Kapitel 6
I
Der Blickwinkel des Traums wie durch das Objektiv einer Kamera ...
Mistgabeln schaufeln eine dampfende braune Masse auf den Boden. Sklavinnen rechen die Masse, bis sie eine teppichartige Lage bildet. Die grelle, hoch stehende Sonne gleißt darauf herab.
Warum?
Und was ist das?
Du schaust weiter und stellst fest, dass die merkwürdige braune Schicht etwa einen Viertelmorgen Land bedeckt ...
Sklaven rollen Schubkarren mit mehr von der Masse aus einer alten Scheune hinter dir. Es ist ein fortlaufender Vorgang. Die Schubkarren kommen heraus, Sklavinnen mit Mistgabeln leeren sie, anschließend werden die Schubkarren zurück hineingeschoben.
»Harkt es schön dünn!«, befiehlt ein Konföderiertensoldat.
Dann begreifst du. Was immer dieses braune Zeug ist, sie rechen es unter der Sonne, damit es trocknet.
Du folgst dem Weg der Schubkarre zurück zur Scheune. Weitere Soldaten in tristem Grau bewachen die Eingänge mit geschulterten Gewehren – hauptsächlich Harpers-Ferry-Musketen, Modell 1842. Du hörst einige Schreie und das Klappern von Hufen. Um die andere Seite der Scheune verläuft ein Trampelpfad, der sich den Hang hinab zu einem Eisenbahndepot windet. Soldaten umgeben das Gebäude, und auf einem geweißelten Schild steht Gast Endbahnhof, Maxon, Georgia – CSA. Aus dem Depot fahren Fuhrwerke ab.
Es sieht nach einer Menge Fuhrwerken aus.
Du vermutest, dass dort Rohmaterial für die Kriegsanstrengungen aus den Waggons auf die Fuhrwerke umgeladen wird – das geheimnisvolle, dampfende braune Zeug.
Ist es Torf? Du weißt kaum, was Torf ist, nur, dass es sich um einen rohen Brennstoff handelt, der aus Mooren stammt. Wurde während des Bürgerkriegs Torf verwendet?
Dir geht durch den Kopf, dass du eigentlich von nichts besondere Ahnung hast. Dennoch entscheidest du, dass dieses auf dem Feld trocknende Material Torf sein muss und mit dem Zug hier angeliefert wird.
Deine Augen weiten sich, während du hinsiehst. Reihen von Pferdefuhrwerken nähern sich der Scheune.
Du erwartest, in den Fuhrwerken hoch aufgetürmten Torf zu sehen, doch als sie sich nähern, wird dir klar, dass du dich irrst. Die Fuhrwerke sind voller Menschen.
Frauen, Kinder, alte Männer.
Sie sind nackt, ihre Handgelenke vor ihnen gefesselt. Schulter an Schulter stehen sie in Käfigwagen, die mittelalterlich anmuten. Schließlich hält die Fuhrwerkskolonne an einem Scheuneneingang an. Entsetzt, zugleich jedoch zutiefst neugierig beobachtest du das Geschehen. Soldaten mit Bajonettmusketen entladen die Gefangenen aus dem ersten Fuhrwerk und scheuchen sie im Gänsemarsch in die Scheune. »Bewegung, ihr Schlampen und Großväter aus dem Norden!«, brüllt ein Soldat. »Gänsemarsch!«, schreit ein anderer. »Wer nicht tut, was man ihm sagt, ist tot!«
Als der Wagen leer ist, wendet er und rollt zum Ausgangstor am anderen Ende des Gebäudes.
Und wo ist der Torf?, fragst du dich.
Es gibt keinen Torf.
Ein Konföderiertenmajor und zwei Rekruten zu Pferd nähern sich der Scheune. Sie wirken erschöpft und staubig, aber als sie ihre Pferde zügeln, starren sie die Scheune an.
»Bleiben Sie stehen und nennen Sie Ihr Anliegen, Sir!«, ruft ein Wachposten.
