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Die Dreizack dampfte aus dem Hafen hinaus, begrüßt von hellem Himmel und ruhigem Wasser. Zwar war sie längs des Rumpfes mit Rost übersät, und einige ihrer Segel waren das reinste Flickwerk, aber ihre Maschinen liefen glatt, und ihre Methantanks waren voll. Für Bar-Woten klang sie nicht mehr so wie früher – ihr Quietschen und ihre Seufzer und Schnalzer kamen nun von anderen Stellen des Schiffes und in anderem Rhythmus –, aber sie lief gut vor dem Wind, als er schließlich aufkam, und es ertönten auch keine unheilverkündenden Geräusche. Sie war wieder seetüchtig.
Golumbine trieb davon in den Süden. Gegen Abend konnten sie die Insel nicht länger sehen. Sie segelten in die dunkelblauen Fluten hinein, die die nördlichen Gewässer der Bicht av Genevar kennzeichneten. Einmal aus den warmen Strömungen rings um Golumbine heraus, wurde die Luft bald kühl. Hohe Wolken von Eiskristallen schimmerten droben, als das letzte Tageslicht verblaßte; Fischgrät, Federbusch, Spitze und Fliegenflügel. Auf Kiril wirkte es manchmal so, als würden da kryptische Botschaften in den Himmel geschrieben, beinahe entzifferbar.
Barthel und Avra und zwei Navigationsoffiziere studierten das morgengleiche Strahlen und Glänzen des Lichtes über dem gefallenen Obelisken und versuchten herauszufinden, wie es heller wurde und warum es verblaßte. Barthel hatte das unangenehme Gefühl, daß es kein natürlicher Vorgang sei, den sie beobachteten – nicht das Werk Allahs, sondern etwas eine Spur weniger Erhabenes, wenngleich keineswegs weniger Eindrucksvolles.
Bar-Woten arbeitete mehrere Tage daran, kleine Lecks in den Methantanks zu finden, dort, wo sie besonders belastet worden waren. Er arbeitete schweigend und hingebungsvoll, unter Einsatz seines ganzen Körpers, froh, wieder unterwegs zu sein. Wenn seine Schicht um war, ging er zum Bug, wo er dann stand, einen Fuß auf die Verankerung des Bugspriets gestützt, und mit zusammengekniffenen Augen nach Norden starrte, als rätsele er darüber nach, was voraus lag. Bisweilen erschauerte er und ging in seine Kabine, bevor die Dunkelheit hereinbrach. Nichts von dem, was er in der dunstigen Ferne sah, gefiel ihm.
Und nichts von dem, was sie in der Bicht vorfanden, war ermutigend. Die meisten der kleinen Inseln waren jetzt öde Wüsten von Sand und Schlamm mit Büscheln von Salzgras darauf. Die größeren waren nicht nur von Flutwellen und Beben verheert worden, sondern auch von etwas, das ganz nach einem Krieg aussah. Ganze Ortschaften waren aufs Geratewohl wieder aufgebaut worden, nur um anschließend den Flammen übergeben zu werden. Kein Handel war möglich, wo die einzigen Einwohner halbtote alte Frauen und Kinder mit aufgedunsenen Bäuchen waren. Die Dreizack leistete Beistand, wo sie nur eben konnte, aber die Fälle häuften sich, in denen sie unter Volldampf wieder auslaufen mußte, dichtauf gefolgt von Schiffen mit verzweifeltem Pöbel an Bord.
Je weiter nach Norden sie segelten, desto mutloser wurden sie. Die Reise war ihnen sauer geworden. Der Kapitän blieb zurückgezogen, und alle Befehle wurden über die Maate und Deckoffiziere weitergegeben. Aber die Mannschaft war zu müde und geplagt, um zu murren oder gar Ärger vom Zaune zu brechen.
Jedesmal, wenn er Elend und Zerstörung sah, sagte Barthel sich im stillen, daß der Fall des Obelisken Allahs Methode sei, die sittliche Gesinnung der Menschen auf die Probe zu stellen. Aber die sittliche Gesinnung der Menschen gab nicht gerade eine ermutigende Vorstellung.
