2

 

Kurt Stoltefuss, Knappschaftsältester und Vertrauensobmann von Bergborn, stiert über den Rand seiner schwarzrandigen Lesebrille, wobei stieren genau das richtige Wort ist, denn seine Augen sind klein wie Stecknadelköpfe, schwarz und hart wie Eisen und stehen im bissigen Kontrast zu seinem freundlichen Lächeln. Er ist ein stämmiger Mann mit einer runden Wampe.

Beim Stoltefuss weiß man nie, woran man ist, denkt Lotte Wille und unversehens tastet ihre Hand rüber zu Frank, der neben ihr auf einem wurmstichig quietschenden Stuhl sitzt.

»Die Zeiten ändern sich, woll?«, brummelt Stoltefuss und stützt sich gewichtig auf den Schreibtisch. »Die Siedlung Helene wird demnächst ein Vorzeigemodell für bürgernahes Leben sein, die Häuskes werden saniert, die Straßen werden mit schönen Steinen gepflastert. Wir in Bergborn werden beweisen, dass man auch in einer Bergarbeiterstadt Kultur und Ästhetik bieten kann und vor allen Dingen ...« Er schlägt einen Aktenordner auf. »Lebensqualität. Ich sach euch was: Die Politiker werden sich die Finger danach lecken, durch die Straßen zu flanieren, besonders der Krösemann von der SPD wird bei der nächsten Landtagswahl das Projekt Helene zum Wahlkampfthema machen. Na ja, soll er ruhig. Immerhin hat er sich’s dann verdient, woll?«

»Hat er«, bekräftigt Frank.

»Die Häuskes werden nicht ganz billig sein. Die Kalkulation liegt bei circa sechzigttausend Mark. Dafür bieten wir eine Entkernung der alten Kästen, eine Totalrenovierung und einen großen Garten. Da vormals in jedem Haus zwei Familien lebten und nun Einfamilienhäuser daraus werden, bleiben genug Quadratmeter, um sich zu fühlen wie Gott in Frankreich oder wie der Steiger in der Goldmine.« Er lacht gackernd und sein Doppelkinn schwabbelt. »Wir belassen die Keller im Urzustand, für eine Heizungsanlage, falls die gewünscht wird, müssen die Käufer selbst sorgen. Auf jeden Fall achten wir darauf und legen Gasleitungen, man weiß ja nie. Die Fundamente sollten vom Käufer isoliert werden, auch der Putz und die Bemalung wird nicht von uns übernommen. Innen hui, außen pfui. Aber daran kann man ja was ändern. Wir sind nur an Käufern interessiert, die alle weiterführenden Renovierungen in Eigenregie übernehmen, damit nach spätestens zwei Jahren auch alles von außen blitzt und blinkt, wofür ihr noch mal zehn bis fünfzehntausend Mark rechnen solltet.«

Lotte macht ein erschrockenes Gesicht. Sechzigtausend Mark, davon wusste sie. Von weiteren fünfzehntausend war nicht die Rede gewesen.

»Dann müsst ihr noch ein paar Tausender für den Notar, die Eintragung ins Grundbuch sowie Schnickschnack rechnen, den man benötigt, weil’s sonst nicht gemütlich ist.« Stoltefuss streicht mit den Fingerspitzen über die Tabelle, die er verliest. »Alles in allem bist du mit achtzigtausend Mark dabei, lieber Wille.«

Achtzigtausend! Lotte stockt der Atem. Der Traum vom eigenen Haus zerplatzt wie eine Seifenblase.

»Kann man das nicht billiger machen?«, hat Frank keine Hemmungen, ihr Limit zu zeigen.

»Du bist mir einer, Wille! Wie man hört, bist du vor sechs Monaten Steiger geworden, nachdem die Sache mit dem Schotter passiert ist. Da müsste es doch in deiner Kasse klingeln, dass man taub davon wird. Wenn du mich fragst: Ich wundere mich sowieso, warum ihr beide nicht ein schönes nagelneues Häusken von irgendeinem Fertighersteller kauft und stattdessen einen alten aufpolierten Kasten haben wollt.«

»Weil tausend Quadratmeter Garten dabei sind und das Grundstück quasi nichts kostet«, erklärt Frank.

»und weil du dir ausrechnest, nach zehn Jahren, wenn’s dir die Gemeinde erlaubt, davon fünfhundert Quadratmeter an einen Häuslebauer zu verkaufen und deinen Schnitt zu machen, woll?«

Frank schweigt und zuckt mit den Achseln.

