19

Kurz vor Sonnenaufgang erwachte Marthe-Marie. In der Schlafstube war es still, bis auf Maruschs tiefes Schnarchen. Rasch zog sie sich an und schlich auf Zehenspitzen hinaus. Unten war Mettel bereits dabei, das Morgenbrot zu richten.

«Was ziehst du für ein Gesicht?», fragte Mettel statt einer Begrüßung. «Ich an deiner Stelle würde den ganzen Tag singen vor Glück, wenn zwei so stattliche Männer um mich buhlen würden. Einer schöner als der andere.»

«Ach Mettel, du hast gut lästern. Mir ist ganz schlecht.»

«Dann iss etwas.»

«Ich hab keinen Hunger. Falls Marusch oder Agnes nach mir fragen: Ich bin in spätestens einer Stunde zurück.»

Mettel zwinkerte ihr zu. «Lass dir Zeit. Liebe braucht Weile.»

Trotz der frühen Stunde herrschte in den Gassen und Hofeinfahrten rege Geschäftigkeit. Händler und Bauern zogen ihre voll gepackten Karren hinter sich her, Bäckergesellen schulterten Mehlsäcke. Überall klopfte und hämmerte es, Metall schlug auf Metall, Holz gegen Holz, Baumeister brüllten ihre Anweisungen. Eine Stadt von Grund auf neu zu errichten muss eine großartige Aufgabe sein, dachte Marthe-Marie, als sie schließlich die halb fertige Kirche erreichte. Und: Ich werde Jonas sagen, dass es am besten ist, wenn er wieder nach Freiburg zurückkehrt.

Ein Teil der Wiese war bereits als Kirchhof hergerichtet, mit einer kleinen Kapelle, denn auch in einer jungen Stadt starben die Menschen. Der Rest des Geländes lag brach, umwuchert von Weißdornhecken und Haselsträuchern. Jonas saß in Gedanken versunken auf einem Baumstumpf.

«Guten Morgen, Jonas.»

Er sprang auf. «Ich wusste, dass du kommen würdest.»

«Ja.» Sie sprach mit kaum hörbarer Stimme. «Weil ich dir sagen möchte, dass deine Reise umsonst war. Geh zurück nach Freiburg. Heute noch.»

Er sah sie fassungslos an. «Ich kann nicht zurück. Nie wieder.»

«Weiß Textor, dass du hier bist?»

Er schüttelte den Kopf. «Nein. Ich wohne nicht mehr in seinem Haus.»

Ein Verdacht stieg in ihr auf.

«Und Magdalena?»

«Das ist vorbei. Ich habe alle Zelte abgebrochen.»

Marthe-Marie sah zu Boden. Damit hatte sie nicht gerechnet. «Dann bist du im Streit gegangen?»

«Was Magdalena betrifft, ja. Es war wohl ein furchtbarer Schlag für sie. Und ihr Vater – ich glaube fast, er versteht meine Entscheidung. Hör zu, Marthe-Marie.» Er nahm ihre Hände in seine, die eiskalt waren. «Ich möchte dir von Textor erzählen. Ich habe mit ihm vor meiner Abreise ein langes Gespräch geführt. Du musst wissen, welche Rolle er damals bei dem Prozess gespielt hat. Der tragische Tod deiner Mutter soll nie wieder zwischen uns stehen.»

Am liebsten hätte sich Marthe-Marie die Ohren zugehalten, als er zu berichten begann, dabei ahnte sie schon längst, dass sie gegen die Schatten der Vergangenheit nur ankämpfen konnte, wenn sie nicht länger vor ihnen davonrannte. So hörte sie nach anfänglichem schwachem Protest schließlich zu, und Jonas erzählte die ganze Geschichte.

«Ich glaube ihm jedes Wort», schloss er. «Und wenn die Menschen damals in ihrer Dummheit und Verblendung deine Mutter gerichtet haben, so darfst du jetzt nicht denselben Fehler begehen und über ihn richten. Er trägt keine Schuld an ihrem Tod.»

«Vielleicht hast du Recht», sagte sie leise. «Vielleicht trifft ihn keine Schuld. Aber um mir das zu sagen, bist du mir nicht gefolgt.»

