Kapitel 9

I

Collier war in derselben Minute in sein Bett gefallen und eingeschlafen, in der er in die Pension zurückkehrte, und als der Wecker um sechs Uhr klingelte, fühlte sich sein Gehirn wie ein Abfallhaufen an. Scheiße, Scheiße, Scheiße, dachte er. Schlechtes Urteilsvermögen war eine Sache, doch mittlerweile begann er ernsthaft zu vermuten, er könnte ein waschechter Alkoholiker sein. Ich habe mich in einer Schwulenbar zugeschüttet, erinnerte er sich. Und ich habe heute Abend eine Verabredung ...

Die Dusche zumindest weckte ihn vollständig, allerdings fühlte er sich nach wie vor halb betrunken und halb verkatert, als er sich mühsam anzog. Langsam setzte die Erinnerung ein ...

Jiff trieb es in der Bar mit Freiern, und ...

Diese zwei kleinen Mädchen mit dem Hund ...

Mary und Cricket, fielen ihm ihre Namen wieder ein. Als er sich die Zähne putzte und gurgelte, versuchte er, sich davon zu überzeugen, dass alles nur ein Traum gewesen war, dass er die Besinnung verloren hatte – aber er wusste, dass er sich damit nur selbst belog. Zweifellos hatte es sich um Geschwister aus einer armen Familie gehandelt.

Es musste so sein.

Collier spuckte Schaum in die Toilette; auch durch mehrmaliges Gurgeln wurde er den Nachgeschmack seines Saufgelages nicht los. Als Nächstes hielt er den Mund direkt unter den Wasserhahn und füllte sich den Magen mit Wasser.

Dann erinnerte er sich an den kleinen Hund – die lebhafte Promenadenmischung – und daran, was er gesehen zu haben glaubte, als er den Wald verließ ...

Collier verdrängte das Bild aus dem Kopf und trat aus seinem Zimmer, doch er hatte noch kaum den ersten Schritt in den Flur gesetzt, als er jäh innehielt.

Und schnupperte ...

Bilde ich mir das nur ein, dachte er verdrossen, oder rieche ich wirklich Urin? Stirnrunzelnd ging er weiter.

Mit schwerfälligen Schritten mühte er sich nach unten. In der Eingangshalle befand sich niemand. Dann fiel ihm ein, dass Jiff und der Rest der Familie im hinteren Flügel wohnten.

Wo muss ich hin?

Vom Ostende der Empfangshalle zweigten zwei Gänge ab, allerdings schienen beide zu Gästezimmern zu führen. So trat er stattdessen durch eine Ausgangstür auf den Hinterhof hinaus. Er blickte eine Reihe von Glasschiebetüren entlang und hoffte auf einen Hinweis. Würde er Gäste sehen, wüsste er, dass es sich um den falschen Trakt handelte. Er folgte einem Fußweg, der es ihm ermöglichte, einen Blick durch jede Glastür zu werfen, ohne dabei auffällig zu wirken. Am Ende des Flügels wuchs ein großer dorniger Busch. Als Collier gerade daran vorbeiwollte, hörte er etwas.

»Scheiße! Mach schon, Mädel!«

Es handelte sich eindeutig um Jiffs Stimme, aber woher kam sie?

»Herrgott, halt still, Lottie!«

Collier kehrte um und bemerkte, dass die letzte Tür offen stand, lediglich das Insektenschutzgitter war geschlossen. Ein rascher Blick in das Zimmer zeigte ihm ...

Ein Gesicht. Ein großes Gesicht.

Collier rieb sich die Augen. Das sieht doch aus wie ... George Clooney.

Er runzelte die Stirn, bis sein Blick klar wurde, dann erkannte er, dass es sich tatsächlich um das Konterfei des Hollywoodstars handelte. Ein Poster, begriff er. Es hing an der Wand. Clooneys breites Lächeln und weiße Zähne zeichneten sich überlebensgroß durch die Insektenschutztür ab. Was um alles in der Welt macht ein Poster von George Clooney da drin?

»Enger ...« Wieder Jiffs Stimme. Sie erklang aus dem Zimmer.

Es musste sich doch um den Familientrakt handeln. Zuerst dachte er, dass es wahrscheinlich Lotties Zimmer und sie vielleicht ein Fan von Clooney sei. Warum also Jiffs Stimme?

Collier trat einen Schritt zur Seite, wodurch sich sein Blickwinkel verbesserte. Der Schrecken über das, was er plötzlich zu sehen bekam, hätte ihn beinahe ins Gebüsch stürzen lassen.

Nein, nein, nein, nein, nein, dachte er.

Lottie hatte ihre Unterhose ausgezogen und stand mit nackten, v-förmig gespreizten Beinen vornüber gebeugt da. Trug sie ein Männerhemd? Jiff, von der Mitte an abwärts ebenfalls nackt, befand sich unmittelbar hinter ihr, die Hände an ihrer Hüfte. Sein fester, muskulöser Po bewegte sich langsam vor und zurück.

»Scheiße, Lottie, du könntest wenigstens ’n paar Haare am Arsch haben ...«

Collier hatte gedacht, bereits alles gesehen zu haben, als er Zeuge einer von Jiffs Nummern in der Bar geworden war. Er hatte sich geirrt.

»Verdammt, kannste dein Arschloch nich’ enger machen?«

Nein, nein, nein, nein, nein, dachte Collier erneut.

Schlimmer noch als der schockierende Inzest war die groteske Anmutung der Szene. Nun verstand Collier, dass es sich um Jiffs Zimmer handelte und dieser seine Schwester bewusst so positioniert hatte, um das Clooney-Poster betrachten zu können, während er Analverkehr mit ihr hatte.

Dann stöhnte Jiff: »Ja ...«

Colliers Verstand riet ihm, sofort zu verschwinden, doch wie konnte er das? In letzter Zeit hatte er sich zu einem ziemlichen Spanner entwickelt. So sah er weiter zu, indem er hinter dem Busch hervorspähte.

»Enger ... ja ...«

Jiffs Bewegungen verlangsamten sich erst, dann kamen sie zum Erliegen.

»Danke, Lottie. Scheiße, das hab ich echt gebraucht. Die Freier in der Bar haben mich so was von aufgegeilt. Hab heut drei Nummern geschoben.«

Die empörende Szene endete recht unspektakulär. Ich glaub das einfach nicht, dachte Collier. Jiff zog unbeschwert seine Hose wieder an und schnürte seine Stiefel zu, während Lottie ihr Männerhemd in einen Wäschekorb warf und wieder in ihre Unterhose schlüpfte. Collier sah, dass sie ein enges T-Shirt der Tennessee Titans trug, durch das sich ihre Brustwarzen abzeichneten. Sie setzte sich auf das Bett und strich sich die Haare zurück.

Jiff verschwand für einige Augenblicke, anscheinend, um sich die Hände zu waschen, dann kam er wieder ins Blickfeld. »Ach ja, hab ganz vergessen, dir was zu erzählen. Als ich mit Richard im Salon fertig war, wollt’ ich raus an die Bar, mir ’n Bier gönnen. Rat mal, wen ich da seh’? Mr. Collier höchstpersönlich.«

Lotties Augen weiteten sich, und ihr Mund bildete ein empörtes Nein!

»Ohne Scheiß. Hätt’ mir fast in die Hose gemacht, als ich das gesehen hab. Der Bierfürst beim Saufen mit Buster, Barry, Donny und all den andren. Hab mich hinten rausgeschlichen, damit er mich nich’ sieht. Aber ich hätt’ nie im Leben gedacht, dass er schwul is’.«

Lottie brach in stummes Kichern aus und schüttelte dabei den Kopf.

»Was? Soll das heißen, er isses nich’? Warum säuft er dann im Nagel? Er muss schwul sein.«

Lottie schüttelte nur weiter den Kopf und formte mit dem Mund die Worte: Nein, ist er nicht, ist er nicht.

Jiff bedachte sie mit einem strengen Blick. »Sag bloß, du hast’s mit ihm getrieben!«

Lottie lächelte unvermindert, griff sich einen Schokoriegel von Jiffs Kommode und begann, ihn auszuwickeln.

»He! Das is’ mein Chunky!«

Lottie zeigte ihm den Stinkefinger, dann hielt sie die Hand auf.

»Ach ja, richtig. Da.« Jiff gab ihr eine Fünf-Dollar-Note. »Danke.«

Fünf Mäuse!, dachte Collier entrüstet. Was für ein Beschiss!

Es wurde immer verrückter. Das ist wirklich eine völlig andere Welt. Collier schlich davon und kehrte in die Pension zurück. Seine Uhr verriet ihm, dass sein Ausflug nur fünfzehn Minuten gedauert hatte. Ich kann Jiff nicht fragen, ob er mir seinen Wagen leiht, wenn er gerade Analsex mit seiner SCHWESTER hatte, dachte er kläglich. Im Empfangsbereich wurde er von Mrs. Butlers strahlender Miene begrüßt.

»Sie haben wohl eine heiße Verabredung, was, Mr. Collier?«

Unglaublich. »Äh, ja.«

»Tja, ich hoffe, Sie werden eine tolle Zeit haben.« Mrs. Butler trug eindeutig schon wieder keinen Büstenhalter, nur eine ärmellose, rosa durchscheinende Bluse mit Druckknöpfen.

»Danke, Mrs. Butler.«

Durch ihre Haltung entblößte sie ein cremefarbiges Dekolleté. Unaufgefordert stülpte Colliers Gehirn den Kopf einer jüngeren Frau auf ihre Schultern. »Oh, was ich noch fragen wollte: Gibt es in der Nähe noch andere Ortschaften?«

»Oh, sicher. Roan liegt zehn Meilen westlich. Dort gibt es einige gute Restaurants ...«

»Nein, ich meine ... na ja, gibt es in der Nähe arme Dörfer? Heruntergekommene Gegenden, wo Leute mit geringem Einkommen wohnen? Ich frage deshalb, weil ich vorher auf dem Rückweg hierher im Wald zwei junge Mädchen gesehen habe, und die kamen mir nicht so vor, als wären sie von hier. Eher Mädchen aus einem Ghetto oder dergleichen.«

Mrs. Butler schaute verwirrt drein. Unbewusst fuhr sie mit einem Finger am oberen Rand der Bluse entlang. »Wir haben hier nicht viele arme Leute. In unserer Gegend gibt es hauptsächlich vererbtes Vermögen und elegante Lokale und Geschäfte für Touristen.«

»Keine Wohnwagenparks oder Ähnliches?«

»Nein, dafür müsste man ein gutes Stück fahren ... Zwei Mädchen, sagen Sie?«

»Ja. Schwestern. Sie haben an einem Bach neben dem Hügel da draußen gespielt.« Je mehr Collier erklärte, desto alberner fühlte er sich. Worauf will ich eigentlich hinaus? »Und, na ja, sie hatten einen Hund dabei, eine kleine Promenadenmischung – sah genau wie der aus, nach dem ich mich früher bei Ihnen erkundigt habe.«

»Ich habe Lottie und Jiff überall nach Hunden suchen lassen, die sich hereingeschlichen haben könnten, aber sie konnten keinen finden«, gab sie zurück. »Auch von den anderen Gästen hat niemand einen gesehen.«

Als Collier im Begriff war, die andere Merkwürdigkeit zu erwähnen – die Anspielung der Schwestern auf die Fingerklammern –, beschloss er plötzlich: Vergiss es! »Schon gut. Es war nur irgendwie komisch. Aber ich habe mich noch etwas gefragt. Hätten Sie ... hätten Sie vielleicht ein Auto, dass ich mir für ein paar Stunden leihen könnte?«

Auf dem Parkplatz zuckte Collier zusammen wie jemand, der gerade festgestellt hat, dass sein Hosenstall offen steht. Mrs. Butlers »Auto« erwies sich als verbeulter Chevrolet Pick-up, der unmöglich nach 1955 vom Fließband gerollt sein konnte. Rost überzog die mattschwarze Lackierung wie Akne. Sieht aus wie diese Dreckskarre aus den Beverly Hillbillies ... Sein Blick wanderte zu dem grünen Beetle. Er seufzte und stieg trotzdem in den Pick-up.