Am neunundzwanzigsten Tage nach ihrer Abreise von Golumbine erschien das Schiff-auf-Beinen. Es wurde keine wie auch immer gearteten Maßnahmen ergriffen. Die Dreizack behielt ihren Kurs bei und stieß weiter nach Norden vor, mit jedem Tag mehr unter dem grünlichen Licht des glühenden Flecks am Himmel segelnd. Das fahle Leuchten, ähnlich dem Licht, das an einem warmen Sommertag durch dünne Wolken fällt, warf keine Schatten und sprang nicht in blendendem Glanz von der See oder dem Metall des Schiffes zurück. Barthel fühlte sich ausgesprochen unwohl, wenn er auf Deck diesem trostlosen, gleichsam notdürftigen Schein gegenüberstand. Bar-Woten ignorierte das Glühen so gut wie möglich.
Das Schiff-auf-Beinen ignorierte er hingegen nicht. In der Bordbibliothek der Dreizack studierte er Handbücher über Kampftaktiken zu Wasser, mehr um seines Seelenfriedens willen als um irgendeinen feldherrlichen Plan zu entwerfen. Er wußte, daß Prekari wohl bewandert darin war, Schiffe unter gefährlichen Umständen zu führen. Aber er hatte nie eine Gelegenheit gehabt zu lernen, wie Kriege zur See geführt wurden, und er fand die Unterschiede faszinierend.
Die Dreizack war nicht für ein schweres Seegefecht ausgerüstet. Sie führte nur drei Geschütze, eines am Bug, eines am Heck und eines auf einer Lafette mittschiffs, grad heckwärts hinter dem ersten Schornstein. Darüber hinaus hatten sie einen tüchtigen Vorrat zerspaltener und ausgetrockneter Holzscheite an Bord, die sie während einer Schlacht zum Heizen in die Brenner geben konnten. In Notfällen wurden ihre Methantanks stets versiegelt und gegen Erschütterungen gepolstert, und sie lief entweder unter Segeln oder dampfte unter Holz.
Sie näherten sich gerade der Südküste von Pallasta, als das Unterseeboot erschien. Kiril hatte von ihnen gelesen, aber es erschütterte ihn, eines auftauchen und ihnen achteraus folgen zu sehen wie ein stahlgepanzerter Wal. Prekari befahl die Geschützmannschaften auf ihre Posten und stellte so rasch wie möglich von Methan auf Holz um. Rauch begann den Schornsteinen zu entströmen. Die Schornsteine knarrten und stöhnten, und Deckoffiziere überwachten das Lockern der Spanndrähte. Die Segel wurden zusammengerollt, und die Dreizack legte Geschwindigkeit zu, um ihren Verfolger auf die Probe zu stellen.
Sofort fiel das Unterseeboot zurück und ging auf Tauchstation. Prekari erschien auf dem Achterdeck und marschierte zuerst nach Backbord, dann nach Steuerbord, um über die Reling zu spähen. In Ermangelung eines besseren Einfalls befahl er, überall rings um das Schiff bleibeschwerte Lotleinen über Bord zu werfen. Sie wurden von Seeleuten besetzt, denen man eingeschärft hatte, jedes Nachlassen der Spannung der Leinen sofort zu melden. Falls das Unterseeboot sich entschloß, sie von unten zu rammen, würden sie es wenigstens im voraus wissen. Bar-Woten fand, daß es ein nutzloser Vorteil sein würde. Er blieb unter Deck bei den Maschinen, ein Gestänge zu betreuen, das unter der Belastung heißlief. Der Geruch schmorender Dichtungen verstopfte seine Nase, bis er schließlich alle paar Sekunden nieste. Aber er weigerte sich, nach oben zu gehen. Er weigerte sich, einzugestehen, daß er von etwas gejagt wurde, das er nicht sehen konnte.
Sieben Stunden lang liefen sie unter Alarm. Die Sondierbleie zeigten keine Veränderungen an. Prekari blieb auf dem Achterdeck in einem Klappstuhl und nahm dort auch schweigend seine Abendmahlzeit ein. Nachdem er den letzten Teller leergeputzt hatte, wischte er sich Mund und Bart mit einer Leinenserviette und ließ die Mannschaft von den Gefechtsstationen wegtreten. Bis zum nächsten Morgen, so ordnete er an, sollte noch mit Holz geheizt werden, aber ansonsten sollte das Schiff Fahrt machen wie gewöhnlich, bis sich etwas Neues ergab.
