vier
Erst ist Montag und dann ist Dienstag. Und welch ein Wunder, dann ist Mittwoch. Mitten in der Nacht hat die Zeit einen neuen Namen. Der Ort bleibt derselbe, ein Bett, in dem zwei Personen schlafen könnten, aber nur einer wichst, kurz und schmerzlos, und dann ist Donnerstag. Und es ist immer noch derselbe Ort. Ich wichse nie woanders. Danach werfe ich das Taschentuch in eine Zimmerecke. Tritt sich fest. All das passiert, während andere Männer auf dem Mars Gesteinsproben sammeln. Ob das nötig ist, soll ein anderer Beamter eines anderen Amtes feststellen. Ich bin nur für den Abschaum zuständig, Kellner sind für den Milchschaum zuständig und nachmittags schlendern sie bei mir vorbei, um mir viele Ablehnungen vorzulegen, zwanzig im Monat. Sie haben sich beim Arbeitsamt arbeitswillig gemeldet und so sehen die schon aus. Sie arbeiten schwarz, bis sie schwarz werden. Ich mache einen Stempel unter einen Wisch. Mit einem Wischlappen wischt eine Hure Sperma vom Bettpfosten, das ist der Schaum, für den sie zuständig ist. «Träume sind Schäume» wird von mir in die Liste mit den dümmsten Sprüchen aufgenommen, denn nur weil es sich reimt, muss es nicht gleich etwas bedeuten. Da streite ich mich gerne bis aufs Messer mit diesem Pumuckl. Der soll erst mal in Echt existieren. Dann reden wir weiter. Als Trickfilmfigur würde mir auch alles viel leichter fallen. Ich könnte mich mit dem Radiergummi rasieren, ohne mich zu schneiden. Träume sind Schäume reimt sich, ist aber Scheißdreck. Dann wären auch Bäume Schäume und Träume Räume. «Muss ja!» reimt sich nicht und ist absolut wahr. Muss ja. Die Zellen teilen sich, sterben ab. Die Obstfliegen vermehren sich, sterben ab. Muss ja. Meine Fingernägel wachsen, ich schneide sie ab. Ich muss ja. Ich will mich nicht verletzen, wenn ich mich aus Versehen schüchtern berühre. Ich muss ja. Macht ja sonst keiner.
Ich gehe zur Arbeit mit einer Tasche aus Rindsleder, die mir meine zweite Frau geschenkt hat, um die Tasche aus Schweinsleder zu ersetzen, die mir meine erste Frau geschenkt hat. Ich habe mir eine zweite Frau gesucht, um die erste zu ersetzen. Sie hat sich einen anderen Mann gesucht, um mich zu ersetzen. Ich habe an dieser Stelle den Kreislauf durchbrochen. Muss ja nicht. Und das Leben geht trotzdem weiter. Weiter. Weiter. Das lustige Brettspiel, immer ein paar Felder vorrücken, aber im Kreis laufen. Ich will die roten Männeln.
Auf dem Amtsflur weichen schon wieder etliche Schnipsel mit Nummern in feuchtkalten Händen. Als ob das sein muss. Muss es nicht. Wenigstens muss ich mir nicht meinen Namen ans Hemd klemmen, um mich noch persönlicher beschimpfen zu lassen. Ich bin doch kein Erstklässler mit einer Badekappe, auf der Mutti den Taufnamen geschrieben hat. Peter. Schwimm schneller, Peter! Hör auf mit Ertrinken, Peter! Ich mache mir sehr starken Kaffee, von dem ich sehr starke Kopfschmerzen bekomme. Das ist eine feine Scheiße und dann noch den ganzen Tag mit Frau Kobow in einem Zimmer. Sie bietet mir Zahnpflegekaugummis an. Sie kämmt sich. Sie gießt den Weihnachtsstern. Dann schaut sie aus dem Fenster und sagt: «Der Schnee ist getaut.» Ein Wetterbericht, der mir sagt, was ich selber sehe, im grauen Rock mit grauenhafter Bluse und bald grauen Haaren bei grauem Himmel, das muss zum Beispiel auch nicht sein.