Anstelle der meisten Instrumente klafften im Armaturenbrett Löcher. Ich hab darum gebeten, ich hab’s bekommen, erinnerte er sich. Er legte den Gang des schwammigen dreistufigen Automatikgetriebes ein, setzte aus dem Parkplatz zurück und fuhr Richtung Cusher’s.

Wann immer er in den Innenspiegel blickte, sah er, dass ihm eine bläuliche Rauchwolke folgte. Als er das Radio einschaltete, rührte sich nichts. War ja mal wieder ein sehr kluger Schachzug von mir. Aber wenigstens zog er sich auf der Hauptstraße weniger belustigte Blicke zu als mit dem Mietwagen vom Flughafen.

An der Kreuzung erschrak er, als jemand an die Scheibe klopfte; dann öffnete sich knarrend die Beifahrertür.

Dominique stieg ein.

»Hi! Auf die Minute pünktlich ...« Prüfend ließ sie den Blick über das Innenleben des Fahrzeugs wandern. »Ist das nicht der Pick-up, den Mrs. Butlers Vater zur Feier von Eisenhowers Wahl gekauft hat?«

»Ich bin sicher, das ist er«, gab Collier stöhnend zurück. Als er sie jedoch ansah, fühlte er sich wie ein Surfer auf dem Kamm einer herrlichen Welle. Oh mein Gott, sie ist so wunderschön ...

Dominique trug einen weißen Sommerrock aus Satin mit Rosettenapplikationen und ein weißes Korsagen-Oberteil mit Spitzen. Das Oberteil reichte bis etwa zweieinhalb Zentimeter über den Bund des Rocks, sodass eine Lücke blieb, aus der ihr Nabel hervorlugte. Sportlich-eleganter hätte sie kaum aussehen können. Dicht unter dem Halsansatz funkelte das Silberkreuz.

Collier versuchte eine Erklärung. »Mein Mietwagen ist ...«

»Ja, hab ich schon gehört. Ein flippig-grünes Ding wie aus einem Comic.« Sie schüttelte den Kopf, wobei das frühabendliche Sonnenlicht jede Strähne ihres Haars in ein sanftes Orange tauchte. »Aber es ist irgendwie lustig, in einem so alten Auto zu fahren. Auf diesem Sitz haben schon unzählige Hintern gesessen.«

Collier kicherte. »So habe ich es noch nicht betrachtet. Gemessen in Hinterteilen.«

»Wie war Ihr Tag?«, erkundigte sie sich und schien ihre Nagelpolitur zu begutachten.

Collier fuhr durch den Ort und runzelte jedes Mal die Stirn, wenn der Wagen wie bei einem Schluckauf Rauch ausstieß. »Toll«, log er.

»Haben Sie schon viel Arbeit an Ihrem Buch erledigt?«

»Oh ja«, log er abermals. Aber was sollte er sagen? Ich hab mich in einer Schwulenbar volllaufen lassen, im Wald die Besinnung verloren und anschließend einen Inzest beobachtet. »Das Buch ist fast fertig, und ich bin heilfroh, dass ich den Termin halten werde. Weil wir gerade davon reden ...«

An der nächsten roten Ampel holte er die Einverständniserklärung aus seiner Brieftasche hervor. »Sie müssten mir nur diese Erklärung unterschreiben. Damit erteilten Sie mir die Erlaubnis, über Ihr Bier zu schreiben.«

Sie unterzeichnete das Formular nach einem flüchtigen Blick darauf. »Das ist einfach wunderbar. Jetzt werden mehr Leute davon erfahren als nur diese Landeier. Übrigens, wohin fahren wir zum Essen?«

Gute Frage. »Wie wär’s, wenn Sie die Entscheidung treffen, da ich ja neu in der Stadt bin?«

»Mögen Sie Koreanisch?«

»Bin verrückt danach.« Collier hasste koreanische Küche. Lag ihm jedes Mal wie ein Rostschutzmittel im Magen.

»Gut. Am Stadtrand gibt es ein kleines koreanisches Lokal. Es ist so authentisch, dass man den Eindruck hat, in Seoul zu essen.«

Isst man in Seoul nicht Hund? Collier war es egal – solange er mit ihr zusammen war. Sie unterhielten sich über Bier, während er ihren Richtungshinweisen zu einem winzigen Restaurant zwischen einem Eisenwarenladen und – Collier zog eine Augenbraue hoch – einem Hundesalon folgte. Ein an Gestank grenzendes Aroma schlug ihnen entgegen, als sie eintraten: gewürzter Kohl und Zitronengras. Aber Collier deutete es als gutes Zeichen, dass jeder zweite Gast im Lokal Asiate war. »Das Bulgogi ist fantastisch«, erklärte Dominique an ihrem Tisch voll Begeisterung. »Das Bibimbap allerdings auch. Ich kann mich nie entscheiden, was ich bestellen soll.«

»Zufällig mag ich auch beides«, log Collier. »Warum bestellen wir nicht beides und teilen?«

»Sie sind so entgegenkommend!«

»Und da wir beide Bierkenner sind«, fuhr er fort, »würde ich OB vorschlagen.«

»Ich mag OB zu koreanischem Essen. Ist wohl mein asiatisches Lieblingsbier, das nicht hier als Lizenzabfüllung gebraut wird«, fügte sie rasch hinzu. »Oh, und es passt hervorragend zu Reis.«

Du passt hervorragend zu Reis, dachte Collier versonnen. Er konnte kaum glauben, dass er diese Chance bekommen hatte. Als einem der renommiertesten Bierautoren des Landes musste niemand Collier sagen, dass echte Braumeister mehr als jeder andere über Bier wussten, ihn eingeschlossen. Er ließ ihre schlichte, aber lebendige Schönheit auf sich wirken, während sie in der Speisekarte die Vorspeisen durchlas. Warum bin ich ihr nicht schon vor zehn Jahren begegnet?, fragte er sich. Hätte ich Evelyn doch nie und stattdessen Dominique kennengelernt. Wir passen perfekt zueinander, haben alles gemeinsam ...

Das funkelnde Kreuz an ihrem Hals sagte etwas anderes.

Als die Kellnerin mit ihren Bieren kam, meinte Dominique: »Da kommt mein Bier für den Tag.«

Collier schmollte innerlich. Wie viele hatte er an diesem Tag schon gehabt? Großer Gott ... »Ich muss Ihre Methode bei Gelegenheit mal ausprobieren«, sagte er. »Das heißt, falls ich die Willenskraft dafür aufbringe. Das war nie eine meiner besonderen Stärken.«

»Bei mir auch nicht, bis ...« Halb lächelte sie, halb grinste sie. »Tut mir leid, ich halte schon die Klappe.«

Collier verstand nicht. »Was ist?«

»Sie würden denken, dass ich Sie wieder bekehren will.«

»Dann nur zu, tun Sie’s.«

»Na schön.« Sie trank einen Schluck Bier. »Niemand besitzt Willenskraft, jedenfalls keine eigene. Gott weiß, dass wir Schwächen haben, die zerstörerisch sind, deshalb bietet er uns einen Ausweg. Ich rede jetzt nicht nur von Seelenheil, sondern von der Scheiße, die wir ertragen müssen, solange wir hier sind ...«

Ich liebe es, wenn sie »Scheiße« sagt, sinnierte Collier.

»Die Hälfte der Apostel bestand vermutlich aus Alkoholikern und Hurenböcken, bevor sie Jesus trafen. Und was haben sie gemacht?«

»Ich ... weiß es nicht.«

»Sie übergaben ihre Bürde an Gott«, antwortete Dominique wie selbstverständlich. »Und wurden dadurch befreit. Das haben sie gemacht.«

Collier wickelte seine Essstäbchen aus. »Wie übergibt man eine Schwäche an jemand anderen?«

»Man fragt Gott, das ist alles. Und er antwortet.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie hätten mich mal im College sehen sollen. Ich war ein Miststück und ein Flittchen. Ich könnte gar nicht mehr sagen, mit wie vielen Drecksäcken ich Sex hatte. Jede Nacht war Party angesagt: Bier, Fusel, Gras und Sex.«

Ihre Offenheit verblüffte ihn ... genau wie die schmutzigen Bilder, mit denen sein Verstand versuchte, sich das Szenario auszumalen. Sie waren erregend schlüpfrig.

»Am College war ich ständig so verkatert«, gestand sie, »dass ich keine Ahnung habe, wie ich je meinen Abschluss geschafft habe. Ebenso schleierhaft ist mir, wie es mir gelungen ist, nie schwanger zu werden. Ich habe verschiedene Dinge über mich an Toilettenwänden gelesen ...« Sie warf ihm einen durchtriebenen Blick zu. »Und das Schlimmste war, dass alle stimmten.«

Collier fühlte sich zugleich verdutzt und erregt.

»Eines Tages kam mir der Gedanke, dass ich durch meine Schwächen ein Kind Gottes zerstörte. Deshalb habe ich Gott gebeten, mich von meinen Bürden zu befreien, damit ich irgendwann Erlösung finden könnte. Und er hat es getan.«

»So einfach ist das?«, fragte Collier, bevor ihm auffiel, dass er sein Bier bereits halb geleert hatte. Zudem war ihm bewusst, dass er ihr nur halbherzig zuhörte und lediglich so zu tun versuchte, als gälte ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

»Es ist nicht so, dass man eine Wunderlampe reibt und seine Wünsche von einem Geist erfüllt bekommt, nein. Betrachten Sie es so: Gottes Vergebung ist eine Million Mal größer als unsere Sünden, sie deckt sie also mühelos ab. Man muss nur im Gegenzug etwas tun.«

Collier hätte es am liebsten unter dem Tisch auf dem Fußboden mit ihr getrieben. In meinem Fall, dachte er, müsste Gottes Vergebung ZWEI Millionen Mal größer als meine Sünden sein. Plötzlich schien ihm seine Falschheit so handfest zu sein wie der Stuhl, auf dem er saß. Falls Menschen wirklich eine Aura besaßen, wäre seine vor Lust rabenschwarz gewesen. Sag etwas, du Trottel ... »Im Gegenzug etwas tun? Was zum Beispiel? Die Kirche besuchen? Für wohltätige Zwecke spenden?«

»Nein, nein. Schon etwas, das tiefer reicht«, erwiderte Dominique. Sie knabberte an gewürzten Bambussprossen und eingelegten Radieschen. »Das ist etwas zwischen jedem Einzelnen und Gott. Aber es ist, als verwende man seine Kreditkarte. Irgendwann muss man bezahlen. Und eine Bankrotterklärung gilt nicht.«

Collier fand ihre Analogien interessant. Er wollte sich einnehmend geben, wollte sich für ihre Anliegen erwärmen, doch an ihm nagte blanke Lust. Dann ereilte ihn eine Erkenntnis in abgewandelter Form ihrer eigenen Worte: Meine Lust ist eine Million Mal größer als mein Verlangen nach Vergebung ...

Jedes Mal, wenn sein Blick über ihren Busen wanderte, stieß ihn das Kreuz wie einen Vampir ab.

