31

Mettels grausames Ende lastete schwer auf der Stimmung unter den Spielleuten. Wie gelähmt gingen sie an den restlichen Tagen in Blaubeuren ihren täglichen Verrichtungen nach, präsentierten wie vereinbart während des Schützenfests – jeden Nachmittag und jeden Abend – ihre Darbietungen, zuletzt sogar Shakespeares «Romeo und Julia», die «Weltneuheit auf deutschen Wanderbühnen», wie Sonntag angekündigt hatte. Von den Zuschauern bemerkte keiner ihre Trauer und Niedergeschlagenheit – zu sehr lag ihnen das Spielen im Blut. Selbst Marthe-Marie gelang es, den Schmerz über Mettels Tod zu verdrängen, solange sie auf der Bühne stand.

Mit dem neuen Stück und mit den atemberaubenden Reitkünsten auf der Schimmelstute Fortuna hatte Leonhard Sonntags Compagnie großen Erfolg, wenngleich das keine Mehreinnahmen brachte, da wohl jeder hier wusste, dass die Gaukler von der Schützengesellschaft bezahlt wurden und daher niemand bereit war, einen Pfennig zusätzlich herauszurücken. So machten sie ein eher mäßiges Geschäft, und ein Großteil ihrer Einnahmen floss in die Totenmesse und würdevolle Bestattung ihrer Gefährtin.

Ihre letzte Ruhestätte hatte Mettel auf dem kleinen Friedhof neben dem Klostergarten gefunden. Als die Truppe nach der Abschiedsvorstellung aufbrechen wollte, weigerte sich Maximus mitzukommen. Er war durch nichts zu überreden, und nachdem sie erfahren hatten, dass der gutmütige Abt ihn als Knecht in seine Dienste nehmen wolle, zogen sie schließlich ohne ihn weiter. Wie sehr musste dieser bärenstarke Mann die alte Kupplerin geliebt haben, dachte Marthe-Marie, nachdem sie ein letztes Mal an Mettels Grab gebetet hatte.

«Wir werden immer weniger.»

Fast beiläufig klang Maruschs Bemerkung, während sie jetzt das Maultier die steile Steigung hinauftrieb. Die Spitze der Klosterkirche verschwand hinter den Bäumen. Marthe-Marie antwortete nicht. Sie hatte noch immer und immer wieder das entsetzliche Bild der blutüberströmten Mettel vor Augen. Außerdem sorgte sie sich um Agnes: Das Mädchen war in den letzten Wochen um mindestens zwei Zoll gewachsen und wurde dabei immer magerer.

«Erst Isabell und Pantaleon», fuhr Marusch fort, «dann unser Medicus und jetzt Mettel und Maximus.» Sie sah Marthe-Marie an.

«Es wird mir das Herz zerreißen, wenn auch du uns eines Tages verlässt. Und trotzdem bitte ich dich: Gib die Suche nach deinem Vater nicht auf. Es wird uns noch um einiges übler ergehen, das ahne ich; du wirst das nicht durchstehen können. Du musst ein Zuhause finden. Wenn nicht um deinetwillen, dann für deine Tochter.»

Marthe-Marie blickte ihre Freundin erstaunt an. «Woher willst du wissen, dass es noch schlimmer kommt? Kannst du in die Zukunft sehen? Und was meinen Vater betrifft – diesem Wunschtraum bin ich wahrscheinlich schon viel zu lange hinterhergelaufen.»

«Du versuchst nicht einmal mehr, ihn zu finden.»

«Ach, Marusch, lass gut sein. Agnes und ich haben keine andere Heimat als hier bei euch; es soll wohl so sein.»

Marusch schüttelte den Kopf. «Wenn du nichts unternimmst, dann werde eben ich künftig in jeder Stadt, in jedem Dorf Nachforschungen anstellen.»

Zu ihrer Überraschung trafen sie kurz vor Ulm auf Ambrosius. Kleinlaut bat der Wundarzt den Prinzipal, sich ihnen wieder anschließen zu dürfen. Die kurze Zeit bei den Gebrüdern Brockmann war offenbar furchtbar gewesen: Mit zitternder Stimme schilderte Ambrosius, wie streitsüchtig und hinterhältig die Brüder gewesen seien, und dazu fast immerfort betrunken. Böse misshandelt hätten sie die armen Kreaturen und schlimmer als Vieh gehalten. Am Ende sei auch er selbst nicht von Prügeln verschont geblieben.

Ambrosius musste vor versammelter Truppe geloben, künftig sämtliche Einnahmen in Sonntags Hände zu geben, dann durfte er bleiben.

