Undecima Pars
Ayyo! Nachdem Euer Exzellenz uns solange vernachlässigt hat gesellt Ihr Euch wieder zu uns. Aber ich glaube, ich kann den Grund erraten, stehe ich doch im Begriff, jetzt von den neueingetroffenen Göttern zu berichten, und Götter interessieren einen Mann Gottes selbstverständlich immer. Wir fühlen uns durch Eure Anwesenheit geehrt, Señor Bischof. Und um Eure Zeit nicht über Gebühr in Anspruch zu nehmen, will ich mich mit dem Bericht über dieses Zusammentreffen mit besagten Göttern beeilen. Zuvor möchte ich nur noch einmal kurz abschweifen und von einer Begegnung mit einem wesentlich kleineren und niedrigeren Wesen berichten, welches sich später freilich als keineswegs so klein erweisen sollte.
Ich verließ Tenochtítlan also einen Tag, nachdem ich dorthin zurückgekehrt war, von neuem, diesmal freilich mit großem Gepränge. Da der schreckenerregende rauchende Stern tagsüber nicht in Erscheinung trat, wimmelte es auf den Straßen von Menschen, welche mit großen Augen zusahen, in welcher Pracht ich diesmal davonzog. Ich hatte den Adlerhelm mit dem drohend aufgesperrten Schnabel auf dem Kopf und dazu trug ich den gefiederten Kampfanzug des Adlerritters sowie am Arm meinen Schild mit dem federgewirkten Namenssymbol darauf. Sobald ich jedoch die Dammstraße hinter mir hatte, vertraute ich diese Dinge dem Sklaven an, welcher den Wimpel und die anderen Insignien trug, die meinen Rang verkündeten, und zog für unterwegs bequemere Kleidung an. Meinen Ritterstaat legte ich immer erst dann wieder an, wenn wir unterwegs durch die eine oder andere bedeutendere Siedlung hindurch kamen, wo ich den örtlichen Herrscher mit meiner eigenen Bedeutung beeindrucken wollte.
Der Uey-Tlatoáni hatte mir einen vergoldeten und edelsteingeschmückten Tragstuhl zur Verfügung gestellt, in welchem ich mich tragen ließ, sobald ich nicht mehr gehen mochte. In einem zweiten Tragstuhl führte ich alle Geschenke mit, die ich dem Xiu-Häuptling Ah Tutál überreichen sollte, und daneben weitere Geschenke, welche für die Götter bestimmt waren – falls es sich herausstellen sollte, daß es sich wirklich um Götter handelte und falls sie derlei Angebinde nicht verächtlich von sich weisen sollten. Neben meinen Tragstuhlträgern und den Trägern, die unseren Reiseproviant schleppten, begleitete mich ein Trupp von Motecuzómas größten, kräftigsten und eindrucksvollsten Palastwachen, welche alle furchtgebietend bewaffnet und auf das prachtvollste gewandet waren.
Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß Räuber und andere Bösewichter es nicht wagten, einen solchen Zug anzugreifen. Und brauche wohl auch die Gastfreundschaft nicht zu erwähnen, mit welcher wir unterwegs überall aufgenommen und bewirtet wurden. Ich will nur von einer Begebenheit berichten, zu der es kam, als wir eine Nacht in Coátzacoálcos übernachteten, jenem Marktflecken an der Nordküste, dort, wo das Land zwischen den beiden großen Meeren im Osten und im Westen die schmälste Stelle erreicht.
Ich und mein Gefolge trafen gegen Sonnenuntergang eines der offenbar geschäftigsten Markttage der Stadt ein, und so zogen wir nicht in die Stadtmitte, um als bedeutende Besucher untergebracht zu werden. Vielmehr schlugen wir einfach unser Lager auf einem Feld vor der Stadt auf, wo andere, spät eintreffende Händlerkolonnen das gleiche taten. Diejenige, welche gleich neben uns lagerte, war die Kolonne eines Sklavenhändlers, welcher eine stattliche Anzahl von Männern, Frauen und Kindern auf den Markt trieb. Nachdem wir gegessen hatten, schlenderte ich zum Sklavenlager hinüber und überlegte halb, ob ich nicht einen passenden Ersatz für meinen verstorbenen Sklaven Stern Sänger finden könnte und noch ein gutes Geschäft machte, wenn ich einen der Männer kaufte, ehe morgen auf dem Markt in der Stadt Angebote auf sie abgegeben wurden.
Der Pochtécatl erzählte mir, er habe seine Menschenherde einzeln oder höchstens paarweise von Olmeca-Stämmen zusammengekauft, welche – wie etwa die Coatlicamac und die Cupilco – weiter im Landesinneren lebten. Seine Kette von männlichen Sklaven war wirklich eine Kette: Sie reisten und ruhten, aßen und schliefen sogar alle zusammengekettet durch ein langes Seil, welches durch die durchbohrte Nasenscheidewand eines jeden einzelnen von ihnen hindurchgeführt worden war. Die Frauen und Mädchen freilich durften sich frei bewegen, um solche Arbeiten wie Lageraufschlagen, Feuermachen, Kochen, Wasserholen, Holzsammeln und so weiter erledigen zu können. Als ich müßig umherging und die Ware betrachtete, trat bescheiden ein junges Mädchen mit einem Krug und einer Kalebassenschöpfkelle auf mich zu und fragte freundlich:
»Möchte der Herr Adlerritter vielleicht einen Schluck kühlen Wassers? Auf der anderen Seite des Feldes fließt ein Fluß, der ins Meer geht, und ich habe diesen Krug schon vor geraumer Zeit hineingehalten und gefüllt, so daß sich alle Unreinheiten gesetzt haben werden.«
Während ich trank, schaute ich sie über die Kalebasse hinweg an. Offenkundig handelte es sich um ein Mädchen aus dem Hinterland, klein und schlank, freilich nicht sonderlich sauber, und in ein knielanges Gewand aus billigem Sackstoff gekleidet. Aber sie war weder häßlich von Gesicht, noch von dunkler Hautfarbe; vielmehr mußte man sie – auf eine weiche und noch unreife Weise – eigentlich recht ansprechend nennen. Auch kaute sie nicht, wie sonst jede andere Frau rings umher, Tzictli und war offenbar auch nicht ganz so blöde, wie man hätte erwarten sollen.
»Du hast mich auf Náhuatl angesprochen?« sagte ich. »Wieso kommt es, daß du diese Sprache sprichst?«
Das Mädchen setzte ein tief bekümmertes Gesicht auf und murmelte: »Man kommt viel herum, wenn man immer wieder gekauft und verkauft und gekauft wird. Das ist jedoch immerhin etwas, wobei man sich eine gewisse Bildung aneignet. Meine Muttersprache ist das Coatlicamac, Gebieter, aber ich habe einige Maya-Dialekte gelernt und die Handelssprache Náhuatl.«
Ich fragte sie nach ihrem Namen. »Ce-Malinali«, sagte sie.