»Aber genug davon«, meinte sie strahlend. »Da kommt unser Essen.«

Die Kellnerin servierte ihnen duftende, dampfende Vorspeisen. Sie hatten zusätzlich Tintenfisch in einer scharlachroten, scharfen Soße bestellt. »Seien Sie damit vorsichtig.« Dominique deutete mit einem Essstäbchen auf das Tintenfischgericht. »Das steckt Sie regelrecht in Brand.«

Collier stand bereits in Flammen durch die in seiner Psyche hochkochende Lust, wodurch er sich nur noch mehr wie ein Heuchler, noch verachtenswerter fühlte. Sie könnte einen falschen Fuffziger wie mich mühelos in einer Menschenmenge erkennen, dachte er. Das Schlimmste, was ich tun kann, ist zu heucheln ... Er kostete ein Stück süßliches, gegrilltes Rindfleisch. »Das Bibimbap ist köstlich.«

»Das ist Bulgogi

»Oh, natürlich. Ist schon eine Weile her bei mir.« Das Bibimbap sah wie ein Allerlei aus Grünzeug und Fleisch aus, das in einer Brühe schwamm und von einem halb gekochten Ei gekrönt wurde. Er probierte stattdessen den Tintenfisch, der sich als zart erwies, lecker und ...

»Wow, das ist wirklich ...« Er leerte in einem Zug sein gesamtes Wasserglas.

»Ich hab Ihnen ja gesagt, dass es scharf ist. Empfiehlt sich, es mit etwas Reis zu essen.«

Danach folgte Collier beim Essen ihrem Beispiel.

»Wie war Ihr Lunch mit dem ehrwürdigen J. G. Sute?«

»Höre ich da Sarkasmus heraus?«, fragte er, nachdem sich das Brennen in seinem Mund gelegt hatte.

»Nur ein bisschen«, antwortete sie lachend. »Er ist auf seine Weise eine Legende – fragen Sie ihn ruhig. Außerdem ist er wirklich ein sehr netter Mann, und er weiß mehr als jeder andere über die Bedeutung dieser Gegend während des Bürgerkriegs.«

»Seine Kenntnisse über die Region scheinen tatsächlich sehr umfangreich zu sein«, meinte Collier. »Allerdings habe ich ihn weniger über den Bürgerkrieg gefragt, sondern mehr über ...«

»Über das Haus«, vermutete Dominique. »Und die Legenden. Die verfluchten Felder, die ermordeten Sklaven. Das Haus des Bösen, über Harwood Gast und seine Eisenbahn in die Hölle.«

»Sute hat mir erzählt, dass die Strecke von Gast mit eigenen Mitteln gebaut wurde.«

»Mitteln, die sich übrigens nie erschöpften«, ergänzte Dominique.

Collier erinnerte sich. »Oh ja, richtig, darüber hat er auch gesprochen. Aber wie hat er seine Männer dann bezahlt? Es waren doch nicht alle Sklaven.«

»Nein. Den weißen Arbeitern seiner Mannschaft bezahlte er ein kleines Vermögen, auch die Sklaven waren gut gekleidet, gut ausgerüstet und wurden gut versorgt – alles dank Gasts Geld.«

»Wie hat er also all das Material gekauft? Die Schienen, die Schwellen, die Nägel, die Werkzeuge, die Versorgungswagen?«

»Das weiß niemand.« Dominique lächelte. »Manch einer behauptet, Gast hätte seine Seele dem Teufel verkauft.«

Das Wort brachte ihn auf etwas. »Sie haben gesagt, dass es den Teufel wirklich gibt.«

»M-hm.«

»Wenn es den Teufel also wirklich gibt, dann verkaufen ihm vielleicht wirklich Menschen ihre Seelen.«

»Menschen verkaufen dem Teufel in der Tat tagtäglich ihre Seelen, meist für erheblich weniger als Gast.«

Collier stellte fest, dass das Essen erheblich weniger markant schien, wenn er nicht auf den Teller schaute. Als sie sich entschuldigte, um die Toilette aufzusuchen, strich sein Blick gründlich wie eine Malerwalze über ihre Rückseite. Er bestellte bei der Kellnerin ein weiteres Bier und ließ sie die andere Flasche mitnehmen, nachdem er sie geleert hatte. Dann trank er die neue Flasche bis zum Füllstand der vorherigen aus. Ja genau, das merkt sie bestimmt nicht ...

Als er Dominique zurückkommen sah, grub er die Fingernägel heftig in sein Bein. Starr nicht mehr auf ihren Busen, du sexistischer Scheißhaufen! Stattdessen spürte er nunmehr regelrecht, wie ihre Brüste in dem eng anliegenden Oberteil leicht wogten.

»Worüber haben wir gerade gesprochen?«, fragte sie. »Ach ja. Pakte mit dem Teufel.«

Die Vorstellung schien die Macht der Legende irgendwie zu schmälern. Konnte es wirklich so banal sein? »Also reden wir von Satanismus. Ist der Mythos um Gast nur eine ausgeschmückte Version davon?«

»Wahrscheinlich. Ich schätze, es liegt in unserer Natur – als höchstentwickeltes Lebewesen –, dass wir uns Geschichten ausdenken. Religionskritiker behaupten dasselbe über das Christentum – dass es nur eine Legende von Höhlenmenschen sei. Der Erlöser kommt, befreit die guten Menschen aus ihrem jämmerlichen Dasein und führt sie ins Paradies.«

»Ein triftiges Argument für Menschen, die Religion objektiv betrachten.«

»Natürlich. Aber Sehen ist Glauben. Allerdings bekommen solche Kritiker nie die Gelegenheit, wirklich zu sehen, weil sie an nichts fest genug glauben, um darum zu bitten, dass ihnen etwas gezeigt wird. Sie glauben an Beton, an Stahl, an Ford und an Mercedes. Sie glauben an Starbucks, an Blockbuster, an den Super Bowl und an Reality-TV. Brad Pitt und Angelina Jolie sind alles, was sie an Erlösern brauchen. Und natürlich ihre Gehaltsschecks. All die Scheiße in ihrem Leben verhindert, dass sie etwas Unvergängliches sehen können.«

»Also sind Geld und Mode der neue Gott?«

»Das neue goldene Kalb«, berichtigte sie ihn. Als sie unter dem Tisch die Knöchel übereinanderschlug, berührten ihre Zehen sein Bein. »Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht treten.«

Baby, du kannst mich jederzeit treten ... und ich würde drauf stehen ... »Um auf Ihre Höhlenmenschenanalogie zurückzukommen: Objektiv gesehen schaffen wir uns also Geistergeschichten, weil sie uns schon immer neugierig gemacht haben ...«

»Nicht bloß neugierig. Wir brauchen sie«, entgegnete Dominique. Ein Tintenfischtentakel verschwand zwischen ihren Lippen in ihrem Mund. »Höhlenmenschen wollten daran glauben, dass es Geister gab, weil die Vorstellung uralte Mythen vom Leben nach dem Tod untermauerte.«

Collier runzelte die Stirn.

»Geister sind nicht nur ein Beweis für ein Leben nach dem Tod, sondern auch der Beweis für eine Unterwelt – oder Hölle. Wenn ein Höhlenmensch wirklich daran glaubt, dass Geister durch die Wälder spuken, was können sie anderes sein als unerlöste Seelen? Und wenn es unerlöste Seelen gibt, dann muss es zweifellos auch erlöste Seelen geben. Hält man sich an die Gesetze, fährt man in den Himmel auf. Tut man es nicht, endet man als Geist, der nachts durch die Wälder streift.«

Collier versuchte, weitere Anmerkungen anzubringen, ohne einen gegnerischen Standpunkt einzunehmen. »Und ... aus nicht objektiver Sicht?«

»Darüber mache ich mir keine Gedanken, weil ich die Realität Gottes jeden Tag sehe.«

»Wie genau sieht die aus?«

»Mann muss Gott bitten, sehen zu können, Justin«, rief sie förmlich. »Es ist etwas Persönliches. Zwischen Gott und jedem Einzelnen. Wenn ich noch mehr dazu sage, höre ich mich bloß wieder wie eine religiöse Fanatikerin an. Ich muss nicht erklären, warum ich glaube, dass Christus mein Erlöser ist ...«

»Nein, nein, darauf wollte ich gar nicht hinaus«, sagte Collier rasch. »Ich verstehe, dass es etwas Persönliches ist.« Mittlerweile fürchtete er, dass die Unterhaltung in eine zu heikle Richtung ging. Wenn er behauptete, selbst ernsthaft christlichen Idealen zu folgen, würde Dominique seine Falschheit wittern. »Ich glaube an die Zehn Gebote, die Bergpredigt und all das. Mein Problem besteht darin, mich daran zu halten. Womit wir wieder bei dem wären, worüber wir vorher gesprochen haben – Schwäche.«

Sie sah ihn nur an und nickte. »Menschen sind nicht stark – nicht, seit Eva in den Apfel gebissen hat. Deshalb bietet uns Gott einen Ausweg. Den finden wir entweder, oder wir tun es nicht.«

Collier versuchte einzulenken. »Was hat Harwood Gast gefunden? Sie sagen, Sie wissen, dass es einen Gott gibt, weil Sie Beweise für ihn in Ihrem Leben gesehen haben ...«

»Ja, oft sogar.«

»Wenn Sie also wissen, dass es einen Gott gibt, dann wissen Sie auch, dass es einen Himmel gibt. Und wenn Sie wissen, dass es einen Himmel gibt, dann wissen Sie auch, dass es eine Hölle gibt?«

Sie lachte. »Genau.«

»Dann sind diese Baumwollfelder vielleicht wirklich verflucht. Vielleicht ist das Haus der Gasts wirklich heimgesucht, und vielleicht hat Harwood Gast wirklich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen – oder mit einem Dämon, was Sute angedeutet hat. Vielleicht sind all diese Geschichten wahr

Dominique zuckte mit den Schultern. »Die Möglichkeit will ich nicht von der Hand weisen.«

»Was ist mit Ihnen? Ich glaube Ihnen, wenn Sie sagen, dass Sie Beweise für Gott in Ihrem Leben gesehen haben. Aber haben Sie auch schon Beweise für andere Dinge gesehen?«

Ihre wunderschönen Augen verengten sich. »Was zum Beispiel?«

»Haben Sie nicht neulich beim Essen angedeutet, dass Sie in der Pension etwas gesehen haben? Ich möchte nur wissen, ob Sie in der Gegend je etwas erfahren haben, das darauf schließen lässt, es könnte vielleicht doch nicht alles ...«

»Blödsinn sein? Also, ich kann aufrichtig sagen ... vielleicht. Aber ich werde nicht verraten, was es war.«

Collier seufzte.

