Pünktlich zum Gregoriustag erwachte Konstanz aus dem Winterschlaf. Für die Schüler der Habsburger Grenzstadt war dieser Tag gleich zweifach Anlass zu Freude und Übermut: Nach vielen Wochen nasskalter, trüber Witterung wärmte heute zum ersten Mal eine kraftvolle Sonne ihre blassen Gesichter. Und wie jedes Jahr am zwölften März feierten die Knaben mit dem Tag des Schutzpatrons der Gelehrten, Schüler und Studenten auch das Ende des Wintersemesters. Für dieses eine Mal waren Lehrer und Rektoren ihres Amtes enthoben, mussten sie im Scholarengewand mit ihren Schützlingen zum Gregorisingen durch die Gassen ziehen und sich von den Zuschauern manchen Spottvers gefallen lassen. Während vorweg der Knabenrektor mit kindlicher Würde Schulschlüssel und Rute trug, balgten sich seine Mitschüler, als Schulmeister, Pfarrer, Medicus oder Advokat kostümiert, um die Süßigkeiten und Nüsse, die die Erwachsenen ihnen zuwarfen. Wer nicht am Straßenrand stand, lehnte sich aus den weit geöffneten Fenstern, ließ milde Frühlingsluft in die muffigen Stuben und freute sich an dem Treiben der Jungen und dem wolkenlos blauen Himmel.
Einzig in einer Seitengasse nahe des Obermarkts stand ein stattliches Haus abweisend wie ein Fels gegen die Brandung fröhlicher Ausgelassenheit. Die Fenster waren geschlossen und mit schwarzen Tüchern verhängt, die Menschen, die sich dem prachtvollen, mit Stuck reich verzierten Eingangstor näherten, hielten den Blick gesenkt. Nur im Obergeschoss stand ein Fensterflügel offen, um der Seele der sterbenden Hausherrin den Weg vor den Richterstuhl Gottes zu weisen.
Marthe-Marie spürte den eisigen Hauch des Todes, als die Frau, zu der sie zeitlebens Mutter gesagt hatte, den Kopf zur Seite neigte und zu atmen aufhörte. Längst hatte die Ansagerin, ein altes Weib, das sonst von Almosen lebte, ihren Gang von Haus zu Haus beendet, und noch immer saß Marthe-Marie am Sterbebett, die kalte Hand von Lene Schillerin zwischen den ihren, voller Angst, das Band zwischen ihnen endgültig zu lösen. Sie wusste, der Boden würde zu schwanken beginnen, wenn sie aufstünde, wusste, dass die Welt, die sich hinter der Türschwelle auftat, nie wieder hell und warm sein würde.
«Komm zu uns in die Küche.» Franziska berührte sie vorsichtig an der Schulter, dann löschte sie die Sterbekerze. «Die Leichenfrau ist gekommen, ihre Arbeit zu verrichten, und unten warten die ersten Gäste, um sich von Mutter zu verabschieden.»
Zu Marthe-Maries Erstaunen tat sich hinter der Tür kein Abgrund auf. Wie immer empfing sie das vertraute Knarren der Dielenbretter, als sie hinunter in die Küche ging. Neben dem erloschenen Herdfeuer saß zusammengesunken ihr Vater. Ferdi, der Jüngste und ihr Lieblingsbruder, stand am Fenster und starrte hinaus auf die letzten Schneereste im Hof. Aus der Stube drang das Stimmengewirr der Trauergäste, dann und wann hörte sie die tiefe Stimme ihres ältesten Bruders Matthias, der schon morgen zu seinem Fähnlein zurückmusste. Immer mehr Menschen kamen ins Haus zum Goldenen Pfeil, um von der Toten Abschied zu nehmen, denn Lene Schillerin, die Gattin des ehemaligen Hauptmanns, war in Konstanz nicht nur eine geachtete, sondern eine beliebte Frau gewesen.
Marthe-Marie trat an die Wiege, in der Agnes friedlich schlief, als ginge sie das alles nichts an, und strich ihrer Tochter über das winzige Gesicht.
«Warum hat Mutter sich aufgegeben?» Wie aus weiter Ferne drang die Stimme ihres Vaters zu ihr.
