24

 

 

Die Nichtmenschen schritten hinter Kiril. Zu allen Seiten von ihnen bildeten bewaffnete Wachen eine Phalanx. Die Prozession bewegte sich durch die hochwandige Schlucht aus Stahl, Glas und Beton. Auf ihnen ruhten die Blicke Hunderttausender von Menschen, die auf den Terrassen auf beiden Seiten des Boulevards saßen. Papierwimpel knisterten durch die Luft, und Konfetti fiel in harten, kratzigen Flocken. Undeutlich hörte Kiril die Hochrufe und die „Pilger! Pilger! Finde deinen Weg!“ – Schreie.

Verstärker hoch droben peitschten einen blechernen Refrain hinaus:

 

„Find deinen Weg, mach Liebe mit Dem Wall,

Sei der Clown, der lernen wird,

Der Narr, der zurückkehren mag …“

 

Das Übrige vermochte er nicht zu verstehen. Es war ein Mummenschanz, und er war die zentrale Karikatur, ein einsamer, gar nicht aufsehenerregender Mann, der Zehntausende von Kilometern gekommen war, um im Triumphzug die Straße der so hochentwickelten Englischsprachigen hinaufgeführt, mit Spott und Zeremoniell empfangen und dann zum Wall geschickt zu werden wie ein mit Schellen behangener Ziegenbock.

Er haßte sie leidenschaftlich. In ihnen erkannte er die ganze konzentrierte Fäulnis, den ganzen nutzlosen Niedergang der Zweitgeborenen.

Er haßte sich selbst. Er hatte überlebt. Das plötzliche Ende seiner Gefährten, jener unverständliche Ausbruch von Gewalt, der einen Schlußstrich unter ihre Reise gezogen hatte, hing wie ein totes Gewicht an seinen Füßen und verlangsamte seinen Gang. Wächter stießen ihn vorwärts.

Nur zwei der Dünnen begleiteten ihn. Der dritte blieb zurück, wie es Teil der Vereinbarung war. Die anderen würden zusammen mit ihm die acht Kilometer den Hang hinaufklettern.

Die Straße endete am Wall. Man übergab ihm einen Tornister voller Nahrung und eine Kletterausrüstung. Die Nichtmenschen erhielten Stahlzylinder und in Tuch eingeschlagene Bündel. Hinter ihnen verebbte der Lärm der Menge.

„Dies ist nicht unser Bewirken, Mensch“, sagte der Nichtmensch in Dunkelgrün zu ihm, als sie ihren Aufstieg begannen. „Wir haben eine Reise, genau wie du auch. Möge uns allen Erfolg beschieden sein.“

Kiril nickte unwillkürlich. Er war der tausendste Pilger, der mit einem Narrenumzug Den Wall hinaufgeschickt wurde. Der letzte Umzug hatte vor einem Jahr stattgefunden, vor der Ankunft der Dünnen.

„Warum töten sie Pilger nicht einfach und lassen es damit bewenden?“ fragte er.

„Sie können sie nicht aufhalten. Früher kamen die Pilger aus ihrem eigenen Volk; sie können den inneren Drang nicht leugnen, der sie Den Wall hinauftreibt. Er ist eine verbürgte Tatsache. Auch können sie das nicht leugnen, was passiert, wenn Pilger zurückkehren.“

„Einige sind zurückgekehrt?“

Die Gestalt in Grün war einen Augenblick lang still. Die zweite, in Schwarz gekleidete, hielt im Klettern inne und wandte ihre silbrige Maske Kiril zu. Ein dünner, winselnder Laut drang unter dem Umhang hervor.

„Seit zehn Jahren hat es keine Pilger mehr aus diesem Land gegeben“, fuhr die erste fort. „Die Wanderungen begannen erst vor zwanzig Jahren. Weiteres Erfahren. An anderen Orten und längs anderer Abschnitte Des Walls haben die Pilgerströme in den letzten Monaten tausendfach zugenommen. Manche Städte sind seit dem Fall des Turms regelrecht überflutet. Sie werden alle von einer Sache angetrieben – der, die wir aus deinem Gedächtnis gezogen haben –, dem Verlust eines Gefährten oder einer Gefährtin. Es sind gleichermaßen Weibchen und Männchen darunter.“

„Warum geschieht das alles?“

Die geheimnisvolle Silbermaske war wieder still.

