11
»So eine Überraschung. Warum habt ihr nicht angerufen. Wer hätte das gedacht? Kommt rein!«, sagt Gina. »Ottilie geht es nicht so gut.«
Das milde Licht im Haus der Jäckels, die betäubende Wärme der Gasheizung und Ottilie, die mit frisch verbundenen Armen im Wohnzimmer wartet, lähmt Franks Entschlusskraft, leitet seine Aggression aus und betäubt ihn wie ein schwerer Wein.
Seine Beine sind weich und er muss sich am Türrahmen festhalten. Er sucht nach Worten.
Lottes Stoßseufzer, diese Mischung aus Schrei und Atemnot, hallt durch das Wohnzimmer. Sie ist auf dem Weg zu ihrer Tochter, stolpert um Haaresbreite über den Flokati, weißflauschigen Teppichschnee und geht vor Ottilie in die Knie und legt ihre Fingerspitzen vorsichtig auf die Verbände.
Dort sitzt sie im Sessel, Alabaster mit blondem Haar, kein Kind mehr, noch immer keine Frau. Und Frank erinnert sich an ihr helles Lachen, wenn er sie auf seinen Knien geschaukelt hat und sie an seinen Papa-Ohren zog, die kugelrunden Kleinkindaugen weit aufgerissen, voller Vertrauen und Liebe.
Das alles kann doch nur ein Alptraum sein, denkt Frank. Ein Unglück zieht das nächste nach sich.
Erneut hat Ottilie, seine kleine Blume, deren Blüte er verpasst hat, sich die Arme aufgeritzt, seit vielen Monaten wieder. Was hat sie dazu getrieben?
Es gibt so Vieles, was er wissen muss. Heute, ja heute Abend wird er es in Erfahrung bringen und er schwört sich, das Haus nicht eher zu verlassen, bis er Antworten gefunden hat. Und wenn er tagelang hier bleibt, wenn er darüber seine Arbeit vernachlässigen muss, wenn ...
Ist unser Leben nur noch ein Scherbenhaufen?, fragt er sich, entsetzt darüber, wie apathisch Ottilie den Kummer ihrer Mutter über sich ergehen lässt, wie still sie gegenüber Thomas ist.
War alles nur ein Traum? Ist der Krieg doch nicht zu Ende? Träume ich? Träume ich? Träume ich von einer besseren Zeit, die doch nie kommen wird?
Und der Schuss fällt und der Tiger starrt aus dem Schilf und der Teppich wiegt schwer unter meinen Armen.
Frank verspürt die Anspannung, dass er dringend Ruhe benötigt, dass es ihm nicht gut tut, das Leid in sich hineinzufressen, dass diese Fahrt möglicherweise unbedacht, zu spontan war. Ist er noch immer der Unverbesserliche, der Flaggen klaut und für seine Überzeugungen den steinigen Weg geht? Will er denn nie erwachsen werden?
Ist man mit 44 noch immer derselbe Junge, der man einst war, nach Jahren umschlossen von faltiger Haut? Ein lederiger Sack mit jungem Herzen? Bleibt man immerzu der Knabe, der verwegen ins Leben rief: Heda! Platz auch! Jetzt komme ich! Nichts und niemand können mich besiegen!
Ja!
Oh ja!
Eine Hand legt sich auf seine Schulter und Gina sagt sanft: »Komm doch erst mal rein und setze dich.«
Frank fühlt sich müde, zermürbt, wach und seine Augen brennen, weil er weinen könnte und gleichzeitig der schlummernde Zorn aus seiner Erstarrung erwacht.
Kraftlos stakst er rüber zur eleganten weißen Sitzgarnitur aus Wildleder und lässt sich von der Couch weich umschmeicheln und verschlingen, während Lotte bei Ottilie ist, ihr über das Haar streicht, eine distanzierte Geste, ängstlich fast und Thomas neben dem Sessel kniet, in dem Ottilie sitzt wie eine aus dem ewigen Schlaf erwachte hellhaarige Göttin, der ein vergesslicher Archäologe die Arme nicht entmumifiziert hat.
Was geht hier vor, hier, in dieser singenden Wärme?
