sieben
Nu ist auch noch Sylvia da. Die Badewanne ist mein bester Freund, besser als Anton, der nie zuhört, weil er selber reden will, und dann fragt er mich was und weil ich nicht gleich antworte, fragt er nie wieder was. Die Badewanne fragt gar nichts. Sie ist warmherzig, großherzig und treu. Die Badewanne im Hotel ist sehr großherzig. Sie ist für zwei Personen, aber es gibt in meiner Familie keine zwei Personen, die zur selben Zeit in einer Badewanne sein wollen. Ich und Sebastian, so viel Schaum können wir gar nicht schlagen, dass wir es aushalten würden, uns nackt so nah zu sein.
Ich und Linda, das kann ich ihr nicht antun in einer Zeit der Kindesmissbrauchsneurosen. Und soll ich ihr dann sagen, dass sie schön aussieht nackt, oder lieber nicht? Bei dem Gedanken gammelt mir das Herz in Sekunden zu einer überlagerten Birne. Darüber will ich nicht nachdenken. Hat sie schon Schamhaare? Hatte ich mit dreizehn Jahren schon Schamhaare?
Ich und Sylvia, wir könnten uns auf keine Wassertemperatur einigen, kalt oder eiskalt? Und unsere Brustwarzen werden davon hart. Herr Ober, mehr Schaum!
Sebastian und Linda, das war einmal, früher mal, davon gibt es süße Fotos. Linda wie ein Kind, mit dem man alles verkaufen kann: Zucker, Shampoo, Tütensuppen. Und Sebastian mit Pusteln um den Mund, weil er an allem herumlutschen musste, wie ein Freudanhänger. Alles in den Mund. Er hatte überall Ekzeme und Kratzer, so ein selbstzerstörerischer Springinsfeld, voller Fragen. Nicht warum, sondern warum nicht? Warum soll ich nicht auf dem Tisch herumturnen, warum soll ich nicht in diesen Tümpel springen? Warum darf ich nicht aus dem Mülleimer essen?
Und Sylvia und die Kinder? Sylvia findet sich seit Jahren zu dünn, solange ich sie kenne, findet sie sich schon zu dünn, weil ihre Beckenknochen wie eine Friedhofsmauer hoch stehen, wenn sie auf dem Rücken liegt, und weil sie nirgendwo rein kneifen kann, um zu sagen: «Hier, alles Fett!» Sie fühlt sich anders als die anderen Frauen, geradezu ausgeschlossen, weil sie keine Diät braucht. Sie versucht immerzu zuzunehmen und zählt deshalb auch Kalorien. Hereinspaziert in meine Familie, nur hier, die Frau, die sich zu dünn findet! Linda fängt auch schon so an, mit diesem zu-Tick, zu klein, zu schüchtern und vor allem zu jung. All das zählt sie mir auf, während wir frühstücken, Schinken, Rühreier und Selbstzweifel. Guten Appetit.
«Alt wirst du von alleine», sage ich zu ihr.
Sie zieht ein Gesicht.
«Wie alt willst du denn sein?», frage ich.
«Mindestens fünfzehn», sagt sie. Ich weiß nicht, was sie sich davon verspricht, verdammte fünfzehn zu sein. Mit fünfzehn ist man noch gar nichts. Man hat noch keine eigene Wohnung, keinen Führerschein, keinen guten Sex, kein eigenes Auto. Man hat eigene Geschlechtsorgane, die was wollen, was man noch gar nicht bekommt, und die verflucht drängeln und Nadine Bäuerle schaut einen nicht mit dem Arsch an. Ich musste von dreizehn bis sechzehn immer nach Mathe die Toilette aufsuchen. Nadine Bäuerle hatte den schönsten Hinterkopf, den ich je gesehen habe. Ich streichel Linda über den Kopf. Linda hält still. Ich zerstöre ihre Frisur. Sie hat seit Wochen einen gezackten Scheitel. Das muss irgendwo als Jungsmagnet angepriesen worden sein. Das macht die Boys wild. Wie kann man solche Ratschläge geben und angehenden Männchen so etwas antun? Ich lege ihre Haare wieder richtig, aber sie fährt noch einmal selber drüber, mit einer geübten Geste, mit ihren Fingern als Kammzinken. Sie lächelt, und wir stoßen mit den Brötchen an, wie mit Sektgläsern. Der Rest der Traumfamilie, die mit dem Beil geschieden wurde, liegt noch im Bett und träumt.