„Wißt Ihr es nicht?“

„Nein, nicht“, sagte die Gestalt in Schwarz. „Sie ziehen, um ein Märchen“ – wieder das Winseln – „in sich zu stillen. Die meisten werden auf der Reise getötet. Die meisten sind bereits Staub oder Schlamm. Aber du hast überlebt.“

„Nicht ohne Hilfe. Ich schulde mein Leben viele, viele Male –“ Er unterbrach sich verbissen und schüttelte den Kopf.

„Nirgendwer wird je dein Volk begreifen, oder unseres“, sagte der erste.

„Ich habe vor, es zu versuchen“, schloß Kiril.

Acht Kilometer Den Wall hinauf würde es einen kreisförmigen Eingang geben. Die Höhle, zehn Meter im Durchmesser und fünfzig tief, würde an einer glatten, unüberwindlichen Barriere enden. Wenn er sich als würdig erwies, würde sich die Barriere für ihn öffnen. Wenn nicht, würde er möglicherweise bei dem Versuch sterben, wieder den Hang hinunterzukommen, zu sehr demoralisiert, um vorsichtig zu sein. Wie auch immer, die Englischsprachigen würden ihn nie wiedersehen.

Die Wolken badeten sie in kalte, gleichgültige Wellen.

Kiril luchste ihnen weitere Informationen ab, während sie kletterten. Er erfuhr, daß alle dreißigtausend Kilometer Obelisken fielen – der Obelisk in Weggismarche sei nur der ihnen am nächsten gelegene – und ungeheure Mengen von Leben vernichteten. Aber die Menschen, die in das entblößte Land zurückkehrten, seien jetzt in der Lage, den Großteil der Obeliskentexte zu betrachten. Das bedeutete, daß bald die meisten Menschen Hegiras die Geschichte und die Errungenschaften der Erstgeborenen kennen oder zu kennen gezwungen sein würden. Dann würden sie akzeptieren müssen, was sie waren.

Er dachte nicht an Elena oder Bar-Woten oder Barthel.

Er dachte nur an den Aufstieg, an schmerzende Oberschenkel und Waden und Arme und an sein von der Kälte und dem ständigen Hinaufschauen steifes Genick. Dies ist das letzte Wegstück des Wurms, der auf Wanderschaft ging, redete er sich ein. Aber Gottes Blick war nicht helles Licht, wie man es ihn bei den Franciskanern gelehrt hatte, sondern naßkalte Wolke und Tränen.

Der Wall weinte. Sein Kondensationsprodukt rann aufs Land hinab und bildete Flüsse. Es machte den Halt schlüpfrig, wie wenn man die Seite eines nassen Glases hinaufginge – aber da war immer die Griffigkeit der eingravierten Worte.

Die Dünnen kletterten stetig, unermüdlich, mit einem flatternden Gang, die Arme ausgestreckt, um sich zu stützen; ihre gewandumhüllten, tuchbedeckten Vogelbeine arbeiteten wie Kolben.

„Warum seid Ihr hierhergekommen?“ fragte er, als sie rasteten.

„Wir sind nicht sicher, daß du verstehen würdest, Mensch“, sagte die Gestalt in Grün. „Aber vielleicht doch. Wir wollten erfahren, was uns geschah. Vor langer Zeit war alles Seligkeit und Paradies, und wir wuchsen. Wir waren alle Teile …“ Er greinte scharf. „Eines Strebens. Wir erreichten einen Höhepunkt von Schaffen und Begreifen. Dann ging alles verloren, und wir mußten vom Anfang an beginnen, mit dem Schmerz und dem Unglück der Jugend. Es ist nicht genau das Gleiche bei euch.“

„Aber auch nicht so schrecklich anders“, sagte Kiril.