»Ein Gras?« sagte ich. »Das ist aber nur ein Kalenderdatum und nur die Hälfte eines Namens.«
»Ja«, seufzte sie mit trauerumflortem Blick. »Selbst Sklavenkinder, die von Sklaveneltern geboren werden, bekommen am Namensgebungstag einen neuen Namen. Ich jedoch habe nie einen bekommen, Gebieter. Ich bin weniger als eine sklavengeborene Sklavin. Ich bin ein Waisenkind von Geburt an.«
Sie erklärte es genauer. Ihre unbekannte Mutter war eine Coatlicamatl-Schlampe gewesen, die von irgendeinem der vielen Männer schwanger geworden war, für die sie die Beine gespreizt hatte. Die Frau hatte sie irgendwann, während sie draußen auf dem Feld arbeitete, geboren – genauso gleichgültig, wie sie ihre Notdurft verrichtet haben mochte –, und hatte ihr Neugeborenes dort liegen lassen, genauso gleichgültig, wie sie ihren Kot hätte liegen lassen. Irgendeine andere, weniger herzlose, vielleicht aber selber kinderlose Frau hatte das ausgesetzte Baby gefunden, ehe es zugrunde gegangen war, hatte es mit nach Hause genommen und durchgebracht.
»Aber wer diese freundliche Retterin war, weiß ich nicht mehr«, sagte Ce-Malinali. »Ich war noch ein Kind, als sie mich verkaufte – für Mais zum Essen –, und seither bin ich von einem Besitzer zum anderen gekommen.« Sie setzte das Gesicht eines Menschen auf, welcher lange gelitten hat und doch durchgekommen ist. »Ich weiß nur, daß ich am Tage Ein Gras des Jahres Fünf Haus geboren wurde.«
»Nein«, rief ich. »Das ist ja derselbe Tag und dasselbe Jahr, an dem meine eigene Tochter in Tenochtítlan geboren wurde. Sie hieß gleichfalls Ce-Malináli, bis sie an ihrem siebenten Geburtstag den Namen Zyanya-Nochipa erhielt. Du bist klein für dein Alter, Kind, dabei bist du genauso alt wie …«
Erregt fiel das Mädchen mir in die Rede. »Warum kauft Ihr mich denn dann nicht, Gebieter, als Dienerin und Gefährtin für Eure Dame Tochter!«
»Ayya«, murmelte ich voller Trauer. »Diese andere Ce-Malináli … sie ist gestorben … vor fast drei Jahren …«
»Dann kauft mich als Hausmädchen«, drängte sie. »Oder Euch aufzuwarten, wie Eure Tochter es getan hätte. Nehmt mich mit Euch, wenn Ihr zurückkehrt nach Tenochtítlan. Ich tue jede Arbeit oder« – züchtig senkte sie die Augen – »erweise Euch jeden untöchterlichen Dienst, den mein Gebieter von mir verlangen könnte.« Ich nahm neuerlich einen Schluck aus der Schöpfkelle und prustete das Wasser wieder heraus. Woraufhin sie sich beeilte zu sagen: »Oder Ihr könnt mich in Tenochtítlan verkaufen, falls mein Gebieter über das Alter hinaus ist, derlei Verlangen zu haben.«
»Unverschämter kleiner Balg«, fuhr ich sie an. »Die Frauen, nach denen ich verlange, brauche ich nicht zu kaufen.«
Sie fuhr bei diesen Worten nicht zusammen und wand sich nicht; vielmehr sagte sie keck: »Und ich möchte nicht nur meines Körpers wegen gekauft werden. Ich kann mit anderen Dingen aufwarten, Gebieter – ich weiß es –, und ich sehne mich danach, meine Fertigkeiten unter Beweis zu stellen.« Sie packte mich am Arm, um ihrer Bitte Nachdruck zu verleihen.
»Ich möchte dorthin, wo man mich noch anderer Dinge wegen zu schätzen weiß und nicht nur, weil ich eine junge Frau bin. Ich möchte mein Glück in einer großen Stadt versuchen. Ich nähre ehrgeizige Pläne, Gebieter, ich habe Träume. Aber die werden fruchtlos bleiben, wenn ich verdammt werde, für immer als Sklavin in diesen elenden Provinzen zu verkommen.«
Ich erklärte: »Eine Sklavin bleibt eine Sklavin, selbst in Tenochtítlan.«
»Nicht immer, jedenfalls nicht unbedingt.« Sie war von ihrem Gedanken nicht abzubringen. »In einer Stadt gebildeter Männer erkennt man vielleicht meinen Wert, meinen Geist und mein Streben. Ein großer Herr könnte mich zu seiner Konkubine und hinterher sogar zu einer freien Frau machen. Lassen nicht einige Herren ihre Sklaven frei, wenn sie solches verdienen?«
Ich sagte, ja, derlei komme vor; ich selbst hätte das einmal getan.
»Ja«, sagte sie, als ob sie mir ein Zugeständnis abgerungen hätte. Sie drückte mir den Arm, und ihre Stimme bekam etwas Schmeichlerisches. »Ihr braucht keine Konkubine, Gebieter. Ihr seid als Mann stattlich und ansehnlich genug und braucht euch keine Frauen zu kaufen. Aber es gibt andere – alte oder häßliche Männer –, die darauf angewiesen sind, das zu tun und es daher auch tun. Ihr könntet mich mit Gewinn an einen solchen Mann in Tenochtítlan verkaufen.«
Ich hätte wohl Mitleid haben sollen mit dem Kind. Auch ich war einst jung gewesen, überschäumend und von Ehrgeiz durchdrungen, und hatte mich danach verzehrt, mein Glück in der größten aller Städte zu machen. Doch die Art und Weise, wie Ce-Malinali versuchte, sich bei mir beliebt zu machen, hatte etwas so Hartes und Eindringliches, daß ich es alles andere als angenehm empfand. Ich sagte: »Du scheinst eine sehr hohe Meinung von dir selbst zu haben, Mädchen, und eine sehr geringe Meinung von den Männern.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Die Männer haben die Frauen immer zu ihrem Vergnügen benutzt. Warum sollte daher nicht einmal eine Frau die Männer benutzen, um weiter voranzukommen? Wiewohl ich den Liebesakt nicht mag – ich kann so tun, als ob er mir Vergnügen bereitete. Und obgleich man mich noch nicht sonderlich viel benutzt hat, bin ich darin schon ganz gut. Wenn diese Gabe mir hilft, mich aus meinem Sklavendasein herauszuheben … nun … ich habe gehört, daß die Konkubine eines hohen Herrn größere Vorrechte genießen kann als selbst seine legitime Erste Dame. Und selbst der Verehrte Sprecher der Mexíca hat viele Konkubinen, habe ich nicht recht?«
Ich lachte. »Kleine Hexe, dein Ehrgeiz geht wirklich sehr hoch.«
Beißend sagte sie: »Ich weiß, ich habe mehr zu bieten als nur ein Loch zwischen den Beinen, das immer noch einladend eng und zart ist. Wenn einem Mann der Sinn danach steht, braucht er nur ein Techichi-Hündchen zu kaufen.«