Sie blickte ihn an. Seit wann sah er so alt und gebrechlich aus? Das war nicht mehr der Mann, auf dessen Knien sie als Kind in die Schlacht geritten war und der sie heimlich Reiten gelehrt hatte, obwohl sich das für ein Mädchen ihres Standes nicht schickte. Der ihr und ihren Geschwistern bei jedem Heimaturlaub herrliche Süßigkeiten und Spielsachen mitgebracht hatte, um dann mit ihnen ans Seeufer zu schlendern und von seinen Abenteuern zu erzählen. Wie sehr hatte sie diesen stattlichen Mann immer bewundert, dem, wie Lene einmal seufzend und stolz zugleich gestanden hatte, jeder Weiberrock nachgelaufen war. Jetzt schien Raimund Mangolt, der sich in den habsburgisch-kaiserlichen Regimentern über Fähnrich und Feldweybel bis zum Feldhauptmann hochgedient hatte, mit einem Schlag ein gebrochener Mann.
Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und schwieg.
«Warum nur?», wiederholte er tonlos.
Fast schmerzhaft spürte Marthe-Marie in diesem Augenblick die Liebe und Achtung, die sie für ihn empfand. Für diesen Mann, der nicht wirklich ihr Vater war und sie doch nie anders umsorgt hatte als seine leiblichen Kinder, der sich mit ihr gefreut hatte, als sie Veit, den Sohn seines besten Freundes, geheiratet hatte und schon kurz darauf guter Hoffnung war. Der sie getröstet hatte, als es zu einer Fehlgeburt kam, und der mit ihr gelitten hatte, als Veit, kaum dass ihre Tochter Agnes auf der Welt war, qualvoll am hitzigen Fieber starb.
Vielleicht erwartete er gerade von ihr Trost. Doch sie fand keine Worte, um diese Leere zu füllen. Ohnehin wusste jeder in der Familie, warum Lene gestorben war: Sie hatte das grausame Ende ihrer Base und zugleich besten Freundin, dazu den Freitod ihres Halbbruders nie verwunden. Drei Jahre war es nun her, dass Catharina Stadellmenin in Freiburg als Hexe den Flammen übergeben worden war und ihr heimlicher Geliebter sich während der Hinrichtung den Dolch ins Herz gestoßen hatte. Lene schien nur noch auf den Zeitpunkt gewartet zu haben, dass ihre älteste Tochter Marthe-Marie selbst Mutter wurde, um ihr die Wahrheit zu sagen, dann hatte sie sich in ihrer Schlafkammer niedergelegt und auf den Tod gewartet.
Die Wahrheit bedeutete: Catharina Stadellmenin, am 24. März Anno Domini 1599 erst enthauptet und dann zu Pulver und Asche verbrannt, war in Wirklichkeit Marthe-Maries leibliche Mutter.
«Willst du deinen Entschluss nicht noch einmal überdenken? Deine Schwester hat ein schönes Haus nahe der Hofkirche ausfindig gemacht, groß genug für uns alle. Ich bitte dich: Komm mit uns nach Innsbruck.»
Marthe-Marie entging das Flehen in Raimunds Blick nicht.
«Nein, Vater.»
Sie konnte verstehen, dass Raimund nach dem Tod seiner Frau nicht länger in Konstanz bleiben wollte. Innsbruck in Tirol war seine Heimat, dort war er geboren und aufgewachsen, dort lebte inzwischen seine Jüngste mit ihrer Familie. Doch Marthe-Marie hatte diese Stadt mit der bedrohlichen Wand des Karwendelmassivs im Rücken, in der sie viele Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte, nie gemocht.
«Wovon willst du leben mit der Kleinen? Von dem spärlichen Erbe, das dir Veit hinterlassen hat? Ich selbst kann dir nicht viel Unterstützung zukommen lassen. Bleib doch wenigstens hier in Konstanz, bei Ferdi.»
«Es wird schon reichen.» Sie legte den Stapel Leibwäsche zu den Tüchern in die Kiste, die für den Stadtpfarrer bestimmt war, in der Hoffnung, dass er Lenes Kleidung tatsächlich an die Ärmsten der Armen in der Stadt verteilen würde. In den Augen dieser Leute war sie eine reiche Frau.
«Und was Ferdi betrifft: Er lebt nur für seine Steinmetzwerkstatt. Wir wären ihm ein Klotz am Bein.»