Fast schien das Glück sie in Ulm wieder unter seine Fittiche nehmen zu wollen. Man gewährte ihnen ohne viel Umstände Einlass in diese reiche Stadt, die einstige Lieblingspfalz Kaiser Barbarossas, die für ihre edlen Barchentwaren weit über das Reich hinaus berühmt war. Dabei konnten sie überaus günstige Bedingungen aushandeln: So brachten sie ihre Tiere kostenfrei in der Vorstadt unter, bezogen Logis in einer einfachen und doch sauberen Herberge unweit des Seelhauses und durften die Höhe des Eintrittsgeldes nach eigenem Gutdünken festlegen. Am Sonntag sollten sie sogar exklusiv vor dem Magistrat spielen. Die hohen Herren schienen geradezu begierig darauf, eine Frau in der Rolle der Julia zu sehen. Einzig Salome hatte einmal mehr das Nachsehen, denn eine alte Verordnung stellte Wahrsagerei und Segensprechen unter Strafe. Alles hätte sich demnach zum Guten wenden können, wären nicht Pechmutz und seine Gesellen ihnen in die Quere gekommen.

Niklas und Tilman hatten den schlaksigen Burschen aufgegabelt. Das war am dritten Tag. Sie hatten ihre erste Vorstellung unter großem Jubel und nicht enden wollendem Applaus beendet. Der Bühnenwagen stand im Schatten des gewaltigen Münsters, das allein mit den Geldern der Zünfte und Patrizier erbaut worden war und das Selbstbewusstsein der Bürger dieser Stadt weithin sichtbar zur Schau stellte.

Der Prinzipal stach gerade ein Fass Bier zur Feier an, als Marusch von einem Rundgang durch die Zunfthäuser zurückkehrte, ohne dass sie etwas über Benedikt Hofer erfahren hätte. Marthe-Marie wagte nicht zu fragen, ob sie sich auch nach Jonas erkundigt hatte. Sie selbst hätte niemals etwas in dieser Richtung unternommen, konnte aber genauso wenig verhindern, dass sie sich nach jedem jungen Mann umsah, der die Statur und die langen hellbraunen Haare von Jonas besaß.

Sonntag bemerkte, dass Tilman und Niklas fehlten.

«Die können was erleben», brummte er verärgert, denn zu den Pflichten der beiden Jungen gehörte es, nach der Vorstellung beim Abbau zu helfen. Erst am späten Abend erschienen sie in der Herberge, und zwar reichlich betrunken. Marusch erwischte sie, als sie sich die Stiege hinauf in den Schlafraum schleichen wollten, packte sie hart am Nacken und führte sie zu den anderen in die Schankstube.

«Wo wart ihr?», donnerte der Prinzipal.

«Unterwegs», murmelte Tilman.

«Geht es auch genauer?»

«Mit unseren neuen Freunden.»

«Und was sind das für Freunde, mit denen ihr euch voll laufen lasst wie die Holzfäller?»

Tilman warf einen verstohlenen Blick zu Niklas. «Pechmutz. Und der Welsche Geck, Hasenköttel, Hering und die anderen.»

«Pechmutz? Welscher Geck?» Sonntag zog die Augenbrauen in die Höhe. «Was sind das denn für Namen?»

Tilman schwieg.

«Ihr verschwindet jetzt nach oben und schlaft euren Rausch aus. Und morgen will ich diese Burschen kennen lernen, verstanden?»

Als Tilman und Niklas am nächsten Tag ihre Freunde vorstellten, waren deren Gesichter Marthe-Marie nicht ganz unbekannt.

«Einige von denen habe ich hier schon gesehen», sagte sie leise zu Marusch.

«Ich auch. Und ich sehe auf Anhieb, dass das kein Umgang für unsere Kinder ist.»

Dabei war Pechmutz, ein hoch gewachsener Junge von vielleicht dreizehn Jahren und ganz offensichtlich der Anführer, mit seinem sommersprossigen Gesicht und den hellblonden Haaren ein hübscher Bursche. Befremdend wirkte allerdings das grenzenlose Selbstbewusstsein, das aus jeder seiner Gesten sprach.

«Du bist also Pechmutz.» Sonntag musterte ihn eindringlich. «Und die anderen?»

Pechmutz wies auf seine Freunde, zu denen auch zwei Mädchen gehörten. «Dickart, der Welsche Geck, Eulenfänger, Hering, Wespe, Klette, Hasenköttel und Bettseicher.»

«Das sind doch nicht eure richtigen Namen?»

Pechmutz zuckte die Schultern. «Ist das so wichtig?»

«Und was sagen eure Eltern dazu, dass ihr am helllichten Werktag nicht bei der Arbeit seid?»

«Wir haben keine Lehrherren. Wir sind erst vor kurzem von der Alb gekommen, weil unser Weiler abgebrannt ist. Alle außer uns sind in den Flammen umgekommen. Alle sind sie tot.»