Wo ist seine Kraft geblieben, jene Nachdrücklichkeit, mit der er Otto am Kragen packen, ihn gegen die Wand schleudern, Rache üben wollte?
Otto rumort in der Küche.
Gina stellt Tassen und Gläser auf den Tisch.
Otto bringt Mineralwasser und Tee.
»Für Kaffee ist’s zu spät«, murmelt er und kann Frank nicht in die Augen schauen. »Oder?«
»Es ist sowieso zu spät ... Freund«, antwortet Frank sarkastisch und erneut weicht Otto seinem Blick aus. »Ich trinke Sprudel und ich denke noch lange nicht an Schlaf.«
»Na klar doch«, meint Otto und macht sich davon. Er geht gebeugt wie ein alter Mann, die Schultern hochgezogen, sodass seine spärlichen glatten Haare ihm in die Stirn fallen.
»Heute Nachmittag stand sie vor uns«, sagt Gina und serviert. »Wir sind umgehend ins Krankenhaus gefahren, weil wir so einen Schreck gekriegt haben, aber es sah schlimmer aus, als es war. Ottilie ritzt sich die Haut ein, nicht allzu tief, aber ziemlich blutig, na, ihr wisst ja. Vor ein paar Minuten sind wir zurückgekommen. Der Arzt war freundlich, hat etwas Salbe aufgetragen und Verbände angelegt. Es könnte sein, dass sie einige Narben zurückbehält. Sonst nichts, meinte er.«
»Sonst nichts« echot Frank.
»Willst du dich hinlegen?«, fragt Lotte und Ottilie starrt vor sich hin. »Es ist schon nach Mitternacht«, fügt Lotte hinzu. Als wenn das wichtig ist.
»Täubchen«, sagt Frank und erhebt sich, um zu seiner Tochter zu gehen, als Gina ihm die Hand auf den Unterarm legt und den Kopf schüttelt. »Nnnh, nnnh!«
Verdutzt verharrt Frank und sieht Gina fragend an.
»Später ...«
»Aber ...«, begehrt er auf.
»Der Arzt meinte, sie solle sich hinlegen, ausschlafen und morgen ...«
»Morgen ist sie bei uns zu Hause«, stellt Frank fest und seine Stimme bebt. »Und hört endlich auf, über Ottilie zu reden, als sei sie nicht anwesend.«
Tom setzt sich zu seinem Vater und leert in einem Zug das Glas Mineralwasser, spült Gabys Kuss hinunter, der ihm im Moment nicht mehr glücklich macht. Ottilie! Wie können wir dir helfen? Warum tust du dir das an? Ja, er liebt seine große Schwester, aber es liegt nicht in seiner Macht, sie zu heilen. Sie will sich wehtun. Will es, tut es. Weil sie etwas in die Welt hinaus ruft, wenn sie sich die Haut zerschneidet. Weil sie diesen Schmerz benötigt, um ihre Meinung kundzutun. Um ihre Wut zu äußern? Kann es sein, dass sie sich nicht mehr spürt, dies tut, um das richtige Gefühl für sich zu bekommen? Oh Manno, er wird mit ihr reden müssen. Ihm wird sie sich anvertrauen. Er ist nicht mehr der Kleine, ist schon fast ein Mann, ein geküsster Mann!
Ottilie sieht an ihrer Mutter vorbei und wendet sich mit erstaunlich harter Stimme an Gina: »Ich gehe jetzt nach oben und hau mich hin. Ich habe keine Lust auf diese Versammlung, keine Lust auf diese verlogene Bagage. Und macht nicht so ein Getöse aus diesen paar Schrammen.« Nun nimmt sie auch ihren Vater und Tom ins Visier »Der eine hintergeht den einen, jeder ist nur auf seinen Vorteil bedacht.«
Sie geht. Schmal, hochgewachsener, als Frank sie in Erinnerung hat, den Kopf im Nacken, das Kinn voraus, in stiller Weise stolz. An der Tür dreht sie sich noch einmal um und bedenkt ihre Familie mit einem matten Blick. »Schuldig!«
Dann ist sie hinaus. Wie ein Geist und lässt Verblüffung und Betroffenheit zurück.