Sylvia ist morgens nicht zu gebrauchen, als Mensch nicht, als Mutter nicht, als Frau nicht, nur als Ex-Frau. Da ist es egal, wie sie aussieht und wie tranig sie dreinschaut.
Sebastian treibt Urlaubsliebe mit der Barfrau. Seit drei Tagen treibt er nichts anderes, weil Ficken schöner ist als Skifahren. Ich habe das Zimmer mit ihm getauscht, so bin ich. Helfe meinem Hormonsohn gerne, wo ich nur kann, nur beim Einführen würde ich nicht helfen. Das bekommt er alleine hin, bestätigen die dünnen Hotelwände. Gestern bin ich mit Linda Tischfußball spielen gegangen, als das Geruckel nebenan anfing. Sonst schreibt Linda in ihr Tagebuch: «Heute war ein schöner Tag. Habe heute mit Daddy, der übrigens der Beste ist, Sebastian beim Poppen zugehört, der übrigens wohl auch ganz gut ist.»
Sebastian hat jetzt das Einzelzimmer, und ich schlafe bei Linda. Ich freu mich darüber, dass sie sich freut. Sie schläft rechts und ich links. Frauen liegen immer an der Wand, und jeder gute Kavalier legt sich in die Nähe vom Fenster oder der Tür, damit der Dieb zuerst den Mann absticht und die Frau davon wach wird und noch die blutige Leiche auf dem Laken neben sich sehen und schreien kann, bevor sie selbst erschlagen wird.
Sylvia weiß davon nichts. Sebastian hat mich darum gebeten. So bin ich. Klaro. Null Problemo! Beschlaf die Kellnerin im Einzelzimmer und ich murkse deine Sandkastenfeinde ab, Hosenmatz, so dick ist dickes Blut. Ich habe den Zögling nur zurechtgeschissen, dass er leiser ficken soll. «Stopf ihr deine Hand in den Mund oder deinen Schwanz!», habe ich nicht gesagt. Ich habe es pädagogisch korrekt gemacht, aber kumpelhaft, genau richtig, glaube ich. Ich habe Linda vorgeschoben, deine Schwester, erst dreizehn, nebenan, zu laut. Dabei wollte ich es selber nicht hören. In Berlin ist eine junge Frau, die schreit genauso, wenn sie nicht kommt. Darauf könntest du Rücksicht nehmen, kleiner genetischer Rotz. Das geht so nicht, davon werde ich urlaubsreif, und dafür bin ich nicht in den Urlaub gefahren. «Linda, steck dir Tampons ins Ohr!», habe ich auch nicht gesagt, nur: «Komm, wir gehen kickern!» Hat Linda schon ihre Tage? Hatte ich mit dreizehn schon meine Tage? Glaub nicht.
Wir frühstücken zu zweit, und danach sind wir die letzten Tage schön spazieren gegangen. So wird es auch heute sein. Wenn wir dann zurückkommen mit roten Nasen, sind die anderen beiden auch wach und trinken Kaffee. Wir spielen kein Maumau mehr, seit Sylvia da ist. Sie ist nicht verspielt. Der Sex mit ihr war immer ernst gemeint. Ich will daran jetzt nicht denken. Da wir nicht mehr Maumau spielen, verliere ich nicht mehr jeden Abend. Und da ich mit Linda frühstücke, gewinne ich jeden Morgen. Ich gewinne an Einsicht, auch mal schön. Linda hat viel über Liebe gelesen und viel darüber nachgedacht. Weil sie gar keine Erfahrungen hat, hat sie Thesen. Ich habe es aufgegeben, klare Sätze zu denken, die mit «Liebe ist …» anfangen. Außer vielleicht: «Liebe ist ein blödes Wort, und es reimt sich nichts Schönes drauf.» Die Reimwörter sagen doch alles, aber Linda sagt: «Liebe ist das Wichtigste auf der Welt. Liebe darf kein Kompromiss sein. Sex ohne Liebe ist nicht schön.» Dann schließt sich ihr Kindermund.