Der Major steigt ab und salutiert. »Ich bin Major Tuckton, Erste Infanterie von North Carolina, Sergeant. Sie dürfen sich rühren, während ich meine Befehle vorzeige.« Er holt eine Schriftrolle hervor, reicht sie dem Wachmann und fährt mit schwärmerischer Betonung fort: »Ich bin auf dem Weg in die Ortschaft Millen, um General Martin wichtige Informationen zu überbringen.«
Der Wachmann überprüft die Befehle und gibt sie zurück. »Ja, Sir!«
»Und ich brauche Wasser für meine Männer und Pferde, da Millen noch ein gutes Stück entfernt liegt und ich so bald wie möglich dort eintreffen muss.«
»Ja, Sir, wir kümmern uns sofort darum, Sir!«
»Lassen Sie mich Ihnen noch eine Frage stellen, Sergeant. Sind Sie bereit für gute Neuigkeiten?«
»Ja, Sir, und ob ich das bin ... Wir haben Gerüchte gehört, dass sich die Yankees darauf vorbereiten, Chattanooga zu erobern ...«
»Ja, aber das wird nicht passieren, und Sie können das ruhig verbreiten, denn unser stolzer General Braxton Bragg hat die Unionsdivision soeben am Chickamauga Creek vernichtet. Die verdammten Drecksäcke flüchten nach Norden, Sergeant, weil sie wissen, dass sie die Bahnknoten in Chattanooga jetzt nicht mehr einnehmen können, zumal zehntausend ihrer Männer tot sind. Jetzt werden wir diesen Krieg gewinnen, Sergeant. Verbreiten Sie die Nachricht ...«
Der Sergeant stimmt Jubelrufe an. Er lässt sein Gewehr fallen und läuft zu anderen Wachposten. »Holt Wasser für den Major und seine Männer, und erzählt allen, dass wir die Yankees am Chickamauga Creek aufgerieben haben!«
Die Neuigkeit verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Pfiffe, Johlen und Jubel hallen durch die Luft.
Als der Sergeant mit einem Wasserträgerkommando zurückkehrt, zieht der Major die Augenbrauen hoch. »Sergeant, was geht hier vor sich?« Er zeigt auf die Fuhrwerke und die Schar der Nackten, die in die Scheune getrieben werden.
Der Sergeant hält inne. »Gefangenenabfertigung, Sir.«
Der Major nimmt seinen Hut ab und streicht sein Haar zurück. »Ich dachte, wir schicken alle Yankee-Gefangenen in diese neue Ortschaft etwas südlich von hier, nach Andersonville.«
»Das hier sind zivile Gefangene, Sir.«
»Aber ... ich sehe hier kein Gefängnis, Sergeant. Nur diese große Scheune.« Der Major setzt sich in Richtung des Gebäudes in Bewegung. »Ich will wissen, was da drin vor sich geht ...«
»B-Bitte um Entschuldigung, Sir«, unterbricht ihn der Sergeant und hält ihm eine andere Papierrolle hin. »Aber hier sind meine Befehle für Sie. Wissen Sie, Sir, das ist auf Anordnung des Leiters des Technikbetriebs, eines Mr. Harwood Gast, ein Bereich mit Zugangsbeschränkung.«
»Wer? Ein Zivilist, der militärische Befehle erteilt? Ich erkenne zivile Verordnungen nicht an ...«
»Oh nein, Sir, es ist ein militärischer Befehl, gegengezeichnet von General Caudill.«
»Hmm ...« Verdutzt liest der Major den Befehl. »Ich verstehe.«
»Aber danke für die hervorragenden Neuigkeiten über General Bragg, Sir! Jetzt wird Lincoln bestimmt einen Waffenstillstand unterzeichnen, oder?«
Der Major wirkt zerstreut und blickt fragend zur Scheune. »Oh ja, Sergeant, wahrscheinlich wird er das, da er nun weiß, dass er die Endbahnhöfe von Tennessee nicht in die Hände bekommt. Sobald man in Europa von diesem großen Sieg erfährt, wird man die CSA zweifellos anerkennen. Man wird drohen, den Handel mit dem Norden einzustellen, wenn man dort keinen Waffenstillstand ausruft und uns als unabhängige Nation anerkennt ...« Immer noch starrt er zur Scheune und schüttelt den Kopf. »Sie können weitermachen, Sergeant.«
»Ja, Sir!«, erwidert der Sergeant und läuft zu seinem Posten zurück.
Nun schaut der Major ...
Zu dir.