Es ist fast vier Jahre her, dass Lotte dieses Wort – Schuldig! - das letzte Mal aus Ottilies Mund gehört hat und ihr ist zum Kotzen zu Mute, ihre Beine zittern, als stehe sie nackt in einem Raum voller bekleideter Menschen und alle starren sie an, während Ochsenaugen an ihrem Rücken baumeln.
Gleichzeitig lodert Zorn in ihr hoch, jene ihr vertraute Lotte-Härte, die sich wie Sackleinen über ihre Seele legt und keine Nachgiebigkeit duldet. Verdammt noch mal, Ottilie! Hör auf, diese Schau abzuziehen! Sag endlich, was du meinst! Du bist kein kleines Kind mehr. Schluss mit dieser Theatralik, mit diesen bühnenreifen Abgängen! SCHLUSS DAMIT! Sonst ... sonst KNALL ICH DIR EINE, BIS DU WIEDER KLAR WIRST IM KOPF! Wir sind hier nicht in einem dramatischen Film! Das hier ist nicht irgendein Rührstück, sondern die gottverdammte Realität – hier geht es um dein Wohl, um das Wohl der Familie – um die Wahrheit! RÜCK SIE ENDLICH RAUS, DIE WAHRHEIT! So denkt sie - und schluckt es runter.
»Ottilie!« ruft Lotte. «Ottilie!” Mehr bringt sie nicht raus.
»Lass sie«, sagt Gina besänftigend.
Lotte will ihrer Tochter folgen, als Otto meint: »Bleib bitte hier, Lottchen. Wir haben zu reden. Gina macht das schon.«
Gina nickt und folgt ihrer Nichte.
»Sie ist meine Tochter«, zischt Lotte und schüttelt Ottos Hand ab.
»Selbstverständlich ist sie deine Tochter.«
»Es steht nur mir zu ...«
»Du wirst sie noch oft genug ins Bett bringen können«, sagt Otto. Er streichelt ihr über die Wange. Er weist auf den leeren Sessel. »Du siehst müde aus.«
Noch einen Moment zögert Lotte, dann spürt sie, wie eine bleierne Schwere über die Seele streicht. Ergeben plumpst sie in das weiche Leder. »Ich habe auch allen Grund dafür.«
»Ja, das hast du«, sagt Otto und seine Stimme hat einen für ihn ungewohnt selbstbewussten und beruhigenden Unterton.
Sogar Tom scheint dies aufzufallen, denn er rückt seine Brille zurecht und mustert seinen Onkel interessiert.
»Ich komme gleich wieder«, sagt Otto. »Muss mal auf die Toilette.«
Das muss Lotte auch, aber sie will jetzt nicht, stattdessen findet ihr Blick den von Frank.
Was haben wir falsch gemacht?, liegt als Frage darin.
Das werden wir heute ein für alle Mal klären!, kommt die Antwort zurück.
»Ich möchte sie wieder bei uns haben«, sagt Tom, weil ihm nichts Besseres einfällt und die Ruhe wehtut.
»Sie wird wieder zu uns zurückkehren, das verspreche ich dir«, murmelt Frank.
Tom sieht sich unauffällig um. Er ist das erste Mal hier und was er sieht, fasziniert ihn. Dieser Raum ist nach seinem Empfinden so groß, dass die ‚gute Stube‘ der Willes zweimal hier reinpassen würde und wie edel alles aussieht. Das Sideboard da und der Tisch mit der Marmorplatte, der hat was ganz Dolles! Ein richtiges Prunkstück ist der, ziemlich modern. Und überall ist glänzendes Leder, auf dem sich das Licht der supermodernen Halogenlampen reflektiert. Gegenüber protzt ein Kamin, schwarz gegen weißen Rauputz gelehnt, auf dem kaum Rauchspuren sind.
Das wäre was. Alle gemütlich in der Runde beim knisternden Feuer und Oma Käthe und Onkel Piefke sind auch dabei und der dicke Oskar vielleicht auch noch und alle erzählen lustige Geschichten.