„Vielleicht.“

„Werden sie euch bei der Heimkehr helfen, wenn ich es nicht tue?“ Er deutete hinab zur im Nebel verborgenen Stadt tief unter ihnen.

„Wir tauschen Hilfe gegen Wissen ein, ja.“

„Ihr wißt, was sie mit diesem Wissen machen werden“, sagte Kiril. Die Dünnen antworteten nicht.

Vier Kilometer. Er verankerte seinen Schlafsack mit einem Netz winziger Häkchen in den Worten der Obeliskenschrift und ruhte für die Nacht. Die Dünnen hatten ihre eigene Vorrichtung. Sie ließen sich in Schlingen von ähnlichen Haken baumeln und füllten etwas in ihren Kleidern aus den Stahlzylindern auf. Kiril schlief nicht gut.

Im grünen Licht des Morgens kämpften sie sich wie die Geister von Bäumen durch die Wolken. Fünf Kilometer. Sechs.

„Da ist der Eingang“, sagte die Gestalt in Schwarz. Unwillkürlich beschleunigten sie ihr Tempo, obwohl Kiril ausgepumpt war.

Sie rasteten bei sieben Kilometern, und der Nebel verschattete die Höhle wieder.

Am nächsten Tag betraten sie das Innere Des Walls.

„Es ist keine Barriere da“, sagte der im grünen Gewand. „Du hast es geschafft, Pilger.“

Ein Tunnel ohne Ende, erfüllt von warmer, trockener Lumineszenz, führte tief in Den Wall. Kiril warf seine Kletterwerkzeuge und den Großteil des Tornisterinhalts beiseite, kauerte sich dann nahe der Kante hin und musterte den Tunnel genau.

„Wir hätten gerne, daß du weitergehst“, sagten sie ihm wartend.

Er kam wieder hoch, nahm den fast leeren Tornister auf und ging los. Er schenkte den Nichtmenschen hinter sich keine Beachtung. Nach einer halben Stunde blieb er stehen und blickte über die Schulter zurück, um zu sehen, was sie machten.

Der Tunnel war hinter ihm versiegelt worden. Er konnte keinen der beiden sehen. Sie hatten nicht bestanden. Er zuckte die Achseln und setzte seinen Weg fort. Voraus, so wußte er, lag Das Land, wo die Nacht ein Fluß ist.

Er aß und schlief.

Dann marschierte er weiter. Vor seiner nächsten Schlafpause marschierte er zehn oder elf Kilometer – oder vielleicht sogar fünfzehn, es gab keine Möglichkeit, das mit Bestimmtheit zu sagen –, und immer noch zeigte der Tunnel keinerlei besondere Merkmale.

Aber auf dem nächsten Kilometer kam er an eine undurchlässige Barriere. Eine Stunde lang schritt er vor ihr auf und ab, und Schweiß perlte über sein Gesicht und machte sein Wams dunkel. Er war so wütend, daß er schließlich ausholte, um mit der Faust auf sie einzuschlagen. Seine Hand verschwand, und er stolperte durch die Barriere.

In jenem Augenblick begann er die Gewaltigkeit Hegiras zu verstehen. Jenseits der nichtstofflichen Scheidewand bot sich ihm ein freier Ausblick auf Dunkelheit und Feuertauben. Er stand in einer weiten Glashalbkugel. Die Luft war schal, aber atembar. Eine hüfthohe Brüstung zog sich rings um die Basis der Kuppel. Er trat vor bis zur Kante und schaute hinaus über die Krone Des Walls. Sie war eine glatte, dunkle Ebene, die so weit reichte wie jeder nur vorstellbare Horizont auf Hegiras unterer Oberfläche.