Er kommt auf dich zu, und du stehst stramm. Du salutierst nicht, weil du unter Waffen bist.
»Guten Tag, Sir!«
»Rühren, Soldat.« Hinter dem Major tränken dessen Männer die Pferde. »Können Sie mir sagen, was zur Hölle in dieser Scheune vor sich geht?«
»Tut mir leid, Sir, aber ich weiß es nicht.«
»Seltsam ...« Der Major verengt die Augen zu Schlitzen. Die zuvor in die Scheune getriebenen Gefangenen kommen nun am anderen Ende des Gebäudes heraus und steigen wieder in den Wagen. Dieser setzt sich einen Hügel hinauf in Bewegung.
»Und wer ist dieser Harwood Gast? Ich habe noch nie von ihm gehört.«
»Ich glaube, er ist ein ziviler Bevollmächtigter, Sir«, sagst du, hast jedoch keine Ahnung, woher die Information stammt. »Ich habe gehört, wie er als privater Finanzier bezeichnet wurde. Er hat eine Ausweichbahnstrecke gebaut, die aus Ost-Tennessee hierherführt.«
»Ach ja, die am Anschlussknoten in Branch Landing, richtig?«
»Ich glaube ja, Sir. Soweit ich weiß, hat er fünfhundert Meilen Gleise verlegt und alles aus eigener Tasche bezahlt, Sir.«
»Hm, ja, in Ordnung. Also bloß ein weiterer reicher Kerl, der gemeinsame Sache mit der neuen Regierung macht. Wahrscheinlich will er sich einen Platz im Kabinett von Präsident Davis erkaufen.«
»Ja, Sir, ich schätze, so ist es.«
Der Major wirkt unzufrieden und starrt mit den Fäusten an den Hüften weiter zur Scheune, wo die nächste Wagenladung nackter Zivilisten aussteigt.
»Tja, Befehle sind Befehle. Weitermachen, Soldat.«
»Ja, Sir!«, erwiderst du zackig.
Der Major steigt wieder auf sein Pferd. Einer seiner Männer deutet hinter ihn auf das Feld ...
»Und was um alles in der Welt soll das, frage ich mich«, murmelt der Major.
»Sieht so aus, als trocknen sie Torf in der Sonne«, meint einer der anderen Reiter.
»Die benutzen Torf, damit sich die Kohle leichter entzündet«, meldet sich ein Dritter zu Wort. »Und die Gewehrrohrfabrik ist gleich ein Stück weiter.«
»Ja, Torf«, sagt der Major, wenngleich ohne große Überzeugung. »Das muss es wohl sein ... Kommt, Männer, wir brechen auf ...«
Sie reiten davon.
Du begibst dich zurück zu deinem Posten an der Scheune. Ja, die Wagen fahren einen Hang hinauf, und hinter dem Hügel siehst du Rauch. Du lässt den Blick über das Feld wandern und stellst fest, dass Sklaven einen Teil des dunklen Zeugs zusammenrechen und auf weitere Fuhrwerke verladen ...
Als du deine Runden drehst, hörst du andere Soldaten reden.
»Scheint mir Zeitverschwendung zu sein ... Und wohin kommen sie danach?«
»Anscheinend auf die andere Seite des Hügels.«
»In die alte Gewehrfabrik?«
»Die ist nicht mehr alt. Dieser Gast hat sie komplett renoviert. Du hast ihn sicher schon mal gesehen. Ich habe gehört, dass es jetzt der heißeste Hochofen im Land ist. Gast war vergangenen Monat oft hier, als das Depot dort drüben fertiggestellt wurde.«
»Ach so, der Kerl mit den Koteletten.«
»Ja, und dem weißen Pferd.«
»Und irgendwo hinter der Fabrik muss ein großes Militärgefängnis sein. Und was wir hier tun ... Scheiße, das machen Armeen seit Tausenden Jahren so. Kriegsbeute nennt man das. Verwendung der Ressourcen des Feindes, weil der es mit uns genauso machen würde. Scheiße, da Lincoln jetzt keine Gefangenen mehr austauscht, was sollten wir denn sonst tun? Ich hab ein paar echt üble Geschichten über das Yankee-Gefangenenlager in Annapolis gehört. Sie lassen unsere Männer verhungern und prügeln sie.«
»Die gottverdammte Union soll sich zur Hölle scheren, und wir werden sie dorthin schicken. Klar ist es richtig, was wir hier tun. Du hast diesen Major ja gehört. Wir haben die Yankees gerade aus Tennessee rausgeworfen. Bis Dezember wird General Lees Armee Washington bestimmt überrannt haben.«
»Ja, und dort oben sind die Winter echt kalt. Da brauchen unsere Jungs gute Schlafsäcke ...«
Du verstehst immer noch nicht, aber du schreitest deinen Posten aufgrund eines unterbewussten Befehls ab. Irgendetwas wird auf dem Feld getrocknet. Und es ist kein Torf. Es ist etwas, das aus der Scheune kommt ...
