen. Euch allen wurde Freiheit versprochen, sobald die Eisenbahnstrecke fertig is’, also solltet ihr gründlich nachdenken, bevor ihr was Dummes tut. Dieser Sklave hier hat ’ne weiße Frau belästigt, die ungenannt bleiben soll«, Morris packte den Kopf und sah ihn an, »und das is’ der Preis, den er dafür bezahlt hat. Mr. Gast is’ ’n gerechter und großzügiger Mann, aber wir dulden weder Ungehorsam noch Verbrechen. Dieser arme, dumme Sklave wird nie ’n freier Mensch sein, ihr alle aber schon, wenn ihr hart arbeitet, euch benehmt und die Finger von dem lasst, was sie nich’ anfassen sollten.«

Geweitete weiße Augen leuchteten furchtsam aus der langen Reihe der schwarzen Gesichter entlang der Gleise. Weitere Aufseher standen im Hintergrund und hielten Repetierpistolen und Donnerbüchsen, die mühelos mehrere Menschen mit einem einzigen Betätigen des Abzugs niederstrecken konnten.

Scheiße, dachte Cutton. Er hatte den Sklaven gekannt, der hingerichtet worden war – sein Name war Meti. Gast ließ alle Sklaven afrikanische Namen annehmen. Sie wurden gut gekleidet, gut ernährt und gut untergebracht, und angesichts des Versprechens auf Freiheit, sobald der letzte Nagel in Maxon eingeschlagen würde, gehorchten sie alle brav. Meti war einer der stärksten Nagelschläger gewesen. Es war übel, einen guten Arbeiter zu verlieren. Man hatte ihm die wertvollen Arbeitskleider und Stiefel ausgezogen. Nun war er nur noch ein nackter Leichnam ohne Kopf.

Das arme Schwein hätte ihn lieber in der Hose behalten sollen. Wahrscheinlich hat er eines der Mädchen aus der Ortschaft vergewaltigt.

Dann jedoch blickte Cutton weiter die Reihe hinunter und dachte erneut: Scheiße! Auf dem vertrauten Schimmel saß Mr. Gast und beobachtete das Geschehen. Gast nickte Morris zu, als sich ihre Blicke begegneten.

»Bringt die Hämmer!«, befahl er. »Ihr wisst ja, wie’s läuft.«

Vier ausgewählte Sklaven traten mit zwanzig Pfund schweren Vorschlaghämmern vor.

»Tut mir ja leid, dass ihr das mit einem von euch machen müsst – so is’ es nun mal. Aber es is’ nich’ nur für euch ’ne Lektion, sondern auch für Weiße. Wir erweisen unserm Land mit dem Bau dieser Strecke ’nen wichtigen Dienst. Die Yankees haben knapp dreißigtausend Meilen Eisenbahngleise, aber der Süden nich’ mal ganz neuntausend. Mr. Gasts Eisenbahn is’ wichtig für die Zukunft. Wir müssen alle mit ’n Gedanken bei unsrer Aufgabe bleiben.« Morris verstummte kurz, vermutlich nur, um eine dramatischere Wirkung zu erzielen. »Zerstampft ihn.«

Die Schmiedehämmer hoben und senkten sich, landeten mit wuchtigen, ekelerregenden Schlägen. Der kopflose Körper wurde durchgeschüttelt und binnen einer Minute völlig zerschmettert. Jeder Knochen im Leib des Toten war gebrochen.

»Äxte!«, befahl Morris.

Vier weitere Sklaven traten vor – mit ebenso grimmigen Mienen wie die ersten. Die Äxte sausten gleichzeitig herab, hoben und senkten sich in scharlachroten Bögen wie eine diabolische Nockenwelle. Innerhalb weniger Augenblicke verwandelten die Hiebe den zertrümmerten Leichnam in einen blutigen Brei.

»Schaufeln und Hacken!«

Der Abschluss. Die Sklaven hackten den Brei in die Erde.

Morris brüllte: »Durch den Verlust von dem da sin’ wir nur stärker geworden, und jetzt tut dieser nutzlose Verbrecherkörper doch noch was Gutes, indem er ’s Land düngt, dem wir ’s Essen in unsren Bäuchen verdanken! Mr. Gast is’ grad von ’ner langen Reise nach Virginia zurückgekommen und hat uns weitere Schienen und Schwellen mitgebracht, also machen wir ihn stolz und verlegen heut ’ne Viertelmeile zusätzlich! Richtig, Männer?«

Die hundert Sklaven schüttelten ihre Trübsal ab und jubelten.