Auf der anderen Seite der Kuppel blickte er durch Wolken und Luftschichten auf die Oberfläche seiner Welt. Er machte die Flüsse und Bergketten und das weite Delta der Bleichen Meere ausfindig. Er konnte die in Wolken gehüllte Linie des gefallenen Obelisken in Weggismarche und Pallasta sehen und die aufrechten Obelisken anderer Länder. Stundenlang starrte er auf die Umbra- und Grün- und Grautöne von Land und Wald – die Rostbraun-, Siena- und Ockertöne von Wüsten und Steppen, die Spuren von Bergen wie Frost auf Glas und die Puderquaste, Fischgrätrippen und Ambosse von Wolken, Stürmen und Hurrikanen, die sich bis zu einer weiten Linie von Blau am Horizont erstreckten – und aufragend über sie alle die gleichmütigen Nadeln mit ihren Spitzen aus Sonnenlichtschollen.

Dann verblaßte der Obeliskenschein. Das Land wurde schattig. Nacht schmiegte sich Hegira an. Die Feuertauben glommen heller ohne die Konkurrenz des Tageslichts.

Mit einer Zufriedenheit, die er seit seiner Kindheit nicht mehr gekannt hatte – einer tiefen Anerkennung von über ihm stehenden Gewalten, denen er vertrauen konnte, weil sie sich seiner annahmen –, setzte er seine Ausrüstung auf dem Boden der Kuppel ab und legte sich unter dem unbeständigen Gefunkel der Feuertauben zum Schlafe nieder.

Er erwachte aus einem verschwommenen Traum und rollte sich herum auf den Rücken. „Guten Morgen“, sagte der Mann, der über ihm stand. Kiril spannte sich und schob sich langsam aus seinen Decken. Der Mann war in Kleider gewandet, die seinen eigenen ähnelten, und trug ein genaues Ebenbild seines Tornisters. Sein Gesicht war tief gebräunt und von Wetterfältchen durchzogen, und sein Haar war ein zurückwogender grauer Mop. Seine Nase war viele Male gebrochen gewesen, und seine Lippe war schief, aber nicht unfreundlich. Er hielt einen kleinen runden Ball in einer seiner Hände. Er war barfuß.

„Bist erst kurze Zeit hier, was?“ sagte der Mann. „Brauchste ’n paar Ratschläge?“ Er sprach Pallastanisch, das sich nicht grundsätzlich vom Teutanischen unterschied; nur die Modulation war eigenartig.

„Die brauche ich fürwahr“, sagte Kiril. „Wie lange seid Ihr schon hier, guter Mann?“

„Ein Jahr oder zwei. Vielleicht auch drei. Kann’s nicht mit Sicherheit sagen. Du bist nicht aus Weggismarche, aber du sprichst die Sprache ganz gut – weit gereist?“

Kiril nickte. „Und lange. Von Mediwewa her, Tausende von Kilometern. Zehntausende.“

„Kenn’ ich nicht. Mein Name ist Jury.“

„Kiril.“ Sie tauschten einen Händedruck.

„An diesen Ort muß man sich erst gewöhnen. Auch an das Geheimnis. Haste das Geheimnis schon gefunden?“

„Nein. Ist es in dem Ball?“

„Nein“, sagte der Ball mit der Stimme eines Kindes. Kiril zuckte zurück, fing sich dann und tat so, als habe er nur seinen Tornister aufheben wollen. Der Pallastaner lächelte.

„Nicht gerade das Geheimnis“, sagte er, „aber er wird dir helfen, alles zu verstehen. Ich hör’ ihm nicht mehr viel zu. Du mußt ihm eine Frage stellen, bevor er dir antwortet, außer vielleicht, wenn du ihn zum ersten Mal siehst. Da sagt er dir von sich aus, was er ist.“

„Bekommen wir sie alle?“

„Du lernst schnell. Dann mußt du auch über die Wanderung Bescheid wissen.“

Kiril nickte. „Was sind sie?“

„Sie sagen, sie wär’n Teil der Welt. Das ist ihre Leier. Ich vertrau’ ihnen nicht mehr, nicht völlig jedenfalls. Behalt meinen nur“, er wog ihn in der Hand, „weil er ein paar nützliche Sachen weiß.“

„Wo finde ich meinen?“

Jury deutete auf die Stelle in der Wand, wo Kiril die Kuppel betreten hatte. „Dahinter. Es gibt da einen Ort, wo wir Essen und Wasser kriegen und einen Platz zum Schlafen, wenn man ihn benutzen will.“

„Dann laßt uns gehen.“

„Auch gestorben, deine Frau?“ fragte Jury, während er vor dem schwach leuchtenden Kreis zögerte.