Dein Rundgang führt dich auf die andere Seite des Gebäudes. Diese Wand weist keine Tore auf, aber eine geteilte Tür, deren obere Hälfte offen steht.
Schau hinein ...
Als du dich näherst, nimmst du Gestank wahr. Es ist ein entsetzlicher, ein unbegreiflicher Geruch. Wahrscheinlich haben sich diese zivilen Gefangenen seit Monaten nicht gewaschen, doch nur ein Teil des Gestanks stammt von Körperausdünstungen. Die Kleider hat man ihnen offensichtlich weggenommen, um die Stoffe für die Kriegsanstrengungen zu verwenden, aber nun, als du darüber nachdenkst, fragst du dich, warum man sich die Mühe macht, Frauen, Kinder und alte Männer einzusperren und zu ernähren. Sie haben keinen militärischen Wert ...
Dann schaust du in die Scheune ...
In jeder Ecke brennen große Holzfeuer, und über jedem Feuer hängt ein Kessel mit fast zwei Metern Durchmesser. Die Kessel brodeln und speien widerlich riechenden Dampf aus. Jeder wird von einem Sklaven mit einer langen Holzkelle umgerührt.
»Kocht es ordentlich, Jungs«, befiehlt ein Offizier mit einer Pistole.
Aber was siedet in den Kesseln?
»Wir müssen all die dreckigen Yankee-Läuse vernichten, bevor es tauglich für unsere Männer ist ...«
Du verstehst immer noch nicht ... bis du in die Mitte der Scheune blickst, von wo ein unablässiges Klicken ertönt.
Die vorwiegend nackten Gefangenen bilden eine stumme Menschenschlange. Alle sind sehr dürr; ihre Rippen sind erkennbar, die Knie wirken knorrig. Einige der Frauen zeigen Anzeichen einer Schwangerschaft, ja, sogar einige der Mädchen, die noch kaum in der Pubertät sind.
»Die nächsten Zehn! Los, Beeilung!«
Zehn der Gefangenen werden gleichzeitig in die Mitte der Scheune gerufen, wo zehn Negerfrauen mit verbitterten Mienen warten, jede mit einer Schere in der Hand.
Jetzt ist ihre Aufgabe klar. Flink schneiden sie sämtliche Haare von den Köpfen der Gefangenen ab.
»Arme hoch!«
Als Nächstes werden die Büschel der Unterarmbehaarung geschoren und rieseln zu Boden.
»Füße auseinander! Beeilung!«
Die Negerfrauen knien sich mit gezückten Scheren hin. Sämtliche Schamhaare werden geschnitten. Kindern, die noch keine haben, werden nur die Köpfe geschoren, bevor man sie zur zweiten Tür schickt, wo sie wieder in den Wagen steigen ...
Sie kochen die Haare, begreifst du mit geweiteten Augen. Dann werden sie in der Sonne getrocknet und als Füllmaterial für Matratzen und Schlafsäcke verwendet ...
Nach mehreren Durchläufen haben die Haare richtige Haufen gebildet. Die Frauen mit den Scheren nehmen sich ein paar Minuten Zeit, um das Haar einzusammeln und in die Kessel zu werfen, nachdem die vorige Ladung abgeschöpft und dampfend in eine wartende Schubkarre geschaufelt wurde.
So also sieht die Abfertigung aus.
Eine Farm für menschliche Matratzenfüllungen.