Jetzt standen ihm tatsächlich Tränen in den Augen. «Seitdem sind wir täglich auf der Suche nach ehrlicher Arbeit, um nicht hungern zu müssen.»

«Der lügt wie ein Pfannenflicker», flüsterte Marusch. «Von der Alb, dass ich nicht lache. Schau nur die gute Kleidung. Und festes Schuhwerk trägt er wie ein Bürgersöhnchen.»

Marusch hatte Recht. Das alles passte hinten und vorne nicht zusammen. Seltsam schien ihr auch, dass die anderen Kinder bei weitem ärmlicher und schmutziger gekleidet waren.

«Erlaubt Ihr uns nun zu gehen?»

Pechmutzens Tonfall war höflich, doch sein Gesicht nahm einen Ausdruck von Geringschätzung an.

Der Prinzipal nickte.

«Wir auch?», fragten Tilman und Niklas fast gleichzeitig.

«Verschwindet. Aber pünktlich zur Vorstellung seid ihr zurück, keinen Glockenschlag später. Und macht keinen Unsinn.»

Diego sah ihnen nach. «Diesen Pechmutz sollten wir als Schauspieler anheuern. Ein wahres Talent.»

Marusch verbarg ihren Ärger gegenüber Sonntag nicht.

«Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wie konntest du unsere Kinder gehen lassen! Das ist sauberes Diebsgesindel, nichts anderes, das verraten doch schon die Namen. Und Pechmutz ist ihr Anführer.»

«Soll ich die beiden in Fesseln legen? Tilman und Niklas sind alt genug, um Recht und Unrecht unterscheiden zu können. Was meinst du, Lambert?»

«Ich gebe dir Recht. Solange sich Niklas und Tilman an unsere Abmachungen halten, können wir sie nicht anbinden.»

Marusch schüttelte fassungslos den Kopf. «Seid ihr denn alle blind? Von wegen ehrlicher Arbeit. Habt ihr nicht mitbekommen, wie sie sich im Publikum herumgedrückt haben? Ich möchte nicht wissen, wie viele Geldkatzen sie im Gedränge den ahnungslosen Zuschauern geklaut haben. Diese Sorte Kinderbanden kenne ich zur Genüge. Tagsüber gehen sie auf Beutezug, und abends besaufen sie sich, bis sie vors Kirchenportal kotzen. Am Ende landen sie alle im Zuchthaus, und das auch nur, weil sie für den Galgen noch zu jung sind. Dass sich unsere eignen Kinder mit solchem Gelichter rumtreiben, das fehlt uns gerade noch. Als ob wir in den letzten Monaten nicht genug Scherereien gehabt hätten.»

«Du übertreibst, Marusch. Hast du vergessen, wie die Kinder im letzten Winter unser Brot verdient haben, mit Botengängen, Viehhüten, Lastentragen? Hätte es dir damals gefallen, wenn die Horber Bürger sie als Diebsgesindel geschmäht hätten?»

«Du glaubst doch wohl nicht, dass diese Horde hier auch nur einen Handstreich arbeitet. Ich werde jedenfalls heute Abend ein ernstes Wörtchen mit meinem Sohn reden.»

Doch weder Tilman noch Niklas erschienen rechtzeitig zur Vorstellung. Stattdessen stieg mitten in Quirins Feuerzauber ein mit Pike bewaffneter Scherge auf die Bühne und erklärte das Gastspiel für beendet.

Die Zuschauer begannen lauthals zu protestieren. Diejenigen, die bereits bezahlt hatten, verlangten ihr Geld zurück und konnten von dem Büttel nur mit Mühe zurückgehalten werden, die Bühne zu stürmen. Endlich zerstreute sich die Menge, auf dem Platz kehrte eine unheimliche Ruhe ein.

«Morgen früh seid ihr aus der Stadt verschwunden», erklärte der Mann. «Sonst landen noch mehr von euch im Gänsturm.»

«Im Gänsturm?» Sonntags Unterlippe zitterte. «Was soll das?»

«Beschluss der Ratsadvokaten. Wir haben hier keinen Platz für Diebspack.»

Er wandte sich ab, doch Marusch hielt ihn an der Schulter fest. «Aber wir haben doch wohl ein Recht zu erfahren, was uns vorgeworfen wird.»

Der Büttel schüttelte ihre Hand ab. «Wir haben einen gewissen Pechmutz mit seiner Bande verhaftet. Diese Schelme haben aus dem Münster den Opferstock gestohlen und, als sie erwischt wurden, dem Kirchendiener fast den Schädel zerschmettert.»

Marusch wurde totenbleich. «Was hat das mit uns zu tun?»

«Pechmutz hat zwei eurer Buben als Komplizen angegeben. Und jetzt packt euren Kram und verschwindet.»