„Gestorben gerade nicht. Sie wurde fest, wie Eis oder Silber.“

„So gut wie tot. Meine nämlich auch, ’ne alte Sage verriet mir, was zu tun sei – na, genaugenommen hat mein Vater mir gesagt, was ich tun sollte. Er starb an Altersschwäche, grad’ bevor ich loszog. Ich fühlte mich irgendwie verpflichtet, weiterzumachen. Aber jetzt, wo ich hier bin – tja, das ist ’ne andere Geschichte.“

„Ich habe recht starke Beweggründe.“

„Du bist einen langen Weg gekommen. Hast auch ’ne Menge seltsamer Dinge geseh’n, wett’ ich.“

Kiril nickte. Jury bedeutete ihm, zuerst hindurchzutreten.

Gleich darauf standen sie in einem Flur mit quadratischem Querschnitt. Am Ende des Flures befand sich ein großer, kreisförmiger Raum mit überkuppelter Decke. Eine helle, warme Ausbuchtung in der Decke sorgte für Licht und Wärme. Teile des Bodens waren schwammig und porös. In der Mitte des Raumes gab es einen Tisch, nüchtern und weiß. Als sie näherkamen, summte der Tisch, und Schüsseln erschienen. Sie waren aufgedeckt, und einige dampften. Der Duft war appetitanregend. Zwei enthielten eine dicke, suppenartige Flüssigkeit. Andere beinhalteten Früchte und rohes Gemüse. „Danke“, sagte Jury zu den Wänden. Er hob eine Schale mit kalter roter Flüssigkeit und prostete Kiril zu, dann hockte er sich auf seine Hinterbacken, um zu essen und zu trinken.

„Deiner“, sagte er. Mit einiger Anstrengung verschob er eine Schüssel – sie ruhte auf dem Tisch, als sei sie irgendwie beschwert oder magnetisiert, und ließ sich nicht herunterheben – und zeigte ihm einen weiteren Ball. Kiril nahm ihn an sich. „Na los, mach“, drängte Jury. „Frag ihn was.“

Er ließ ihn in die ausgebeulte Tasche seines Wamses fallen. „Ich warte lieber bis später.“

Jury zuckte die Achseln und stippte seine Finger in die Suppe, um sie dann abzulecken. „Kein Besteck“, sagt er. „Lassen einen wie Tiere essen.“

Nachdem sie sich sattgegessen hatten, rückten sie vom Tisch ab. Die Schüsseln verschwanden, indem sie mit der Tischplatte verschmolzen. „Es gibt noch einen Ort, den du bestimmt gerne zwischen jetzt und der Schlafenszeit sehen möchtest. Nach einer Weile wirst du dich an die Reihenfolge der Orte, zu denen man hier nacheinander gehen kann, gewöhnen. Man benutzt dieselbe Tür, kommt aber jedesmal an einen anderen Ort. Zuerst ist da das Observatorium – die Glaskuppel, aus der wir gerade gekommen sind –, dann geht’s hierher, dann zur nächsten Station.“ Er ließ das Kerngehäuse einer Frucht auf die Tischplatte fallen. Sofort zerfloß es und wurde aufgesogen. „Aber in den Tunnel im Wall kommst du nie zurück. Die lassen einen nicht.“

„Ich bin bereit“, sagte Kiril. Er stand auf und wischte sich die Hände an der Hose ab, sah aber, daß das gar nicht nötig war. Sie waren sauber. Jury schritt ihm voraus und schlüpfte durch den Kreis. Er folgte.