Mehrmals siehst du, wie Soldaten einige der Frauen in die Kessel werfen. Sie lassen sie eine Minute darin brodeln und ziehen sie anschließend wieder heraus. Die Soldaten stehen herum und lachen grölend, während sie beobachten, wie die Unglückseligen kreischen und sich krümmen, auf dem Boden, die Haut rot verbrüht, die Augen gekocht, die Gesichter dampfend. Du hast den starken Eindruck, dass die Soldaten das nur zu ihrer Unterhaltung tun.
Würgend, mit einem abscheulichen Geschmack im Mund weichst du zurück. Du taumelst rücklings und siehst aus dem Augenwinkel, wie das Fuhrwerk den Hügel hinaufrollt, nur sind die hoffnungslosen Gefangenen nun alle glatzköpfig.
Der Anflug von Übelkeit droht dich zu überwältigen, und aus der Ferne hörst du Gebrüll.
»Schießen Sie!«
Du schaust dich um, siehst jedoch nur eine vor Übelkeit verschwommene Welt ...
»Soldat! Erschießen Sie sofort diese flüchtende Gefangene!«
Immer noch wankst du. Als du wieder deutlich sehen kannst, erkennst du ein kahles, splitternacktes kleines Mädchen, das von der Scheune wegrennt.
»LEGEN SIE IHRE WAFFE AN UND FEUERN SIE!«, brüllt mit hochrotem Gesicht ein Leutnant, der sich dir nähert. Du hebst die Waffe an und nimmst das Ziel ins Visier. Dein Finger berührt den Abzug ...
»Worauf warten Sie?«
»Aber ... aber Sir«, stammelst du. »Das ist doch bloß ein ... ein kleines Mädchen ...«
Der Lauf einer Pistole berührt deine Schläfe. »Soldat, wenn Sie diese flüchtende Gefangene nicht erschießen, töte ich Sie hier und jetzt und werfe Ihr Haar in den nächsten Schwung!«
Ich mache es nicht, denkst du, trotzdem holst du tief Luft, bläst den halben Atem aus und drückst den Abzug. Der Hahn schnappt zu, schlägt auf das Messingzündhütchen, und nach dem Bruchteil einer Sekunde versucht die Muskete, dir aus der Hand zu springen. Schwarzpulver jagt das Glattrohr-Miniégeschoss Kaliber 69 mit einem ohrenbetäubenden Knall und einer Rauchwolke aus der Mündung.
Du hast die Augen beim Drücken des Abzugs geschlossen, trotzdem hörst du einen leisen, dumpfen Schlag und den schrillen Aufschrei eines Kindes.
Der Leutnant fächelt mit seinem Hut Rauch beiseite. »Guter Schuss, Soldat! Sie haben das Kind genau in den Rücken getroffen, obwohl es sich gerade umgedreht hat.«
Deine Augen brennen wie Feuer. Du siehst den kleinen, nackt im Gras zuckenden Körper. Ein paar Sekunden lang stößt das Mädchen schluchzend hervor: »Mama! Papa!« Dann ...
Stille.
»Wie heißen Sie, Soldat?«
Verbissen presst du die Antwort hervor. »Collier, Justin. Drittes Korps, Sir.«
Wirken die Augen des Leutnants gelbstichig? »Wo haben Sie gelernt, so zu schießen?«
Deine Kehle fühlt sich wie zugeschnürt an, und in deinem Hinterkopf flüstert eine Stimme: Du hast ein Kind umgebracht, du hast ein Kind umgebracht ... Die Worte kommen aus deinem Mund, ohne dass du es wahrnimmst. »In Fredericksburg und bei beiden Schlachten am Bull Run, Sir.« Aber du wünschst dir nur, du könntest nachladen und auf der Stelle dich selbst erschießen.
»Verdammt guter Schuss, Soldat.« Ein Klaps auf den Rücken. »Lassen Sie die Leiche von ein paar Negern wegschaffen und gehen Sie zurück auf Ihren Posten.«
Du starrst auf das Feld und antwortest tonlos: »Ja ...«
II
»... Sir ...«
Collier lag zitternd und starr auf den Laken, die Augen vor Furcht weit aufgerissen. Kalter Schweiß schien ihn zu bedecken, so zähflüssig wie Honig. Zuerst war er nur verwirrt, dann krampfte sich sein Magen zusammen, als Bilder aus dem Traum in seinem Kopf auftauchten. Heilige Scheiße, das war der abscheulichste Albtraum meines Lebens ...