Ich machte mich von ihrem Griff an meinem Arm frei. »Wisse denn, Mädchen! Manchmal hält ein Mann sich einen Hund, bloß um einen liebevollen Gefährten zu haben. Ich kann keine Liebesfähigkeit in dir erkennen. Und ein Techichi gibt auch schon ein nahrhaftes Mahl ab. Du bist nicht sauber und appetitlich genug, um gekocht zu werden. Zwar verstehst du dich für ein Mädchen deines Alters und deiner niedrigen Herkunft auszudrücken. Aber du bist nichts weiter als eine hinterwäldlerische Range, die nichts zu bieten hat außer großmäuligem Gerede, schlechtverhohlener Gier und einer bemitleidenswerten Vorstellung von der eigenen Bedeutung. Du gibst zu, daß es dir nicht einmal Spaß macht, dein enges Loch, dessen du dich rühmst, und in dem dein einziger Wert besteht, nutzbar anzuwenden. Wenn du deine Sklavenschwestern in irgendeiner Weise überragst, dann nur in eitler Vermessenheit.«
Fauchend fuhr sie mich an: »Ich kann dort drüben an den Fluß gehen und mich sauber waschen – kann mich reizvoll machen – und Ihr würdet mich nicht zurückweisen! In feinen Kleidern könnte man mich für eine feine Dame halten! Ich kann so tun, als ob ich liebte, und selbst Ihr würdet mir glauben!« Sie hielt inne, um dann höhnisch zu sagen: »Welche Frau ist jemals anders mit Euch verfahren, Gebieter, wenn all ihr Sinnen und Trachten darauf gerichtet war, mehr zu sein als ein Gefäß für Euer Tepúli?«
Es juckte mir in den Fingern, sie ihrer Unverschämtheit wegen zu züchtigen, doch diese herabgekommene Sklavin war schon fast eine Frau, und es ging nicht an, ihr das Hinterteil zu versohlen wie einem Kind; sie war aber auch zu jung, um geschlagen zu werden wie eine Erwachsene. So konnte ich ihr nur die Hände auf die Schultern legen, doch griff ich hart zu, um ihr wehzutun, und mit zusammengebissenen Zähnen sagte ich:
»Es stimmt, ich habe auch andere Frauen gekannt, die wie du waren: käuflich, betrügerisch und hinterhältig. Aber ich habe auch andere gekannt, die das nicht waren. Eine von ihnen war meine Tochter, geboren mit demselben Namen, den auch du trägst, und wäre es ihr vergönnt gewesen weiterzuleben, sie hätte diesen Namen zu etwas gemacht, worauf sie hätte stolz sein können.« Ich konnte meinen aufwallenden Zorn nicht unterdrücken, und meine Stimme erhob sich mit ihm: »Warum hat sie sterben müssen, während du lebst?«
Ich schüttelte diese Ce-Malinali so heftig, daß sie den Wasserkrug fallen ließ. Er zerbrach, und das Wasser spritzte auf, doch ich achtete nicht auf dieses Zeichen böser Vorbedeutung. Ich schrie so laut, daß sich überall im Lager Köpfe nach mir umdrehten, und der Sklavenhändler kam herbeigelaufen und flehte mich an, nicht so roh mit seiner Ware umzugehen. Ich glaube, in diesem Moment ist mir für einen kurzen Augenblick die Vision eines Sehers zuteil geworden, hatte ich einen kurzen Blick in die Zukunft werfen dürfen, denn was ich schrie, war dies:
»Du wirst diesen Namen zu etwas Unreinem, Schmutzigen und Verächtlichen machen, und alle Menschen werden ausspucken, wenn sie ihn aussprechen!«
Ich merke, Euer Exzellenz bekunden Ungeduld, daß ich bei einer Begebenheit verweile, die Euch bedeutungslos vorkommen muß. Aber diese Begegnung, so kurz sie war, war mitnichten bedeutungslos. Wer dieses Mädchen war, zu wem sie als reife Frau wurde und was letzten Endes aus ihren frühreifen ehrgeizigen Plänen wurde – all diese Dinge sind von allergrößter Bedeutung. Wäre dieses Kind nicht gewesen, Euer Exzellenz wären möglicherweise heute nicht unser hochwürdigster Herr Bischof von Mexíco.
Ich hatte sie selbst schon vergessen, als ich an diesem Abend unter dem Schlimmes verheißenden rauchenden Stern einschlief, welcher mir zu Häupten am dunklen Himmel hing. Am nächsten Tag zog ich mit meinem Gefolge über Coátzacoálcos hinaus weiter. Wir hielten uns an die Küste und kamen durch die Städte Xicalánca und Kimpech und gelangten schließlich an jenen Ort, wo die mutmaßlichen Götter warteten, in die Stadt namens Tihó, Hauptstadt des Xiu-Zweiges der Maya in der nördlichsten Ecke der Halbinsel Uluümil Kutz. Bei unserer Ankunft war ich angetan mit der ganzen Pracht meiner Adlerritter-Insignien, und es versteht sich von selbst, daß wir von der Leibwache des Xiu-Häuptlings Ah Tutál voller Hochachtung empfangen und in feierlicher Prozession durch die Straßen dieser strahlend weißen Stadt bis zum Palast geleitet wurden. Freilich, ein richtiger Palast war es vielleicht nicht, aber wer erwartet schon prächtige Bauten unter den Nachfahren der Maya. Immerhin waren die einstöckigen, strohgedeckten Lehmziegelgebäude wie die gesamte übrige Stadt strahlend weiß getüncht, und die Palastgebäude waren im Quadrat um einen weitflächigen Innenhof herum errichtet.
Ah Tutál, ein hinreißend schieläugiger Herr meines Alters, war tief beeindruckt von der Pracht der Geschenke, welche Motecuzóma ihm schickte. Ich selbst wurde mit einem Festmahl willkommen geheißen, und während wir speisten, plauderten er und ich zwanglos über so überaus interessante Themen wie seine und meine Gesundheit sowie die aller unserer lebenden Freunde und Verwandten. Wir hätten keinen kleinen Finger für derlei nichtiges Geplauder gegeben; mir war jedoch darum zu tun herauszufinden, wie gut ich mit dem dortigen Dialekt der Mayasprache zurechtkam. Nachdem wir uns mehr oder weniger gegenseitig klargemacht hatten, wie weit es mit meinem Xiu-Vokabular ging, kamen wir auf den Grund meines Besuches zu sprechen.
»Herr Mutter«, sagte ich zu ihm, denn mit diesem lächerlichen Titel wird der Häuptling eines jeden Gemeinwesens dort unten angeredet, »sagt mir: sind sie Götter, diese Neuankömmlinge?«
»Ritter Ek Muyal«, sagte die Mutter und benutzte die Maya-Form meines Namens, »als ich Eurem Verehrten Sprecher die Nachricht zukommen ließ, war ich überzeugt, daß sie es wären. Aber jetzt …« Er setzte eine zweifelnde Miene auf.