»Denkt dran, am Ende dieser Strecke wartet die Freiheit auf euch. Richtig?«

Weiterer Jubel, weiteres Zusammenrücken.

»Zwanzig Minuten Pause! Dann geht’s zurück an die Arbeit!«

Cutton blieb sprachlos, als das Ritual endete: Die beiden Aufseher spießten Metis abgetrennten Kopf auf dem Feld auf einen hohen Pflock und rammten diesen in den Boden.

Gütiger Herr Jesus ...

Morris kam zu den Gleisen herüber. »He, Cutton. Tut mir leid, ich hab ja nich’ gewusst, dass du so ’n zartbesaiteter Typ bist. Aber du hättest letzte Nacht nich’ abhauen sollen. Hab der Puffmutter ’nen Fünfer in die Hand gedrückt, und sie hat ganz vergessen, was ich mit der kleinen Mulattin gemacht hab. Und sie hat mir noch zwei Mädels gebracht! Ich hatte noch jede Menge Spaß.«

Cutton versuchte, das Bild zu verdrängen. »Meti war ein guter Arbeiter, Morris. Was genau hat er getan? Sich einem der Mädchen aus der Stadt aufgezwungen?«

Morris biss ein Stück Tabak ab. »Unter uns?«

»Klar.«

»Hat Mrs. Gast in den Arsch gekniffen. Das hat er gemacht.«

Cuttons Magen flatterte. Wenn die ihm den Kopf abschlagen und mit seiner Leiche das Feld düngen, weil er ihr an den Hintern gefasst hat ... was würden sie wohl erst mit mir anstellen?

»Aber mich tät’ nich’ überraschen, wenn sie ihn drum gebeten hätt’. Und das bleibt auch unter uns.«

Cutton sehnte sich danach, das Thema zu wechseln. Sein Blick schnellte zu dem markanten Mann in dem langen Mantel auf seinem weißen Pferd. »Ich dachte, Mr. Gast würde erst heute Abend zurückkommen.«

Morris zuckte mit den Schultern. Er schaute zu dem abgetrennten Kopf auf dem Pfahl, wirkte dabei jedoch gänzlich unberührt. »Is’ schon heut Morgen eingetroffen. Und hat vier Flachwagen voll mit Schienen mitgebracht.«

»Eisen aus Tredegar, hab ich gehört.«

»Stimmt.«

»Verdammt viel besser als das Yankee-Eisen. Kostet aber auch mehr.«

»Tja, Mr. Gast will nur ’s Beste für seine Eisenbahn.« Ein weiterer Blick zum Feld verriet, dass allmählich Normalität einkehrte, ungeachtet des gepfählten Schädels, der auf alle herabstarrte. Sklavinnen in Baumwollkleidern gingen mit ihren Weidenkörben zurück zu den Sojabohnenreihen. Morris sah den Kopf noch einmal an.

Lächelte der Mann etwa?

Cutton schauderte.

Plötzlich fiel ein Schatten über sie. Cutton schaute auf ... und erstarrte regelrecht.

»Morgen, Mr. Gast«, begrüßte ihn Morris.

Der Mann mit den strengen Zügen nickte. Grau melierte Koteletten zierten sein Gesicht. »Morris. Eine Schande, die Sache mit dem Sklaven, aber Sie haben es wie immer in die richtigen Worte gefasst.«

»Danke, Sir. Wie Sie’s mir beigebracht haben – mach sie nich’ nieder, auch dann nich’, wenn wir ihnen Disziplin beibringen müssen.«

»Morgen, Mr. Gast«, sagte Cutton trotz seines Unbehagens. Heilige Scheiße, warum hab ich bloß das Gefühl, dass er weiß, was ich mit seiner Frau getrieben habe?