Ich sage zu Linda: «Ich liebe Schnitzel mit Pommes», und weil sie lacht, sage ich noch: «Ohne Kompromisse!», damit sie noch mehr lacht. Tut sie auch. Dann schmatzt sie: «Ich möchte wissen, wie Sebastian sich das vorstellt?»
«Was?», frage ich.
«Na, mit seiner Freundin.»
Da sitzt sie, der Engel mit dem Zickzack-Scheitel, und sagt über die Fickfack-Beziehung ihres Bruders so einen Schnickschnack. Seine Freundin. Ja, sie werden heiraten und sich bis dahin jeden Tag E-Mails schreiben: Maria aus Italien und Sebastian aus Berlin. Klaro.
«Meinst du, sie ist seine Freundin?» Ich schiebe nach: «Nur weil sie sich näher kennen lernen?» Ich könnte mich darüber totlachen. Linda schaut mich an. Ihre Mimik ist so klar wie in einem dieser Fotoromane in ihren Jugendzeitschriften, die ich gerne auf dem Pott durchblätter, weil so etwas Buntes bei so etwas Einfarbigem wie Kacken einfach gut passt. Linda schaut verblüfft. Knips. Ihre Augenbrauen sind wie Halbkreise, ihr Mund sieht aus wie ein: «Häh?» Andere Stirnen wären jetzt in Falten, aber Linda hat noch keine Falten, nur in der Hose manchmal, weil Bügelfalten nicht mehr der beste Grund sind, jemand zu verprügeln, sondern sie sind auf einmal cool. Dann liefert Linda den Text, der in die Sprechblase neben ihrem verblüfften Gesicht gehört: «Er hat doch in Berlin eine Freundin.» Ihre Stimme ist hoch. Klar, das passt in ihre Definition von Liebe nicht rein. Liebe ist, wenn man keinen anderen begehrt.
Jetzt bin ich dran mit verblüfft schauen. Ich habe Falten auf der Stirn und ich blase die Oberlippe auf. Knips. Aber nur kurz, dann geht mir ein Kronleuchter auf. Pling. Darum soll Sylvia davon nichts wissen.
«Darum soll Mama davon nichts wissen?», frage ich. O Mann, der Tod jeder Ehe, in deren Gelöbnis der Tod ja schon drinsteckt, aber dann auch noch Mama und Papa zueinander sagen … Wenn Papa dann an Mamas Titten knetet, sagt er: «Geile Titten, Mama mia.» Suchen wir alle ein Abbild unserer Mutter oder unseres Vaters? Nein, ich lehne diese These ab. Abgelehnt. Da kommt der Sachbearbeiter wieder in mir durch. Abgelehnt. Antrag auf ein besseres Leben. Abgelehnt. Was soll denn das mit Geld zu tun haben? Seid von innen glücklich. Esst mehr Schokolade, die billige von Aldi, und fickt mehr. Ich will nicht an Tanja denken. Ich will an Linda denken und etwas über sie erfahren. Ich rede mit ihr und erfahre nur etwas über Sebastian.
«Sebastian hat also eine Freundin. Aha!», sage ich. «Wie lange denn schon?» Warum erfahre ich nur etwas über die Kinder, indem ich sie gegenseitig übereinander ausfrage?
«Sie heißt Nadine.» Linda zutscht Apfelsaft durch einen durchsichtigen Strohhalm. Ich kann sehen, wie der Saft wieder ins Glas zurückläuft, wenn sie aufhört zu trinken.
«Nadine ist älter», sagt Linda, und der Saft läuft durch den Strohhalm wieder ins Glas. «Sie ist die Tochter von einer Freundin von Mama.» Der Saft läuft wieder durch den Strohhalm zurück ins Glas.