«Fahren Sie in Urlaub, Herr Berg?» Ich nicke und hoffe, dass mir die Vorfreude nicht aus den Augen tränt.
«Mit den Kindern?»
Ich nicke wieder. Ihr Kinderlein kommet und quatscht mich voll mit eurem Schulkram. Eine Drei und sogar eine Zwei, naja nur in Sport. Da bekommst du ein Eis für, mein Sohn – geh vors Haus und brich dir einen gefrorenen Zapfen von der Dachrinne. Und gib deiner Schwester was ab, die nicht so viel Glück mit der Vererbungslehre hatte und nach eurer Mutter kommt, deshalb hat sie eine Fünf in Biologie. Meine kleine Linda, was warst du süß. Die verschmierten Tuschbilder und die kleinen Ohren. Sind so kleine Ohren, darf man nicht reinnölen.
«Mit den Kindern. Das ist schön!», sagt Frau Kobow. Ich nicke. Jetzt wird Linda schön, und es ist für sie das Wichtigste, dass es so ist. Die Haare, aber die Pickel. Die Brüste, aber die Haare. Die Pickel, aber die Schuhe. Sie ist dreizehn Jahre alt und manchmal schnattert sie schon von Diät.
«Sie können mir ja eine Karte schicken», sagt Frau Kobow.
«Wenn Sie mir auch schreiben», sage ich, und Frau Kobow lächelt sich die Birne weg. Ich rufe die nächste Nummer auf und versuch es auch mal mit Lächeln. Ich lächle, wie ich lächle, wenn ich lächle. Muss ja. Ich klemme eine Büroklammer, eine blaue, an einen Antrag. Der Kontoauszug fehlt. Ich gehe in die Mittagspause und rauche mich dumm. Zigaretten beeinträchtigen mich in eigentlich guten Sachen: Denken und Nachdenken und Gutriechen. Nicht nur die Gesundheit. Davon merke ich weniger. Ich muss morgens nicht husten. Muss ja nicht. Ich muss morgens immer nachdenken, dann doch echt lieber husten, aber nein, ich denke zum Beispiel, dass ich meinen Zustand als Atomansammlung lieber mit dem Gewebe der Zudecke tauschen würde. Ich möchte eine Zudecke sein und auf einer Frau liegen. Nicht auf einer wie Frau Kobow, lieber auf einer wie Tanja. Auf der liegt es sich gut, wenn ich mich recht erinnere. Ist eine Weile her. Am Wochenende ist sie nicht aufgetaucht. Das hat mich verstimmt. Ich bin ein altes Klavier, zu viel über die Dielen gezerrt. Wenn man eine Vase auf mir abstellt, klinge ich sofort schief. Ich kann Blumen nicht ab. Ich schreibe «Die Welt ist scheiße und kacke» auf Rosenblätter. Sags durch die Blume. Ich will jetzt nicht an Tanja denken. Der Hausmeister hat mich dann befreit, und ich fühlte mich frei. Freiheit ist das Einzige, was fehlt. Westernhagen breitet die Arme aus, wie Jesus in gestreifter Weste, und ich will ihn kreuzigen, ihn und Grönemeyer. Wer hat denen erlaubt, auf Deutsch über Liebe und Freiheit zu singen? Muss ja nicht. Mach ich das? Und auch Herr Fehrmann macht das nicht. Er repariert kaputte Leitungen und befreit mich, wenn Tanja nicht kommt. Er roch nach Zigaretten, eine der Haupttodesursachen bei alten Männern, neben jungen Frauen, die nicht kommen.
Dafür kam Linda pünktlich, und es gefiel ihr im Tierpark. Mir auch. Es gab billigen Kuchen. Ich finde Kuchen in Ordnung, der so schmeckt wie die Pappschachtel, in der die Backmischung war.