Dominique grinste. »Ich weiß. Ich hasse es auch, wenn das jemand macht. Trotzdem will ich nichts sagen, sonst halten Sie mich wirklich für eine Verrückte.«

»Ich schwöre, das werde ich nicht«, bettelte er geradezu. Jeder hier schien dasselbe Spielchen mit Collier treiben zu wollen. »Ich könnte Sie unmöglich für eine Verrückte halten.«

»Also ...« Ihr Blick wanderte jäh zur Kellnerin. »Oh, da kommt die Rechnung. »Wir zahlen getrennt ...«

»Von wegen.« Collier bezahlte bar und gab ein üppiges Trinkgeld. Dann beugte er sich auf dem Tisch vor. »Erzählen Sie es mir.«

Ihr Zögern wirkte echt. »Na gut, aber nicht hier. Sie haben das Essen bezahlt, also übernehme ich den Nachtisch ...«

Eis mit warmer Karamellsoße nach ... Tintenfisch, dachte Collier ungläubig. Er entschied sich für ein großes Spritzgebäck und folgte Dominique aus dem Eissalon. Sie setzten sich auf eine Bank gegenüber einer halbkreisförmigen Mauerhälfte aus alten Ziegelsteinen, die als Beiwerk für eine große Kanone diente. Die Kanone besaß keine Räder, sondern ruhte auf einem runden Schwenkgestell. Daneben hatte man eine Pyramide aus dicken Kugeln aufgebaut. Am Rande nahm Collier eines der allgegenwärtigen historischen Schilder wahr. Artilleriegeschützbank und schwenkbar montierte Kanone, Modell 1861, 6,4 Zoll. Eine Welt des Schmerzes, dachte Collier. Ringsum schienen Touristen aus der einsetzenden Abenddämmerung aufzutauchen.

Dominique verschlang ihr Eis, als hätte sie Heißhunger. Sie genoss jeden Löffel, und Collier konnte dabei den feuchten Glanz ihrer Lippen und Zungenspitze in einer Klarheit beobachten, die an Werke von Dalí erinnerte. Düsternis umgab das strahlende Gesicht und den juwelenartigen Schimmer ihrer Augen. »Ich bin ein richtiges Schwein, aber das schmeckt so lecker«, schwelgte sie. »Sind Sie sicher, dass Sie keines wollen?«

»Nein, danke. Ich bin voll.« Als er sich vorstellte, wie sein Magen auf Eiscreme mit koreanischen Gewürzen, Tintenfisch, Rindfleisch, halb gekochtes Ei – und all das Bier, das er an diesem Tag getrunken hatte – reagieren würde, schauderte Collier. Tatsächlich musste er sich sogar überwinden, das Spritzgebäck zu essen.

Dann malte sich sein Verstand etwas anderes aus: Als sie den nächsten Löffel an die leicht geöffneten Lippen hob, erstarrte sie. Plötzlich war sie oben ohne und saß mit gespreizten Beinen auf der Bank, die schrullige Christin, die zu ihren Wurzeln als Collegeschlampe zurückkehrte ...

Ihr Mund schlürfte die Eiscreme vom Löffel und ließ sie auf der Zunge schmelzen, dann quoll etwas davon über ihre Lippen. Die mit Karamellsoße durchzogene weiße Creme lief ihr als Rinnsal das Kinn hinab, dann über den Hals und weiter zwischen ihre Brüste, um sich im Nabel zu sammeln. An der Stelle ließ Colliers Fantasie ihn auf die Knie sinken, um die Creme aufzulecken. Seine Hände massierten ihre Hüften und wanderten über ihre Rippen hinauf, während seine Zunge der süßen Bahn aufwärts folgte. Zuerst leerte er den anbetungswürdigen Nabel, dann leckte er über einen bebenden Bauch. Sein Mund spürte unter geschmeidiger, perfekter Haut erhitztes Blut durch Adern pulsieren. In seinem Kopf bildeten sich keine Gedanken, nur fleischliche Wolllust. Sie war zu seinem Eis geworden. Als seine Zunge ihr Dekolleté säuberte, streichelten ihre Brüste über seine Wangen.

Als er das mit Eiscreme bedeckte Kreuz erreichte, zuckte er zurück ...

Es schmerzte auf seiner Zunge wie ein winziges Brandeisen.

»... und da, sehen Sie? Dort drüben sind einige der ersten Schienen überhaupt.«

Collier tauchte aus seiner schmutzigen Illusion auf wie aus einer Blase aus Abwasser. Dominique hatte geredet, doch er hatte kaum etwas davon gehört.

»Wie bitte?«

Sie deutete an der Kanone vorbei auf die kopfsteingepflasterte Straße. Zwei parallele Linien querten den malerischen Weg, und die beiden Linien schienen in das Kopfsteinpflaster eingelassen zu sein.

»Oh, Eisenbahnschienen«, begriff er schließlich. »Gasts Eisenbahn, vermute ich mal.«

»Richtig. Sehen Sie die Tafel dort?«

Das Schild befand sich auf einer weiteren alten Ziegelsteinmauer. Originalstandort von Depot 1 der East Tennessee & Georgia Railroad Company – 1857.

Collier betrachtete die eigenartigerweise rostfreien Gleise. »Also gibt es die Originalstrecke noch?«

»Oh nein. Ein Großteil davon wurde nach dem Krieg als eine Form von Reparationszahlungen beschlagnahmt. Aber die hier hat man gelassen, und es gibt noch ein paar Abschnitte in der Stadt, einige sogar mit Originalschwellen. Jedenfalls ist dieser Platz hier, an dem wir gerade sitzen, die Stelle, an der Harwood Gasts Wahnsinn im Jahr 1857 offiziell begann. Er endete fünf Jahre später in einer Gegend in Georgia namens Maxon.«

»Maxon«, murmelte Collier. »Ich glaube nicht, dass ich je von dem Ort gehört habe.«

»Dürfte daran liegen, dass es ihn nicht mehr gibt. Die Armee der Union hat das gesamte Umfeld dort dem Erdboden gleichgemacht. Heute wächst dort nur noch Gestrüpp.«

Collier dachte zurück. »Mr. Sute hat mir erzählt, dass Gast die Eisenbahn gebaut hat, um Gefangene in eine Art Konzentrationslager zu bringen. War das in diesem Maxon?«

»Ja«, bestätigte Dominique verkniffen. »Und die Gefangenen waren keine Soldaten der Union, sondern ...«

»Zivilisten. Ich erinnere mich daran, dass er auch das erwähnt hat. Ergibt aber wenig Sinn. Aus militärischer Sicht, meine ich.«

»Das gilt für Dachau und Auschwitz auch, es sei denn, man berücksichtigt die eigentliche Motivation dahinter. Es ging nicht um Logistik oder Effizienz – es musste böse sein.«

»Also war Harwood Gast der Hitler des Bürgerkriegs?«

»Vielleicht sogar noch schlimmer, schon deshalb, weil Gast nie politisch motiviert war. Er war ein gewöhnlicher Bürger«, erklärte Dominique. »Er hatte nie ein Amt inne und hat sich auch nie für eines beworben. Gast hat einfach seine Eisenbahn gebaut und sich dann umgebracht.«

Collier lächelte düster. »Seine Aufgabe war vollbracht, der Pakt erfüllt: der Bau einer Eisenbahn, die während des Kriegs keinen militärischen Zweck erfüllte. Himmler war Hitler unterstellt, Gast hingegen einer höheren – oder vielleicht sollte ich sagen, einer ...«

»Einer niedrigeren Macht«, beendete Dominique den Satz für ihn. »Zumindest, wenn man der Legende Glauben schenkt.«

»Sie haben mir übrigens noch nicht verraten, ob Sie das tun oder nicht«, fügte Collier hinzu. »Allerdings haben Sie erst vor Kurzem erwähnt, dass Sie nicht unbedingt an den Geschichten zweifeln ... was mich zu meinem nächsten Punkt führt ...«

»Sie sind ein wirklich beharrlicher Bierschriftsteller«, stellte sie lachend fest. »Na schön. Ich erzähle Ihnen, was ich in jener Nacht gesehen habe.«

Sie schlenderten die Ausläufer der Hauptstraße entlang, während allmählich das Nachtleben der Stadt erwachte. Laternen in Kutscherstil zeichneten sanfte Lichthöfe auf die Gehwege.

»Nur bitte«, sagte Dominique halbherzig, »erzählen Sie niemandem davon, sonst würde ich wie eine Idiotin dastehen.«

»Sie haben mein Wort drauf.«

Ihr Schatten fiel im Winkel vor ihn, ein sexy Umriss. »Vor einigen Jahren hat eine Hochzeitsgesellschaft das Restaurant damit beauftragt, das Catering für den Empfang zu übernehmen. Dafür wurde die Vorhalle von Mrs. Butlers Pension angemietet. Alles verlief reibungslos, nur irgendwann, bevor wir die Desserts auftrugen, schaute ich in die entferntere Ecke des Raums. An den seitlichen Wänden, wo Mrs. Butler all diese Bücherregale und Vitrinen mit Zeug aus dem Bürgerkrieg hat, gibt es etliche Nischen. Zwischen zwei Bücherregalen ist eine davon, die man kaum bemerkt ...«

Collier erinnerte sich sofort. »Genau. Dort steht ein Schreibtisch mit aufwendigen Schnitzereien und kleinen Schubladen und Fächern.«

Dominique nickte. »Außerdem ist an der Seite ein kleines Porträt von Penelope Gast, als hätte es jemand dort hingehängt, um es zu verstecken. Jedenfalls war ich gerade dabei, für die Desserts die Köpfe zu zählen – einige Gäste waren bereits gegangen, und ich wollte die richtige Anzahl servieren ... da sehe ich dort jemanden sitzen.«

»An dem Schreibtisch?«

»An dem Schreibtisch. Dieser Kerl kauert darüber und schreibt etwas. Ich hatte ihn davor noch nicht gesehen, deshalb dachte ich, er sei spät eingetroffen und hätte sich dort hingesetzt, um eine Hochzeitskarte auszufüllen. Ich gehe also rüber und frage ihn, ob er hausgemachtes Napoleon-Gebäck zum Nachtisch möchte.«

»Ja?«

»Er hört zu schreiben auf und schaut zu mir auf – und der Kerl ist echt hässlich. Blasses Gesicht, verkrampfte Hände, große, düstere Augen. Und irgendwas hat mit seiner Nase nicht gestimmt, sah aus, als hätte er Goldfolie drauf. Außerdem liegt da auf dem Tisch dieser groteske rote Hut. Er sieht mich also an, als wäre er sauer, weil ich ihn gestört habe, und sagt: ›Napoleon? Dem bin ich in Ägypten begegnet, und er war absolut erbärmlich.‹«

»Wie bitte?«, fragte Collier ungläubig.

Dominique zuckte mit den nackten, weißen Schultern. »Das hat der Kerl gesagt. Ich denke mir, er ist betrunken und will witzig sein. Dann frage ich ihn noch einmal, ob er ein Dessert will, und er verzieht das Gesicht und sagt: ›Sehen Sie nicht, dass ich beschäftigt bin? Ich muss mehr an Harding bezahlen. Vom Eisenbahnkonto. Mr. Gast hat gerade eine Bestellung für fünfzig weitere aufgegeben, die nach Maxon zu schicken sind. Die verschleißen sie dort unten im Nu.‹«

»Verschleißen ...«, setzte Collier an.

»Das hat er gesagt, ohne weitere Erklärung. Aber ich kümmerte mich nicht weiter darum. Immerhin war der Typ patzig zu mir gewesen, also ließ ich ihn allein, um meinen Leuten zu helfen, das Dessert zu servieren. Dann frage ich meine Betriebsassistentin, ob sie gesehen hat, wann der Mann hereinkam, und sie erwidert: ›Wer?‹ Ich zeige zu der Nische. ›Der Spinner dort am Schreibtisch‹, sage ich. Aber ...«

»Als Sie wieder hinschauen, ist er weg«, vermutete Collier.

»Genau. Verschwunden.«

Damit hatte Collier gerechnet. »Das ist auf jeden Fall eine unheimliche Geschichte. Aber ... ist das alles?«

Sie klopfte ihm spielerisch auf die Schulter. »Nein! Das ist erst der Anfang. Sehen Sie – ich sollte Ihnen den Rest nicht erzählen. Sie werden sich bloß lustig über mich machen.«

»Jetzt erzählen Sie schon!«

Sie bogen um eine dunkle Ecke in eine Nebenstraße, deren Geschäfte schon längst geschlossen hatten und in der es nur ein von Kerzenlicht erhelltes Bistro gab, wo einige Gäste an Tischen im Freien ihre Cocktails genossen. Dominiques weiße Kleidung und ihre helle Haut ließen sie in den düsteren Lichtverhältnissen gespenstisch erscheinen.