Wohin Tom schaut, liegen Flokatiteppiche auf braunem Marmor, was superelegant wirkt und kein bisschen spießig. Da und dort gibt es kleine Tischchen und drüben im Winkel unter dem Telefon an der Wand einen seltsam geformten Stuhl aus hellem Holz mit Polstern aus Leinenstoff. An den Wänden hängen Reproduktionen von Bildern. Da drüben eines mit einer riesigen Coladose drauf und dort ein grob gerastertes mit einer Comiczeichnung und eines mit dem Kopf von Marilyn Monroe, ja, alles sehr stilvoll! Und erst mal der Fernseher – riesig groß und schon mit Farbe und die Stereoanlage ... keine Kompaktanlage, sondern Einzelkomponenten von Grundig, das Beste, was es gibt. Auf diesem Plattenspieler hört sich Pink Floyd sicherlich ganz fantastisch an.
Und wie das hier duftet!
Nach Tee und Rasierwasser.
Nach Mörtel und Waschmittel.
Nach ... neu!
Tom schließt für einen Moment seine Augen und stellt sich vor, wie seine eigene Wohnung aussehen könnte. Mindestens genauso chic.
Tante Gina und Onkel Otto kommen gemeinsam das Wohnzimmer, Seite an Seite. Sie müssen draußen aufeinander gewartet haben, wollen den Kampfplatz nur als Team betreten. »Sie hat sich hingelegt«, sagt Tante Gina. Beide sehen müde aus, haben Ringe unter den Augen, wissen, dass der Abend erst begonnen hat, auch wenn man am liebsten ins Bett gehen würde. Das wird nicht möglich sein. Der Zug hat Fahrt aufgenommen und eine lange Reise vor sich.
Eine Reise ins Herz der Freundschaft.
Eine Reise ins Herz des Dschungels.
Gina setzt sich neben Frank und hält Distanz, Otto in den zweiten Sessel, schräg gegenüber.
»Womit sollen wir beginnen?«, fragt Gina.
»Nun sagt doch mal, warum ihr hergekommen seid? Was ist passiert? Das mit Ottilie konntet ihr ja noch nicht wissen«, fragt Otto und seine Brille beschlägt, auf seiner Stirn bilden sich die für ihn typischen Schweißperlen, sein Kopf ruckt hühnerartig vor und zurück, der ausgeprägte Kehlkopf springt auf und ab. »Ihr seid mit dem Taxi gekommen? Aus Bergborn? Um diese Zeit? Das ist sauteuer.«
»Du hast keine Ahnung?«, fragt Frank. Er ist verunsichert. Hat dieser Mistkerl denn kein schlechtes Gewissen?
»Also«, Otto grinst. »Wir freuen uns selbstverständlich über euren Besuch. Vielleicht sollten wir Piefke und Muttel anrufen und dann machen wir alle eine spontane Party.«
Oh ja, denkt Tom und kommt sich im selben Moment etwas albern und naiv vor. Hier geht etwas Übles vor sich und er denkt an nicht Lapidareres als an eine Party!
Gina kichert. »Ja, Muttel würde noch fehlen. Da gibt es ja auch noch das eine oder andere, was geklärt werden könnte, nicht wahr?« Ein dreister Blick trifft Lotte.
»Und unser Piefke spielt uns den Rock ’n’ Roll«, meint Otto und grinst müde.
»Du hast uns versprochen, dass wir unser Geld vermehren«, stößt Frank hervor.
»Frank«, unterbricht Lotte ihn mit einem warnenden Blick. »Können wir später darüber reden?«
Frank stutzt, dann nickt er ergeben, obwohl es ihm schwerfällt, sehr schwer. »Aber ...«
Lotte fährt fort: »Im Moment gehen mir andere Dinge durch den Kopf.« Für einen Augenblick gerät sie aus dem Konzept, fängt sich jedoch wieder. Hilflos starrt sie Frank an. Was ist hier los? Weiß Otto nichts von den fünftausend Mark? »Mich interessiert, warum meine Tochter sich mal wieder verletzt hat. Das ist doch jahrelang nicht mehr geschehen. Wir alle dachten, sie hätte es drangegeben. Und was bedeutet dieses Schuldig?«
»Hast du wirklich geglaubt, das höre von alleine auf?«, fragt Gina mitfühlend.
»Ja«, nickt Lotte. »Ja, das habe ich. Du nicht?«
Gina zuckt mit den Achseln.