Frau Kobow rät mir kurz vor Feierabend zu einem Haustier. «Ich habe Silberfischchen», sage ich ihr. Sie meinte so was wie eine Katze oder einen Hund. Etwas mit einer Nase. Sie redet lange über die Vorteile eines Hundes und die Nachteile einer Katze. Hauptsächlich ist die Katze kein Hund, entnehme ich dem. Ich sollte einen Hund haben, dann wüsste ich mehr über Kindererziehung. Auf dem Pfad der Erkenntnis, während ich Fifi um den Wohnblock Gassi führe. Schlag dein Kind nicht mit der Hand? Schlag dein Kind mit der Zeitung? Meine Kinder sind zu groß zum Schlagen, die haben dann immer so Argumente dagegen. Mein Vater hat mich noch richtig von Hand erzogen, immer feste. Und aufgezogen hat er mich auch, mit dem Zeigefinger auf mich gezeigt und gesagt: «Schaut doch mal alle, der Peter, der läuft über den großen Onkel.»
Frau Kobow kommt endlich zu dem, was sie eigentlich erzählen will, nämlich ihrem eigenen Hund. Wie ich das verstehe, ein müdes, verdrehtes Geschöpf mit bettelnden Augen. Ein Beagle, der nach seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Laborratte seinen Ruhestand bei einer Durchschnittsfamilie verbringen darf. Den Lebensabend. Guten Abend, Leben. Frau Kobow zeigt mir Fotos. Ohne lange zu überlegen sage ich: «Niedlich.» Ich meine es so. Es ist ein Hund mit großen Ohren, und er sieht verloren aus, auf dem Arm von Herrn Kobow. Herr Kobow ist nicht niedlich. Kein Beagle, eher ein Schnauzer. Frau Kobow ist ein Pudel. Sie erzählt mir, dass man Beagles als Versuchstiere benutzt, weil sie so gutmütig sind. Sie beißen die Männer in den Kitteln nicht. Sie wackeln jeden Morgen zur Labortür und freuen sich, dass jemand vorbeikommt. Jeden Tag denken sie wieder, dass es nicht pieken wird, sondern dass sie einen bunten Ball zerkatschen dürfen. Herr Kobow arbeitet in so einem Labor. Muss ja. Geld verdienen, weiter, weiter, immer heiter, bis Wolken kommen. Muss ja. Mein Herz muss ja nicht froh sein. Erzählt mir doch alle das Allertraurigste, das euch einfällt. Wer ist an Hirnschwurbel gestorben? Kann ich die Fotos von der Beerdigung sehen? Aus welchem Kriegsgebiet seid ihr geflüchtet? Habt ihr Moos gefressen? Wer hat euch vergewaltigt, der Vater oder der Stiefvater? Hat er ein Kondom benutzt? Ich bin kein Beagle. Ich will das nicht wissen. Eines Tages beiße ich sicherlich. Warum sollte ich meine Kinder so erziehen, dass sie nicht hart werden? Werdet bloß hart, ihr Süßen. Christentum. Nächstenliebe. Beagle. Donnerstag. Morgen ist dann wohl Freitag. Auf dem Heimweg erzeugt meine Rindsledertasche Pupsgeräusche, wenn sie an meinen Oberschenkel schlägt. Der Schnee ist getaut und der Streukies bleibt im Profil meiner Schuhe klemmen. Mir ist egal, ob es weiße Weihnachten gibt. Weiße Weihnachten sind das Letzte, wovon ich träume. Ich träume von Beagles, die ihre Welpen zu zivilem Ungehorsam erziehen, von Frau Kobow, die mir im Flur am Arsch vorbeigeht und von Tanja, die irgendwas macht. Irgendwas mit nackt sein.
