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Ihre mediwewanischen Münzen waren willkommen, aber sie gingen rasch zur Neige, und ohne hinreichende Kenntnisse der Landessprache gab es für sie keine Möglichkeit, ihre Geldkatzen wieder aufzufüllen. Und dann war da noch die Angelegenheit mit der Seereise, die Bar-Woten mit jedem Tag mehr anpries. Seine Gefährten versuchten redlich, ihn zu ignorieren, aber letztlich blieb ihnen kein anderer Weg als der über das Wasser. Norden lag in jener Richtung, und nach Norden führte sie ihre Reise.
Der erste Schritt, den sie unternahmen, war der Erwerb einer Reihe dünner alter Wörterbücher in einem Buchladen in Mur-es-Werd. Bar-Woten fand den altersschwachen Laden faszinierend. Kiril hingegen war alles andere als entzückt. Dort lagen Dutzende von Büchern herum, von denen er sich sicher war, daß sie sich nie und nimmer von Obelisken-Texten herleiteten – Werke über die Geschichte von Mundus Lucifa, kartenkundliche Schriften und Biographien. Es war schlichtweg ein unorthodoxer Ort.
Da ohne Unterkunft, schliefen sie des Nachts am Strand. Einer saß stets Wache auf einem kleinen Felsen über der von ihnen mit Beschlag belegten Landzunge aus Sand. Die Wellen strandauf und strandab klangen wie kämpfende Tiere. Einige waren so groß wie zweistöckige Häuser, und sie tobten durch die der Küste vorgelagerten Felsklippen und heulten über den verwirbelten Sand hinweg. Nachts, wenn die Wellen glühten wie anmutige Gespenster, verbarg Barthel seine Augen vor dem Anblick und konzentrierte sich auf die mit Lichtern betupfte Stadt.
An ihrem vierten Morgen in Mur-es-Werd erwachte Bar-Woten durch den Geruch von Rauch und sah Kiril ein Fischfrühstück zubereiten. Eine lange Rute mit einer Schnur daran stak neben ihm im Sand. „Ich habe sie vor einer Stunde erstanden“, erklärte Kiril. „Nützlicher als Bücher, was?“
Bar-Woten hatte sich die Grundzüge der Sprache rasch angeeignet, viel schneller als Barthel, und konnte gut genug mit den Lucifanern reden, um sich verständlich zu machen. Als er nun Kirils Frühstück aß, überlegte er laut, warum das Land Mundus Lucifa hieß. Kiril hielt einen Finger hoch, eine Unterbrechung anzuzeigen, während er kaute. „Einfach genug“, sagte er. „Aus den Bergen kommen Ungewitter. Manche der Stürme sind wahrhaft beängstigend.“ Aber er hatte nie wirklich einen miterlebt, außer dem Regenguß, durch den sie geritten waren, bevor sie den Abgrund querten.
An jenem Tage stellten sie auch auf den Werften Nachforschungen darüber an, ob ein Bedarf an Seeleuten bestand. Die Reaktionen waren entmutigend – leere Blicke und Kopfschütteln. Seeleute? Die gab es auf dem Markt in Hülle und Fülle. Zehn Männer auf jede Koje! Ausländische Schiffe, die des öfteren hier anlegten, mochten allerdings bisweilen Platz für neue Männer haben – gewöhnlich, weil ein paar auf See geblieben waren.
„Die ausländischen Schiffe werden nicht so wählerisch sein, wenn es darum geht, Fremde anzuheuern“, sagte Bar-Woten. „Bei denen könnten wir eine Chance haben.“
Manchmal übernahmen sie Gelegenheitsarbeiten an den Anlegestellen, während sie von einer Ansammlung von Docks und Werften zur nächsten wanderten. Kiril kostete zum ersten Male schwere körperliche Arbeit, und sie schmeckte ihm überhaupt nicht. Er verübelte dem Ibisier den stoischen Gleichmut, mit dem er die Arbeit hinnahm.
Auf diese Art lebten sie drei Wochen. Kein ausländisches Schiff lief in den Hafen ein, und kein einheimisches lief aus. Die Jahreszeit war ungünstig für den Handel. Bald würden schwere Stürme den Ozean zu Bahnen wellenzerschmetterter Spitze aufpeitschen.