»Nee, Wille. Billiger geht nicht. Mit dem Preis sind wir sowieso schon Oberkante Unterlippe, wenn du verstehst.«

Frank steht auf und Lotte hört seine Knochen knacken. Er rostet ein, seitdem er nur noch Anweisungen gibt, denkt sie. Stoltefuss hat recht. Seitdem Frank Steiger ist, verdient er viel mehr als vorher, dafür bleibt sie jetzt zu Hause und kümmert sich um Thomas und den Haushalt. Oma Käthe ist wieder zurück nach Berlin, wohin sie gehört! Alles in allem haben sie dreihundert Mark mehr als früher. Das hilft, bringt aber auch nicht den ganz großen Reichtum.

»Was kannst du für uns tun, Stoltefuss?«, fragt Frank und guckt sich gelangweilt die Wandfotos von den Zechenanlagen und die Luftaufnahme von Bergborn an. »Oder besser ...« Er versenkt seine Hände in die Hosentaschen und wendet sich zum Knappschaftsältesten. »… was kann ich für dich tun?«

»Wie viel kannst du für das Haus bezahlen, Wille?«

»Sechzigtausend!«

»Inklusive Notar und so weiter?«

»Sechzigtausend! Keinen Pfennig mehr ...«

»Mann, Wille ...« Stoltefuss verdreht seine Äuglein und streckt sich im Schreibtischsessel, der unter ihm knarzt. »Dir fehlen zwanzigtausend. Die Warteliste ist lang. Von zehn Kumpels in Bergborn wollen zwei eines der Häuskes kaufen.«

»Wie viele von denen kennst du persönlich?«

»Das ist egal, versteh doch. Ich habe den Auftrag, euch Kumpels das Angebot zu erklären. Das isses.«

»Du sprichst die Empfehlungen aus. Du wirst derjenige sein, den man für sein glückliches Händchen lobt, dafür, dass nur solvente Bürger, anständige Bergborner, in der Siedlung wohnen, Hausbesitzer, die ihre Vorgärten sauber halten und die Wege fegen, wenn’s geblättert hat. Wie man hört, bist du ziemlich dicke mit Krösemann, und wenn der im nächsten Jahr nach Bonn geht, wird ein wichtiger Platz im Ortsverein frei.«

Stoltefuss grinst. »Du hast deine Hausaufgaben gemacht.«

»Eckard Löhr sagte mir vor ein paar Wochen, bei den Jusos gäb’s ein Finanzloch. Ein paar eurer Aktionen waren Misserfolge. Außerdem guckt man schräg zu euch hin, weil man euch mit diesen aufmüpfigen Studenten in einen Topf wirft. Der Nachwuchs hat ein Imageproblem und ist pleite, stimmt’s? Das ist schade, wirklich schade.«

Worauf will Frank hinaus?, fragt sich Lotte, die der Verhandlung mit großen Ohren folgt. Seit wann hat Frank Kontakte zu Eckhard Löhr, dem Sparkassenvorstand, einem, von dem man sagt, er sei ein schmieriger Aufsteiger, der unbedingt nach Bonn will?!

»Was willst du damit sagen? Was ist schade?«, will Stoltefuss wissen.

»Lotte und ich haben schon vor ein paar Wochen darüber nachgedacht, ob wir dem Ortsverein eine kleine Spende zukommen lassen sollen. Schließlich wissen wir, was wir dir und der SPD zu verdanken haben. Ohne euch wäre Kruse/Konstanzia möglicherweise schon geschlossen worden, wie so viele andere Zechen. Stattdessen legt ihr richtig los und macht aus Siedlung Helene ein Sanierungsprojekt, über das man sogar in Bonn sprechen wird. Stell dir vor, Stoltefuss: der Kanzler besichtigt Bergborn, schreitet mit Presse und Gefolge durch die Straßen von Helene, die Kapelle spielt dazu Glück auf, der Steiger kommt

Stoltefuss grunzt und verkreuzt die Arme über der Wampe. Franks Vortrag macht ihm offensichtlich Spaß.

»Wir dachten an zwei, vielleicht dreitausend Mark. Lotte meinte sogar, viertausend wären angemessen. Wir sollten die Zahlung auf jeden Fall über dich laufen lassen, meinte sie. Dann können wir sicher sein, dass das Geld auch gut genutzt wird, nicht wahr?«

Lotte fährt auf. »Ja, ja ...«, stottert sie.