»Die Ärzte meinten, es habe etwas mit der Pubertät zu tun«, sagt Lotte.
»So ist es aber nicht«, weiß Gina. »Es hat etwas mit dem Schuldig zu tun. Und mit etwas, dass man neu entdeckt hat. Man nennt es Impulskontrollstörung.«
»Dann rück mal raus mit der Sprache!«, sagt Frank, in dessen Kopf es quirlt und pocht. Warum, um alles in der Welt, weiß Gina Dinge, die er, Ottilies Vater, nicht weiß?
Und immerzu dieser schräge Blick von Otto. Am liebsten würde er aufstehen und ihm eines auf’s Maul geben!
»Na gut«, nickt Gina. »Dann tun wir mal Butter bei die Fische, liebe Familie!«
Das entstehende Schweigen ist kaum auszuhalten. Tom rutscht unbehaglich auf dem Leder herum und füllt sich nervös sein drittes Glas mit Mineralwasser.
Jeder bedenkt jeden mit einem prüfenden Blick.
»Noch mal zum Mitschreiben«, bricht Frank das Schweigen. »Du weißt, warum Ottilie das alles macht?«
»Kannst du es dir nicht denken, Frank?«
Frank verneint. Warum meint Gina, er wisse den Grund? Von einer Sekunde zur anderen steht er im Mittelpunkt des Interesses. Was ist denn nun schon wieder los? Er ist sich keiner Schuld bewusst. Hier gibt es nur einen Schuldigen und der sitzt ihm schräg gegenüber, putzt soeben umständlich seine gottbeschissene Hornbrille, setzt sie wieder auf und greift hinter sich in die Schublade des Sideboards.
»Damit wir eine Sache gleich zu Anfang vom Tisch haben und damit eventuelle Ressentiments, die ich grade aus deinen Worten vernahm, aufhören«, sagt Otto und legt einen Briefumschlag auf den Tisch, wobei der schwarze Stein an seinem Fingerring blitzt. »Na, Frank! Greif zu!«
»Was läuft hier für ein Spiel?”, fragt Frank. Ihm ist unbehaglich zu Mute. Er nimmt mit spitzen Fingern den Briefumschlag und öffnet ihn. »Ein Scheck«, sagt er mit kratziger Stimme.
»So ist es«, nickt Otto. »Ein Scheck über zwanzigtausenddreihundert Mark. Den könnt ihr morgen einlösen und habt sogar noch dreihundert Mark an der BS 202-Police verdient.«
»Aber ...« Frank kriegt den Mund nicht mehr zu. »Wir dachten ...«
»Nicht denken, sondern freuen, mein Lieber«, sagt Otto jovial.
Lotte zieht Luft ein und beugt sich vor. Ihre Hände zittern. Fahrig stellt sie ihr Glas ab, starrt Frank an, der seinen Augen noch immer nicht traut.
Otto lächelt still. »Den Scheck hat mir heute die Berliner Rück gegeben. Damit es schnell geht. Ich sollte ihn euch persönlich aushändigen.«
»Aber ... aber Otto ... du wusstest doch gar nicht, dass wir vorbei kommen«, schüttelt Frank den Kopf. »Wir benötigen das Geld doch gar nicht bar, sondern nur auf dem Papier.«
»Als Sicherheit, ich weiß«, winkt Otto ab. »Mein Anlagetipp für die Zukunft: Ab unters Kopfkissen mit den Scheinchen!«
»Aber das bedeutet ...«, fühlt Frank sich schuldig. Wo liegt der Irrtum? Was geht hier vor sich?
»Halt endlich die Klappe, Otto!« fährt Gina auf und stellt ihr Glas auf den Tisch, dass es scheppert. »Noch so etwas Bescheuertes und ...«
»Na gut, na gut«, fügt sich Otto und blinzelt nervös hinter seinen Brillengläsern. »Selbstverständlich ahnten Gina und ich, warum ihr heute Abend nach Berlin gekommen seid und das sogar mit einem Taxi.«
»Stimmt doch, oder?«, fragt Gina.
»Was?« fragt Lotte.