«Nein, wartet. Das ist eine üble Verleumdung. Unsere Kinder sind keine Diebe.»

«Pah! Das sagen alle Vaganten und Zigeuner.» Er spuckte ihr vor die Füße. «Der Rat wartet mit der Examinierung nur noch, bis der Biberacher Scharfrichter eintrifft. Dann geht es ab an den Galgen mit euren Spitzbuben. Aber ihr seid dann ja nicht mehr da, um dem Schauspiel zuzusehen.»

Er hob seine Pike und schritt Richtung Rathaus davon. Der Prinzipal sah ihm nach und wandte sich dann mit leerem Gesichtsausdruck an Marusch. «Ich werde beim Magistrat eine Eingabe machen.»

«Was Besseres fällt dir nicht ein? Man wird dich nicht mal über die Schwelle des Rathauses lassen.» Maruschs Stimme klang so hart und schneidend, wie Marthe-Marie es noch nie gehört hatte. «Dieser Hurensohn von Pechmutz. Nie und nimmer haben Tilman und Niklas gestohlen.»

Anna begann haltlos zu schluchzen, und Marthe-Marie, die selbst mit den Tränen kämpfte, legte ihr tröstend den Arm um die Schulter. Die anderen schwiegen, ratlos und betroffen. Einzig Marusch schien nachzudenken, zumindest sah ihre angestrengt gerunzelte Stirn danach aus. Mit einem Mal sagte sie in die Stille hinein: «Wir müssen die beiden da rausholen, bevor sie examiniert werden. Und dazu gibt es nur eine Möglichkeit.»

«Und die wäre?» Aus Sonntags Blick sprach mehr als Zweifel.

«Pechmutz und seine Bande müssen widerrufen. Sie müssen zugeben, dass sie gelogen haben.»

Diego lachte laut auf. «Was für ein großartiger Einfall! Marschieren wir also alle zum Turmwächter und bitten ihn um eine Unterredung mit Pechmutz. Nichts einfacher als das.»

«Halt den Mund, du Klugschwätzer. Marthe-Marie, kommst du mit? Ich brauche deine Unterstützung.»

Marthe-Marie nickte beklommen. Dann wandte sich Marusch an die Wahrsagerin.

«Leihst du uns deine Kristallkugel?»

Salome zog ihren Kopf noch tiefer zwischen ihre buckligen Schultern. «Nicht meine Kugel!»

«Bitte! Das hier ist ein Notfall.»

Die Zwergin stand einen Augenblick stumm da, dann schlurfte sie zu ihrem Karren und kehrte mit einem kleinen Beutel zurück.

«Du weißt, was sie mir bedeutet.»

«Ich verspreche dir, ich hüte sie wie einen Schatz. Außer mir wird sie keiner berühren.»

Dann zog sie Marthe-Marie zum Requisitenwagen. «Wir brauchen Holzkohle und Branntwein. Und wir müssen uns umziehen, such dir ein Kleid mit möglichst tiefem Ausschnitt.»

Als sie wieder vom Wagen kletterten, stellte sich Diego ihnen in den Weg.

«Du sagst mir jetzt, was du vorhast, Marusch.»

«Lass mich in Ruhe.»

«Ihr wollt zum Turm, nicht wahr? Das ist Wahnsinn.»

«Hast du einen besseren Einfall?»

Statt einer Antwort sah er Marthe-Marie an und hielt sie am Handgelenk fest. In seinen Augen stand die blanke Angst. Es war die Angst um einen geliebten Menschen. In diesem Augenblick begriff Marthe-Marie, wie unrecht sie Diego getan hatte, indem sie in ihm immer nur den Komödianten gesehen, ihm seine Gefühle niemals geglaubt hatte.

«Mach dir keine Sorgen», sagte sie leise. «Uns wird schon nichts geschehen.»

«Nichts geschehen?» Röte überzog sein Gesicht. «Wie Hübschlerinnen habt ihr euch aufgetakelt, und da sagst du, es wird nichts geschehen? Glaubt ihr, ich weiß nicht, wie ihr euch Zutritt im Turm verschaffen wollt? Wie ist der Herr Wächter doch zu beneiden – gleich zwei Frauen werden ihn beglücken.»

Wütend schüttelte Marthe-Marie seine Hand ab. Darum sorgte er sich also. Was für ein selbstgefälliger Gockel dieser Mann war!

«Gehen wir, bevor es zu dunkel wird», sagte sie zu Marusch. Hätte sie bis zu diesem Moment noch am liebsten das Hasenpanier ergriffen, so war sie jetzt fest entschlossen mitzumachen – was immer Marusch auch vorhatte.

Wenig später klopften sie an das Wächterhäuschen des Gänsturms. Eine Luke öffnete sich, hinter der ein unrasiertes Mondgesicht erschien. Sofort schob Marusch ihr aufreizend geschminktes Gesicht vor das Fenster und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf.