Sie traten in eine glasumwandete, enge Kabine. Jetzt waren sie nicht länger auf der Oberseite Des Walls oder irgendwo in seinem Innern. Der Eingangskreis war auf einem Sockel in der Mitte der Kabine installiert und öffnete sich auf eine direkte Aussicht auf die Länder unterhalb Des Walls. Sie konnten die Kante Des Walls sehen und die leuchtenden Säulen längs dieser Kante, die dieselbe Funktion erfüllten wie die Obelisken.

Als sie um den nur wenige Zentimeter dicken Sockel herumgingen, schauten sie über den Rand der Welt hinaus, die sie bis dahin gekannt hatten. In jener Richtung lag Dunkelheit, gemildert nur von den seltenen Feuertauben. Kiril blickte hinunter. Und immer weiter hinunter. Der Wall hörte auf. Dahinter war ein Fluß aus Nacht. Vage gewunden mäanderte der Streifen aus Schwarz zwischen dem Grau der Oberfläche Des Walls und einer anderen Oberfläche jenseits davon dahin. Die beiden Wälle, Rücken an Rücken, waren wenigstens dreitausend Kilometer breit. Zu beiden Seiten verschwanden sie in sanften Kurven. Er rief sich Bar-Wotens Zahlen über Hegiras Größe ins Gedächtnis zurück – 249.000 Kilometer im Durchmesser. Rasch rechnete er im Kopf den Umfang aus – 780.000 Kilometer.

Jenseits des Flusses aus Nacht und des zweiten Walls war eine weitere Landschaft. Sie sah anders aus, als sähe man sie durch ein rotes Glas und seltsam verzerrt. Das erriet Kiril, war die Heimat der Dünnen.

Ihm wurde schwindelig.

„Kein Grund zur Besorgnis“, sagte Jury. „Wenn du nach unten schaust, in diese Richtung da, wirst du sehen, daß wir auf einem Bogen sind. Er trägt uns. Wir fliegen nicht oder sonst was Albernes.“

„Was ist hinter dem Fluß – dem schwarzen Streifen?“

„Ein anderer Abschnitt Hegiras. So was in der Art wie unserer, nur anders. Wie anders, weiß ich auch nicht sicher. Was denkst du?“

„Ich würde gerne wissen, was Hegira ist“, sagte Kiril.

„Frag den Ball“, sagte Jury. „Er wird’s dir erklären, aber du wirst’s nicht begreifen. Er weiß nicht, wie man mit bloßen Menschen spricht, bloßen Zweitgeborenen.“

„Wieviel werde ich verstehen?“

„Hängt davon ab, was du gelernt hast, bevor du hierherkamst. Wenn du einer von diesen verrückten Leutchen bist, die grad’ unterhalb Des Walls hausen, kann es sein, daß du ’ne Menge verstehst. Aber von denen habe ich noch keinen hier durchkommen sehen – schätze, die hält man aus irgendeinem Grund schön außen vor. Wenn du von einem Ort wie Pallasta kommst, verstehst du vielleicht ein bißchen. Mag sein, daß du Jahre damit zubringst, es zu versuchen, und immerhin eine grobe Vorstellung kriegst. Ich verstehe nur ein paar Bruchstücke – nicht annähernd genug. Ich war nur ein Straßenbauarbeiter.“

Der nächste Abschnitt Hegiras bewegte sich wahrnehmbar in Relation zu ihnen. Offenbar drehte er sich im Gegensinne zu jenem Abschnitt, der die Welt enthielt, die Kiril kannte. „Was ist unter uns?“ fragte er.

„Präzisiere bitte“, forderte der Ball in seiner Tasche. Die kindliche Stimme überraschte ihn immer noch.

„Was ist in der Dunkelheit zwischen Den Wällen?“

„Ein Beinahe-Vakuum. Im Zentrum Hegiras, jenseits aller Segmente, liegt eine Singularität.“

„Ah“, seufzte Jury. „Das ist wieder mal ’n harter Brocken. Wird eine Weile dauern, das zu erklären.“

„Dann frage ich eben später.“

„Später ist’s auch nicht leichter.“

„Was ist Hegira?“ fragte Kiril den Ball.