»Der Empfang wird ein voller Erfolg, und der Brautvater zahlt die Rechnung mit einem üppigen Trinkgeld. Gegen Mitternacht sind die meisten Gäste gegangen, aber ein paar sind noch da und trinken. Meine Leute hatte ich heimgeschickt, nachdem sie alles aufgeräumt hatten, ich selbst war geblieben, um Getränke nachzuschenken und mir das Gerede der Betrunkenen in ihren Smokings anzuhören. Irgendwann schaue ich zum Fenster und sehe draußen jemanden vorbeigehen – zwei kleine Mädchen in weißen Kleidern.«

Colliers Kehle fühlte sich schlagartig wie zugeschnürt an. »Hatten ... hatten sie einen Hund dabei?«

Sie sah ihn komisch an. »Einen Hund? Nein, es waren nur zwei Mädchen. Aber dann stach mir etwas anderes ins Auge, oben im Treppenflur. Eine andere Gestalt. Wollen Sie raten, wer?«

»Der Kerl vom Schreibtisch?«

»Genau, und jetzt trägt er diesen idiotischen Hut. Ich sehe also, wie er den Flur entlanggeht. Ich bin überzeugt davon, dass ich ihn gesehen habe. Er hat sogar zu mir runtergeschaut und mir einen finsteren Blick zugeworfen. Bei den zwei Mädchen am Fenster könnte ich mich auch irren, aber bei ihm bin ich mir absolut sicher. Ich denke mir, er ist ein Gast, der in der Pension wohnt, vielleicht der Vater oder Großvater der Kinder oder so. Wäre ja nichts dabei, oder?«

»Nein.«

»Gegen eins sind alle weg, und ich räume den Rest auf, sollte nicht länger als eine Stunde dauern. Ich will nur noch raus, weil ich müde bin. Mrs. Butler kreuzt auf und erkundigt sich, ob ich Hilfe brauche, und ich frage sie, wie viele Gäste an diesem Wochenende in der Pension wohnen. Sagt sie: gar keine.«

»Oh«, stieß Collier hervor.

»Genau, oh. Sie meint, sie will jetzt ins Bett, und ich soll abschließen, wenn ich fertig bin. Falls ich was brauche, sagt sie, soll ich einfach nach Jiff rufen, weil er noch munter ist und die Böden wischt.«

Collier berührte sie wie versehentlich an der Schulter. »Bitte sagen Sie, dass Sie nach oben gegangen sind, um sich umzusehen.«

»Natürlich hab ich das gemacht. Aber ich muss zugeben, mittlerweile war mir schon ein wenig unheimlich zumute. Die meisten Lichter waren ausgeschaltet, und es war echt still. Ich bin sicher, dass niemand die Treppe runterkam, weil man von der Vorhalle aus beide Treppenhäuser einsehen kann. Ich gehe also rauf ...«

Collier wurde zunehmend neugieriger. »Und?«

»Oben ist es dunkel. Kaum habe ich die oberste Stufe erreicht, bereue ich es schon. Aber ich sehe trotzdem nach. Alle Türen stehen offen, um die Zimmer zu lüften ... außer einer. Die ist verschlossen.«

»Zimmer zwei?«, fragte Collier.

Dominique wirkte überrascht. »Genau.«

»Das ist das Zimmer neben dem, in dem ich wohne. Es ist außerdem das Zimmer, in dem Penelope Gast und ihr Hausmädchen ermordet wurden.«

Dominiques überraschte Miene verfinsterte sich. »Das wusste ich nicht. Woher ...«

»Na ja, zumindest hat mir das Mr. Sute erzählt«, ergänzte Collier.

»Wow«, meinte sie nachdenklich.

»Also weiter – was haben Sie oben gesehen.«

»Nichts«, antwortete sie.

Collier fühlte sich betrogen. »Nichts?«

»Noch nichts. Ich sah den Kerl nirgends, und als ich aus den Fenstern schaute, konnte ich auch die Mädchen nirgendwo sehen, aber – und das ist der beunruhigende Teil – ich roch etwas.«

Unwillkürlich kroch Collier ein kalter Schauder über den Rücken. Bitte sag nicht, dass du ...

»Ich roch Urin. Meine Güte, das werde ich nie vergessen. Abgestandener Urin, als ginge man unter einer Autobahnbrücke durch, wo Obdachlose hinpinkeln. Der Gestank schien von jenem Zimmer auszugehen – von Zimmer zwei. Ich habe mich sogar hingehockt, um durchs Schlüsselloch zu spähen, und das war die Bestätigung – der Geruch drang genau dort heraus, aus dem Schlüsselloch.«

Collier wusste nicht, was er sagen oder hinzufügen sollte, um ihre Eindrücke zu untermauern.

»Aber das Merkwürdigste ist ... eine Minute später war er wieder verschwunden.«

»Der Gestank, meinen Sie?«

»Richtig. Im einen Moment stank es im Flur, und der Geruch, der aus dem Schlüsselloch kam, war durchdringend wie Dampf. Im nächsten Moment ...«

»Verschwunden, als wäre er nie da gewesen.«

Sie nickte langsam.

Collier schwieg eine Weile; dann setzte sie eine verschmitzte Miene auf.

»Entweder haben Sie einen Frosch verschluckt ... oder irgendetwas beunruhigt Sie plötzlich.«

Collier beschloss, nicht weiter zu überlegen. »Ich habe schon mehrmals dasselbe gerochen.«

»Ich hab’s geahnt!« Dann jedoch verpuffte ihre Begeisterung. »Aber wissen Sie, wahrscheinlich liegt es bloß an einem verrotteten Teppich oder etwas Ähnlichem. Schimmel.«

»Ja, vielleicht. Jedenfalls wäre das eine wesentlich vernünftigere Erklärung dafür, dass Mrs. Butler das Zimmer nie vermietet. Es ist bloß unbewohnbar, kein Spuk«, sagte er, dachte aber weiter: Spuk ... durch Urin?

»Genau. Oder vielleicht war es etwas anderes. Vielleicht bin ich beeinflussbarer, als ich glaube, und habe lediglich gedacht, dass ich es roch.«

Collier wischte sich die Haare zurück. »Mit anderen Worten, Ihr Verstand hat es erfunden?«

»Ja.«

»Dominique, welchen Grund könnte Ihr Unterbewusstsein haben, Sie glauben zu lassen ... das zu riechen?«

»Wegen der Geschichte!«, rief sie, als wäre es offensichtlich. »Sie wissen schon, wegen der Sache mit ›Mrs. Pinkel‹. Ich bin sicher, J. G. Sute hat Ihnen davon erzählt, oder?«

»Nein, aber Bürgermeister Snodden hat es getan. Ich nahm an, es ginge um einen ausgefallenen ›Natursektfetisch‹.«

»Nein, nein, das ist es nicht.«

»Was dann?«, bohrte Collier nach. »Warum haben die Leute sie hinter ihrem Rücken Mrs. Pinkel genannt?«

Dominique errötete leicht. »Aus demselben Grund, warum sie ›Penelope Piss‹ genannt wurde. Das wissen Sie nicht?«

»Nein! Also sagen Sie’s schon!«

Mittlerweile wirkte sie auf unbehagliche Weise geziert. »Na ja, es lag an dem, was sie ihre Liebhaber immer tun ließ. Sie wissen schon ... Haben Sie noch nie von Hinterwäldler-Geburtenkontrolle gehört?«

»Was?«

»Die Südstaaten-Dusche? Herrgott. Ich schätze, ich muss wohl alles erklären ... so eklig es sein mag. Also, nachdem ihre Liebhaber ... fertig waren ...«

Endlich fügte Collier die Teile zusammen. Sie haben in ihr uriniert, nachdem sie gekommen waren, um das Sperma auszuspülen. Verfluchte Scheiße noch eins! »Schon gut, ich hab’s kapiert.«

»Und Gerüchten zufolge hat sie es mit ihren Liebhabern immer im selben Zimmer getrieben – dem Raum, der jetzt Zimmer zwei ist –, und deshalb stank es dort immer nach Urin.«

»Wie reizend«, murmelte Collier. Du meine Fresse ... eine Südstaaten-Dusche ...

»Natürlich hat es nicht immer funktioniert«, fügte Dominique hinzu. »Penelope hatte mehrere Abtreibungen.«

»Sute war so freundlich, mich darauf hinzuweisen.«

Das Gespräch kam zum Erliegen, während sie weiterspazierten. Collier nahm an, dass ihre Geschichte beendet sei. »Oh, sehen Sie nur«, sagte sie plötzlich und stellte sich auf die Zehenspitzen.

Unvermittelt regte sich Colliers Beinfetisch. Ihre wohlgeformten Waden spannten sich an, als sich die nackten Fersen in den Sandalen hoben. Er stellte sich vor, wie sie genau so vor ihm stand, nur nackt und vornübergebeugt ...

Perverser. Das Wort rappelte in seinem Kopf wie zwei Steine, die gegeneinander geschlagen werden. Perverser, Perverser, Perverser ...

»Der Mond«, sagte sie. »Wenn das nicht unheimlich ist ...«

Inzwischen hatten sie das Ende der Nebenstraße erreicht. An dieser Stelle gab es keine Laternen. In schrägem Winkel verlief über die Straße ein weiterer Abschnitt der in das Kopfsteinpflaster eingelassenen Schienen. Die Gleise ließen die Straße hinter sich und schienen sich in mit Gestrüpp bewachsenes Grasland hinein fortzusetzen. Collier ging mit Dominique weiter hinaus und stellte fest, dass die Schienen tatsächlich noch an anderthalb Jahrhunderte alten Eisenbahnschwellen befestigt waren. Der Mond leuchtete milchig-weiß und gespenstisch am nächtlichen Himmel.

In einem seltsamen Anflug von Schwindel – wie Fetzen eines Albtraums – sah Collier plötzlich das Gesicht einer Frau die lasziv-boshaft grinste und skelettartige Hände zum Mond emporstreckte.

Das Gesicht der Erscheinung gehörte Penelope Gast ...

»Kann ich bestätigen«, meinte er schließlich. »Das perfekte Umfeld für Ihre Geistergeschichte.«

»Und gleich da draußen ist das Land. Gott weiß wie viele Morgen, die für nichts mehr verwendet werden.«

Auf einmal wurde Collier bewusst, dass sie Händchen hielten.

In ihm regte sich etwas, das sich beinahe wie verborgene Angst anfühlte. Wer hat das gemacht? Ich? Sie? Er wusste es nicht ...

»Und das wird es auch nie werden«, fuhr sie fort und blickte weiter hinaus. »Die Menschen glauben wirklich, dass dieses Land wegen der Dinge, die Gast dort getan hat, verhext ist.«

Er hat die Köpfe von Sklaven auf Pfähle spießen und ihre Leichen in die Erde harken lassen, erinnerte er sich. Das war ungeheuerlich, aber ...

Collier interessierte die Geschichte der Stadt im Augenblick nicht mehr besonders. Mein Gott, diese Frau ... Sein Blut fühlte sich nur durch die Berührung ihrer Hand wie Öl an, das auf einem Ofen erhitzt wird.