«Einen wunderschönen Abend, guter Mann. Könnt Ihr uns vielleicht verraten, wo zwei durstige Jungfrauen hier um diese Zeit noch einen Krug Bier bekommen?»

Der Mann starrte sie mit großen Augen an und öffnete und schloss mehrmals den Mund. Dann klappte die Luke zu, und die Tür ging auf.

«Ein Krug Bier, jaja. Rasch herein mit euch. Braucht niemand zu sehen, welch hübschen Besuch ich da habe.»

In der niedrigen Stube stank es, als sei seit Jahren nicht mehr gelüftet worden. Durch ein schmutziges kleines Fenster drang nur so viel Licht herein, dass die wenigen Möbel, ein wackliger Holztisch mit Eckbank und ein ungemachtes Bett, gerade noch auszumachen waren. Jetzt erkannten sie, dass der Mann klein war, aber kräftig, stiernackig und mit wuchtigen Schultern. Bei einem Kampf würden sie es auch zu zweit kaum mit ihm aufnehmen können. Marthe-Marie kamen Maruschs Worte in den Sinn: Plane eine Unternehmung immer wohl voraus, aber denke sie niemals zu Ende.

«Von hier seid Ihr aber nicht?» Misstrauen lag plötzlich in seinem Blick.

«Wir kommen aus Blaubeuren.» Maruschs Gesicht verzog sich zu einem schuldbewussten Lächeln. «Um ehrlich zu sein, wir sind nicht zufällig hier, sondern wegen der kleinen Galgenstricke, die Euch gerade ins Netz gegangen sind. Wir sind die Muhmen von Wespe und Klette und würden den beiden gern ins Gewissen reden. Diese Schlampen haben nämlich auch zu Hause schon einiges auf dem Kerbholz, und vielleicht zeigt sich der Richter ja ein wenig gnädig, wenn sie aufrichtig bereuen und alles gestehen würden.»

«Ohne Erlaubnis des Rats darf ich niemanden zu den Gefangenen lassen.»

«Na, wenn es Euch verboten ist.» Marusch tätschelte den behaarten Unterarm des Wächters. «Aber es wird schon niemand erfahren, und Euer Schaden soll es nicht sein.»

Sie zog ihn neben sich auf die Bank und gab Marthe-Marie zu verstehen, sich an die andere Seite des Mannes zu setzen. Dann holte sie die Lederflasche mit Branntwein unter ihrem Rock hervor, entkorkte sie und hielt sie dem Wächter unter die Nase.

«Also wenn kein Bier da ist, müssen wir wohl unseren Reiseproviant anbrechen. Ein Schlückchen?»

Es war dem Wärter anzusehen, wie Misstrauen und Gier in ihm kämpften. Schließlich griff er hastig nach der Flasche, nahm einen tiefen Schluck, wischte sich den Mund ab und schloss genießerisch die Augen. «Na ja, vielleicht sollten wir uns wirklich einmal über Eure sauberen Nichten unterhalten. Ich hoffe, Ihr habt es nicht allzu eilig. Vielleicht kann ich ja ein gutes Wort beim Rat für sie einlegen. Bei einsichtigem Verhalten …» Er grinste angestrengt und starrte dabei mit rotem Kopf auf Maruschs tiefen Ausschnitt.

«Genau so machen wir’s. Das mit unseren beiden Lumpendirnen erledigen wir später. Geht es dort zur Turmstube hinauf?» Sie wies auf eine niedrige Tür neben dem Waschtisch.

Der Mann nickte und griff gierig nach der Flasche. Marthe-Marie sah sich unauffällig um. Neben dem Türchen hing zwar eine Lampe am Haken, ein Schlüsselbund war jedoch nirgends zu entdecken.

Dann folgte der Moment, den sie am meisten gefürchtet hatte. Er setzte die Flasche ab und küsste erst Marusch, dann näherte sich sein schwitzendes rotes Gesicht dem ihren. Als er seine Zunge fordernd zwischen ihre Lippen bohrte, hob sich ihr Magen, und in ihrer Kehle begann es zu würgen. Marusch zerrte ihn zurück.

«Immer langsam mit den jungen Pferden, lasst mich und meine Freundin doch auch erst mal ein Schlückchen trinken. Dann wird es umso lustiger mit uns dreien.»

Gehorsam reichte er Marthe-Marie den Branntwein, die die Flasche an ihre Lippen setzte, ohne zu trinken, wie Marusch ihr zuvor eingeschärft hatte. Allein der Geruch dieses Fusels machte sie schon benommen.

«Und jetzt, mein Goldschatz, sag uns erst mal, wie du heißt.» Maruschs Hand ruhte inzwischen auf seinem Knie.