«Nein. Ich – ich weiß jetzt, dass ich nicht mehr ohne dich leben will. Seit drei Monaten habe ich Tag und Nacht an dich gedacht. Ich weiß, was du durchgemacht hast, und diese Last wird dir niemand nehmen. Aber wir könnten ganz neu anfangen. Wenn du über die Vergangenheit sprechen willst, werde ich dir ein aufmerksamer Zuhörer sein. Und wenn du alles vergessen willst, werde ich der Erste sein, der mit dir vergisst. Wichtig bist allein du, ich will alles tun, damit du glücklich wirst. Und Agnes soll eine Familie haben, einen Ort, wo sie hingehört. Lass mich dir beweisen, wie ernst es mir ist.»

Marthe-Marie sah, wie Jonas’ Gesicht wieder Farbe annahm. Seine Augen blitzten, seine Hände in den ihren wurden angenehm warm. Sie wusste plötzlich nicht mehr, was sie ihm hatte sagen wollen.

«Wir könnten zusammen nach Ulm gehen. Dort lebt ein guter Studienfreund, der mir helfen würde, eine Anstellung zu finden. Oder wir bleiben hier. Mir gefällt diese Stadt. Ich habe mich bereits umgehört: Spätestens im Frühjahr wird die Lateinschule eröffnet, bis jetzt sind noch keine Lehrer angeworben. Aber wir könnten auch an jeden anderen Ort der Welt, wohin du willst. Glaub mir, ich würde sogar wieder mit den Gauklern ziehen, wenn das dein Wunsch wäre. Bitte, sag doch etwas. Sag mir, was du darüber denkst. Oder – o mein Gott, was bin ich für ein Narr. Du empfindest gar nichts für mich. Ist es das?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Du hast dir den Spanier als Bettschatz ausgesucht, nicht wahr?» Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück. «Ich hätte es wissen müssen.»

«Nein!» Sie packte ihn am Arm, fast grob. «Das ist völliger Unsinn. Es kommt nur alles so überraschend. Du tauchst hier auf, aus dem Nichts, willst mit mir nach Ulm oder sonstwohin gehen – dabei weiß ich selbst am wenigsten, was ich will. Ich bin auf der Suche und weiß nicht, wonach, ich bin auf der Flucht und weiß nicht, vor wem. Wenn ich nicht Marusch und die anderen hätte, ich glaube, ich würde verrückt werden. Soll ich dir sagen, wie es mir geht, wenn wir länger als sieben, acht Tage am selben Ort sind? Dann schlafe ich nachts schlecht und habe tagsüber Angst, dass mich jemand festhält und mir ‹Hexentochter› ins Ohr brüllt.»

«Ist das wahr?»

«Es ist schrecklich. Wie ein Fluch, den ich nicht loswerde. Nur in Freudenstadt geht es mir seltsamerweise nicht so, obwohl wir hier nun schon seit drei Wochen gastieren. Diese Stadt ist anders.»

«Ja aber verstehst du nicht, was das bedeutet? Hier bist du endlich zur Ruhe gekommen, das ist es. Du kannst nicht ohne Ende, Woche um Woche, Monat um Monat, von einem Ort zum anderen ziehen. So wirst du niemals Frieden finden.»

Dann lächelte er sie an. «Also magst du mich doch?»

Marthe-Marie musste lachen. Anstelle einer Antwort zog sie die kleine Papierrolle aus ihrer Geldbörse.

«Deine Nachricht. Ich trage sie immer bei mir, wie einen Talisman.»

«Könntest du – könntest du dir vorstellen» – seine Stimme klang rau –, «mit mir zusammenzuleben und eine Familie zu gründen? Nein, warte, sag nichts. Ich möchte, dass du darüber nachdenkst. Wenn du einverstanden bist, bleibe ich ein paar Tage hier, in deiner Nähe, ohne dich zu bedrängen. Und wie auch immer du dich dann entscheidest: Ich werde deinen Entschluss respektieren.»

Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und entzog ihm gleich darauf ihre Hand.

«Agnes wird mich schon vermissen, ich muss zurück. Kommst du zu unserer Aufführung?»

«Ich werde da sein.»

 

«Vierundzwanzig mal achtzehn ergibt vierhundertundzweiunddreißig.»

Marthe-Marie machte ihre Sache wieder hervorragend. Die Ergebnisse kamen pfeilschnell. Sie trug sie mit dumpfer Stimme vor und hielt dabei die Augen unter den buschigen falschen Brauen geschlossen, die Hände nach oben gestreckt, als empfange sie ihre Antworten aus dem Jenseits.