«So darfst du nicht von ihm reden. Ihr wart als Kinder immer ein Herz und eine Seele.»
«Das ist lange her.»
«Sind wir nicht immer noch eine Familie?» Raimund griff nach ihrem Arm. «Als du deine ersten Schritte gemacht hast, da hab ich mich gefreut wie ein Gassenjunge. Und wie stolz war ich auf dich, weil du so rasch lesen und schreiben lerntest. Du hast immer zu uns gehört, von Anfang an habe ich wie ein Vater für dich gefühlt – was ändert Mutters Tod daran?»
Sie lehnte sich an seine Schulter. Wie sollte sie es ihm erklären? Dass sich sehr wohl etwas geändert hatte – tief in ihrem Inneren?
Als sie vor einem halben Jahr die ganze Lebensgeschichte jener Frau erfahren hatte, die sie zum ersten Mal mit fünfzehn Jahren gesehen und sofort ins Herz geschlossen hatte, als sie damals erfahren hatte, dass diese Frau, die als Hexe verbrannt worden war, nicht ihre Muhme, sondern ihre Mutter war, da hatte eine unfassbare Wut auf die Dummheit und Niedertracht der Menschheit sie gepackt. Und es hatte ihr schier das Herz gebrochen, dass sie Catharina Stadellmenin niemals als Mutter hatte kennen lernen dürfen. Doch an ihrer tiefen Bindung zu Lene hatte diese entsetzliche Wahrheit nichts geändert. Als sich Lene dann zusehends in sich zurückzog, machte Marthe-Marie sich mehr Gedanken um ihre Ziehmutter als um sich selbst. Zwar versuchte der Hausarzt sie zu beruhigen: Es sei nur eine vorübergehende Schwächeperiode. Spätestens aber als Veit, dessen uneingeschränkte Liebe sie gerade erst zu erwidern begonnen hatte, nach nicht einmal zwei Jahren Ehe starb und Lene keine Regung über dieses Unglück zeigte, erkannte Marthe-Marie, dass ihre Ziehmutter wohl nicht mehr aufstehen würde. Nächtelang hatte sie Gott und die heilige Elisabeth beschworen, Lene wieder Kraft und Lebensmut zu geben, hatte es kaum noch ertragen, die Schlafkammer zu betreten und sich an das Bett der abgemagerten, weißhaarigen Frau zu setzen, die einmal so selbstbewusst, lebenslustig und schön gewesen war. Doch ihre Gebete wurden nicht erhört, und mit Lenes Tod wurde für Marthe-Marie das Haus ihrer Kindheit zur Fremde.
Jetzt erst senkte sich die Erkenntnis, dass sie eine andere war, wie ein Albdruck auf sie. Sie konnte ihrem Vater nicht weiter die Tochter, ihren Geschwistern nicht weiter die Schwester sein.
Marthe-Maries Blick fiel auf das kleine Ölbild über der Kommode. Sie nahm es in die Hand und betrachtete das Porträt der dunkelhaarigen Frau mit dem blassen, fein geschnittenen Gesicht und den dunklen Augen. Ihr Großvater, der Marienmaler Hieronymus Stadellmen, hatte dieses Bildnis seiner Ehefrau Anna einst gemalt.
Raimund trat hinter sie. «Wie ähnlich du deiner Großmutter siehst. Es ist, als ob du in einen Spiegel blicken würdest. Catharina hatte das Bild immer bei sich gehabt, wie einen Talisman, sagt Lene.» Er räusperte sich. «Aber es hat ihr kein Glück gebracht.»
«Es ist das einzige Andenken an meine Mutter, das ich besitze.»
Zum ersten Mal sprach sie in Raimunds Gegenwart von Catharina als ihrer Mutter. Sie hängte das Bild zurück.
Es war unter seltsamen Umständen in ihre Hände gelangt: An einem heißen Frühlingstag, gut ein Jahr nach der Hinrichtung von Catharina Stadellmenin, war ein Bote erschienen, der das Päckchen nur ihr selbst, Marthe-Marie Mangoltin, aushändigen wollte und der über den Absender nichts sagen konnte oder durfte. Sie hatte das Bild damals Lene gezeigt, die ihr nach einem ersten Augenblick ungläubiger Überraschung zunächst ruhig und gefasst erklärt hatte, dass es Catharinas Mutter darstelle und wie wichtig Catharina dieses Bildnis einst gewesen sei. Dann war sie, von einem Moment auf den nächsten, weinend zusammengebrochen. Um sie zu schonen, hatte Marthe-Marie ihr das beigelegte anonyme Schreiben nie gezeigt: «Ein Andenken an Catharina Stadellmenin. Von einem Freiburger Bürger, der die Stadellmenin sehr gut kannte.»