«Sixtus», grunzte er.

«Auf dein Wohl, Sixtus!»

Marusch nahm scheinbar einen kräftigen Schluck, brachte es sogar fertig, zu rülpsen und gab dem Wächter die Flasche zurück. Gebannt beobachtete Marthe-Marie, wie der Mann den Branntwein in die Kehle rinnen ließ, als sei es Wasser.

«So ist’s recht», murmelte Marusch, und Marthe-Marie sah mit Entsetzen, wie die Hand ihrer Freundin seinen Oberschenkel hinaufglitt. Wie konnte sie nur so mit dem Feuer spielen.

Sixtus wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und glotzte vor Erregung wie eine Kuh. Währendessen strich Maruschs andere Hand an seinem Hinterteil entlang. Schlagartig begriff Marthe-Marie, dass sie nach dem Schlüsselbund suchte.

Der Branntwein zeigte inzwischen erstaunliche Wirkung. Sixtus grapschte erst Marusch, dann ihr zwei-, dreimal unbeholfen an den Busen, dann klappte sein Kinn gegen die Brust, und er kippte mit seinem ganzen Gewicht gegen Marthe-Marie. Sein erregtes Gemurmel ging in Schnarchen über.

Marthe-Marie nahm die leere Lederflasche aus seinem Schoß, erhob sich und bettete den Wächter vorsichtig der Länge nach auf die Bank.

«Du musst ihn nicht anfassen wie ein rohes Ei.» Marusch grinste. «So schnell steht dieses Spatzenhirn nicht wieder auf. Und jetzt schau mal, was ich hier hab.»

Triumphierend hob sie den Schlüsselbund in die Höhe.

«Dem Himmel sei Dank!» Marthe-Marie atmete hörbar aus und warf einen letzten Blick auf Sixtus. «Da war nicht nur Branntwein in der Flasche, oder?»

«Sagen wir: Ich habe ihn ein wenig angereichert mit Ambrosius’ Hausmittelchen.» Sie nahm die Lampe vom Haken. «Hoffen wir, dass der zweite Teil des Schauspiels genauso glatt über die Bühne geht.»

Im schwachen Schein der Lampe kletterten sie die steile Stiege hinauf, bis sie vor einer schweren Eisentür standen. Marthe-Maries Herz klopfte so heftig, dass sie glaubte, das Echo von den Wänden hören zu können. Marusch drückte ihr ein Stück Holzkohle in die Hand, und sie schwärzten sich Gesicht und Hals.

«Lass mich reden», flüsterte Marusch. Dann öffnete sie das schwere Schloss.

Während sie eintraten, hielt sie die Lampe so, dass die Zelle erleuchtet wurde, ihre Gesichter jedoch nicht zu sehen waren. Die Gespräche der Kinder waren schon verstummt, als die Treppe geknarrt hatte. Sie kauerten auf dem nackten Steinboden, ihre Handgelenke mit Ketten an die Wand geschmiedet. Marthe-Marie hatte Niklas und Tilman kaum entdeckt, da stand Marusch auch schon bei ihnen. Wenn die beiden jetzt nur nichts Falsches sagten.

«Eure beiden Gesichter kenne ich ja gar nicht», sagte Marusch in drohendem Unterton, ohne jedoch ihre Stimme zu verstellen, und hielt die Lampe unter ihr geschwärztes, verzerrtes Gesicht. Es war grauslich anzusehen im flackernden Schein, einer teuflischen Fratze ähnlicher als dem einer Frau. Dann fuhr sie in dröhnendem Bass fort: «Sagt mir, wer ihr seid.»

Marthe-Marie schlug innerlich drei Kreuze vor Erleichterung, als Tilman hastig erwiderte: «Wir sind Gauklerkinder und haben mit dieser Bande nichts zu tun, ehrwürdige Gevatterin.»

«Halt’s Maul», schrie Pechmutz von der gegenüberliegenden Seite. Doch seiner Stimme war anzuhören, dass von seiner Selbstsicherheit nicht mehr viel übrig war.

Und nun gab Marusch eine Vorstellung, die jedem englischen Mimen zur Ehre gereicht hätte. Sie stellte die Lampe zu Boden, breitete ein schwarzes Tuch daneben aus und legte auf dessen Mitte Salomes Kristall, der das spärliche Licht auf wundersame Weise in den Raum zurückwarf. Wände und Decke schimmerten in regenbogenfarbenen Facetten, die bei jedem Windhauch, der die Lampe traf, zu tanzen begannen. Die Kinder erstarrten. In ihren bleichen Gesichtern las Marthe-Marie furchtsame Anspannung, und auch sie selbst konnte sich kaum des Gefühls erwehren, hier in diesem schmutzigen Turmverlies die Schwelle zu einer jenseitigen Welt überschritten zu haben. Huschte dort hinten, in der Ecke, nicht ein Schatten? Sicher nur eine Ratte, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie zuckte zusammen, als Marusch in die Stille hinein fremdartige Worte sprach, mit tiefer Stimme, der dieser kahle dunkle Raum einen unwirklichen Hall verlieh.