»Und obwohl all das Gestrüpp da draußen an sich ziemlich hässlich ist ... hat es in gewisser Weise auch etwas Schönes.«

»Ja, stimmt«, pflichtete Collier ihr bei, ohne zu verstehen, was sie meinte.

Das Licht des tief stehenden Mondes auf ihrem Gesicht ließ ihre Züge surreal wirken, ließ Linien und Flecken schwarz und hob den Rest hervor. Ihre Augen vermittelten den Eindruck bodenloser Tiefe, die Wölbung ihrer Brust und der Mondschein auf ihren Beinen bildeten eine Schwelle zu etwas, das die Realität seiner Lust überstieg. Collier hatte in seinem Leben noch kein himmlischeres Gesicht gesehen.

Wer drehte sich dann wem zu? Collier wusste es nicht. Jedenfalls blieb sie auf Zehenspitzen, als er sich plötzlich dabei ertappte, sie zu küssen. Ihr Griff um seine Hand verstärkte sich und wurde heißer; ihre Zungenspitzen berührten sich. Ihre andere Hand wanderte auf seinen Rücken und zog ihn näher, und als sich sein Mund von ihren Lippen löste und seitlich ihren Hals hinabglitt, seufzte sie, was nur Verlangen bedeuten konnte.

Collier spürte, dass er in ein kostbares Reich vorgedrungen war, einen Bereich, in dem Verlangen mehr darstellte als nur den Instinkt von Gehirnzellen, die Fortpflanzung voranzutreiben. Er wähnte sich selig, in dieser speziellen Sphäre zu sein – zum ersten Mal in seinem Leben wahrhaftig. Doch er wusste auch, dass er den Einlass in dieses Reich nicht verdient hatte ...

Er konnte fühlen, wie sich ihre Nippel an seinem gefälschten Tommy-Bahama-Hemd versteiften, und hätte schwören können, dass sogar durch seine eigenen Brustwarzen Empfindungen zuckten. Ein weiteres warmes, wohliges Seufzen, und sie zog seinen Mund zurück zu ihrem, suchte nach seiner Zunge, nahm seinen Atem in sich auf ...

Ihre Hand auf seiner Brust öffnete sich, und sie schob ihn von sich.

»Zeit, aufzuhören ...«

SCHEISSE! »Ich will aber nicht«, entgegnete er und versuchte, sie wieder an sich zu ziehen, doch ihre abweisende Hand blieb unerschütterlich.

Dominique wirkte enttäuscht und verlegen. »Justin ... ich habe dir nur einen Teil von mir geschildert, nicht alles. Es gibt Dinge, die du nicht über mich weißt. Ich bin so, wie ich bin, dagegen kann ich nichts tun, und das will ich auch gar nicht.«

Collier fühlte sich wie ein ausgespuckter Kaugummi, der soeben auf der Autobahn überfahren worden war. Er ergriff ihre Hand und drückte sie. »Ich will wissen, was du damit meinst. Ich will alles über dich erfahren.«

»Es wäre einfach nicht fair.«

»Fair? Wem gegenüber?«

»Dir gegenüber.«

Die Antwort verwirrte ihn. Sie führte ihn an der Hand zurück zu der Bank. »Es ist zu früh.«

»Okay, das ist schon in Ordnung«, gab er beinahe flehentlich zurück. »Ich bin sehr geduldig ...«

Ihr Kichern driftete in der Dunkelheit zu ihm. »Ja, klar.«

Ich bin verdammt noch mal verrückt nach dir ... »Ich kann warten, bis es nicht mehr zu früh ist.«

»Nein, kannst du nicht. Scheiße, heutzutage gibt es wahrscheinlich nirgendwo auf der Welt noch einen Mann, der so lange warten würde ... Außerdem bringst du mich aus dem Konzept.«

»Ich bringe dich aus dem Konzept?«

Ohne seine Hand loszulassen, drehte sie sich auf der Bank herum. »Du bist derjenige, der meine Geschichte hören wollte. Ich wollte sie nicht erzählen, aber du hast darauf bestanden.«

»Und du hast sie mir erzählt. Es ist eine tolle Geschichte, und ich glaube dir. Aber was hat das mit ...«

»Sie ist noch nicht zu Ende«, teilte sie ihm abrupt mit.

Verdammt ... »Da ist noch mehr?«

»Alles, was ich dir bisher erzählt habe, ist nichts im Vergleich zum Rest. Willst du’s hören oder nicht?«

»Ja ...«

So also steckte sie ihre Grenzen ab. Mir egal, dachte Collier. Er war zufrieden damit, mit ihrer Hand in der seinen auf der Bank zu sitzen, während sich ihre Schultern berührten ... das heißt, er war damit zufrieden, was allerdings nicht für gewisse andere Teile seines Körpers galt. Reiß dich zusammen! Sei jetzt bloß kein Arschloch und verärgere sie ...

»Wie ich schon sagte, der Gestank aus Zimmer zwei verschwand so schnell, dass ich ehrlich nicht wüsste, wie er überhaupt vorhanden gewesen sein könnte. Ich muss ihn mir eingebildet haben.«

Hast du nicht. Doch Collier behielt die Berichtigung für sich.

»Und ebenso wenig fand ich eine Spur von dem alten Kerl mit der komischen Nase, also sagte ich mir, das müsste auch Einbildung gewesen sein. So was kommt manchmal vor. Ich war müde, es war ein langer Tag gewesen, ich hatte wenig gegessen – kann passieren. Keine große Sache, oder?«

»Nein.«

»Aber wie erwähnt standen außer bei Zimmer zwei alle Türen offen, und die Zimmer im ersten Stock entlang des Treppenflurs haben Balkone, die auf den Garten, den Hof und das Ödland dahinter hinausgehen.«

»Ich weiß, das war das erste, was mir an meinem Zimmer aufgefallen ist, als ich hineinging. Und ... was ist passiert?«

Während ihrer gesamten Schilderungen hatte Dominique ruhig und nicht allzu ernst gewirkt, als störe es sie nicht, dass sie sich unter Umständen alles nur eingebildet hatte. Nun jedoch ...

Collier musterte ihr Gesicht eingehender.

Die Art, wie sich ihre Miene verdüsterte, erinnerte an einen Spezialeffekt aus Hollywood. Ihre Augen vermittelten schlagartig Beunruhigung, und ein paar Mal stammelte sie regelrecht. »Eine Sekunde lang war da ... dieses orange Licht ... richtig grell ...«

»Oranges Licht? Wo?«

»An den Balkontüren, als ich am Eingang des Zimmers stand, in dem du wohnst.«

»Dominique, das verstehe ich nicht. Ein oranges Licht?« Erschrecken. »Stand ein Teil des Hauses in Flammen oder brannte es auf den Feldern?«

»Das dachte ich zuerst auch, aber nein. Dann dachte ich, dass ich vielleicht eingeschlafen und bei Sonnenaufgang aufgewacht wäre.« Sie verstummte kurz. »Meine Uhr allerdings behauptete, dass es kurz vor zwei Uhr morgens war.«

»Also bist du zum Balkon gegangen, richtig? Und hast hinausgeschaut ...«

Ein verhaltendes Nicken. Zitterte ihre Hand? »Ich ging zur Balkontür und sah, dass es tatsächlich ein Feuer war. Außerdem hörte ich ein klirrendes Geräusch. Der gesamte Hinterhof war hell erleuchtet und in Bewegung. Ich konnte Hitzewellen spüren ...«

Plötzlich regte sich in Collier eine unangenehme Empfindung ...

Sie sprach mit der Luft vor ihr, nicht mit ihm. »Da draußen steht eine alte Eisenschmiede aus der Bürgerkriegszeit. Ich weiß nicht, ob sie immer noch da ist, aber ...«

»Ist sie«, meldete sich Collier zu Wort. »Ich hab sie an dem Tag gesehen, als ich ankam. Aber Jiff hat mir gesagt, dass sie nur noch als Griller an Feiertagen und bei Veranstaltungen benutzt wird.«

»Jiff war nicht da, und es wurde auch nicht gegrillt. In dem Ding wurde Erz geschmolzen. Jedes Mal, wenn der Blasebalg gepumpt hat, wurde das orange Licht doppelt so grell ... Das und die unregelmäßigen Hammergeräusche gaben der Szene einen Anstrich von Wahnsinn. Die Mauern der Schmiede haben mehrere Schütten, und aus ihnen strömten das Licht und die Hitze nur so heraus.«

Collier erinnerte sich an die Schmiede mit den verschiedenen Öffnungen, von denen eine recht groß war. »Was geschah dann?«

»Natürlich stand dort unten auch ein Mann, nur konnte ich keine Details erkennen. Er schien in einem Zyklus zu arbeiten: pumpen, hämmern, pumpen, hämmern und so weiter. Aber in regelmäßigen Abständen verschwand er hinter der Schmiede, und das Licht ließ nach, weil er nicht pumpte.«

»Wahrscheinlich hat er Schlacke abgeschöpft oder was man beim Schmieden halt so macht.«

»Er goss geschmolzenes Metall aus einem kleinen Tiegel«, berichtigte sie ihn. »Das fand ich allerdings erst heraus, als ich runterging.«

Collier malte sich die Szene aus. »Muss ziemlich beängstigend gewesen sein.«

Abermals nickte sie langsam. »Das Ganze war so verrückt, dass ich einfach rausgehen musste. Jemand, der um zwei Uhr nachts im Garten einer Pension Eisen schmilzt? Kann doch nur ein Scherz sein. Ich hatte Angst, ja, aber ich war auch verrückt. Ich rannte also runter ...«

Collier konnte nicht anders, als der Geschichte vorzugreifen. »Und der Mann war verschwunden, die Schmiede kalt.«

Dominique stupste ihn. »He, ich erzähle die Geschichte!«

»Ja, aber hab ich recht?«

»Du liegst völlig falsch. Als ich unten ankam, war das Licht höchstens noch greller, die Luft heißer. Der Mann war zurück nach vorne gekommen, pumpte den Blasebalg und hämmerte etwas auf einem Amboss, aber jetzt ... konnte ich ihn richtig sehen ...«

Machte sie das absichtlich? Collier glaubte es nicht. »Du weißt echt, wie man die Spannung steigert. Jetzt sag schon: Wer war der Mann?«

Dominique sah ihm mit ernster Miene unverwandt in die Augen. Mittlerweile fühlte sich ihre Hand glitschig vor Schweiß an. »Was glaubst du wohl? Ein Schmied wie aus dem Jahr 1860. Hohe Lederstiefel, Segeltuchhose, Rohlederschürze. Er hämmerte einen Metallstreifen und zog zwischendurch an der Blasebalgkette. Ich sagte: ›He, was um alles in der Welt machen Sie da?‹ Und ich sprach ziemlich laut. Trotzdem hörte er mich nicht. Er arbeitete einfach weiter.«

»Wie hat er ausgesehen? Sein Gesicht, meine ich?«

»Dichter, buschiger Schnurrbart, und die Haut im Gesicht war wie narbiges Leder. Er trug einen Hut, ein wenig wie ein Cowboyhut aus Leder, nur waren die Seiten nicht hochgerollt, und vorne hing die Krempe nach unten. Ich brüllte ihn noch einmal an, und er ignorierte mich weiter. Dann ging er zur Seite der Schmiede, und ich sah, wie er den Tiegel in die Öffnung tauchte. Er holte ihn wieder heraus und goss das Metall in eine Steinform, die aussah, als wäre Wachs drin. Dabei ging er sehr vorsichtig vor. Schließlich ergriff er die Form mit einer Zange und hielt sie in einen Bottich mit Wasser.«

Collier spürte durch ihre Hand, wie sich ihr Puls beschleunigte.