Ich muss einkaufen gehen. Socken ohne Löcher. Brot ohne Schimmel. Eier ohne Geruch. Ich werfe sehr viele verdorbene Lebensmittel weg, einfach weg. Ich habe jetzt eine Weile schlecht gegessen, zu wenig. Ich war krank, erkältet. Frank hat mich gepflegt und mir Grießbrei gekocht, aber ich hatte keinen Appetit, nicht auf Grießbrei, nicht auf Frank. Ich wollte Erkältungstee, der nicht gut schmeckt. Frank hatte nur Eukalyptusbonbons, die hat er dann in heißem Wasser aufgelöst. Das schmeckte wie ich es wollte, nicht gut. Frank hat sich Mühe gegeben, immer gefragt, was ich brauche und will, möchte, benötige, verlange. Nur Peter, und darum habe ich Frank in meine Wohnung geschickt, damit er die Anrufe von Peter auf dem AB abhört und die Post von Peter mitbringt und darum endlich über Peter Bescheid weiß. Aber Peter hatte sich keine Sorgen gemacht, weil ich letzten Samstag nicht da war, weil er bestimmt weiß, dass mir nichts Schlimmes passieren kann. Auch nicht, wenn meine Schwester anruft, hat sie aber nicht. Ich weiß, was Katrin will, und dass ich das nicht will, weiß ich auch und sie auch, aber sie kann sein wie ich, hartnäckig. Frank weiß gar nichts und will mich, möchte, benötigt, verlangt. Damit lasse ich ihn sitzen, mach mal, will mich.
Jetzt werfe ich den Joghurt weg und das harte Brot. Ich denke dabei nicht an hungernde schwarze Kinder, sondern an Peter. Er braucht Zeit, habe ich. Wenn der Film ein schönes Ende hat, bezahle ich gerne für die Überlänge. Der Film kann ruhig länger dauern, bis Peter endlich vor mir kniet und ich dann nein sage, weil das nicht nötig ist, dass wir heiraten, aber schön, dass du gefragt hast. Ich habe nichts gegen Überlängen. Ich bezahle immer wenig für Kinobesuche. Ich bezahle einmal und warte auf dem Klo, bis zur nächsten Vorstellung. Ich mache dann Kinotag. Ich kucke dreimal «Herr der Ringe, Teil zwei». Der Herr hat uns lieb, aber ruft nicht an. Der Herr will mein Schatz sein. Mein Schaaatz!
Aber heute muss ich einen Einkauf machen. Ich mache das so: Ich werfe alles, was ich brauche, in den schwarzen Rucksack und renne raus. Ich brauche nie lange für meine Einkäufe, weil ich renne. Kein Anstehen an der Kasse und keine Ausgaben, nur weil ich kein Stück Land besitze, auf dem ich alles selber anbauen kann, was ich benötige, um mich zu ernähren. Roggen, Mais, einen Apfelbaum. Jetzt im Winter könnte ich auch sowieso nichts anbauen. Außerdem bin ich verliebt, außerdem immer noch ein bisschen erkältet und außerdem brauche ich mein Geld für andere Sachen. Weihnachtsgeschenke. Dieses Jahr ist mir noch nichts eingefallen, für niemanden. Ich kriege nichts auf die Reihe. Eine Reihe von Gedanken steht Schlange und klopft an meinen Kopf. Ich kann sie nicht einlassen, denn Peter steht auf meinen Leitungen. Ich kann eine Stunde am Türrahmen lehnen und ich kann eine Stunde auf der Truhe sitzen, Peter.