«Oman Sloman Brax, Enter Mensis Fax.» Sie hob die Arme und beugte sich über die Kristallkugel. «Jetzt lasst euch sagen, warum meine Famula und ich gekommen sind. Diese Kristallkugel hat mich wissen lassen, dass hier, in dieser Stadt, Unrecht geschehen soll. Dass der Bürgermeister, der über euch Gericht halten wird, von dem Gedanken getrieben ist, mit euch ein Exempel zu statuieren. Dass er eure Vergehen, ungeachtet eures jungen Alters, mit den schlimmsten Strafen vergelten will, die unser Land kennt: Ihr Knaben werdet aufs Rad geflochten und gevierteilt, bis euch die Därme aus dem Leib quellen, und ihr, Wespe und Klette, in den Sack gebunden und geschwemmt, bis euch die Lunge platzt und ihr in der Donau ersauft.»

Sie hörten ein unterdrücktes Schluchzen, erst aus der einen, dann aus einer anderen Richtung.

«Qualvoll sollt ihr sterben, unter höllischen Schmerzen und Ängsten. So will es die Obrigkeit dieser Stadt.»

Das Schluchzen wurde lauter.

«Und doch gibt es eine Möglichkeit zur Rettung. Eine einzige nur.» Sie machte eine Pause. «Ihr bekennt bei der Befragung nichts als die Wahrheit. Mein allmächtiger Meister wird bei euch sein, heimlich und unsichtbar, bei jedem Einzelnen von euch. Und er wird die Schöffen lenken wie der Puppenspieler seine Marionetten, und er wird aus ihrem Munde Recht sprechen. Sagt ihr die reine Wahrheit, wird er euch begnadigen. Weh aber dem, der lügt, wehe dem, der falsche Namen nennt.» Sie hob die Lampe und leuchtete Pechmutz ins Gesicht. «Derjenige wird auf Erden höllische Qualen erleiden, die sich im Fegefeuer in alle Ewigkeit fortsetzen. Habt ihr das verstanden?»

Die meisten nickten stumm, mit angstvoll aufgerissenen Augen. Eines der Mädchen flüsterte: «Seid Ihr Zauberinnen?»

«Mummenschanz! Sie lügt», zischte Pechmutz.

«Jetzt halt du dein Maul!» Der Junge neben ihm versetzte ihm einen heftigen Tritt.

«Zauberin, Hexe – Namen haben in meiner Welt keine Bedeutung. Und nun geht in euch.»

Sie murmelte eine weitere Beschwörungsformel, während sie Kristall und Tuch einpackte, dann schritt sie ohne ein weiteres Wort zur Tür. Marthe-Marie folgte ihr mit zitternden Knien. Das Wort ‹Hexe› hallte in ihren Ohren.

«Heilige Mutter Maria», flüsterte sie, als sie draußen auf der Stiege standen. «Wie konntest du solche Dinge sagen.»

«Die Mutter Gottes wird mir schon verzeihen. Nimm einfach alles, was wir getan haben, als ein Theaterstück. Es war übrigens Tilman, der als Erster geschluchzt hat. Ein waschechter Schauspieler.» Sie konnte ein stolzes Lächeln nicht unterdrücken.

Wenige Minuten später standen sie draußen an einem Brunnen und wuschen sich den Ruß aus dem Gesicht. Die Nacht war bereits angebrochen.

«Wenn uns der Wärter verpfeift?» Marthe-Marie rieb sich Gesicht und Hals trocken, bis die Haut brannte. Sie waren höchstens eine Stunde im Gänsturm gewesen, ihr aber kam es vor, als seien sie den ganzen Tag über fort gewesen. Jetzt erst bemerkte sie, wie erschöpft ihre Freundin aussah.

«Er wird sich hüten, der Schwachkopf. Dann müsste er ja zugeben, dass er gegen sämtliche Vorschriften verstoßen hat.»

«Und wenn wir ihm hier irgendwo begegnen und er uns erkennt?»

«Donnerst du dich normalerweise so als Hure auf? Na also. Außerdem müssen wir ohnehin aus der Stadt verschwinden. Wieder einmal», fügte sie bitter hinzu.

Marthe-Marie lehnte sich an den Brunnenrand. Plötzlich stieg ein furchtbarer Gedanke in ihr auf: Was, wenn Pechmutz brühwarm erzählte, dass zwei Hexen bei ihnen im Turm gewesen seien? Und wenn herauskäme, dass es sich dabei um sie beide handelte?