»Siehst du, Stoltefuss«, lächelt Frank. »Aber das geht jetzt nicht mehr, schade. Nun brauchen wir jeden Pfennig für das Haus.« Er macht eine resignierende Handbewegung und setzt sich wieder.

Stoltefuss mustert Lotte und Frank und sagt kein Wort. Seine stählernen Augenspitzen glitzern derart, dass man meint, sie würden jeden Moment die Brillengläser zum Bersten bringen. »Und das ist kein Aprilscherz, Wille?«

»Der erste April 1968 war vor drei Tagen.«

»Und ihr meint das ernst?« Stoltefuss sieht Lotte ungläubig an.

»J – ja«, bestätigt sie. »Sie haben es ja gehört.«

»Ich weiß, ich weiß.« Stoltefuss winkt ungeduldig ab. »Und nun geht das nicht mehr, weil das Häusken zu teuer ist.« Er tut, als wenn er überlegt, kratzt sich den stoppeligen Hals, beugt sich vor, schlägt den Aktenordner zu und nippt aus seinem Wasserglas. »Eigentlich können wir mit euren viertausend Mark nicht viel anfangen, tut mir leid!«

Für einen Moment scheint die Luft in diesem schäbigen Büro dicker zu werden, die Tapeten noch einen Deut grauer, Tisch und Stühle noch etwas minderwertiger, die Regale noch staubiger.

Stoltefuss reckt sich, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und zwei Achselflecken verbreiten ein herbes Aroma. »Fünftausend!«

Frank beugt sich vor und legt seine Handflächen auf die Tischplatte. »Und das Haus wird nicht teurer als ...«

»Fünfundsechzigtausend. Das wird schwierig, sehr schwierig, unmöglich fast. Ich muss an ein paar Drähten ziehen. Irgendwo müssen wir was einsparen, aber bei diesem Projekt geht es um Millionen. Und wir wollen gute Bürger in dieser Siedlung haben, Leute wie euch, auf die man stolz sein kann. Bürger von Bergborn, die es zu etwas gebracht haben.« Er hustet, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten und man hört den Bergmann, der fünfzehn Jahre unter Tage war. »Tja, ja, das wird nicht einfach, woll? Das wird gewiss nicht einfach, aber ...« Er wuchtet sich hoch und streckt Frank die Hand hin. »Aber was soll’s? Wer dem Berg trotzt, den kann so schnell nichts niederschmettern, woll? Ich versprech euch nix! Ein bisschen müsst ihr euch schon noch gedulden. Einen oder zwei Tage brauche ich, um den Stempel zu setzen.«

»Wie groß ist die Chance, dass Sie das hinbekommen?«, hört sich Lotte mit piepsiger Stimme fragen.

»Halbe-halbe, aber nur, wenn du Rechtsausleger bist, wie der alte Maxe sagen würde, woll?«, grummelt Stoltefuss und grinst mit fetten Lippen.

»Woll«, erwidert Frank und reicht Stoltefuss die Hand, auch Lotte erhebt sich. Die Finger des Knappschaftsältesten sind fleischig und heiß und Lotte ekelt sich.

Draußen holt sie tief Luft.

Frühlingsluft.

Fünfundsechzigtausend zuzüglich der Spende an Stoltefuss sind siebzigtausend Mark. Immer noch zehntausend zu viel.

»Kannst du dich noch an die Police erinnern, die wir bei Otto abgeschlossen haben?«, fragt Frank und Lotte hakt sich bei ihm unter. Es weht ein leichter Wind, es herrscht eine heitere Stimmung, die einen Neubeginn verheißt.

»Die brauchen wir sowieso, wenigstens die zwanzigtausend, die wir eingezahlt haben«, erklärt Lotte.