Er versuchte, zu schlucken, was ihm jedoch nicht gelang. Dann stellte er fest, dass er sich auch nicht bewegen konnte. Der Traum presste sich auf ihn wie eine eingestürzte Decke. Die Bilder in seinem Gehirn wurden klarer: eine spindeldürre, nackte Frau mit kreidebleicher Haut, die weinend zitterte, während eine Schere – wie jene, die er in der Vitrine gesehen hatte – ihr sämtliche Haare abschnitt. Wie die Nazis, dachte er.
Hatten die Konföderierten solche Dinge wirklich getan? Hatte er das irgendwo gelesen?
Oder hatte sich sein Verstand diese Grausamkeiten nur ausgedacht?
Ich muss echt ziemlich neben der Spur sein, um einen solchen Traum zu haben ...
Collier konnte sich immer noch nicht rühren; er fühlte sich halb erstickt. Seine Brust hob und senkte sich, als er die Luft einsog ...
Verfluchte Scheiße!
... und plötzlich eine Gestalt bemerkte, die neben dem Bett stand.
Colliers Herzschlag raste. Sein Gehirn forderte ihn auf, sich aus dem Bett zu rollen und die Lampe einzuschalten, aber ...
Die traumatisierende Lähmung umklammerte ihn nur noch fester.
Wer sind Sie?, versuchte er zu brüllen, doch auch seine Kehle war wie gelähmt. Eine unscharfe Dunkelheit erfüllte den Raum wie Rauch. Der Kopf der Gestalt wirkte geneigt. Minutenlang schien sie nur dazustehen und auf ihn herabzublicken, bis sich die Haltung plötzlich änderte. Der Kopf bewegte sich auf sein Gesicht zu.
Colliers Körper verkrampfte sich, als sich ein Mund auf seinen legte und eine heiße Zunge begann, fieberhaft über seine Lippen zu lecken, die sich gegen seinen Willen teilten und zuließen, dass an seiner Zunge gesaugt wurde. Der Vorgang lief präzise, beinah maschinenartig ab. Dann betasteten zierliche, aber forsche Finger seine Brustwarzen. Der erzwungene Kuss erzeugte feuchte Schmatzlaute in dem düsteren Zimmer.
Das Aufeinanderprallen der Gegensätze hätte kaum heftiger sein können: Angst und Erregung. Die wohlgeformte Schattengestalt hievte sich auf ihn, dann zogen ungeduldige, geschickte Hände seine Unterhose nach unten und spielten mit seinen Genitalien. Ich muss mich aufrappeln!, dachte Collier. Ich muss herausfinden, wer das ist ...
Aber er konnte es nicht. Er war außerstande, sich zu rühren.
Die Gestalt bewegte sich über seine Hüften. Collier stellte fest, dass es sich bei dem Eindringling – Gott sei Dank – um eine Frau handelte, und zwar um eine ziemlich aufdringliche. Colliers Erektion pulsierte, dann senkte sich die Gestalt auf ihn, und plötzlich hatte er Geschlechtsverkehr mit jemandem, den er nicht erkennen konnte.
Die Hüften der Unbekannten begannen, über Colliers hilflosem Glied auf- und niederzustoßen. Er konnte nur auf dem Rücken liegen bleiben, während er in der Dunkelheit von der Person genommen wurde. Ein leises Stöhnen war zu hören, als er auf einen Orgasmus zusteuerte. Bettfedern knarrten, als sich der Rhythmus beschleunigte ...
Wenige Augenblicke, bevor er den Höhepunkt erreichte, fiel die traumgleiche Starre von ihm ab. Seine Hand schoss zur Seite und schaltete das Licht ein.
Es war Lottie, die auf ihn herabgrinste.
Eine Erkenntnis der unangenehmsten Sorte flutete sein Bewusstsein, sobald die Lähmung verschwunden war ...
Lottie ritt ihn weiter. Ihr grinsendes Gesicht senkte sich auf ihn, und er war ziemlich sicher, dass ihr Mund die Worte bildete: Mach mir ein Kind!