Jonas hörte, wie die Umstehenden tuschelten. «Wie kann ein Mensch so schnell rechnen?» – «Wart ab, es wird noch besser. Und am Ende wird er in eine Frau verwandelt.» – «Das gibt es nicht, du Hohlkopf. Dann ist das auch in Wirklichkeit eine Frau.» – «Selber Hohlkopf! Hast du schon mal eine Frau gesehen, die so schnell rechnen kann?»

Jonas musste grinsen. Marthe-Maries Fähigkeiten waren wirklich außergewöhnlich, er war stolz auf sie. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Diego zu. Er konnte nicht verhindern, dass er den Spanier, seitdem sie sich hier zum ersten Mal wieder gesehen hatten, mit Argusaugen beobachtete. Der Kerl war ganz offenkundig in Marthe-Marie verliebt, so wie er sie immer anblickte. Und eifersüchtig auf ihn, Jonas, war er auch. Wie Luft behandelte er ihn.

Jonas musste husten, als die dichte Rauchwolke über der Bühne aufstieg und Marthe-Maries Verwandlung einleitete. Sekunden später stand sie da, in der bezaubernden Schönheit einer Helena, und lächelte dem Publikum zu. Da nahm Diego ihre Hand und drückte ihr – was er noch nie getan hatte – einen galanten Kuss auf den Handrücken. Doch damit nicht genug, er küsste auch ihre Wange und führte sie, den Arm fest um ihre Hüfte, zur Rückwand der Bühne.

Jonas biss sich auf die Lippen. Diego wusste genau, dass er unter den Zuschauern war. Versuch du nur dein Glück, dachte er, aber gewinnen wirst du nichts. Liebe ist kein Spiel. Dieser Diego war doch ein Vagant durch und durch, ohne Wurzeln und ohne Grundsätze. Ein unsteter Zugvogel, der Marthe-Marie nur benutzte, um wenigstens einen festen Punkt im Leben zu haben. Doch einer Frau zu Gefallen würde er sein Leben niemals ändern. Lass dich nicht blenden von diesem Komödianten, Marthe-Marie, flüsterte Jonas und spürte, wie sich seine Fäuste ballten. In diesem Moment trat sie, da der Beifall nicht enden wollte, noch einmal auf die Bühne und deutete grazil einen Hofknicks an. Ihr Blick schweifte suchend über die Menge, bis sie Jonas entdeckte. Sie lachte und winkte ihm zu.

Sein Herz klopfte schneller. Was ging ihn dieser eitle Spanier an? Er eilte hinüber zum Eingang des Rathauses. Als er ihr zuvor vorgeschlagen hatte, einen Spaziergang vor den Toren der Stadt zu unternehmen, gleich nach ihrem Auftritt, war sie sofort einverstanden gewesen. Das Wetter war wunderbar, die Luft klar und angenehm, denn ein nächtliches Gewitter hatte die schwüle Hitze der letzten Tage vertrieben.

Eine schmale Frauenhand legte sich ihm über die Augen.

«Gehen wir?»

Jonas nahm die Hand und wandte sich um. In ihrem hellblauen Leinenkleid, das um den Hals weit ausgeschnitten war, und mit dem hochgesteckten schwarzen Haar sah Marthe-Marie wie eine Königin aus.

«Gehen wir.»

Er ließ ihre Hand nicht los, als sie durch die Gassen stadtauswärts schlenderten, die saftig grünen städtischen Viehweiden durchquerten und schließlich einen Waldweg erreichten, der leicht bergauf führte. Auf einer sonnigen Lichtung machten sie Rast. Zum Greifen nah schienen die Dächer und Türme der Stadt, doch kein Laut, kein Hämmern und Klopfen drang durch die sommerlich warme Luft bis hier herauf.

Jonas breitete seine Jacke aus, und sie setzten sich dicht nebeneinander auf die Wiese, die von den unzähligen Blüten des Storchenschnabels in zartem Blau schimmerte.

«Und du willst tatsächlich nicht wieder nach Freiburg zurückkehren?»

«Nein.» Er pflückte einen kleinen Stängel Ehrenpreis und steckte ihn in ihr Haar. «Ich habe alles, was ich besitze, bei mir.»

«Dann warst du dir wohl sehr sicher mit mir?»

Er wirkte verlegen.

«Um ehrlich zu sein, nein. Aber es gab noch einen anderen Grund wegzugehen.» Er zögerte. Hätte er nur nicht damit angefangen. Es war so herrlich, mit Marthe-Marie hier zu sitzen, an diesem friedlichen Sommernachmittag. An die Grausamkeit der Menschen mochte er jetzt am allerwenigsten denken.