Bar-Woten ging an Deck, nachdem er seine Wache beendet hatte, und schaute den Feuertauben zu, wie sie über der pechschwarzen See schwebten. Die Fluten waren hier weniger belebt mit schimmernden Meeresorganismen. Fische wurden kaum noch gesichtet, und Seevögel waren rar.
Im Licht des Morgens, grau und unheimlich, sahen sie die Küste von Pallasta. Sie war ein wildes, verbranntes Band von Schwarz und Braun. Weggismarche hatte wenig friedlichen Handel mit Pallasta getrieben, einem Land, das eher zu militärischer Disziplin und strengen politischen Regimes neigte. Bis vor vier Jahrzehnten hatte zwischen ihnen ein beinahe ununterbrochener Kriegszustand geherrscht. Es sah nicht danach aus, als würde es weitere Kriege geben. Kiril blickte die zerfetzte Küste hinauf und hinab und fragte sich, warum Gott solche Verwüstung zulassen konnte und zu welchem Zweck. Sein Herz wurde bitter, und seine Nase füllte sich mit dem beißenden Geruch versengten Landes und toter Gewässer.
Mittlerweile hätte es Winter in Weggismarche und Pallasta sein müssen. Aber die Luft war warm und feucht, und die wenigen Berge, die sie sehen konnten, waren felsig und schneelos.
Zwei Wochen nach seiner ersten Erkundungsmission erschien das Schiff-auf-Beinen erneut. Die Mannschaft der Dreizack beobachtete es ergrimmt; zornige Rufe erklangen, Hände wurden zu Fäusten geballt. Bar-Woten verfolgte es mit einem Fernglas und registrierte, daß es Geschütze auf Deck hatte. Sein Rumpf hob sich aus dem Wasser, wenn es mit höchster Leistung fuhr, aber zu anderen Zeiten durchteilte es das Wasser wie ein ganz gewöhnliches Schiff, wenngleich immer noch ungewöhnlich schnell.
Prekari ließ die Geschütze bemannen und rief wieder Vollalarm für das Schiff aus. Sein Gefühl sagte ihm, daß sie darauf würden warten müssen, beschossen zu werden, falls überhaupt jemand das Feuer eröffnen sollte. Das Schiff-auf-Beinen hatte viel stärkere Waffen als die Dreizack. Es herauszufordern, war Irrsinn.
Als das Unterseeboot vor ihnen auftauchte, brüllte die Mannschaft vor ohnmächtiger Wut auf und geriet beinahe außer Kontrolle. Prekari ließ sie ihre Gefühle ein paar Minuten lang ablassen, bis sie heiser waren und den Mund hielten, dann befahl er, die Lotbleie wieder über die Seiten hinabzulassen, obwohl sie doch alle mit eigenen Augen das U-Boot voraus sehen konnten. Die Holzbrenner wurden beschickt, die Methantanks umwickelt und mit gummiummantelten Ketten gesichert.
Das Unterseeboot tauchte sogar noch höher aus dem Wasser auf. Ein Luk öffnete sich in seiner Rückenfinne. Ein bärtiger Mann nahm hinter dem Lukendeckel Aufstellung, wobei er ihn als Deckung benutzte, und stützte ein Sprachrohr auf die Oberkante. Er rief sie in einer Sprache an, die sie nicht verstanden. Als er keine Antwort bekam, versuchte er es noch einmal, und immer noch verstanden sie nichts. Er schüttelte den Kopf und verschwand. Kiril, steif vor Anspannung, stand am Bug, seine Lotleine in der Hand, und versuchte, die Wortverbindungen anhand ihres Klangbildes einzuordnen und sie zu enträtseln. Sie waren vertraut, aber er konnte sie nicht unterbringen. Er hatte nicht alle Obelisken-Sprachen studiert, aber er hatte genug davon durchgearbeitet, um viele der Worte wiederzuerkennen.
Zwei Männer erschienen hinter dem offenen Luk. Einer glitt aus und fiel fast von dem Rippendeck auf dem Rücken des U-Bootes. Er gewann seinen Halt zurück und betrachtete durch ein Doppelfernrohr die Dreizack, wobei er den Flaggen, die an Bug und Heck von ihrer Takelage flatterten, besondere Aufmerksamkeit zollte. Dann sagte er etwas zu seinem Begleiter, und wieder wurde das Sprachrohr hervorgeholt. Dieses Mal sprach der Mann Teutanisch, dumpf und mit starkem Akzent, aber erkennbar.