Der Schrecken wuchs, als sein Bewusstsein zunehmend zurückkehrte. Collier stieß ihren Leib von sich, brach den Koitus ab. »Verdammt noch mal, Lottie! Man schleicht sich nicht einfach in das Zimmer eines Mannes und ... bumst ihn!«
Sie kicherte lautlos.
Mit einem Ruck zog er die Unterhose über seine immer noch heftige Erektion. Mach mir ein Kind, ging ihm mit einem Schauder durch den Kopf. Wenigstens hatte er den Akt unterbrochen, bevor er gekommen war, aber er wusste, dass dies keine Garantie darstellte. Auch vereinzelte Spermien im Präejakulat konnten eine Frau schwängern – oder? Und Lottie zu schwängern, war eine Aussicht, die er sich nicht vorzustellen wagte.
»Du musst gehen, Lottie!«
Sie schüttelte den Kopf. Collier musste ihre Hand wegreißen, als sie nach seinem Schritt griff.
»Raus, raus, raus!«, brüllte er beinahe, doch erst jetzt bemerkte er richtig ihren schlanken, wohlgeformten nackten Körper. Großer Gott ... Offenbar immer noch leicht beschwipst beugte sie sich über ihn und begann, über seine Brust zu streicheln.
»Hör ... einfach auf. Genug davon, in Ordnung? Ich bin nicht in Stimmung; ich hatte gerade einen fürchterlichen Albtraum.« Aber noch während er die Worte aussprach, verdrängten ursprünglichere Triebe den grausigen Nachhall des Traums. »Geh zurück in dein Zimmer, geh einfach ...« Doch seine Lust steigerte sich wieder. Mit offenem Mund starrte er auf die erbsengroßen Nippel der knackigen Brüste, die sich über dem flachen Bauch wölbten ...
Bring’s zu Ende!, meldete sich jene andere Stimme zu Wort. Was stimmt bloß nicht mit dir?
Seine Hand begann, auf eine der Brüste zuzuwandern, dann zog er sie zurück.
Sei ausnahmsweise mal vernünftig!, schalt er sich. »Lottie, nein. Wir können das nicht tun, es ist falsch. Du bist immer noch betrunken, und deine Mutter ist ohnehin schon wütend auf dich. Geh zurück in dein Zimmer!« Mit Nachdruck schob er sie von sich.
Ich liebe dich!, teilten ihm stumm ihre Lippen mit.
Collier stöhnte. »Hör zu, Lottie, du kannst mich unmöglich lieben.«
Sie nickte mit dem Kopf.
»Wir kennen uns erst seit ein paar Stunden, außerdem lebe ich in Kalifornien und bin verheiratet.«
Sie zuckte energisch mit den Schultern, dann sank sie neben dem Bett auf die Knie und streichelte die Innenseite seines Oberschenkels.
Wieder packte Collier ihre Hände. Das schreit förmlich nach einem Gerichtsverfahren, dachte er. Und – Scheiße – was, wenn sie wirklich schwanger ist? Ich wäre ruiniert. Er wollte sie aus dem Zimmer haben, damit er sich einfach wieder hinlegen konnte. Dennoch wollte er weder böse wirken, noch ihre Gefühle verletzen. Was für eine Plage. »Lottie, du bist eine wunderschöne junge Frau, aber das darf nicht noch einmal vorkommen. Das verstehst du doch, oder?«
Darüber runzelte sie die Stirn, bevor ihre Miene traurig wurde.
Collier stand auf, streifte seinen Morgenrock über und wickelte sie in ein sauberes Laken aus der Kommode. »Komm, du musst jetzt gehen.« Er öffnete die Tür und trat mir ihr hinaus auf den Gang. Zu seinem Glück befand sich niemand im Flur, der sie sehen konnte.
»Geh jetzt ins Bett«, forderte er sie auf. »Du hast heute Abend zu viel getrunken, deshalb ist das passiert. Morgen wirst du dich besser fühlen ...«
Kaum hatten die Worte seine Lippen verlassen, hielt er inne, weil er etwas hörte.
Aus meinem Zimmer. Er war überzeugt davon.
Eine Stimme aus seinem Zimmer. Sehr leise.
Eine Frauenstimme. Ein leichter Akzent ...