Ich fragte: »Könnte einer von ihnen der langverschollene Gott Quetzalcóatl sein, welcher versprach wiederzukommen, jener Gott, den Ihr in diesen Landen Kukulkán nennt?«
»Nein. Zumindest hat keiner von diesen Fremden die Gestalt einer gefiederten Schlange.« Doch dann seufzte er und sagte: »Wenn einfach nichts Wunderbares an ihnen ist – wie soll man einen Gott erkennen? Diese beiden könnten durchaus dem Aussehen nach als Menschen gelten, wiewohl sie beträchtlich viel größer und wesentlich behaarter sind als alle anderen Menschen sonst. Sie sind sogar größer als Ihr.«
Ich sagte: »Nach der Überlieferung haben die Götter oft menschliche Gestalt angenommen, wenn sie der Welt der Sterblichen einen Besuch abstatten wollten. Da wäre es doch durchaus verständlich, wenn sie Körper von einer Größe wählten, die geeignet wäre, uns einzuschüchtern.«
Ah Tutál fuhr fort: »Es waren ihrer vier in dem merkwürdig gebauten Kanu, welches nördlich von hier an den Strand geworfen wurde. Doch als man sie auf Tragbahren nach Tihó brachte, entdeckten wir, daß zwei von ihnen tot waren. Können Götter tot sein?«
»Tot … ?« sann ich. »Wäre es nicht denkbar, daß sie noch nicht lebendig waren! Vielleicht waren es Ersatzkörper, welche die beiden mit sich herumschleppten, um in sie hineinzuschlüpfen, sobald ihnen der Sinn nach Abwechslung stand?«
»Darauf wäre ich nie gekommen«, erklärte Ah Tutál sichtlich voller Unbehagen. »Ganz gewiß sind sie in ihren Gewohnheiten und ihren Begierden etwas Außergewöhnliches, und ihre Sprache übersteigt unser Verstehen. Sollte man nicht meinen, daß Götter, welche sich die Mühe machen, als Menschen zu erscheinen, sich auch noch die Mühe machen, eine menschliche Sprache zu sprechen?«
»Es gibt viele menschliche Sprachen, Herr Mutter. Vielleicht haben sie sich eine ausgewählt, welche man hierzulande nicht versteht. Möglich jedoch, daß ich sie auf Grund meines Aufenthalts in der Fremde kenne.«
»Herr Ritter«, sagte der Häuptling ein wenig verdrießlich, »Ihr habt auf alles eine Antwort wie die Priester. Aber könnt Ihr mir sagen, warum diese beiden um alles auf der Welt nicht baden wollen?«
Ich dachte darüber nach. »In Wasser, meint Ihr?«
Dem Blick nach zu urteilen, mit dem er mich bedachte, fragte er sich, ob Motecuzóma ihm womöglich seinen Hofnarren als Abgesandten geschickt habe. Er sagte und betonte jedes Wort sehr genau, als er sagte: »Jawohl, in Wasser. Was sollte ich sonst meinen, wenn ich von Baden spreche?«
Ich hüstelte höflich und sagte: »Woher wollt Ihr wissen, ob die Götter es nicht gewohnt sind, in reiner Luft zu baden? Oder gar im noch reineren Sonnenlicht?«
»Weil sie stinken!« erklärte Ah Tutál triumphierend und angewidert zugleich. »Ihr Körper riecht ungewaschen, nach Schweiß, üblem Atem und längstverkrustetem Schmutz. Als ob das noch nicht reichte, scheint es ihnen nichts auszumachen, Blase und Darm aus den Hinterfenstern ihrer Kammern zu entleeren, und sie genießen es offenbar auch noch, diesen Kot draußen sich türmen zu lassen. Jedenfalls macht es ihnen nicht das geringste aus, in diesem abscheulichen Gestank zu leben. Die beiden scheinen nicht zu wissen, was Sauberkeit ist, genauso wie sie Freiheit und das gute Essen nicht zu schätzen wissen, welches wir ihnen bieten.«
Ich sagte: »Was meint Ihr: wissen nicht, was mit der Freiheit anzufangen?«
Ah Tutál zeigte durch eines der schiefen Fenster seines Thronsaals hinüber auf ein niedriges Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes. »Sie sind dort drüben drin. Und sie bleiben drin.«
Da entfuhr es mir: »Ihr werdet doch keine Götter eingesperrt halten?«
»Nein, nein, nein! Sie bleiben aus freien Stücken dort drinnen. Ich habe Euch doch schon gesagt, daß ihr Verhalten höchst eigenwillig ist. Seit ihrer Ankunft hier, als man ihnen diese Kammern zuwies, sind sie noch nicht herausgekommen.«
Ich sagte: »Verzeiht meine Frage, Herr Mutter. Aber hat man sie vielleicht rüde behandelt, als sie hierherkamen?«
Auch Tutal schien gekränkt und sagte eisig: »Man hat sie vom ersten Augenblick an mit größter Herzlichkeit Zuvorkommenheit, ja, sogar Ehrfurcht behandelt. Wie ich schon sagte: zwei waren tot, als sie hierherkamen – zumindest waren unsere besten Ärzte überzeugt davon, daß sie tot wären. Infolgedessen haben wir den Toten, wie es sich in der zivilisierten Welt gehört, ein würdiges Begräbnis und jede denkbare Ehre, die zeremonielle Zubereitung und das zeremonielle Verzehren ihrer edelsten Teile und Organe zuteil werden lassen. Das war der Augenblick, wo die beiden lebenden Götter machten, daß sie in ihre Wohnung kamen, aus welcher sie, bis jetzt schmollend, nicht herausgekommen sind.«
Auf gut Glück riet ich: »Vielleicht haben sie es übelgenommen, daß Ihr es so eilig damit hattet, etwas loszuwerden, was sie möglicherweise als ihre Ersatzkörper betrachteten.«
Verzweifelt warf Ah Tutal die Hände in die Höhe und sagte: »Nun, bei der Abgeschiedenheit, welche sie sich selbst auferlegt haben, wären die Körper, in denen sie jetzt sind, längst verhungert, wenn wir ihnen nicht regelmäßig Diener mit Essen und Trinken hineingeschickt hätten. Trotzdem essen die beiden nur sehr wenig – und nur Früchte und Gemüse und Körner, kein Fleisch, nicht einmal Leckerbissen wie Tapir und Seekuh, Ritter Ek Muyal. Ich habe mich redlich bemüht dahinterzukommen, was sie am liebsten mögen, aber ich gestehe, daß ich nicht recht schlau daraus geworden bin. Zum Beispiel, was die Frauen betrifft …«
»Dann bedienen sie sich der Frauen wie sterbliche Männer?« fiel ich ihm ins Wort.