«Welchen Grund?»

«Ein andermal. Ich mag jetzt über diese Dinge nicht reden.»

«Welche Dinge?»

Er schüttelte den Kopf.

Marthe-Marie ließ nicht locker. «Verheimlichst du etwas? Wenn es mich oder uns beide betrifft, musst du es sagen.»

«Es ist – ich habe es nicht mehr ausgehalten. In Freiburg brennen wieder die Scheiterhaufen.»

«Das ist nicht wahr.» Entsetzen stand in Marthe-Maries Augen.

«Doch. Drei Frauen. Sie haben nach mehrfacher peinlicher Befragung gestanden und weitere abgebliche Teufelsbuhlen angegeben. Das Brennen und Morden wird weitergehen.» Seine Stimme wurde schroff. «Nach allem, was ich von Textor erfahren habe, weiß ich nun, dass es Unschuldige sind, die sie da umbringen.»

«Genau wie meine Mutter», sagte Marthe-Marie tonlos.

Er schwieg. Was war nur in die Menschen gefahren? Er verstand das alles nicht. Keine Pestepidemie, keine Hungersnot bedrohte sie, seit Jahren herrschte Frieden im Land – warum schwangen die Menschen sich allerorten zum Richter über Leben und Tod ihrer Mitmenschen auf? Als er spürte, wie Marthe-Marie zitterte, zog er sie fest an sich. Da war noch etwas, doch er war zu feige, es ihr zu sagen.

«Und du glaubst wirklich nicht an Teufelsbuhlschaft und Hexenverschwörungen?», flüsterte Marthe-Marie.

«Zweifelst du daran?»

«Nein, Jonas. Jetzt nicht mehr. Aber ich habe Angst. Angst davor, dass der Ruch der Hexentochter für immer an mir haften bleibt, gleichgültig, in welche Stadt ich mich flüchte. Würdest du damit leben wollen? Hier bei den Spielleuten fragt niemand nach meiner Herkunft.»

«Ich könnte mit allem leben, weil ich dich liebe.»

Er war selbst erstaunt, wie leicht ihm dieses Bekenntnis über die Lippen kam. Noch nie hatte er einer Frau so etwas gesagt. Er spürte Marthe-Marie in seinem Arm, wie sie sich warm und leicht an ihn lehnte. Sie zitterte nicht mehr. Niemals würde er zulassen, dass dieser Frau Unrecht geschähe.

Die Schatten wurden länger. Über die Wipfel der Tannen schob sich ein runder bleicher Mond, der ferne Ruf eines Käuzchens kündete von der einsetzenden Dämmerung.

«Es ist spät.» Marthe-Marie durchbrach das Schweigen. «Wir müssen zurück, bevor es dunkel wird.»

Viel zu rasch erreichten sie die Allmende vor der Stadt. Frauen und Männer kehrten schwatzend oder singend von ihrer Feldarbeit in die Stadt zurück.

«Warte.» Jonas zog sie in den Schutz eines kleinen Buchenhains. Dann tat er das, wovon er so oft geträumt hatte: Er umfasste ihr Kinn und küsste sie zärtlich, hielt sie fest in den Armen, streichelte ihren Nacken, ihre Schultern, ihre festen Brüste unter dem rauen Leinenstoff. Und sie erwiderte seine Zärtlichkeiten, sank mit ihm ins Gras und gab sich seinen Küssen und Berührungen hin. Wie zart ihre Haut war, wie schmal und zugleich kräftig ihr Leib. Ohne Scheu erkundeten ihre Hände und Lippen einander, jede Stelle ihrer Körper, bis nichts mehr fremd war zwischen ihnen und es kein anderes Begehren mehr gab, als ihre Leidenschaft endlich bis zum Letzten auszukosten.

Es schien Stunden zu dauern, bis sein Herz wieder langsamer schlug. Ihre dunklen Augen lächelten ihn an, als er sich über ihr Gesicht beugte.

«Marthe-Marie», flüsterte er.

Sie zog ihn an sich.

«Vielleicht sind wir wirklich füreinander bestimmt», sagte sie und sah ihn prüfend an. «Vielleicht hat uns das Schicksal jetzt endgültig zusammengeführt.»

«Ich gehe mit dir, wohin du willst, Marthe-Marie.»