Ich muss drei Sachen verarbeiten. Sebastians Freundin heißt Nadine. Ich habe damals meine Nadine nicht bekommen. Er hat seine Nadine bekommen. Dann erfahre ich noch, dass Sylvia eine Freundin hat. Wo hat sie die her? Kann man die irgendwo runterladen? Ich will auch so was. Und dann weiß Sylvia schon länger als ich von dieser Nadine. Nach außen sehe ich vielleicht aus wie ein Vulkanier, innerlich bin ich aber ein Klingone und möchte gerne jemand mit diesem besonderen Klingonen-Schwert zerteilen. Ich fege erst mal die Krümel vom Tisch. Ich habe keine klare Mimik mehr für einen Fotoroman.
«Linda?»
«Ja!», sagt sie. Kluges Kind.
«Linda, ich gebe dir jetzt schon dein Weihnachtsgeschenk.» Sie strahlt. Knips. Wie zur Einschulung. Knips. Die vielen Fotos, wie sie vor mir lief mit der Zuckertüte und ich habe sie ständig gerufen und sie hat sich rumgedreht. Knips. Wir sind Verschwörer: du, mein Mädchen und ich, dein Daddy. Wir teilen ein Bett, Geheimnisse, und jetzt bekommst du dein Geschenk vor allen anderen.
«Warum?», fragt Linda.
Weil ich nicht weiter mit dir reden will. Erzähl es deinem neuen Tagebuch. Es hat glitzernde Streifen und ist abschließbar, damit dein Bruder nicht drin rum liest. Es ist ein wirklich schönes Geschenk. Ich bin stolz auf mich. Bester Daddy des Jahres, echt ey.
«Ach, warum, warum?», sage ich. «In Amerika kommt der Weihnachtsmann morgens.» Linda ist zufrieden. Amerika ist gut. Dann fällt mir ein, dass das glitzernde Tagebuch im Einzelzimmer liegt, wo Sebastian auf Maria liegt. Ich verliere wie ein platzender Fahrradreifen schnell Luft. Pfffffffffff. Auf einmal bin ich nur noch eine leere Hose und ein Rollkragenpullover. Ich habe nicht mal Lust zu fluchen. Heilige Scheiße, nicht mal nach Fluchen ist mir. Verdammt. Ich sage: «Ich gehe es holen», und gehe allein spazieren. Eine Stunde lang.
Wieder keine weiße Weihnachten, nein. Der Mann im Radio sagt, dass es nun zehn Jahre her ist, dass es weiße Weihnachten gab, ja. Ich weiß, ich kann mich daran erinnern, ich weiß. In dem Jahr bekam mein Vater graue Haare, Mama wurde befördert, und meine Schwester Katrin wurde Vegetarierin und aß nur die Klöße und den Rotkohl, ohne Soße, pur. Es fing am Nachmittag an zu schneien, und ich machte mit Gesine Engel im Hof. Unsere Anoraks waren nass und der Stoff sirrte, wenn wir die Arme bewegten. Unsere Jeans waren gefroren, weil wir keinen Schlitten hatten und auf dem Hosenboden vom Todeshang geschlittert waren. Der Todeshang war in der Nähe des Jugendclubs, ein unbepflanzter Abhang, ohne Weg. Weil dort viele rodelten, wurde der Schnee ganz fest gepappt und dann zu Eis. Wir erzählten uns in der Schule, wer alles beim Rodeln auf dem Todeshang gestorben war: Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, außerdem Daniel Opolka, und das war sogar wahr, wirklich. Unsere Eltern ermahnten uns, nicht am Todeshang rodeln zu gehen. Wir sollten ein paar Meter weiter rodeln, sagten die Eltern, an einem sanften Anstieg, der Babyhügel hieß. Dort jauchzten Eltern und Kinder auf richtigen Schlitten. Wir gingen weiter zum Todeshang und rutschten auf Tüten und Hosenböden, ganz Verwegene rutschten im Stehen auf glatten Schuhsohlen, so wie Daniel Opolka, der mit den Händen in der Tasche den Todeshang hinabgesaust war. Seine Jeans war zu eng. Er bekam die Fäuste nicht aus den Taschen. Gesine und ich hatten noch eine Stunde Zeit, ehe wir nach oben mussten. Nachdem