»Ja, ja, ja«, sagte er ungeduldig. »Nach dem, was die Frauen erzählen, sind sie Männer in jeder Beziehung, bis auf ihre übertriebene Behaarung. Und ich darf wohl behaupten, daß ein Gott, welcher so ausgestattet ist wie ein Mann, mit diesem Organ auch umgehen wird, wie ein Mann es tut. Recht bedacht Ritter Ek Muyal – was sonst kann man auch schon damit anfangen, selbst als Gott?«
»Ihr habt selbstverständlich recht Herr Mutter. Fahrt fort.«
»Ich habe ihnen ständig Frauen geschickt, immer zwei auf einmal, doch haben die Fremden keine von ihnen länger als zwei oder drei Nächte hintereinander behalten. Sie schickten sie immer wieder hinaus – auf daß ich, wie ich vermute, andere hineinschickte, und infolgedessen tue ich das. Keine von unseren Frauen scheint sie länger zu befriedigen. Falls sie auf irgendeine besondere Art Frauen hoffen oder mir das zu verstehen geben wollen – woher soll ich wissen, was sie wollen oder wo ich sie hernehmen soll? Eines Nachts habe ich vorsichtshalber einmal zwei hübsche Knaben hineingeschickt, woraufhin unsere Gäste sich furchtbar aufgeregt und die Knaben erst verprügelt und dann hinausgeworfen haben. Jetzt gibt es kaum noch irgendwelche frei verfügbaren Frauen in Tihó und Umgebung, mit denen ich es probieren kann. Sie haben praktisch schon alle Frauen und Töchter eines jeden Xiu gehabt, bis auf meine eigenen und die der anderen Adeligen. Außerdem laufe ich Gefahr, daß alle unsere Frauen aufsässig werden, denn ich muß brutale Gewalt anwenden, um auch noch die niedrigste Sklavin in dieses übelriechende Loch hineinzutreiben. Die Frauen behaupten, das unnatürlichste und Schlimmste an den Fremden sei, daß selbst ihr Gemächt von Haaren umwachsen sei und sie überdies im Schritt womöglich noch übler riechen als aus dem Mund oder unter den Armen. Oh, gewiß, ich weiß, daß Euer Verehrter Sprecher behauptet, ich müsse es als eine hohe Ehre und Gnade empfinden, diesen beiden Göttern oder was immer sie sein mögen, Gastgeber zu sein. Aber ich wünschte, Motecuzóma wäre hier und könnte selbst einmal ausprobieren, wie das ist, Hüter von zwei so pestilenzialisch stinkenden Gästen zu sein. Ich sage Euch, Ek Muyal, ich empfinde diese Ehre nachgerade mehr als ein Ärgernis und eine Zumutung! Wie lange soll das noch so weitergehen? Ich möchte sie nicht mehr hier haben, doch wage ich es nicht, sie hinauszuwerfen. Ich danke all den anderen Göttern, daß ich die beiden ein gutes Stück von hier entfernt auf der anderen Seite des Palasthofs untergebracht habe; und dennoch, wenn es dem Windgott gefällt, trägt er mir den Geruch dieser beiden unwillkommenen Wesen herüber, und der wirft mich nahezu um. Noch ein oder zwei Tage, und ich glaube, es bedarf nicht einmal mehr des Winds, den Gestank bis hier herüberzutreiben. Im Augenblick leiden ein paar von meinen Höflingen schrecklich unter einer Krankheit, von der die Ärzte behaupten, sie seien ihr noch nie begegnet. Ich persönlich glaube, wir lassen uns nachgerade alle von dem Gestank dieser unsauberen Fremden vergiften. Und ich hege den starken Verdacht, daß das der Grund ist, warum Motecuzóma mir so viele reiche Geschenke geschickt hat. Er hofft, mich dadurch zu bewegen, diese beiden zu behalten und dafür zu sorgen, daß sie seiner sauberen Stadt nicht zu nahe kommen. Und ich sage außerdem …«
»Es ist in der Tat eine schwere Bürde für Euch gewesen, Herr Mutter«, warf ich eilends ein, um der Aufzählung seiner Kümmernisse ein Ende zu bereiten. »Es ist Euch hoch anzurechnen, daß Ihr diese Verantwortung so lange Zeit hindurch auf Euch genommen habt. Aber jetzt, wo ich hier bin, könnte ich vielleicht ein paar hilfreiche Vorschläge machen. Zunächst einmal – ehe ich diesen Wesen in aller Form vorgestellt werde – würde ich gern Gelegenheit haben, sie sprechen zu hören, ohne daß sie wissen, daß ich lausche.«
»Das ist nicht weiter schwierig«, erklärte Ah Tutál mürrisch.
»Ihr braucht nur über den Hof hinüberzugehen und Euch neben eines ihrer Fenster zu stellen, wo sie Euch nicht sehen können. Tagsüber tun sie überhaupt nichts anderes als unentwegt brabbeln wie die Affen. Aber ich warne Euch: Haltet Euch die Nase zu!«
Ich lächelte nachsichtig, als ich mich empfahl, denn ich nahm an, daß die Mutter in dieser Hinsicht ebenso übertrieb wie in manchem anderen seiner gereizten Einstellung den Fremden gegenüber. Aber ich hatte mich geirrt. Als ich mich ihrer Wohnung näherte, hätte der scheußliche Gestank mich fast dazu gebracht, mich zu übergeben. Ich schnaufte laut, um meine Nase von dem Geruch zu befreien und hielt sie mir dann mit zwei Fingern fest zu, als ich mich an die Mauer des Gebäudes drückte. Drinnen vernahm ich Stimmengemurmel, und zur Seite gehend schlich ich mich näher an die Türöffnung heran, in der Hoffnung, irgendwelche Wörter zu verstehen. Doch damals bedeutete mir der Klang Eurer spanischen Sprache überhaupt nichts, Euer Exzellenz. Jedenfalls sollte ich das bald feststellen, als ich die Ohren spitzte. Eines jedoch wußte ich – daß dies ein historischer Augenblick war, und ich stand wie gebannt und von einer Art erwartungsvollem Schrecken erfüllt da, als ich hörte, wie ein sonderbares neues Wesen, welches durchaus ein Gott sein konnte, voller Nachdruck erklärte, was ich bis auf den heutigen Tag nicht vergessen habe:
»Ich schwöre bei Santiago, ich hab's satt, nackte Mösen zu ficken!«
Und die andere Stimme sagte
Ayya! Habt Ihr mich erschreckt, Euer Exzellenz. Mit welcher Behendigkeit Ihr aufgesprungen seid für einen Mann, der längst das Alter des Niemals erreicht hat. Ich beneide Euch offen gestanden um Eure …
Mit allem Respekt, Euer Exzellenz, ich bedaure, daß ich diese Worte nicht zurücknehmen oder mich für sie entschuldigen kann, denn nicht ich habe sie gesprochen. Ich habe sie mir an diesem Tage nur eingeprägt wie ein Papagei, der alles nachspricht, ohne den Sinn dessen zu verstehen, was er sagt. Ein Papagei könnte derlei Ausdrücke sogar in Eurer Kathedral-Kirche vor sich hinplappern, denn ein Papagei kann ja nicht wissen, was sie bedeuten. Das könnte selbst der schlaueste aller Papageien nicht, zumal ein weiblicher Papagei ja nicht das besitzt, was Ihr zutreffend eine
Sehr wohl, Euer Exzellenz, ich will die Sache nicht weiter ausmalen und mich zurückhalten und nicht genau die Töne wiederholen, die der andere Fremde von sich gab. Es lief das, was er sagte, jedoch darauf hinaus, auch er vermisse und sehne sich nach den Diensten einer guten castilischen Hure, welche zwischen den Beinen reich mit Haarwuchs gesegnet sei. Und das war alles, was ich erlauschen konnte, ohne daß mir zuletzt von dem Gestank doch vollends übel geworden wäre und ich dadurch meine Anwesenheit verraten hätte. Ich eilte zurück in den Thronsaal, atmete unterwegs in großen Zügen frische Luft ein, und sagte dort zu dem Häuptling Ah Tutál :
»Was den Geruch betrifft, so habt Ihr wahrhaftig nicht übertrieben, Herr Mutter. Ich muß sie sehen und versuchen, mit ihnen zu reden, doch würde ich das wirklich lieber im Freien tun.«
Er sagte: »Ich kann ja irgendwelche Mittel unter ihr nächstes Essen mischen und sie dann herausschaffen lassen, wenn sie schlafen.«
»Das ist nicht nötig«, sagte ich. »Meine Wachleute können sie auf der Stelle herausziehen.«
»Ihr würdet es wagen, Hand an die Götter zu legen?«
»Wenn sie Blitz und Donner herniederfahren lassen«, erklärte ich, »wissen wir jedenfalls, daß sie wirklich Götter sind«.