Inzwischen war sie sich beinahe sicher, dass bei diesem unbekannten Freiburger Bürger auch die anderen persönlichen Dinge ihrer Mutter zu finden wären – ihre Bücher und Briefe, die kleine geschnitzte Flöte und der kunstvoll verzierte Wasserschlauch, den Lenes Bruder Christoph ihr einst als Liebesbeweis geschenkt hatte.
Raimund Mangolt verschloss die Kleiderkiste. Regungslos stand er da, nur seine Schultern bebten. Marthe-Marie trat neben ihn, nahm ihn in die Arme und weinte mit ihm um den Menschen, den niemand in diesem Leben ersetzen konnte. So standen sie, bis das Hausmädchen an die Tür klopfte und verkündete, das Mittagsmahl stünde bereit.
Raimund wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Lass die Vergangenheit ruhen, Marthe-Marie. Der Gedanke, dass du nach Freiburg willst, macht mir Angst. Das ist kein guter Ort für dich.»
»Mach dir keine Sorgen, Vater. Niemand dort weiß, wessen Tochter ich bin.»
Vor der Entschlossenheit seiner Ziehtochter hatte Raimund Mangolt schließlich die Waffen strecken müssen. So reiste sie nun mit seinem Segen und seiner Unterstützung. Zum Schutz hatte er ihr seinen ehemaligen Quartiermeister mitgegeben, einen verlässlichen, schweigsamen Mann, dazu ein Bündel Papiere, die ihnen das Passieren der Grenzposten und zahlreichen Mautstellen am Hochrhein und im Oberrheintal erleichtern würden. Zum Abschied hatte sie ihm versprechen müssen, nach Innsbruck zu kommen, falls es ihr schlecht erginge.
Sie näherten sich der alten Zähringerstadt Waldshut, und es regnete bereits den zweiten Tag Bindfäden. Marthe-Marie verkroch sich tiefer unter das Verdeck, wo Agnes in ihrer Wiege ruhig schlief. Dem Quartiermeister vorne auf dem Kutschbock troff das Regenwasser von der Hutkrempe. Regnet’s am Georgitag, währt noch lang des Segens Plag, dachte Marthe-Marie und betrachtete missmutig den bleigrauen Himmel.
«Sollen wir uns nicht irgendwo unterstellen? Ihr seid ja völlig durchnässt.»
«Unsinn, Mädchen. Hab schon ganz anderes Wetter erlebt, wenn ich unterwegs war. Außerdem sind wir bald in Waldshut, dort kenne ich einen formidablen Gasthof.»
Er klatschte dem Rappen, der in langsamen Schritt gefallen war, die Peitsche über die Kruppe. Marthe-Marie schloss die Augen. Das sanfte Schaukeln des Gotschiwagens, eines leicht gebauten, mit Lederriemen gefederten Einspänners, machte sie schläfrig. Sie dachte daran, dass ihre Mutter damals, bevor sie sich zum ersten Mal in Konstanz begegnet waren, genau dieselbe Strecke gereist war, zusammen mit Christoph. Jene Reise musste einer ihrer glücklichsten Momente gewesen sein. Wie hatte sie gestrahlt, als sie über die Schwelle des Hauses am Obermarkt trat – Marthe-Marie konnte sich noch genau an diesen Moment erinnern, obwohl das weit über zehn Jahre zurücklag. Damals schon musste ihre Ziehmutter nahe daran gewesen sein, ihr die Wahrheit zu sagen. Vielleicht hätte das Schicksal dann eine andere Wendung genommen. Noch kurz vor Lenes Tod hatten sie ein langes Gespräch geführt, hatte Marthe-Marie sie ein letztes Mal gefragt, warum ihre Mutter sie einfach weggegeben hatte. Lene war über diese Frage fast böse geworden: ‹Glaube niemals – niemals, sage ich dir –, dass Catharina diese Entscheidung leicht gefallen ist. Ihre Ehe war nichts als die Hölle, und wenn herausgekommen wäre, dass sie vom Gesellen ihres Mannes ein Kind erwartete, wärst du im Findelhaus gelandet und sie und dein leiblicher Vater wären wegen Unzucht verurteilt worden. Und da dieses Scheusal sie schon längst nicht mehr angerührt hatte, außer wenn er sie prügelte, konnte sie ihm nicht einmal weismachen, er sei der Vater, selbst wenn sie es gewollt hätte.»