„Ich werde das beantworten“, sagte Jury.

„Fehlinformationen sind nicht erlaubt. Diese Ausdehnung wird antworten.“

„Aber ich kann es ihm doch einfacher erklären!“ protestierte Jury.

„Eine einfache Erklärung kann es nicht geben“, sagte die Kind-Stimme.

„Hör mal, leg das Ding mal für ’ne Minute weg …“

„Jury ist nicht hinübergegangen“, sagte die Kugel ruhig. „Es kann kein Verstehen geben, wenn man nicht hinübergeht.“ Jury setzte zum Sprechen an, aber Kiril hob wütend und verwirrt die Hand.

„Ist der Doppelgänger meiner Frau auf der anderen Seite?“ fragte er.

„Ja.“

„Er lügt“, sagte Jury mit höhnischem Lächeln. „Deine Frau hat keinen Doppelgänger da draußen, und meine auch nicht.“

„Unrichtig.“

„Leg das Ding hin und hör mir gefälligst zu!“ sagte der Pallastaner streng.

Ein Teil Bar-Wotens war immer noch in Kiril vorhanden, ein winziger Homunkulus, der ein eigenes Leben und eigene Urteilsfähigkeit besaß. Er sagte Kiril, daß der Pallastaner nicht sehr verläßlich sei.

„Ich halte mich lieber an den Ball“, verkündete Kiril ebenso streng. Der Pallastaner holte tief Luft.

„Ich habe keinen Grund hinüberzugehen“, sagte er. „Der Obelisk hat mein Heimatland ausradiert. Meine Frau kann das nicht überlebt haben, egal, in welchem Zustand sie war.“

„Habt Ihr den Ball gefragt?“

„Nein“, sagte Jury. „Ich will’s gar nicht wissen. Du bist ’n verdammtes Stück neugieriger als ich. Also gut, mach, was du willst. Tu, was immer dir gefällt. Frag ihn alles. Du wirst genau wie die anderen enden – du wirst durch die Röhre gehen und nie wieder gesehen werden! Na los, mach nur zu!“ Jury lächelte breit, aber seine Hände zitterten. Er ging durch den Kreis, und Kiril war allein.

„Sage mir, was Hegira ist“, verlangte er einen Augenblick später.

„Das wird viel Zeit in Anspruch nehmen“, erwiderte die Kugel. „Darin eingeschlossen ist eine Historie der Erstgeborenen.“

„Ich bin bereit“, sagte Kiril. Zwei andere in ihm – wenigstens zwei – warteten ebenfalls.

Da waren keine unmittelbare Teilhabe an einem Mysterium oder das Erlebnis mystischer Schönheit, nur die Stimme eines Kindes, die ihn wissen ließ, daß dies eine Angelegenheit rein intellektueller Versenkung sei und keine religiöse Offenbarung. Kommende Generationen mochten voller Ehrfurcht auf die Geschichte zurückblicken, wenn ihnen danach zumute war – jetzt mußte sie kalt und rational erklärt werden.

Die Stimme war entfernt, als vernehme man sie durch einen weiten Höhlenraum, aber ohne Widerhall. Ihr Tonfall war nicht genau menschlich. Kein menschlicher Kehlkopf hatte die Worte zusammengefügt, bloß eine Näherung daran; und kein menschlicher Geist hatte ihre Abfolge oder den Sinn dahinter gegliedert. Kiril ahnte hinter dem, was gesagt wurde, eine Müdigkeit, nicht physischer, ja nicht einmal geistiger Natur – er wußte nicht, wie er sie benennen sollte. Es war, als ob das Medium, das den Klang der Worte beförderte, in sich selbst unglaublich alt und müde sei. Die Wirkung war eine von sich herabsenkendem Staub und alles umschließender Dunkelheit. Er begann, unkontrollierbar zu beben. Bilder drängten sich in seinen Geist, die nicht von Worten allein heraufbeschworen worden sein konnten.

Er verstand nicht alles, einiges davon war schrecklich fremdartig. Aber er hörte trotzdem zu.