Sie taten jedoch nichts dergleichen. Wiewohl sie sich wehrten und strampelten und schrien, als sie mit Gewalt aus ihrer Wohnung auf den offenen Hof herausgebracht wurden, waren die beiden Fremden bei weitem nicht so entsetzt darüber wie meine Wachleute, welche kaum an sich halten konnten, nicht zu erbrechen oder zu ersticken. Und als die kräftigen Männer die beiden losließen, sprangen diese auch nicht zornig umher oder stießen drohende Laute aus oder vollführten irgendwelche erkennbaren Zaubereien. Sie fielen vor mir in die Knie und begannen jämmerlich zu brabbeln, vollführten sonderbare Gebärden, legten die Hände erst vorm Gesicht zusammen, um dann immer dasselbe Zeichen zu machen. Heute weiß ich selbstverständlich, daß sie über ihren zusammengelegten Händen ein Gebet in der christlichen Sprache des Latein beteten und hastig ein über das andere Mal das Kreuzeszeichen schlugen: von der Stirn zum Herzen, und von einer Schulter zur anderen.
Auch brauchte ich nicht lange, um dahinterzukommen, daß sie sich nur deshalb in ihrer Wohnung verkrochen hatten, weil die wohlgemeinte Art und Weise, wie die Xiu mit ihren beiden toten Gefährten verfahren waren, ihnen Angst gemacht hatte. Wenn die Fremden schon vor den Xiu Angst gehabt hatten, die schließlich besonders sanft und einfältige Gemüter sind, so konnte ich verstehen, daß sie sich halb zu Tode ängstigten, als sie sich unversehens mir und meinen Mexíca gegenübersahen – ingrimmig dreinschauenden großen Männern, unverkennbar Krieger, furchterregend angetan mit unserem Kampfanzug, Helmen und Federn und Obsidianwaffen.
Eine Zeitlang besah ich sie mir nur durch meinen Sehkristall, was sie jedoch dazu brachte, nur noch unterwürfiger zu winseln. Wiewohl ich heute mit dem wenig ansprechenden Aussehen der weißen Männer vertraut bin und mich damit abgefunden habe – damals war das durchaus nicht so, und ich fühlte mich gleichermaßen fasziniert und abgestoßen vom Kalkweiß ihrer Gesichtshaut –, denn in unserer Einen Welt war Weiß die Farbe des Todes und der Trauer. Menschen von dieser Farbe gab es nicht, höchstens gelegentlich einmal einen bedauernswerten Tlacaztáli-Albino. Doch diese beiden hatten immerhin menschliche braune Augen und schwarzes oder doch zumindest dunkles Haar, letzteres freilich ungewohnt gekräuselt; außerdem sproß ihnen der gleiche Haarschopf, den sie auf dem Kopf hatten, noch einmal auf den Wangen, der Oberlippe, dem Kinn und der Kehle. Alles andere von ihnen war unter einem – für unsere Begriffe – Übermaß an Kleidung verborgen. Heute kenne ich Hemd und Wams, Hose, Handschuhe und Stulpenstiefel und was es noch an Kleidungsstücken gibt; trotzdem finde ich sie immer noch höchst unbeholfen, beengend und vermutlich unbequem im Vergleich zu unserem schlichten und in keiner Weise hinderlichen Anzug aus Schamtuch und Umhang.
»Zieht sie aus!« befahl ich meinen Wachen, welche erst aufmuckten und mich widersetzlich anfunkelten, ehe sie meinem Befehl gehorchten. Abermals wehrten die Fremden sich und kreischten womöglich noch lauter als zuvor, als ob man ihnen das Fell über die Ohren ziehen wollte, statt nur die Kleider aus Stoff und Leder. Dabei hätte es uns Zuschauern mehr angestanden, uns zu beschweren, denn jedes Kleidungsstück, das man ihnen auszog, gab eine weitere und womöglich noch erstickendere Wolke übelsten Geruchs frei. Und als man ihnen die Stiefel auszog – yya ayya! –, als sie von den Stiefeln befreit wurden, zog jeder im Palasthof, ich selbst eingeschlossen, sich eilends so weit zurück, daß die beiden Fremden nackt und sich windend im Mittelpunkt eines außerordentlich weiten Kreises von Zuschauern standen.
Früher habe ich irgendwo zuvor hochmütig vom Dreck und Schmutz der Chichiméca-Wüstenbewohner gesprochen, gleichwohl jedoch erklärt, daß ihr Schmutz das Ergebnis der Umstände war, in denen sie lebten, und daß sie sich sehr wohl badeten und wuschen und kämmten und lausten, sobald sie dazu Gelegenheit hatten. Die Chichiméca waren Gartenblumen im Vergleich mit den weißen Männern, welche offensichtlich nichts gegen ihren abstoßenden Schmutz und Gestank hatten und Sauberkeit als ein Zeichen von Schwäche oder Weibischkeit betrachteten. Selbstverständlich spreche ich nur von den weißen Soldaten, Euer Exzellenz, welchselbige durch die Bank, vom einfachsten Fußsoldaten bis zu ihrem Oberbefehlshaber Cortés dieser Eigenwilligkeit frönten. Ich bin nicht sonderlich vertraut mit den Badegewohnheiten der später Eingetroffenen wie etwa Euer Exzellenz, doch ist mir schon früh aufgefallen, daß solche hohen Herren reichlich von Duftwässern und Pomaden Gebrauch machen, um den süß riechenden Eindruck von Sauberkeit hervorzurufen.