»Wir benötigen die Police als Sicherheit für die Bank. Wie mir die Sachbearbeiterin erklärte, könnte eine Hundertprozent-Finanzierung vereinbart werden. Somit benötigen wir keinen Pfennig Eigenkapital. Ich werde dafür sorgen, dass der Gesamtwert des Hauses von Stoltefuss mit achtzigtausend Mark angegeben wird. Dieses Geld erhalten wir von der Bank. Wir bezahlen fünfundsechzig, geben Stoltefuss weitere fünf und haben noch zehntausend für Möbel und einen kleinen Gebrauchtwagen übrig.«

»Und du bist sicher, dass das so funktioniert?«

»Na klar! Ottos Anlagegesellschaft muss uns lediglich den Wert der Police bestätigen. Damit steht und fällt der Kauf. Wie gesagt, auch wenn die Police nicht ausgezahlt werden muss – auf dem Papier ist sie Bares wert. Wir sollten gleich die Berliner Rück anrufen und um Information bitten, wie es um unsere Police steht.«

»Otto könnte sich darum kümmern.«

»Lass’ uns das ganz offiziell machen. Wir sollten Otto damit nicht belästigen. Außerdem würde er fragen, wofür wir das Geld, beziehungsweise die Policenbestätigung, benötigen. Ich finde, die Familie sollte noch nichts von unseren Plänen erfahren.«

»Ich weiß nicht«, zögert Lotte und bleibt stehen. »Das klingt alles verlockend, klingt alles viel zu gut. Bist du sicher, dass da nichts schief gehen kann?«

»Was soll schief gehen?«

»Zum Beispiel, dass Stoltefuss die Genehmigung nicht kriegt und wir letztendlich doch noch in die Röhre schauen.«

»Was du immer so meinst.«

»Also Frank ... ich freue mich erst dann, wenn ich’s schwarz auf weiß habe.«

»Ja, ja, denn das kannst du getrost nach Hause tragen, nicht wahr?«

»Ich mein’s ernst, Frank. Ich habe keine Lust, mich zu freuen, wenn alles noch in der Schwebe ist. Ich habe bei der Sache ein unangenehmes Gefühl. Als wenn noch was Schlimmes passiert.«

Frank beugt sich zu ihr herunter und drückt ihr einen dicken Kuss auf die Lippen. »Nun unke nicht. Was soll schon passieren?«

»Wir müssen unsere Wohnung kündigen. Das geht nicht von heute auf morgen. Wir haben Fristen einzuhalten.«

»Kein Problem.«

»Und wenn was dazwischen kommt, falls wir das Haus aus irgendeinem Grund nicht kaufen können, dort nicht einziehen können, stehen wir ohne Bleibe da. Dann sind wir obdachlos und müssten bei Otto und Gina in Berlin unterschlüpfen, bis wir was Neues gefunden haben.«

»Es lebe der Pessimismus. Ist dir eigentlich klar, dass ich in der letzten halben Stunde zehntausend Mark verdient habe?« Frank grinst wie ein Honigkuchenpferd, und Lotte streicht ihm über das Haar. Vielleicht hat er ja Recht. Vielleicht ist sie wirklich zu pessimistisch, außerdem kriegt sie jeden Moment ihre Tage und Vollmond ist außerdem. Da kommt einiges zusammen. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und schlingt ihre Arme um ihn. Ein älteres Paar geht vorbei und räuspert sich pikiert.

»Du bist ja ein ganz Schlimmer«, flüstert Lotte an seinem Ohr. »Kann es sein, dass ich gerade miterlebt habe, wie du unseren Vertrauensobmann bestochen hast?«

Frank kichert in ihrem Haar und drückt sie an sich. »Unser Leben wird gut. Wir werden in unser eigenes Haus ziehen. Ich werde die Ärmel hochkrempeln und soviel wie möglich selbst renovieren. Die Arbeit wird Spaß machen, weil es was Eigenes ist, die Hauptsache ist, dass die ganze Familie wieder zusammenlebt. Auch wenn ich mich dafür verhalten muss wie ein ... Politiker!«

»Und wenn jemand nachfragt? Wenn rauskommt, dass du Stoltefuss Geld angeboten hast?«

»Ich werde nichts dazu sagen. In der Politik besteht die Klugheit nicht darin, auf Fragen zu antworten. Die Kunst besteht darin, sich keine Fragen stellen zu lassen.«

»Ich glaube, da lerne ich noch ein paar neue Seiten an dir kennen.« Lotte spitzt ihre Lippen zu einem Kuss.

Sie spüren sich, ihre Nähe, ihre Liebe, die Hoffnung auf die Zukunft, und Lotte hört die Vögel in der Hecke bei der Bushaltestelle, hört fröhliche Kinder, die den Frühling begrüßen und, eine schattige Ahnung verscheuchend; auch sie möchte glauben, dass alles gut wird.