»Morgen, Mr. Cutton. Wie sind die Streckeninspektionen in meiner Abwesenheit gelaufen?«

»Besser hab ich sie noch nie erlebt, Mr. Gast.« Angesichts seiner staubtrockenen Kehle hatte er Mühe beim Sprechen. Sein Herz hämmerte in der Brust. »Die Spurweite ist perfekt. Wir haben schon fast fünf Meilen geschafft, und dabei haben wir noch keine zwei Wochen hinter uns. Und die Verbindungen sind tadellos.«

»Gut, gut.« Gast hob das verfinsterte Gesicht der Sonne entgegen. »Meine Frau hat erwähnt, dass sie gestern mit Ihnen gesprochen hat.«

Cuttons Herz fühlte sich wie ein Stein an, der ihm gerade in den Magen gerutscht war. »Ich ... Nun, ja, Sir, ich habe sie gegrüßt, ja, Sir.«

»Sie meinte, dass Sie ein höflicher Gentleman sind ...«

»Das, äh, ist sehr nett von ihr ...«

»... obwohl Sie aus Delaware stammen.«

Die Zeit schien stillzustehen. Dann brachen Gast und Morris in Gelächter aus.

Cutton hätte beinahe in seine Segeltuchhose gepinkelt, aber schließlich begriff er und stimmte in das Lachen mit ein, wenngleich nervös.

»Ich veralbere Sie nur ein wenig, Mr. Cutton«, beschwichtigte Gast. Er sah sie beide an. »Ihr Männer leistet verdammt gute Arbeit. Machen Sie so weiter.«

»Ja, Sir«, erwiderte Morris.

Cutton fügte hinzu: »Werden wir auf jeden Fall.«

Gast gab seinem Pferd die Sporen und ritt die Gleise entlang zurück zu den mit Schienen und Schwellen beladenen Flachwagen.

Aber unwillkürlich waren Cutton ... Gasts Augen aufgefallen. Kurz bevor er losgeritten war, als er herabgeblickt hatte ... das Weiß seiner Augen wirkte gelblich, trübe, als hätte er Gelbsucht.

»Ist Mr. Gast nicht ganz auf dem Damm?«, fragte Cutton.

»Nich’, dass ich wüsst’. Wieso?«

Cutton kaute auf der Unterlippe. »Ich dachte, seine Augen hätten etwas merkwürdig ausgesehen.«

»Mir is’ nix aufgefallen, Cutton, und ich bin jetzt ganz schön am Arsch.«

»Wieso das?«

»Mich nennt er Morris aber dich Mr. Cutton. Scheiße.«

Tatsächlich?

»Ich wette, du lutschst ihm jeden Abend den Pimmel, was?« Morris lachte grölend und klopfte Cutton heftig auf den Rücken. »Gehn wir heut Nacht wieder in ’n Puff. Bisschen Spaß haben.«

Cutton erinnerte sich nur allzu gut an Morris’ Vorstellung von Spaß. Er war schweißgebadet vor Nervosität. »Vielleicht. Mal sehen, wie ich mich fühle, wenn wir mit der Arbeit fertig sind.«

Cutton schaute ein letztes Mal zu dem aufgespießten Kopf. Niemand nahm Notiz davon, niemand kümmerte sich auch nur im Geringsten. Bloß eine weitere Ermordung eines ungehorsamen Sklaven. Er schüttelte den Kopf, als Morris ihm Kautabak anbot.

Und bemerkte etwas.

Hol mich der Teufel ...

Das Weiß in Morris’ Augen wirkte ein wenig ungesund, blassgelb verfärbt.

Genau wie bei Gast.

Abermals schüttelte Cutton den Kopf. Muss wohl am Licht liegen, tat er seine Beobachtung ab.

»Ihr zwei!«, brüllte Morris den beiden Aufsehern auf dem Feld zu. »Schafft die Sklaven zurück zu den Gleisen. Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen.« Abermals klopfte er Cutton so kräftig auf den Rücken, dass Staub aufwirbelte. »Wir sehn uns heut Abend, Kumpel.«

Damit ging Morris zurück ans Werk. Die Sklaven begannen, sich in die ihnen zugewiesenen Gruppen aufzuteilen, und schon bald hörte man Werkzeug klirren.

Cutton stieg auf sein Pferd, hielt aber noch einen Moment inne. Sein Blick ruhte nach wie vor auf dem abgetrennten Schädel und dem starren toten Gesicht. Ist das wirklich Gerechtigkeit?, fragte er sich. Dann sagte ihm eine höchst unerwünschte Eingebung, dass es weit mehr war als das.