Die beiden Fremden waren keine Riesen, wie Ah Tutais Beschreibung mich zuerst hatte glauben lassen. Nur einer von ihnen war in der Tat ein wenig größer als ich, der andere hingegen etwa von meiner Größe, was allerdings bedeutete, daß sie größer waren als die Männer in diesen Landen allgemein. Nur standen sie jetzt mit gebeugten Schultern und zitternd da, als erwarteten sie jeden Augenblick, etwas mit der Peitsche übergezogen zu bekommen, und hielten überdies die Hände vor ihr Gemächt wie ein paar Jungfrauen, die fürchteten, daß ihnen Gewalt angetan werden solle. Infolgedessen war ihre Körpergröße nicht sonderlich beeindruckend. Vielmehr sahen sie ausgesprochen mickerig aus, denn die Farbe ihres Körpers war womöglich noch weißer als die ihres Gesichts.
Ich sagte zu Ah Tutál : »Ich schaffe es nie, näher an sie heranzugehen, um sie auszufragen, Herr Mutter – es sei denn, sie würden zuvor gewaschen. Wenn sie es nicht selbst tun, müssen wir es eben tun.«
Er sagte: »Nun, wo ich sie in unbekleidetem Zustand gerochen habe, Ritter Ek Muyal, muß ich es ablehnen, ihnen den Gebrauch meiner Badekammern und Schwitzbäder zu gestatten. Ich müßte sie ja hinterher abreißen und wieder aufbauen lassen.«
»Ganz meiner Meinung«, sagte ich. »Weist Eure Sklaven an, Wasser und Seife zu bringen und es einfach hier zu tun.«
Wiewohl die Sklaven des Häuptlings lauwarmes Wasser, sanfte Aschenseife und flauschige Badeschwämme benutzten, wehrten sich die Gegenstände ihrer Aufmerksamkeit und kreischten, als würde man sie mit Fett bestreichen, um sie am Bratspieß zu braten, oder sie überbrühen, wie man Wildleder abbrüht, um ihre Borsten abkratzen zu können. Während all dies unter viel Geschrei vonstatten ging, unterhielt ich mich mit einer Reihe von Mädchen und Frauen aus Tihó, die eine oder mehrere Nächte bei den Fremden verbracht hatten. Die Frauen hatten ein paar Wörter ihrer Sprache aufgeschnappt und sagten sie mir, doch waren das nur neue Ausdrücke für Tipili und Tepúli, den Geschlechtsakt – Wörter, die für eine förmliche Befragung nicht sonderlich viel nützten. Die Frauen gestanden mir, die Fremden seien mit Gliedern ausgestattet, welche der Größe ihres Körpers entsprächen, und seien in aufgerichtetem Zustand durchaus beeindruckend, zumal im Vergleich zu den ihnen vertrauteren Gliedern ihrer Xiu-Männer. Jede Frau würde beglückt sein, einen so mächtigen Tepúli zu Diensten zu haben, erklärten sie, stänken sie nicht von der lebenslangen Ansammlung von käsigen Rückständen, bei deren Anblick oder wenn ihr der Geruch in die Nase steige, es einer Frau hochkomme. Wie ein Mädchen meinte: »Nur ein weiblicher Geier könnte es wirklich genießen, sich mit solchen Geschöpfen zu paaren.«
Gleichwohl, so bestätigten die Frauen, hätten sie sich pflichtschuldigst bemüht, den Fremden in jeder Hinsicht gefällig zu sein – und gestanden, es habe sie verwirrt, wie geziert und mißbilligend manche von ihren Zärtlichkeiten zurückgewiesen worden seien. Ganz offensichtlich, erklärten die Frauen, kennten die Fremden nur eine Art und eine Stellung, um Lust zu empfangen oder zu schenken, und weigerten sich verlegen und eigensinnig wie ganz junge Männer, sich auf irgendwelche Abwandlungen einzulassen.
Selbst wenn alles andere, was ich hörte und sah, darauf hingedeutet haben würde, daß es sich bei den Fremden um Götter handelte – die Aussagen der Frauen hätten mich daran zweifeln lassen. Denn wenn ich überhaupt etwas von den Göttern wußte, so dieses eine: daß sie mitnichten prüde waren, wenn es darum ging, ihren Lüsten zu frönen. Infolgedessen vermutete ich schon von einem sehr frühen Zeitpunkt an, daß diese Fremden etwas anderes seien als Götter, wiewohl ich erst viel später erfuhr, daß sie nichts weiter als gute Christen waren. Ihre Unwissenheit und Unerfahrenheit in bezug auf sexuelle Abwechslung spiegelte nur die Tatsache, daß sie sich an christliche Moral und Normen hielten, und ich habe nie einen Spanier kennengelernt, welcher von diesen strengen Regeln abgegangen wäre, nicht einmal während des stürmischen Aktes der Vergewaltigung. Ich kann wahrheitsgemäß erklären, daß ich nie einen einzigen spanischen Soldaten eine unserer Frauen habe anders schänden sehen als in jener einen Öffnung und einen Stellung, wie sie Christen erlaubt ist.
Selbst als man meinte, daß die beiden Fremden nun so sauber wären, wie man sie machen konnte, wenn man sie nicht geradezu einen oder zwei Tage lang kochte, bildeten sie gleichwohl immer noch keine gerade angenehme Gesellschaft. Die Sklaven vermochten mit Wasser und Seife nur wenig auszurichten gegen ihre grünen Zähne und ihren abscheulichen Mundgeruch. Immerhin reichte man ihnen saubere Umhänge, und ihre eigenen grausig stinkenden Kleider wurden fortgetragen und verbrannt. Meine Wachen brachten die beiden in eine Ecke des Hofes, wo Ah Tutál und ich auf niedrigen Stühlen saßen, und drückten sie hinunter, so daß sie vor uns auf dem Boden hockten.
Ah Tutál war so vorausschauend gewesen, einen der durchlöcherten Rauchtöpfe bereitzustellen und sie mit seinem aromatischsten Picietl sowie etlichen anderen wohlduftenden Kräutern zu stopfen. Er setzte die Mischung in Brand, wir beide steckten ein Rohr durch je eines der Löcher im Topf und pafften große Wolken wohlduftenden Rauches, um gleichsam einen Duftvorhang zwischen uns und denen zu errichten, mit denen wir uns unterhalten wollten. Als ich sah, daß sie zitterten, nahm ich an, daß sie frören, weil ihr Körper noch nicht ganz trocken war, oder von dem unerträglichen Schock, plötzlich sauber zu sein. Später erfuhr ich, daß sie deshalb bebten, weil es sie entsetzte, zum erstenmal Männer zu sehen, die »Feuer atmeten«.