„Sie sind aufgefordert, uns zu folgen“, sagte er. „Sie werden in einen Hafen drei Tage von hier geleitet.“
„Das bringt uns in die Bleichen Meere“, erklärte Barthel Kiril. Avra stand neben ihm, den Mund zu einem dünnen, grimmigen Strich zusammengepreßt. Die Fahrensleute von Weggismarche hatten die Bleichen Meere stets gemieden. Hegira, so sagten sie, verhielt sich dort nicht so wie überall sonst. Am Ende der Bleichen Meere lag Der Wall, der das Ende dieses Teils der Welt darstellte. Niemand war je dort gewesen und zurückgekehrt – jedenfalls nicht, solange man zurückdenken konnte. Heute längst legendäre Gestalten sollten die Geschichte mit sich zurückgebracht haben.
Prekaris Entgegnung kam durch Boten vom Achterdeck. Der Erste Maat verlas die Antwort durch eine Flüstertüte.
„Wir lehnen dankend ab und möchten, wenn’s beliebt, gern unseren eigenen Kurs verfolgen.“
Das Schiff-auf-Beinen rückte näher. Signalflaggen wurden an seinem Mast aufgezogen. Kiril konnte sie nicht lesen, wohl aber Barthel. Er stückelte die Bedeutung zusammen. „‚Folgt Schiff, oder ich feuere’, heißt es.“
„Sie haben keine andere Wahl“, bellte das Sprachrohr. „Folgen Sie uns, oder wir versenken Sie.“
Fünfzehn Minuten lang hüllte sich Prekari in Schweigen. Dann sprach er, und der Erste Maat rief das U-Boot neuerlich an. „Wir werden es keinem Prisenkommando gestatten, an Bord zu kommen. Wir folgen Euch, bis die Feuertaube Skhar eine Aszension von dreiunddreißig Grad erreicht. Danach werden wir die Angelegenheit erneut diskutieren.“
Barthel grinste. Es gab keine Feuertaube namens Skhar, und in diesen Gewässern erreichte keine der helleren Feuertauben genau dreiunddreißig Grad. Der Kapitän benützte eine Hinhaltetaktik.
„Wir verstehen den Verweis nicht“, sagte das Unterseeboot. „Sie werden uns folgen, und es wird keine weiteren Diskussionen geben.“
Prekari gab das Signal, die Geschütze zu laden.
Das Schiff-auf-Beinen drosselte seine Maschinen, so daß es langsam ins Wasser sank, und glitt hinter die Dreizack. Angesichts des Unterseebootes vor und des Schiffsauf-Beinen hinter ihnen gab es wenig, was sie tun konnten. Prekari beorderte die Mannschaft auf Gefechtsstation und befahl seinen Maaten, dem Unterseeboot zu folgen, bis weitere Befehle ergingen.
Wenn sie in die Bleichen Meere vorstießen, würde ihr Kurs sie über Pallastas nördliche Grenzen und Weggismarche hinausführen. Wenn von Weggismarche oder Nin nichts übriggeblieben war, dann gab es keinen Grund, warum sie nicht zum Wall selbst segeln sollten. Der Erste Maschinenmaat, ein stämmiger, behaarter Mann, wandte sich an Bar-Woten, während sie vom Achterdeck aus zuschauten.
„Es ist alles sinnlos, wenn wir keine Heimat haben, in die wir dann und wann einmal zurückkehren können“, sagte er. Er rollte seine Ärmel auf und band sie mit Taustücken fest. „Komm, geh’n wir nach unten und kümmern uns um dieses eine Gestänge. Wir werden sie ganz schön unter Dampf halten müssen, wenn wir dem Ding da folgen wollen, und der Käpt’n kann gar nicht anders, als uns auf Holz zu halten. Mit Ausruhen und sich auf’s Ohrhauen ist da nix.“
Dampf, Wasser und Hitze, hinein und hinaus in stetigem Strom – das war ihre einzige Überlebenschance, die einzige Hoffnung, die Bar-Woten anerkannte. Er stellte sich vor, von unbekannten Männern gefangengenommen zu werden; vielleicht gar getötet. So weit er es zu sagen vermochte, war die Reise jetzt an einem Endpunkt angelangt. In schwärzester Verzweiflung sah er zu, wie das Gestänge glomm und schwelte, und vollführte mechanische Bewegungen, es zu kühlen und ihm die Arbeit zu erleichtern.