wir acht oder zehn Engel in den Hof, in den Schnee, gemacht hatten, hingen wir in meinem Hausflur herum, weil uns kalt war, saukalt. Die Jeans taute langsam, und wir hinterließen Pfützen, da wo wir saßen, wie hingepullert, lustig. Unsere Hintern waren tief gefroren, wir rutschten die Treppenstufen runter. Das holperte, aber tat nicht weh, weil wir nichts fühlten, lustig. Natürlich hatte ich am nächsten Tag dann Schmerzen beim Hinsetzen und am übernächsten Tag blaue Flecken. Gesine war ganz verrückt danach, die Treppe runterzurodeln. Heute denke ich, dass Gesine sich da das erste Mal befriedigt hat. Sie wollte immer wieder und gar nicht aufhören, nochmal, nochmal. Ich ahne, dass sie es etwas härter mag, nur etwas. Sie deutet das manchmal an. Sie sagt, sie sei ein böses Mädchen und macht dabei eine Geste, die nach Holzauge-sei-wachsam aussieht. Sie öffnet den Mund halb und zieht mit dem Zeigefinger der rechten Hand den Tränensack ihres rechten Auges dreimal nach unten. Ich kann das nicht ab, überhaupt nicht. Gesine macht das seit mindestens einem Jahr, seit sie mit Tim zusammen ist. Tim hat keinen guten Einfluss auf sie, nicht wirklich. Sie sind einander ihr Anhängsel, und wenn sie eingeladen werden, dann als: «Gesine und Tim», wenn man mit Gesine befreundet ist oder als: «Tim und Gesine», wenn man mit Tim befreundet ist. Holger sagt immer «Tim und Gesine». Das klingt wie «er und der Rest». Ich sage dann «Gesine und Tim», weil Tim der Rest ist. Tim ist uninteressant. Das ist gut für meine und Gesines Freundschaft, gut. Ich finde es nicht leicht, wenn Freundinnen tolle Männer haben, schwer. Tim gibt bestimmt Gesines Wünschen im Bett nach, anstatt mit ihr über ihren gewalttätigen Vater zu sprechen. Was ich über Gesine wirklich weiß ist, dass sie sich sehr verändert hat, seit damals, wie ausgewechselt. Im Radio kommt «War is over, if you want it», von John Lennon. Der ist auch am Todeshügel gestorben, wurde beim Rodeln erschossen. Mein Nachbar hört wieder Abba und dann Johnny Cash. Ich kann mich an die letzten weißen Weihnachten sehr gut erinnern, es waren die letzten mit meinen Eltern, ja.
Ich rufe bei Peter an. Ich weiß, dass er nicht da ist, trotzdem, ich habe seine Nummer herausbekommen, endlich. Er sagt, dass er nicht da ist, aber wiederkommt. Ich lege auf. Ja, mach das Peter, komm wieder. Ich freue mich auf ihn. Ich muss ihn fragen, ob er als Kind auch immer den Wunschzettel gemalt hat, als er noch nicht schreiben konnte. Warum Jungs immer ein rotes Feuerwehrauto haben wollen? Weil es laut ist oder weil es rot ist? Wann er angefangen hat zu onanieren? Wie er dazu sagt? Ich freue mich auf ihn.
Auf heute Abend freue ich mich nicht, nein. Inas Eltern kucken mich immer traurig an, wie eins von dreißig Chinchillas im Tierheim, das Chinchilla mit dem zerfransten Schwanz, das nie einer haben will. Weil ich es schwer habe, habe ich gar nicht. Weil ich keine Eltern habe, habe ich. Inas Eltern werden mir Geld schenken, viel. Ich lege mir mein schönes blaues Kleid raus, die Strumpfhose und eine silberne Kette. Bevor ich das anziehe, muss ich mich waschen. Das war Weihnachten bei uns üblich. Ich war mit Katrin in der Badewanne. Katrin hat ganz früh Brüste bekommen. Und ich konnte nichts machen, damit meine schneller wachsen oder damit anfangen. Alles andere konnte ich nachmachen, alles, dafür brauchte ich keine Brüste. Ina hat keine Schwester, die hat es gut.