So war der einzige Ausweg für Catharina gewesen, ihr Kind heimlich bei Lene und Raimund zur Welt zu bringen, fern von Freiburg, und sich dann auf immer von ihm zu verabschieden. Nach außen hin gaben Lene und Raimund zunächst an, Marthe-Marie sei ein Findelkind, das sie an Kindes statt angenommen hätten, und nachdem sie nach Innsbruck gezogen waren, wusste ohnehin kein Mensch mehr um Marthe-Maries Herkunft, nicht einmal Lenes eigene Kinder.
Mit einem Ruck kam der Wagen zum Halten, und Marthe-Marie wurde aus ihren Gedanken gerissen. Sie streckte den Kopf nach draußen. Ein Bauer mit Maulesel hatte sich ihnen in den Weg gestellt und zog jetzt ehrerbietig die Mütze.
«Wenn ich den edlen Herrschaften einen Rat geben darf – kehrt um. Zum Schaffhauser Tor ist kein Durchkommen. Ein riesiger Tross Gaukler verstopft die Straße, weil ihnen der Einlass nach Waldshut verwehrt wird. Ihr könnt aber gleich hier rechts den Weg nehmen, ein kleiner Umweg nur, der geradewegs zum Waldtor im Norden der Stadt führt.»
«Beim heiligen Theodor!» Der Quartiermeister fluchte. «Müssen uns diese Zigeuner ausgerechnet jetzt in die Quere kommen!»
Dann warf er dem Bauern eine Münze zu, der Mann steckte sie in sein Säckel und zog pfeifend davon.
Jetzt waren deutlich dumpfe Trommelschläge zu hören, dazwischen erregte Männerstimmen. In der Ferne sah Marthe-Marie eine Reihe von bunt bemalten Karren, drum herum Weiber, Kinder, Hunde. Ein halbwüchsiges Mädchen in Lumpen, das am Wagenrad seine Notdurft verrichtete, starrte sie an und streckte ihr die Zunge heraus.
Marthe-Marie nahm ihre Tochter aus der Wiege und presste sie unter ihrem Umhang fest an sich. Sie hatte genug Reisen und Ortswechsel mitgemacht, um zu wissen, dass jegliche Wegstörung eine Gefahr darstellen konnte. Vor größerem Unglück aber war sie, St. Christophorus sei Dank, bisher verschont geblieben.
«Wenn das nun eine Falle ist?»
Der Quartiermeister lachte auf. «Man merkt, dass Ihr eine Soldatentochter seid. Immer auf alles gefasst. Aber macht Euch keine Sorgen. Zufällig kenne ich die Gegend hier sehr gut. Außerdem habe ich immer noch mein Kurzschwert, damit parier ich jeden Angriff.»
Agnes erwachte und begann zu schreien. Im Schutz des Verdecks gab Marthe-Marie ihr die Brust und betrachtete sie gedankenverloren. Bereits jetzt war zu erkennen, dass sie im Äußeren ganz nach ihr, nach Catharina und nach deren Mutter kommen würde – das Dunkle, Zarte bei den Frauen dieser Linie schien sich durchzusetzen. Ach, Agnes, dachte sie, du wirst niemals deinen Vater kennen lernen, so wie ich meinen nie gesehen habe.
Das nasskalte Aprilwetter ließ sie frösteln, und sie schob dem Kind die Haube tiefer in das Gesichtchen. Vielleicht würden sie gar nicht lange in Freiburg bleiben. Was sie nämlich Raimund Mangolt verschwiegen hatte: Sie würde sich auf die Suche begeben. Sie wollte Benedikt Hofer ausfindig machen, ihren leiblichen Vater, den Großvater ihrer Tochter.