«Dann lass uns hier bleiben. In Freudenstadt.» Sie lächelte, wurde jedoch sofort wieder ernst. «Aber jedoch ein einziges Mal noch möchte ich nach Freiburg zurück. Ich muss.»

Jonas hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. «Du weißt doch, in welche Gefahr du dich dort begibst.»

Sie lachte. «Dann werde ich mich eben als Nonne verkleiden. Nur für einen Tag.»

«Warum?»

Er wollte die Anwort nicht hören, denn er kannte sie schon.

«Ich möchte Mechtild wieder sehen. Sie soll wissen, was aus Agnes und mir geworden ist. Du weißt doch, wie viel ich ihr zu verdanken habe.»

Er ließ sich ins Gras fallen und blickte zur Seite.

«Mechtild ist tot.»

Ihre Lippen formten lautlos ein Nein, alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Kaum hörbar kam die Frage: «Woran ist sie gestorben?»

Sein Magen krampfte sich zusammen.

«Woran ist sie gestorben?», wiederholte sie. Ihre Stimme klang jetzt fest und fordernd. Sie schüttelte ihn, bis er stockend antwortete.

«Vor Schwäche und Kummer. Sie haben sie eines Tages abgeholt und in den Christoffelsturm gesteckt. Das hat sie nicht überlebt.»

«Haben sie sie gefoltert?»

«Ja.» Seine Stimme zitterte.

«Wegen mir? Weil sie mich beherbergt hatte?»

«Bitte, Marthe-Marie, so darfst du nicht denken. Es ist nicht deine Schuld. Es ist die Schuld dieser aufgehetzten Meute, dieser fanatischen Eiferer.» Er unterbrach sich. Tränen strömten über sein Gesicht.

«Was wurde ihr vorgeworfen?» Ihr Blick war leer.

«Sie habe eine Hexe beherbergt und in ihrem Auftrag ein Kind entführt, um es den Gauklern zum Zwecke der Schwarzmagie zu übergeben. Es tut mir so Leid, ich wollte, du hättest es nie erfahren.»

Plötzlich ging alles rasend schnell. Marthe-Marie schluchzte laut auf, er zog sie verzweifelt in seine Arme, presste sie an sich, als er plötzlich im Dämmerlicht eine Gestalt über sich stehen sah.

«Du gottverdammter Schelm!»

Diego riss ihn am Arm in die Höhe und versetzte ihm einen Faustschlag in die Magengrube. Mit einem Stöhnen klappte Jonas zusammen, doch Diego hatte ihn schon bei den Schultern gepackt.

«Alles zerstörst du, du hergelaufener Hundsfott. Wer gibt dir das Recht, mit Marthe-Marie herumzupoussieren?»

Wieder schlug er zu, diesmal mitten ins Gesicht. «Du gehörst nicht zu ihr», brüllte er. «Sie ist eine von uns.»

Diego raste vor Wut, auf seiner Stirn stand der Schweiß. Er bringt mich um, dachte Jonas, und hielt sich schützend den Arm vor das Gesicht, um den nächsten Angriff abzuwehren. In diesem Moment schlug ein armdicker Ast zwischen ihnen zu Boden.

«Verschwindet! Verschwindet alle beide.»

Marthe-Marie stand da wie ein Racheengel, wachsbleich, mit aufgerissenen Augen und wirrem Haar. Ihr Mieder und Leibchen standen noch offen und gaben die bloßen Brüste frei, der Rock war voller Gras und Zweige.

Jonas trat einen Schritt zurück.

«Sag es ihm, Marthe-Marie. Sag ihm, dass wir zusammengehören.»

«Wir können niemals zusammengehören. Niemals!» Ihre Stimme überschlug sich. «Wegen mir musste Mechtild sterben. Und weißt du warum? Es liegt ein Fluch auf mir. Der Fluch der Hexentochter.»

Sie ließ den Ast fallen und rannte davon in Richtung Viehweide. Wie im Nebel sah Jonas, wie ihre Gestalt immer kleiner wurde, zu einem winzigen Punkt zusammenschmolz. Er hörte Diegos rasende Flüche, spürte, wie dessen Knie in seinen Unterleib schnellte, dann brach er zusammen.

Seine Hände krallten sich in der Erde fest. Er fühlte das kühle Gras an seiner Wange, das Marthe-Marie und ihm vor wenigen Augenblicken und vor tausend Ewigkeiten als Bettstatt ihrer Liebe gedient hatte. Erschöpft schloss er die Augen. Es gab keinen Grund mehr aufzustehen.