»Komm, Liebster, du musst noch etwas für mich tun.«
Dann eine rauere Stimme, die eines Mannes: »Ich bin fertig, jetzt muss ich hier raus.«
»Nein, nein, noch nicht. Tu es ... du weißt schon.«
Colliers Hände erstarrten auf Lotties Schultern.
Wer, zum Henker, ist da in meinem Zimmer?
Er sah Lottie direkt in die Augen. »Hast du das gehört?«
Doch Lottie hatte nur das schon vertraute, betrunkene Grinsen zu bieten.
Collier schlich zurück in sein Zimmer und sah sich um.
Da war niemand.
Aber was hatte er erwartet? Ich weiß, dass ich Stimmen gehört habe, sagte er sich. Es hatte zwar so geklungen, als kämen sie von hier, aber ...
Hatte jemand sein Zimmer betreten und gleich wieder verlassen, und all das in den wenigen Sekunden, die er mit Lottie vor der Tür gestanden hatte? Gab es einen anderen Eingang?
Schon klar, ich bin einfach müde. Ich habe Stimmen über die Lüftungsrohre aus einem anderen Zimmer gehört, das ist alles.
Auf dem Gang befand sich außer Lottie nach wie vor niemand. »Geh ins Bett, Lottie«, flüsterte er. »Und beeil dich, bevor uns jemand hier draußen sieht.«
Immer noch grinsend trabte Lottie betrunken den Flur hinab.
»Mach schon! Du weißt wie. Genau wie letztes Mal ...«
Wieder diese säuselnde weibliche Stimme ...
»Wer ist da?« Collier stürmte zurück in sein Zimmer.
Das sich nach wie vor menschenleer präsentierte.
Er hob die Hände ans Gesicht und rieb sich die Augen.
Herrgott noch mal, ich drehe durch.
Nun jedoch, in diesem Augenblick, hörte er etwas anderes. Ein Keuchen.
Wie von einem hechelnden Hund.
Langsam senkte Collier die Hände.
Ein kleiner, hässlicher Hund schnupperte an der Sockelleiste. Fraß er etwas? Er gab Leckgeräusche von sich...
Ungläubig starrte Collier hin.
Wie, verdammt noch mal, kommt ein Hund hier rein?
Es war eine dürre, schlammfarbige Promenadenmischung. Das Tier schien Collier nicht zu bemerkten, als es die Sockelleiste entlangschnüffelte.
Ohne zu überlegen, welchen Eindruck er vermitteln würde, rannte Collier hinter Lottie her und holte sie ein, bevor sie die Treppe hinunterstieg. Er packte sie am Arm und sah ihr in die Augen.
»Lottie, habt ihr einen Hund?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Haben irgendwelche Gäste Haustiere dabei?«
Abermals verneinte sie.
Er kratzte sich am Kopf. »In meinem Zimmer ist ein Hund, Lottie. Zuerst habe ich ihn gehört und dann gesehen.«
Lotties Grinsen verschwand. Sehr langsam schüttelte sie den Kopf.
»Komm ... komm mit und schau, damit ich weiß, dass ich nicht den Verstand verliere.« Er führte die in das Laken gehüllte Gestalt zu seiner Zimmertür, öffnete sie und schob Lottie hinein.
Kein Hund.
»Das ... ist einfach verrückt«, murmelte Collier. »Zuerst habe ich Stimmen gehört und dann – ich schwöre es – einen Hund gehört und gesehen.«
Lottie zog das Laken enger um sich, stahl sich wieder aus dem Zimmer und eilte davon.
Plötzlich machten sich die Nachwirkungen von Colliers eigenem Rausch bemerkbar. Denk einfach nicht darüber nach, riet er sich selbst. Er schloss die Tür ab, sah im Schrank sowie unter dem Bett nach und suchte jeden Winkel ab, um sich zu vergewissern, dass sich tatsächlich kein Hund im Raum befand.
Als er ins Bett zurückkehrte, ließ er das Licht an.
Verworrene, dunkle Träume suchten ihn im Schlaf heim. Geräusche.
Lachende Kinder?
Ein bellender Hund?
Und später wieder die Stimmen.
Die Frau: »Tu es!«
Der Mann: »Großer Gott, du bist echt ein versautes Weib, wenn du willst, dass ich das mache.«
»Tu es einfach ...«