Mit dem vollen Rucksack kehre ich zurück nach Hause. Ich war beim Asiaten. Ich habe Sojamilch mit Cappuccinogeschmack, eine Kokosnuss, Zuckererbsen im Teigmantel und Tütensuppen. Der Verkäufer bekommt nichts mit. Gott sei Dank, denn ich mag diesen Laden und möchte weiterhin dort einkaufen. Ich bezahle eine Limonade mit Litschigeschmack in der Dose, passend. Der Verkäufer braucht Kleingeld und ist zufrieden, schön. Danach gehe ich zu Humana, weil alles billig wie geschenkt ist und was nicht billig wie geschenkt ist, schenke ich mir einfach. Bei Humana gibt es fast nur Ramsch, und wenn ich Ramsch suche, erleichtert das die Suche. Es ist egal, wie viel der Ramsch kostet, den ich klaue, egal. Es erleichtert nur die Suche, wenn ich dahin gehe, wo das liegt, was kaum wer will. Ich will so was. Ich will Peter. Im Gewühl der Ärmsten, die mit den ganzen Armen in Kisten mit ausgekochter Unterwäsche stöbern, fällt es nicht auf, wenn ich etwas mitgehen lasse. Ich stopfe mir was unter die Jacke und laufe wie schwanger. Ich war immer gerne schwanger. Katrin war noch nie schwanger. Ich habe gegen sie gewonnen. Erste!
Glitzerwesten mit Rhomben und alten Taschentüchern in der Innentasche. Braun-gelb gestreifte Westover mit Grätenstrick und drei Erdbeerknöpfen am Kragen. Riesengroße Anzughosen, von denen ich weiß, warum sie hier sind. Der ehemalige Besitzer ist an Fettleibigkeit gestorben. Herzstillstand beim Pornokucken. Und die Erben haben den Inhalt des Kleiderschrankes in die Altkleidertonne gestopft. Nicht mal die Zigeunerkinder, die in den Container krabbeln, wollten diese riesige Hose haben, zu groß. Ihr Vater passt nicht in diese Hose, zu groß. Ihr Vater ist sehnig, sehr arm und ohne Zähne, aber er kann mit Limetten jonglieren.
Ich klaue eine braune Samthose, deren Reißverschluss aufsperrt und Strickjacken mit Ledertaschen. Dann stopfe ich noch eine grüne zerrupfte Federboa in die Seitentasche des Rucksacks und gehe wieder nach Hause. Ich gehe schwanger. Alle sehen mich neidisch an, die Frauen wollen auch schwanger sein, die Männer hätten mich gerne geschwängert.
Ich esse die Zuckererbsen, im Laufen, im Teigmantel. Mir kommt ein Mann mit einem sehr bunten Schal entgegen und einer anders bunten Hose. Er trägt in der Herzgegend einen Che-Guevara-Sticker. Als er mich sieht, fängt er an zu lachen. Ich weiß nicht, was es für ihn zu lachen gibt, und lache zurück. Da hört er auf zu lachen. Dann komme ich an einem Kinderspielplatz vorbei, auf dem die Kinder nicht frieren, aber die Eltern auf der Bank. In dem Moment fliegt ein Hubschrauber über die Gegend, und die Kinder schreien, als wäre Krieg. Mir ist kalt. Ich bin immer noch nicht ganz gesund, nicht wirklich, aber ich will nicht zurück in Franks Pflege, gar nicht. Vorne in meiner Straße ist ein Kopierladen Pleite gegangen. Ist nicht schlimm, egal. Die Scheiben sind von innen mit braunem Packpapier beklebt. Ich war vor einem Jahr einmal in dem Laden, als ich Suchzettel kopiert habe. Auf dem Foto hatte ich einen Bikini an. Ich habe mich gesucht. Es hat sich keiner gemeldet. Katrin würde also Pech haben, wenn sie mich auf diesem Wege einfangen wollte. Am Kopierladen steht außen mit weißer Farbe: «Wir wünschen uns einen Bäcker. Die Anwohner.» Ich schreibe doch auch nicht an die Hauswand: «Ich wünsche mir einen Peter. Eine Anwohnerin.» Die ganze Stadt wäre voller Wünsche an Häusern. Das geht nicht, nein, obwohl bald Weihnachten ist, trotzdem.