Marusch schien ihre Gedanken zu erraten. «Es war nicht ungefährlich, was wir getan haben. Umso mehr möchte ich dir für deinen Mut danken.» Sie sah zu Boden. «Vielleicht hätte ich dich gar nicht mit hineinziehen dürfen. Ich weiß sehr wohl, dass es böse ausgehen kann.»

Marthe-Marie zuckte die Achseln. «Auf jeden Fall warst du großartig. Du hast den Kindern einen heillosen Schrecken eingejagt. Fast tun sie mir Leid: Wenn sie jetzt tatsächlich die Wahrheit sagen und alles bekennen, was sie jemals verbockt haben, werden sie dann Gnade finden?»

«Das ist tatsächlich ihre einzige Rettung. Sie sind ja auf frischer Tat erwischt worden. Man würde erkennen, dass sie bereuen, und sie nach einem Tag am Pranger aus der Stadt jagen. Glaub mir.»

«Dann denkst du also, dass unsere Buben freikommen?»

Marusch zuckte die Schultern. «Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder sagen diese Spitzbuben endlich die Wahrheit und entlasten damit Tilman und Niklas, oder sie lügen weiter und landen allesamt am Galgen. Über die dritte Möglichkeit möchte ich lieber nicht nachdenken.»

«Welche dritte?»

«Dass Tilman und Niklas tatsächlich dabei waren, als sie den Opferstock aufgebrochen haben.»

In der Herberge saßen die anderen bereits in der Schankstube. Agnes und Clara warfen sich voller Freude ihren Müttern in die Arme, Leonhard Sonntag erhob sich.

«Wo wart ihr? Und wie seht ihr überhaupt aus?» In seinem vorwurfsvollen Ton schwang aufrichtige Sorge mit.

«Morgen», sagte Marusch nur. «Morgen erzählen wir euch alles. Ich gehe schlafen.»

«Ich komme mit», sagte Marthe-Marie. Als Diego ihr folgen wollte, hob sie abwehrend die Hand, schüttelte den Kopf und ließ ihn stehen. Sie hatte nur noch einen Wunsch: sich auf ihrem Strohsack auszustrecken, die Decke über den Kopf zu ziehen und nichts mehr hören und sehen zu müssen.

 

In dieser Nacht hatte sie einen seltsamen Traum. Sie thronte auf einem mannshohen, hölzernen Podest. Einer Fürstin gleich trug sie ein prächtiges Gewand; es war ein grünes Brokatkleid mit Reifrock, Mühlsteinkrause und Schleppe. Unter ihr, auf einer ovalen Sandbahn, kämpften wie in längst vergangenen Zeiten Diego und Jonas gegeneinander, mit Lanzen und auf schweren Streitrössern, jedoch ohne den Schutz einer Rüstung.

Zu ihrer Linken stand Raimund Mangolt, ihr Ziehvater, und legte ihr die Hand auf die Schulter. «Nimm denjenigen zum Mann, der diesen Kampf gewinnt. Du brauchst einen Beschützer.»

Da trat ihre Mutter neben sie. Sie sah jung und betörend aus in dem Kleid aus hellem, leichtem Taft und dem kunstvoll hochgesteckten, mit Perlen besetzten Haar.

«So reden Männer.» Catharina lächelte halb spöttisch, halb liebevoll. «Beende diesen unnötigen Kampf und lass dein Herz entscheiden.»

«Aber ich weiß nicht – wen soll ich –»

Ihre Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. «Du hast dich längst entschieden, doch Trotz hat dich blind gemacht. Glaube mir, glaub mir bitte: Du kannst weder meinen Tod vergelten, noch darfst du dich schuldig fühlen. Was geschehen ist, ist geschehen. Du sollst leben und glücklich sein.»

Marthe-Marie sah zu Jonas. Für einen kurzen Augenblick verschmolzen ihre Blicke, voller Zuneigung und Wärme, dann durchbohrte Diegos Lanze Jonas’ Brust. Stumm, mit ungläubigem Blick, glitt er vom Pferd, mit ihm Diego, der auf gleiche Weise von Jonas Waffe getroffen war. All das geschah vollkommen lautlos: Beide Männer lagen im Sand, aus ihrer Brust schoss in kräftigem Schwall purpurrotes Blut, das rasch zu einem Strom anstieg, in dem beide versanken. Immer höher stieg die dampfend heiße Flut, reichte bald bis an den Rand des Podests; da sah sie erst einen Arm, dann ein Gesicht aus den Fluten ragen: Es war die verzerrte Fratze eines jungen Mannes mit rot entzündeten Augen und einer wulstigen Narbe quer über der Oberlippe. In diesem Moment erwachte sie von ihrem eigenen gellenden Schrei.