»Er ging mit der Form zurück nach vorn, klopfte das Metall mit einem Hammer heraus und fing an, darauf einzuschlagen – der Zyklus begann erneut.«

Collier fühlte sich unbehaglich, als er fragte: »War es eine Scherenform?«

Überrascht sah sie ihn an. »Ja. Warum fragst du?«

Ihm war klar, dass er seinen morbiden Albtraum unmöglich erwähnen konnte. »Ich habe eine in Mrs. Butlers Vitrinen gesehen. Eine aus Stein gemeißelte Form für eine Schere.«

»Ja, so sah das Ding aus. Es war groß, wie eine Blechschere. Der Mann hatte eine Form für jede Hälfte, und nachdem er eine Weile darauf eingeschlagen hatte, warf er die zwei Teile mit der Zange beiseite. Auf dem Boden türmten sich glühend heiße Stapel davon.«

»Hast du ihm auf die Schulter geklopft oder ihn gestupst, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen?«

Mittlerweile wirkte Dominique müde. »Um ehrlich zu sein, das kam mir als Erstes in den Sinn, aber ich hab es nicht getan. Ich hatte nämlich Angst, wenn ich ihn berühre ...«

»Würde er nicht da sein.«

Sie nickte. »Ich brüllte ihn noch einmal an, und ich meine, aus Leibeskräften ... Offensichtlich bemerkte er nicht, dass ich da war, aber als ich schrie, hielt er inne und richtete sich auf. Dann drehte er sich um und sah mich direkt an.«

»Hast du nicht gerade gesagt, er hätte nicht bemerkt, dass du da warst?«

Sie machte mit der Hand eine wegwerfende Geste. »Vielleicht sollte ich besser sagen, er sah mich nicht direkt an, sondern direkt durch mich hindurch

Collier grübelte.

»Dann«, sie schluckte sichtlich, »fiel mir der Rest auf.«

»Was?«, stieß Collier frustriert hervor.

»Seine Augen«, sagte sie im Flüsterton. »Das Weiß seiner Augen. Sie wirkten überhaupt nicht menschlich. Das Weiß schien gelb zu sein, wie bei jemandem, der krank ist, nur mit dunkleren Einschlüssen wie Ruß. Sein Gesicht ... wie seine Augen aussahen ... Ich hatte in dem Moment mehr Angst als je zuvor in meinem Leben – in der einen Sekunde, in der ich ihm in die Augen starrte. Denn da hatte ich plötzlich das verrückte Gefühl, dass er mich für den Bruchteil einer Sekunde auch sehen konnte.«

Collier hielt es vor Spannung kaum noch aus. »Was hat er als Nächstes gemacht?«

»Er verzog das Gesicht, wodurch aus den narbigen, ledrigen Zügen eine groteske Maske wurde. Dann fing er wieder an, den Blasebalg zu pumpen.« Dominique stieß einen gedehnten Seufzer aus. »So. Das ist meine Geschichte.«

Rings um sie zirpten Grillen. Die Nacht war vollends angebrochen und schwüler geworden; Collier spürte feuchte Kälte unter den Achseln.

»Wow«, sagte er.

»Ich zwang mich, zurück in die Pension zu gehen, während hinter mir weiter das Licht und die Hitze tobten. Es war eine richtige Hitzewand. Als ich drinnen war und durchs Fenster hinausschaute, herrschte im Hinterhof – natürlich – Dunkelheit. Die Schmiede war kalt, und weit und breit konnte ich niemanden sehen.«

Collier glaubte ihr auf Anhieb. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, die er bislang kennengelernt hatte, entsprach es nicht ihrem Stil, Blödsinn zu erzählen oder zu übertreiben. Zudem hatte er selbst merkwürdige Dinge gesehen, oder?

Er entschied, nichts davon zu erwähnen.

Eine Frage kam ihm in den Sinn. »War das ... damals, als du noch getrunken hast?«

Dominique lächelte. »Berechtigte Frage. Aber nein. Das war Jahre später. Eine Halluzination? Klar, könnte sein, nur glaube ich das nicht. Ebenso wenig denke ich, dass es ein Wachtraum oder dergleichen war, und ich nahm zu der Zeit auch keine Medikamente. Die Antwort werde ich wohl nie erfahren ...« Sie legte eine Hand auf ihr Herz. »Aber hier drin fühle ich, dass es ein Geist war. Ein Wiedergänger, ein körperloses Wesen oder wie man es heutzutage auch nennen mag.«

»›Geist‹ ist für mich völlig in Ordnung. Und das war das letzte Mal, dass du je einen Cateringauftrag in der Pension angenommen hast?«

»Oh nein«, entgegnete sie. »Ich habe seither mehrere gehabt. Aber das war das einzige Mal, dass ich etwas Abgefahrenes gesehen habe.«

Abgefahren ist gut. Ich hatte schon Stimmen, Pissegestank, Hunde, Albträume über Scheren und eine Frau, die mir am Schlüsselloch eine rasierte Muschi präsentiert hat. Kann es sein, dass wir BEIDE verrückt sind?

Collier ließ es dabei bewenden.

Dominique lachte halbherzig, doch es klang nicht überzeugend. »Na jedenfalls, jetzt, da ich es erzählt habe, klingt es ziemlich albern.«

»Da liegst du falsch«, verneinte Collier. »Dieses Haus ist ein echt unheimlicher Ort, wenn man in der richtigen Gemütsverfassung ist – oder in diesem Fall wohl eher in der falschen. Mr. Sute hat mir erzählt, dass dort schon etliche Leute ungewöhnliche Erfahrungen hatten.«

Dominique zuckte mit der Schulter, als wäre es belanglos, aber es war unübersehbar, dass sie sich nach ihrer Erzählung unbehaglich fühlte.

»Aber genug von all dem Geisterkram«, meinte er mit sanfterer Stimme. Ihre Hand blieb in seiner.

Collier sah sie an und zog sie wieder an sich – hatte die Geschichte ihr Verlangen geschürt? Er stellte fest, dass sie ihn noch leidenschaftlicher küsste als zuvor. Ihre Zungen erforschten ihre Münder mit noch mehr Inbrunst. Ihr Atem schien noch heißer zu sein, und ein Teil jener Barriere von vorher war gebröckelt. Ihre Hand wanderte über seinen Arm und über seine Brust, während ihre Zunge die seine verzweifelt liebkoste. Collier fiel in eine sinnliche Leere. Dominique glich einem noch warmen Brot frisch aus dem Ofen, er selbst der Butter, die darauf schmolz.

Unvermittelt gingen ihm Worte wie das tiefe Stöhnen eines Zombies durch den Kopf: Ich könnte mich wirklich in sie verlieben ...

Dann schlang sie ein Bein über seines, um den Körperkontakt zu verstärken. Einen Moment lang rechnete er damit, jenes geschmeidige, nackte Bein würde über seinen Schritt gleiten ... doch das blieb aus. Stattdessen wanderte ihre Hand auf seinen Rücken und presste ihn noch fester an sie.

Collier begann, seitlich ihren Hals entlang hinabzuküssen, und als seine Zunge über ihre Schlagader strich, spürte er ihren Puls wie das Flattern eines Kolibris; als er weiter über ihren Hals und ihre nackte Schulter leckte, steigerten der Geschmack ihres Schweißes und die vermischten Düfte von Körperspray, Seife und Shampoo seine Geilheit. Er hatte eine Hand auf ihre Seite gelegt. Teilweise ruhte sie an der Lücke zwischen dem eng anliegenden Oberteil und dem Taillenbund ihres Rocks. Er wusste, dass er sie mittlerweile auf die Probe stellte, ihre geheimnisvollen Grenzen auslotete, aber sie zuckte nicht zusammen, als er die Hand flach auf ihren Bauch drückte und die Spitze seines kleinen Fingers einen Zentimeter unter ihren Rock wanderte. Die Stimme von Colliers bösem Zwilling kehrte zurück: Gratuliere, du Hengst! Dein Finger ist nur noch etwa zehn Zentimeter vom Gelobten Land entfernt! Doch Collier ging zu sehr in seiner Leidenschaft auf, um darauf zu achten. Er rührte seine Hand nicht, sondern ließ die Zunge am Rand ihres Oberteils entlangwandern. Etwas riet ihm, den Stoff nicht nach unten zu schieben, um ihre Brüste zu entblößen, die zu sehen er seine Seele verkauft hätte. Stattdessen fuhr er hauchzart mit den Lippen über den rauen Stoff.

Dann rückte sein Mund der Brustwarze näher ...

»Oh Gott!«, stieß sie in frustriertem Flüsterton hervor.

Collier entfernte die Lippen, ohne jedoch die Hand wegzunehmen. »Was ist?«

»Es ist meine Schuld«, sagte sie seufzend. »Ich sollte es besser wissen. Ich muss dir den Rest erzählen ...«

Collier reagierte beinahe empört. »Keine Geistergeschichten mehr!«

Dominique schwieg kurz, um sich zu sammeln. »Nein, mehr von mir

Collier entließ sie nicht aus seiner Umarmung. »Wenn du heute Nacht nicht bis zum Äußersten gehen willst, ist das völlig in Ordnung.« Er versuchte, sich verständnisvoll anzuhören.

»Ich hätte es dir schon vorher erklären sollen, aber ich will nie bis zum Äußersten gehen. Was ich damit meine, ist, dass ich keinen Sex mehr habe – gar keinen. Wahrscheinlich habe ich das zuvor nicht klar zum Ausdruck gebracht.«

Collier suchte nach einer sinnvollen Erwiderung, fand jedoch keine.

»Ich drücke es mal derb aus«, fuhr sie in mattem Tonfall fort. »Ich ficke nicht. Habe ich seit dem College nicht mehr gemacht.«

Collier bemühte sich, seine Reaktion zu kontrollieren. »Ich verstehe«, beteuerte er, obwohl er weit davon entfernt war. Dann kicherte er kurz. »Aber weißt du, wir haben ja nicht gefickt

»Ich meine«, fügte sie hinzu, »dass ich nie wieder Sex haben werde, bis ich verheiratet bin. Rumzumachen, ist eine Sache, aber ... das ist alles, was ich tue. Kein Sex außerhalb der Ehe, nie. Das gilt für jede Art von Sex – Geschlechtsverkehr, Analverkehr, Oralverkehr. Das ist ein Teil dessen, was ich dir zuvor erzählt habe. Ein Teil davon, wie ich meine Kreditkarte abbezahle, die ich benutzt habe, um mein Leben zurückzubekommen.«

Denk nach!, schoss es Collier durch den Kopf, aber dann meldete sich sein Alter Ego zu Wort. Sie erfindet bloß eine Ausrede, damit sie sich nicht schuldig fühlen muss, wenn du sie von einem Ende der Straße zum anderen durchgevögelt hast! Mach weiter an ihr rum! In ein paar Minuten ist sie so heiß, dass du alles mit ihr machen kannst ...

War es wirklich so? Wir haben ziemlich leidenschaftlich rumgeknutscht. Er antwortete wie ein geschulter Schauspieler. »Ich verstehe.«

In ihrem Blick lag ein Anflug von Verärgerung. »Das glaube ich nicht, und mir ist klar, dass die meisten Männer das nicht tun – sie können es nicht. Und es wäre unvernünftig von mir, es von ihnen zu erwarten. Und was mich am meisten wurmt, ist, dass ich dich wirklich mag.«

Die böse Stimme: Das ist Quatsch, Kumpel! Streichel sie ruhig weiter!