Ich dusche, und der Nachbar hört jetzt Elvis. Manche Lieder zweimal. Ich stelle mir vor, wie er den Baum schmückt oder hässlicher macht, indem er Kugeln in allen Farben dranhängt. Ich rasiere mir die Beine, weil sich frisch rasierte Beine in Feinstrumpfhose toll anfühlen, glatt. Dann trockne ich mich ab, friere und lege mich deshalb ins Bett. Mein erstes Weihnachten ohne Peter. Davor waren alle ohne ihn, aber das wusste ich nicht. Ich presse meinen Kitzler zwischen Daumen und Zeigefinger, drücke, bis es sehr schön ist. Dazu Elvis auf Deutsch. Ich suche mein Mikrophon raus und nehme mich dabei auf, wie ich komme. Ich bin mir nicht sicher, ob ich extra laut stöhne und mir selber etwas vorspiele, um mich anzumachen. Dann höre ich mir die Aufnahme mit meinem Stöhnen an, über Kopfhörer. Elvis kann ich auch hören, lustig. Ich mache es mir nochmal. Ich halte mit der linken Hand das Mikrophon. Ich denke daran, wie Peter aussah, als er über mir war. Ich kann es wie ein Foto betrachten. Er schließt nie die Augen. Er starrt und erinnert mich daran, wie Kinder aussehen, wenn sie etwas malen, ganz bei der Sache. Ich komme ganz weich, wie Schnee. Ich will mir die Aufnahme anhören, aber ich habe vergessen, das Mikrophon wieder anzumachen. Ich ärger mich, als hätte ich es mir umsonst gemacht. Ich habe es mir jahrelang umsonst gemacht. Keiner hat mich stöhnen hören. Ich finde mich doof, kann es aber nicht ändern, dass ich mich ärger, trotzdem. Dann schlafe ich ein, bis Ina mich anruft und fragt, wo ich bleibe.
«Na, nicht hier!», sage ich und verspreche, mich zu beeilen. Ich ziehe das Kleid an, die Strumpfhose, lege die Kette um und suche meinen Mantel. Er ist in der Truhe. Im Spiegel sehe ich aus wie ein behütetes Kind, ein süßes Mädchen, das ein Lied singt, um ein Geschenk zu bekommen. Ich packe den Kalender für Ina und Schokoladenweihnachtsmänner in eine Tüte und gehe los. Es ist schon dunkel und auf den Straßen ist kaum wer, still. Alles nur, weil Peter nicht in der Stadt ist, weg. Ich will ihn fragen, wie es ihm geht? Ob ihm seine Kinder auf den Wecker fallen? Ob er einen Reisewecker hat? Ich will seine Kinder nicht kennen lernen, aber sie werden wohl zur Hochzeit kommen. Ob er gerne Basilikum riecht?
In der Bahn sitzen wenige Menschen, die meisten werden schon bei ihren Familien sein, oder allein zu Haus. Ich bilde es mir sicher ein, aber die wenigen Menschen, die unterwegs sind, sind Moslems. Zumindest macht das Sinn, ja. Mir hat eine Türkin mal erzählt, dass in ihrer Familie auch Weihnachten gefeiert wird, einfach weil es Geschenke gibt. In meiner Kindheit wurde Weihnachten auch nur gefeiert, weil man sich etwas basteln konnte, nicht um zu feiern, dass der Herrgott oder was weiß ich, ich weiß das gar nicht. Keiner hat mir das richtig erklärt und jetzt kann ich nicht mehr fragen, weil ich das wissen müsste.