»Dass ihr mit dem Taxi gekommen seid? Ich habe eines wegfahren hören, bevor es klingelte.«
»Ein teurer Spaß, sag ich dir«, nickt Lotte. »Aber wir dachten ... Frank dachte ...«
»Komm zur Sache Otto«, zischt Gina.
Alle Köpfe drehen sich zu ihm hin.
Otto hebt seine Handflächen. Seine Mundwinkel zeigen nach unten. »Okay. Ich habe den Scheck nicht von der Berliner Rück bekommen.«
»Sondern?«, fragt Lotte, die die Antwort schon längst ahnt.
»Willst du uns zum Narren halten?«, schnappt Frank.
»Nein, will ich nicht. Dafür sitze ich viel zu sehr in der Tinte. Meine geliebte Frau hätte sich von ihrem Dreckskerl scheiden lassen, wenn ich euch das Geld nicht ersetzt hätte. Tja, ihr habt die beste Schwägerin der Welt. Und den miesesten Schwager und Bruder ... so – nun isses raus.« Dann schlägt Otto die Augen nieder und murmelt: »Der Swimmingpool, den wir in diesem Jahr in den Garten bauen wollten, wird wohl noch etwas warten müssen.«
»Er wird euch alles Weitere später erklären«, fügt Gina hinzu und lächelt zufrieden. »Noch etwas Tee? Der ist ganz neu, grüner Tee aus Japan, nicht so stark wie Schwarztee, unfermentiert und viel, viel gesünder.«
»Zwanzigtausend«, flüstert Lotte.
»Und dreihundert Mark«, brummelt Otto. »Die fünftausend, die ihr von der Gesellschaft bekommt, könnt ihr mir ja auf mein Konto überweisen.«
Tom nimmt seine Brille ab und reibt sich die Augen. Sind denn hier alle bekloppt geworden? Vater redet davon, Onkel Otto habe ihn betrogen, dieser gibt das auch zu und ersetzt den Schaden und alle sitzen hier rum wie die Ölgötzen, wie versteinert und starren sich an, als würden sie sich nicht mehr kennen oder von einem anderen Planeten kommen.
Draußen donnert es und über dem Haus entlädt sich ein Blitz.
Wie ein einem Film!, grinst Tom. Wenn es spannend wird, rumpelt es am Himmel und Blitze zucken. Es fehlt nur noch, dass der Strom ausfällt und wir uns alle Kerzen unter das Kinn halten und uns gruselig ausgeleuchtet anstarren müssen.
Er kichert aufgekratzt, zieht eine Schnute, setzt seine Brille wieder auf und mustert verlegen das Profil seines Vaters, der immer noch sprachlos scheint. Und schrecklich alt aussieht, mit bläulichen Bartstoppeln und mit tiefen Falten.
Also, ich an seiner Stelle, denkt Tom, ich würde aufspringen, mich freuen und Otto auf die Schulter hauen. Ich würde ihm sagen, dass er ein alter Doofsack ist, aber dass es ein feiner Zug von ihm ist, seine Suppe wieder ausgelöffelt zu haben, denn Fehler machen wir schließlich alle mal.
Aber ich bin fünfzehn und das sind Erwachsene!
Was ein grundlegender Unterschied ist.
Und Tom fragt sich, ob er den notwenigen Ernst vermissen lässt. Also strafft er sich und versucht jenem Bild eines Jugendlichen zu entsprechen, das man von ihm erwartet. Er schiebt seine Augenbrauen zusammen, nickt ernsthaft und umso länger er das tut, wird komischerweise seine Abscheu gegen Onkel Otto immer stärker, der versucht hat, die Familie Wille um ihr Geld zu bringen. Auch wenn sein Onkel Gründe dafür gehabt haben sollte – so etwas ist unverzeihlich!
»Na gut.« Nach einer Schweigeminute wischt Frank sich Schweiß von der Stirn, schiebt den Scheck in den Umschlag zurück und wirft diesen auf die Tischplatte. »Ich bin auf deine Erklärungen gespannt, mein Lieber. Über diese Sache mit dem Geld reden wir später. Auch darüber, ob wir den Scheck überhaupt von dir annehmen. Aber vorher möchte ich mehr über Ottilie wissen.«