Collier drückte ihre Hand. »Jetzt bin ich damit dran, unverblümt zu sein. Ich bin so verdammt verrückt nach dir, dass ich den Mond anheulen könnte.«

Ihr Gesicht wirkte kindlich, als sie lachte. Dann kehrte jener ernste, mit Frustration gemischte Ausdruck in ihre Züge zurück. »Ich will nicht, dass du denkst, ich sei ein Miststück, das dich bloß foppen will ...«

»Das denke ich überhaupt nicht.«

Die böse Stimme: Du bist nicht nur ein foppendes Miststück, du bist ein foppendes Miststück, das ordentlich durchgefickt werden muss ...

»Von einem Mann ist das verdammt viel verlangt«, räumte Dominique ein. »Selbst für einen strenggläubigen Christen.«

»Ich bin kein strenggläubiger Christ, aber ich komme damit klar.«

»Um Himmels willen, ich erwarte nicht, dass du oder sonst jemand nach meinen persönlichen, spirituellen Normen lebst. Das ist meine Sache.«

»Vertrau mir einfach«, flüsterte er an ihrem Hals. Sie küssten sich wieder. Collier war so versessen auf sie, dass er nicht sicher war, was er eigentlich vorhatte, und er hatte keine Ahnung, wie sehr er unbewusst auf seine dunkle Seite gehört hatte. Er flüsterte: »Ist das zu viel?« Er senkte den Mund zu ihrer Taille und spielte mit seiner Zunge an ihrem Nabel, leckte einen Ring um ihn herum, drückte die Zunge hinein und saugte.

Na also ... sie hat nicht nein gesagt ...

Er saugte intensiver und freute sich darüber, wie sie sich anspannte, sich krümmte und stöhnte. Ihre Hände berührten seinen Kopf; er rechnete damit, dass sie ihn von sich schieben würde, doch das geschah nicht.

Ebenso kam er damit durch, seine rechte Hand halb auf ihre Pobacke zu legen, die zitterte und wohlig bebte. »Ist das zu viel?«, fragte er abermals, bevor seine Zunge langsam in gerader Linie über die wenigen Zentimeter ihres nackten Bauchs bis zum Saum des Oberteils leckte. Als er jedoch versuchte, die Zunge darunter zu schieben, schoben ihre Hände ihn kurz zurück und lenkten seinen Mund wieder auf den Stoff. Collier wanderte weiter nach oben ...

Er lotete weiter Grenzen aus. Seine Lippen strichen über den dünnen Stoff, der ihre Brüste bedeckte, und er legte wieder eine Hand auf ihren Bauch. Der kleine Finger kehrte an seine Position einen Zentimeter unter dem Rockbund zurück.

Mittlerweile fühlte sich ihre Haut heiß und verschwitzt an. Sein kleiner Finger kreiste in dem Schweiß, aber als er ihn einen Zentimeter tiefer schieben wollte, zog ihre Hand ihn zurück.

Die Schlampe spielt immer noch mit dir. Wenn du erst mal angefangen hast, durch dieses Stück Tuch von einem Nuttenfummel an ihren Titten zu saugen, wird sie dich nicht mehr aufhalten, Bruder ...

Collier überlegte. Sie ließ zu, dass sein Mund weiter aufwärts unter ihre Brust wanderte. Seine Lippen waren empfindlich wie ein Stethoskop – sie fühlten die anschwellende Hitze, den rasenden Puls.

Mach weiter ... Aber waren das seine Worte oder die seines Alter Egos?

Colliers Mund kroch weiter empor. Aus dem Augenwinkel nahm er ein älteres Paar wahr, das vorbeiging. Trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, wie sich die Augen der Leute vor Empörung weiteten.

Scheiß auf sie, dachte er. Das Paar eilte weiter.

Schließlich erreichten Colliers Lippen die steife Brustwarze und begannen, langsam durch das Baumwolloberteil daran zu saugen.

Dominique wölbte den Rücken und sog hörbar den Atem ein.

Aber sie hielt ihn nicht auf.

Jetzt gehört sie dir. Du hast ihre steife Christenstärke gerade in Pudding verwandelt ...

Sollte Collier darauf hören?

Er saugte leidenschaftlicher und präziser – ihre Brust glich einem pulsierenden Bündel voll erregter Nerven und heißem Blut. Als Collier den Mund davon löste, sah er, dass er einen dunklen, nassen Kreis in den Stoff geleckt hatte. Ihre harte steife Brustwarze zeichnete sich aufrecht darunter ab. Im nächsten Augenblick wechselte er zur anderen Brust und begann, noch intensiver an dieser zu saugen.

Dominiques Hände krallten sich in sein Haar. Sie atmete durch die Zähne und flüsterte die nächsten Worte beim Einatmen: »Oh Scheiße, es ist unglaublich, wie gut sich das anfühlt ...«

Da glitt Colliers Hand zwischen ihre Beine, und sein Mittelfinger tauchte in die feuchte Spalte ihrer Vagina.

»Verdammt!«, schrie Dominique und riss seine Hand weg wie jemand, der eine Schlange aus einem Loch zieht. »Ich wusste es!«

Als sie von der Bank aufsprang und davonstapfte, war Collier völlig perplex. »Was zum ...? Dominique!«

Ihre Absätze klapperten so laut auf dem Kopfsteinpflaster, dass sie sich wie ein Hammer anhörten, der auf Schiefer klopft. Collier hastete hinter ihr her.

»Warte!«

Sie ging ziemlich schnell. Collier musste rennen, um sie einzuholen.

»Was um alles in der Welt ist denn los?«

»Ich hätte es wissen müssen!« Sie schien gleichzeitig zu schluchzen und zu brüllen. »Es ist immer dasselbe. Niemand gibt einen Scheiß darauf, was jemand anders empfindet!«

»Wovon redest du?«, fragte er flehentlich, als er sie endlich einholte und sie am Arm packte. Am liebsten wäre er zusammengebrochen, als er sah, wie ihr Tränen in die Augen traten.

»Dachtest du, es reicht, wenn du mich aufgeilst, dann würde ich dich schon ficken? Unmittelbar, nachdem ich dir gesagt habe, dass ich das nicht will?«

»Ich ... ich ...«

»Dachtest du, ab einem gewissen Punkt sind alle Frauen wie läufige Hündinnen? Die geradezu danach verlangen? Dass ›nein‹ eigentlich ›ja‹ bedeutet?«

»Nein, nein ...«

Sie drehte sich um und stapfte weiter.

»Warte! Bitte!«

Als Collier erneut nach ihrem Arm griff, hätte sie beinahe ausgeholt und ihn geschlagen. Aber er musste sie aufhalten – er musste herausfinden, was geschehen war.

»Warum musstest du es ruinieren?«, fragte sie kläglich auf der Straße.

»Was meinst du? Meine Hand?«

»Ich habe gesagt kein Sex, und du hast gemeint, das sei in Ordnung!«

»Es war bloß meine Hand! Mein Finger!«

»Na toll.« In ihren finsteren Blick mischte sich Kummer. »Lass es mich dir erklären. Wenn du deinen Penis in meine Vagina steckst, dann ist das Sexualkontakt. Warum? Weil meine Vagina mein Geschlechtsorgan ist. Wenn du mit deinem Mund an meine Vagina gehst, ist das Sexualkontakt, weil meine Vagina mein Geschlechtsorgan ist. Also sag mir, Justin, wenn du deinen Finger in mein Geschlechtsorgan steckst, was ist das dann?«

Collier erstarrte mit offenem Mund.

Sie wischte sich über die Augen. »Ich gehe. Leb wohl.«

»Warte!«

Sein Schrei peitschte die Straße hinab. Er war sicher, dass ihn jeder innerhalb des Häuserblocks gehört hatte. Mittlerweile drückte er ihren Arm ziemlich fest.

Lass sie gehen, Mann, drängte ihn die böse Stimme. Sie ist ein frigides Miststück aus der Hölle. Vergiss die bescheuerte Schlampe. Geh zurück ins Hotel und schnapp dir Lottie für einen Ölwechsel ...

Collier hatte genug von der Stimme. »Hör zu ...«, setzte er an.

»Lass mich los. Du tust mir weh.«

»Gib mir wenigstens die Chance, mit dir zu reden. So ist das überhaupt nicht fair.«

Er ließ ihren Arm los. Die Straße verharrte plötzlich in völliger Stille wie die nach einer Maschinengewehrsalve. Collier sah mehrere späte Gäste des Bistros, die sich den Hals nach ihnen verrenkten.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Mir war nicht klar ...«

»Ach, hör doch auf, du hast mich regelrecht bearbeitet ...«

Collier hielt ihr einen Finger vors Gesicht. »Lass mich ausreden, verdammt noch mal. Gib mir zwei Minuten, dann kannst du gehen und von mir halten, was immer du willst. Aber es tut mir leid. Ich hatte dich nicht richtig verstanden. Du musst zugeben, deine Regeln sind schon etwas seltsam.«

»Ich weiß, dass sie das sind!«, brüllte sie. »Trotzdem sind es meine Regeln, und ich habe sie dir erklärt. Du hast gemeint, das sei in Ordnung, und fünf Minuten später hast du deine Hand in meiner ...«

»Schon gut!«, brüllte er genauso laut. »Ich hab’s kapiert. Ich schätze, es lag an meinen männlichen Instinkten oder so. Aber du hast mich ... andere Dinge tun lassen ...«

»Also dachtest du, es wäre in Ordnung, deinen Finger in die Muschi zu stecken?«

Auch diese Worte hallten über die Straße. Herrgott, dachte er. Das ist mir echt zu anstrengend!

Warum ging er dann nicht einfach?

»Wir haben bloß rumgemacht, Justin«, sagte sie. »Und es war wunderschön. Es war leidenschaftlich, es war Verlangen. Aber das reicht euch Kerlen nie, oder? Wenn zwei Menschen rumknutschen, betrachtet der Mann das als Freifahrtschein. Es muss sich immer alles um die Möse drehen. Es muss sich immer alles um den Arsch drehen. Wenn eine Frau mit einem Mann rumknutscht, nachdem sie ihm erklärt hat, dass sie keinen Sex will, dann ist sie plötzlich verpflichtet, mit ihm zu ficken ...«

»Jetzt benimmst du dich wie eine zynische Besserwisserin«, konterte er. »So empfinde ich überhaupt nicht.« Er verspürte den Drang, sie zu überzeugen. »Und betrachte es mal so: Ich weiß jetzt, dass ich nie Sex mit dir haben kann, richtig?«

Dominique musterte ihn argwöhnisch. »Ja.«

»Wenn ich also dein typischer schwanzgesteuerter Mann und nur hinter einer Möse her bin ... warum stehe ich dann noch hier? Wieso bin ich nicht längst weg?«

Darauf hatte Dominique keine Antwort.

»Versprich mir, dass du noch einmal mit mir ausgehst«, beharrte er.

»Ich halte das für keine gute Idee, Justin ...«

»Blödsinn. Es ist eine hervorragende Idee.« Er drückte ihren Arm, diesmal sanft. »Sag, dass du noch einmal mit mir ausgehst.«

Sie seufzte. »Na schön.«

»Wann?«

»Morgen.«

»Prima. Um welche Zeit?«

Sie grinste. »Halb acht am Morgen.«

Was?! »Das ist ziemlich früh.«

»Ja oder Nein?«

Colliers Schultern sackten herab. »Also gut. Halb acht am Morgen. Wo?«

Sie deutete über die Straße.

Collier konnte das Gebäude wegen der Schatten nicht besonders gut erkennen, das Schild jedoch konnte er lesen: Methodistenkirche St. Thomas. Besuchen Sie unseren Morgengottesdienst!