Ich habe nichts zu lesen mitgenommen, weil ich einen Tagtraum an der Stelle weiterträumen will, an der ich gestern von Frank unterbrochen wurde, der mit mir essen gehen wollte. Da sag ich nicht nein, nein. Aber ich konnte nicht weiter daran denken, wie Peter und ich an die Ostsee fahren, in einem Bett schlafen, mit kratzigem Bettbezug und miteinander. Im Zimmer ist ein weißer Schrank, zwei Stühle und ein Tisch, auf dem ein Tablett steht und darauf zwei Gläser, verkehrt herum. Weil es draußen windig ist, gibt mir Peter seine Mütze und sein schwarzes Haar wird vom Wind hin und her verändert. Er kneift die Augen zusammen. Ich kann jede Mimik von ihm im Kopf erzeugen, auch die, die ich noch nicht gesehen habe. Wie er verliebt lächelt, schön. Dann sieht er aus wie ich, schön. Ich sehe mich in der Scheibe der U-Bahn. Nächstes Weihnachten fährst du nicht weg, Mann. Ich will Heiligabend mit dir fernsehen und du hast einen Wollpullover an.
Vom Bahnhof aus ist es nicht weit zu Inas Eltern. In der Wohnung ist es warm und es riecht dick. Inas Eltern sind dick, darum. Es riecht nach Kartoffelsalat. Bei uns gab es immer Nudelsalat. Der jüngere Bruder von Ina kommt auf mich zugeschossen und freut sich, drückt sich an meinen Bauch. Ich habe kein Geschenk für ihn, aber er hat eins für mich. Er gibt es mir, kaum habe ich die Schuhe ausgezogen. «Oh, danke, Enrico!», sage ich, und er wringt seinen Körper verlegen wie ein Mädchen. Damit ist die Bescherung eröffnet und jeder geht in ein Zimmer und taucht mit einem Arm voll bunt eingewickelter Pakete wieder auf. Ina holt ihre Geschenke aus der Tasche im Flur, ich auch. Ina strahlt mich an, ich sie auch. Alle packen gemeinsam aus und plappern darüber, wie sie darauf gekommen sind, wie schwer das zu finden war. Zu dem Kalender muss ich nichts sagen. Der ist für nächstes Jahr. Der war nicht schwer zu finden, und ich bin darauf gekommen, weil ich auf nichts anderes gekommen bin. Ina sagt, dass sie sowieso genug Hosen hat und es okay ist, dass ich ihr keine genäht habe. Für die Eltern habe ich noch eine Flasche Rum. Enrico streichelt meinem Schokoladenweihnachtsmann übers Gesicht und küsst ihn. Ina bekommt von ihren Eltern zwei Bücher, die sie für die Uni braucht, eine Nudelmaschine, die sie haben wollte, und ein Nachthemd. Alles von der Wunschliste. Alle strahlen, Sterne. Ich strahle auch, Stern. 100 Euro und wie jedes Jahr eine Entschuldigung von Inas Mutter. «Wir wissen doch nicht, was du dir wünschst …» Sie möchten mir Eltern schenken, aber die wünsche ich mir gar nicht, nein, nie wieder.
Ich umarme die Mutter von Ina, und sie drückt mich tief in ihre Brust.
Der Vater sagt: «Tanja, Tanja.»
Ich sage: «Herr Gehrmann, Herr Gehrmann.»
Wir lachen.
Inas Geschenk für mich ist recht groß. Ich bin gespannt, wirklich. Es sind Gummihandschuhe, ein bunter Staubwedel und einige Flaschen Putzmittel. Ina lacht und zeigt auf einen Umschlag, der von innen an das rote Verpackungspapier geklebt ist. Ich habe einen Putzjob. Ina behauptet, ich hätte mal behauptet, ich suche einen Putzjob. Kann sein, wahrscheinlich. Ich drücke Ina, und sie erklärt mir, dass das Freunde von ihren Eltern sind.
Am meisten freue ich mich über das Geschenk von Enrico. Es ist ein Eierschneider, mit dem ich Musik machen kann. Dann schauen wir Fernsehen und essen alles quer durcheinander und trinken alles quer durcheinander. Wenn ich nicht bei Peter sein kann, kann ich auch hier sein.