Zu Hause mache ich mich gleich an die Arbeit. Ich mache mir auf dem Boden Platz und das Radio an. Die Nähmaschine richte ich zur Musik. Ich frage mich nie, warum ich dieses oder jenes mache, nie, weil ich es immer weiß, immer, aber Gesine ruft an und fragt, was ich mache und warum. Sie findet, ich könnte auch ein andermal nähen, nicht wenn Mark Geburtstag hat. Dann ist Gesine genervt, weil ich mich nicht überreden lasse, zu Mark mitzukommen. Mark will was von mir, und ich hab schon drei plus einen ganz Tollen, nein danke. Mark ist nicht interessant, er ist ein Fuchtler. Er weiß nicht, wo seine Arme aufhören, wie groß seine Hände sind, ob er durch die Tür passt und wann der Stuhl umfällt, wenn er kippelt. Das brauche ich nicht, nein danke. Wenn ich lachen will, denk ich mir was Lustiges aus. Gesine will Ina anrufen, und ich bin nicht eifersüchtig deshalb, nie. «Viel Spaß!», wünsche ich Gesine.
«Dir auch!», sagt sie, als würde mir das mit Nähen nicht gelingen, gelingt aber. Ich denke an Peter. Peter mit irgendeinem Nachnamen irgendwo in der Stadt. Ich müsste Holz hacken, damit ich mich von ihm ablenken kann. Dicke, harzverklebte Bohlen, mit nacktem Oberkörper. Ich habe Sehnsucht überall. Die ganze Frau voll, egal wo sie ist und was sie macht.
Ich nähe Adidaslogos auf die Westover und werde sie als Kult verkaufen. Auf die Trainingsjacke schreibe ich: «Osten!» – Kult. Auf die braune Samthose male ich mit groben Pinselstrichen Karos und halte den Reißverschluss mit Sicherheitsnadeln zu. Dann schreibe ich «Punksau» auf den Hintern – Kult. Die riesige Anzughose bekommt eine Kette aus dem Baumarkt und eine Tasche fürs Handy. Ich schreibe «Rapublikaner» drauf – Kult. Dieses Wochenende mache ich mal wieder Markt auf dem Boxhagener Platz.
Schon ist Abend. Wieder ein Tag weg. Ohne Peter, schade, aber ohne Katrin, schön. Ich gieße meine Pflanzen, steige auf die eine Leiter in der Stube, dann auf die neue Leiter im Flur. Die habe ich in einem Keller gefunden. Dann lese ich ein altes Tagebuch von mir. Meine Rechtschreibung war mit zehn Jahren ganz niedlich, obwohl ich zu der Zeit viel gelesen habe. Immer dieselben drei Bücher: Pipi Langstrumpf, Pipi Langstrumpf, Pipi Langstrumpf. Aber zwischen den Wörtern Käfer und Gewehr bestand für mich kein Unterschied. Und wozu ein H da ist und wo es hinkommt, wusste ich auch nicht. Einige Sätze muss ich lange entschlüsseln, aber ich komme immer zum selben Ergebnis: Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich will das Peter erzählen, alles. Peter, ich habe Käfer wie Gewehr geschrieben, ganz gleich. Ich will dir erzählen, wie meine ersten Lieben waren, schön. Warum sie aufgehört oder immer noch nicht aufgehört haben und was ich gelernt habe. Ein Mann hat mir beigebracht, wie ich einen Teebeutel mit dem Löffel auswringen kann, ich wickel den Teebeutel um den Löffel und dann ziehe ich an der Schnur. Das ist praktisch. Das mache ich heute noch so. Ein Mann hat mir beigebracht, mit der Taucherbrille Zwiebeln zu schälen. Damit ich nicht weinen muss. Dann ist er gestorben. Ich habe geweint.
Ich führe endlose Gespräche mit Peter. Meine Sätze sind schön. Seine Sätze sind kurz. Er erzählt von seiner traurigen Kindheit, ich von meiner schönen. Mein Vater mit dem Springseil, Bratkartoffeln und Kartoffelpuffer. Bis meine Eltern gestorben sind, hatte ich eine wundervolle Kindheit. Das Heim habe ich gehasst, Peter.