Wasserhosen und Hurrikane würden sich auf See, aber in Sichtweite des Landes, bilden und ungebrochen Hunderte von Kilometern anhalten. Nein, dies war entschieden die falsche Jahreszeit, daran zu denken, in See zu stechen!
Eine Ausnahme gab es, aber die war eher ein böses Omen. Ein großer lucifanischer Frachter, der unter Methandampf und Segeln lief, legte in kläglicher Verfassung in Mur-es-Werd an. Er war schon seit zwei Jahren auf See, aber nicht Stürme hatten ihn so zugerichtet. Vielmehr war er von einem Schiff beschossen worden, wie sie noch keines gesehen hatten – ein Schiff, das auf den Wellen dahineilte, indem es sie mit riesigen Füßen durchteilte. Das fremde Schiff hatte weder Segel gehabt, noch hatte es Dampf abgegeben, und doch war es leicht seine neunzig bis hundert Kilometer pro Stunde gelaufen. Einige mutmaßten, es sei gar kein Boot gewesen, sondern ein Krustentier aus den Bleichen Meeren, die höher droben im Norden lagen, als je ein Mensch gereist war. Die drei hörten davon in Hafenkneipen und Speisegaststätten. Bald wurde es eine allgemein verbreitete Geschichte, die gern und weidlich ausgeschmückt wurde.
Die Geschichte veränderte die Atmosphäre rings um die Häfen grundlegend. Aber Bar-Woten behauptete steif und fest, daß noch etwas anderes im Busch war – ein simples Garn von merkwürdigen Ereignissen auf See reichte nicht aus als Erklärung für die Art, in der Mur-es-Werd sich verhielt. Auch Kiril spürte es. „Alle sind nervös“, sagte er. Der Ibisier nickte.
Der nächste Tag brachte einen warmen, trockenen Wind aus dem Südwesten. Die Himmel waren getönt wie blutige Milch. War der Wind in Bodennähe schwach, so flocht und zwirbelte er hoch droben zu ihren Häuptern die Wolken zu dünnen, glatten Bändern und durchwirkte sie mit Wüstenstaub. Mur-es-Werd ward bedeckt von einem rosigen Bahrtuch, und jedermann schritt vorsichtig einher, als seien sie in einem gefährlichen Traum befangen.
Gegen Abend war es klar, und die Winde hatten sich gelegt. Aber die Stadt war ruhelos in jener Nacht. Die Kneipen blieben länger offen, als das Gesetz es für gewöhnlich gestattete. Scharen betrunkener Männer wurden in den frühen Morgenstunden zornig heimgetrieben von Frauen, die Reiserbesen schwangen. Die Frauen trugen dunkle Kleider mit um die Ärmel gebundenen weißen Schleifchen. Aus einiger Entfernung sah es so aus, als würden Tauben um die Männer flattern und sie zornig schwirrend die Straße entlangtreiben.
Bar-Woten saß mit gekreuzten Beinen im Sand, lauschte und blickte auf die schaumigen Wellen hinaus. Er glaubte, sie vermöchten ihm etwas zu sagen. Aber sie glühten und gingen schwer und tändelten ohne Sinn und Ziel, weniger kraftvoll als gewöhnlich. Plötzlich verlangsamten sie ihre Bewegung zu einem öligen Rollen, das mit einer Schleppe aus Lichtperlen gegen die Küste anbrandete. Seine Nackenhaare sträubten sich, und er erhob sich auf die Knie, im jähen Verlangen, wegzulaufen. Es war kurz vor der Morgendämmerung – alsbald schon würde der Himmel im Zenit grün werden, wie er es seit jeher getan hatte.
Aber zehn Minuten verstrichen, und die Dunkelheit wich nicht. Zwei Feuertauben blitzten rosa und orange knapp über dem nördlichen Horizont auf. Eine dritte, von bläulicher Farbe, schwebte über den Bergen im Westen.
Sie erloschen blinzelnd.
So wie die Dinge lagen, waren Tausende zu dieser Stunde noch wach, saßen da und beobachteten den Himmel. Ein leises Raunen erhob sich aus der Stadt, der Klang von fernem Schreien und Wehklagen. Barthel und Kiril erwachten übergangslos und fragten, was da vor sich gehe. Bar-Woten konnte nicht antworten. Wie konnte irgend jemand irgend etwas beschreiben, das er nie zuvor gesehen hatte?
Die Schwärze des Himmels wurde nun schlammfarben. Nicht eine einzige Feuertaube war zu sehen. Als würden sich zwei zusammengelegte Handflächen öffnen, zog sich die Trübung auseinander, und ein zunächst kaum sichtbarer Strudel von mattem Purpur eröffnete sich. Binnen weniger Sekunden hatte er sich über den Himmel ausgebreitet, eine andere Art von Dunkelheit in seinem Zentrum zurücklassend.
Dies war nicht das auf so herzerwärmende Weise unmittelbare, leere Schwarz, das stets Nacht für Hegira bedeutet hatte. Es war ein samtiges Dunkel, übersät mit schimmernden Bändern und dazwischen und ringsherum und darinnen mit Lichtpunkten so fein, daß sich keine Form ausmachen ließ. Wolken aus Lichtern erfüllten den Himmel. Zum ersten Mal, soweit sich irgendein Lebender zurückerinnern konnte, erhellte Sternenlicht sichtbar das Land.
Die Stadt lag schweigend unter dem frostigen Starren der Sterne.
Tief in Barthels Kehle bildete sich ein knurrender Laut, und Tränen strömten seine Wangen hinunter. „Heiliger Allah“, sagte er. „Gepriesener Allah.“
Kirils Hand krampfte sich um seine Katze. Ihm war danach zumute, sich im Sand zu wälzen und zu schreien.
Die Straßen waren bald erfüllt von einem heulenden, einherstolpernden Mob. Er spülte auf die Strände, und menschliche Wellen trafen in gischtendem Tumult auf jene des Wassers, als die Bürger von Mur-es-Werd versuchten, die aberwitzigen Fieber zu löschen, die sie solche Visionen sehen ließen.
Eine hastige, seidige Kabbelung überlagerte nun die Sterne. Kiril wurde schwach im Magen. Er spürte, wie sein Körper hierhin und dorthin kroch, und doch bewegte er sich nicht; seine Muskeln zuckten nicht. Sein Kopf drohte sich von innen nach außen zu stülpen, aber schmerzlos – eine traumhafte Art von Benommenheit, Verlust des Richtungssinns. Die Ozeanwellen wurden heller und leuchtender, wurden beinahe türkisblau. Er vernahm eine tiefe Baßnote wie das Summen titanischer Bienen. Falls die ganze Welt ein Wandbehang gewesen wäre und jemand begonnen hätte, ihn auszuklopfen, um den Staub daraus zu entfernen, würde sich das vielleicht so angefühlt haben – er wußte es nicht. Eine Zeitlang dachte er, daß er tot besser dran wäre.
Das Kräuseln im Himmel hörte auf, und die Sterne beruhigten sich. Der Strand war in Stille gehüllt. Die Menschen rings um sie bewegten sich mit quälender Langsamkeit; selbst wenn sie fielen, sanken sie nieder wie Wölkchen von Pusteblumenflaum.
Als er aufblickte, glaubte Bar-Woten einen Augenblick lang, daß er gleich die Besinnung verlieren würde. Am Rande seines Gesichtsfeldes konnte er schon Dunkelheit hereindrängen und die Sterne verdecken sehen. Aber die Benommenheit war verschwunden, und sein Kopf schien ganz in Ordnung zu sein. Die Sterne wurden wirklich wieder verfinstert! Am Rande des sich schließenden Kreises wurden die Lichtpunkte zu purpurnen Strichen, verzerrten sich und erloschen blinzelnd. Das vertraute leere Schwarz kehrte zurück. Flackernd, eine nach der anderen, nahmen die Feuertauben ihr Leuchten wieder auf. Der Himmel im Zenit tönte sich grün, dann purpurn, dann bronzefarben; die Morgendämmerung setzte da wieder ein, wo sie unterbrochen worden war.
Das Schauspiel hatte ungefähr fünf Minuten gedauert. Alle blieben noch einmal fünf Minuten dort stehen, wo sie gerade standen, blickten einander dann verlegen an und kehrten schließlich in ihre Häuser zurück, wobei sie versuchten, sich so zu verhalten, als sei alles so wie immer.
Aber Bar-Woten wußte, daß nichts je wieder so sein würde wie immer. Er lächelte schief. Dann begann er lauthals zu lachen.