Nun, wenn unser Anblick ihnen nicht gefiel – ihr Anblick gefiel mir genausowenig. Nachdem etliche Schichten eingewachsenen Schmutzes von ihren Gesichtern abgeschrubbt worden waren, sahen sie womöglich noch weißer aus als zuvor; außerdem war die Haut, welche über ihren Barten zu sehen war, nicht so glatt wie die unsere. Das Gesicht des einen Mannes war über und über mit Narben bedeckt wie ein Stück Lavagestein. Das Gesicht des anderen wies Pickel und offene Pusteln auf. Als ich ihre Sprache hinreichend beherrschte, um eine so heikle Frage formulieren zu können, zuckten sie nur gleichmütig mit den Achseln und sagten, fast alle Menschen ihrer Rasse, Frauen wie Männer, litten irgendwann in ihrem Leben an »Blattern«. Einige stürben daran, sagten sie, doch die meisten trügen nur entstellende Narben davon. Da jedoch so viele damit geschlagen seien, hätten sie nicht das Gefühl, daß ihre Schönheit darunter leide. Vielleicht empfanden sie das wirklich nicht so; ich jedoch meinte, es sei eine höchst unschöne Verunstaltung. Zumindest fand ich das damals. Heute, wo so viele von meinen eigenen Landsleuten vernarbte Gesichter haben wie ein Stück poröser Lava, versuche ich, nicht zusammenzuzucken, wenn ich sie ansehe.
Für gewöhnlich hatte ich beim Erlernen einer Fremdsprache damit begonnen, daß ich auf bestimmte Dinge gezeigt und die betreffenden Menschen dann ermutigt hatte, mir zu sagen, wie sie in seiner Sprache hießen. Eine Sklavin hatte mir und Ah Tutál gerade einen Becher Schokolade gebracht, folglich hielt ich sie fest und schlug ihren Rock hoch, um ihr Tipili sichtbar zu machen, zeigte mit dem Finger darauf und sagte – nun, ich sagte jenen Ausdruck, von dem ich heute weiß, daß es ein höchst ungehöriger spanischer Ausdruck ist. Die beiden Fremden schauten höchst verwundert und auch ein wenig verlegen drein. Daraufhin zeigte ich auf meinen eigenen Schritt und sagte ein anderes Wort, von dem ich heute weiß, daß ich es in der Öffentlichkeit besser nicht ausspreche.
Diesmal war ich es, der überrascht war. Die beiden sprangen in die Höhe, und Schrecken stand in ihren rollenden Augen. Daraufhin begriff ich ihre Panik und mußte einfach lachen. Offensichtlich dachten sie, wenn ich Befehl geben könnte, sie von Kopf bis Fuß abzuschrubben, könne ich genauso leicht Befehl geben, sie zu kastrieren, weil sie sich der Frauen von Tihó bedient hätten. Immer noch lachend, schüttelte ich den Kopf und hob beschwichtigend die Hand. Sodann zeigte ich nochmals auf den Schritt des Mädchens und auf meinen eigenen und sagte: »Tipili« und »Tepúli«. Sodann zeigte ich auf meine Nase und sagte »Yacatl«. Die beiden stießen einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus und nickten einander verstehend zu. Einer zeigte mit immer noch zitterndem Finger auf seine eigene Nase und sagte: »Nariz.« Dann nahmen sie wieder Platz, und ich begann, die letzte fremde Sprache zu lernen, welche ich jemals lernen sollte.
Die erste Sitzung dauerte bis weit nach Einbruch der Dunkelheit, als sie anfingen, zwischen den Wörtern einzunicken. Offensichtlich hatte ihre Lebenskraft unter dem Bad gelitten, welches sie hatten nehmen müssen, und das vielleicht das erste Bad in ihrem Leben gewesen war. Ich ließ sie daher wankend ihre Wohnung aufsuchen und sich dort schlafen legen. Allerdings sorgte ich dafür, daß sie am nächsten Morgen früh aufstanden und stellte es ihnen, nachdem ich kurz an ihnen geschnuppert hatte, frei, sich selbst zu waschen oder sich mit Gewalt abschrubben zu lassen. Wiewohl sie ebenso verwundert wie verärgert schienen, daß ein Mensch so etwas zweimal erleiden müsse, zogen sie es vor, es selber zu tun. Hinterher wuschen sie sich jeden Morgen und lernten es immerhin so gründlich zu tun, daß ich es ertragen konnte, den ganzen Tag mit ihnen zusammenzusitzen, ohne daß es unerträglich gewesen wäre. Unsere Sitzungen dauerten also bis abends; wir tauschten Wörter aus und aßen die Speisen, welche die Palastbediensteten uns brachten. Ich sollte vielleicht auch noch erwähnen, daß die Gäste zuletzt auch die Fleischgerichte verzehrten, nachdem ich ihnen hatte erklären können, von welchen Tieren sie stammten.
Um meine Lehrer für ihre Hilfe zu belohnen, manchmal aber auch, um sie aufzumuntern, wenn sie müde wurden und keine Lust mehr hatten, ließ ich ihnen zwischendurch auch ein oder zwei Becher Octli vorsetzen. Unter Motecuzómas »Geschenken für die Götter«, welche ich mitgebracht, befanden sich auch etliche Krüge vom besten und stärksten Octli, und diese waren die einzigen von den vielen Geschenken, welche ich ihnen je gab. Nachdem sie zum ersten mal davon gekostet hatten, verzogen sie das Gesicht und nannten es »saures Bier«, was immer das sein mochte. Bald schien es ihnen aber durchaus zu munden, und eines Abends ließ ich sie mit vollem Bedacht einmal soviel trinken, wie sie wollten. Es war aufschlußreich zu beobachten, daß sie genauso abscheulich betrunken wurden wie nur irgendeiner von meinen eigenen Landsleuten.
Als die Tage vergingen und mein Wortschatz größer wurde, erfuhr ich sehr viele Dinge, von denen das wichtigste dieses war: Die Fremden waren keine Götter, sondern Menschen, ganz gewöhnliche Menschen, mochten sie noch so ungewöhnlich aussehen. Sie gaben auch gar nicht vor, Götter zu sein oder auch nur irgendwelche Vorboten, welche den Weg für das Eintreffen ihrer göttlichen Herren bereiteten. Sie schienen aufrichtig erschrocken und sogar ein wenig entsetzt, als ich vorsichtig andeutete, unser Volk erwarte, daß eines Tages Götter zurückkehren würden in Die Eine Welt. Sie versicherten mir ernsthaft, kein Gott sei seit eintausendundfünfhundert Jahren mehr auf dieser Erde gewandelt, und von diesem sprachen sie so, als ob es der einzige Gott wäre. Sie selbst, sagten sie, seien nur sterbliche Menschen, die in diesem Leben und hinterher eingeschworene Anhänger dieses Gottes seien. Solange sie in dieser Welt lebten, sagten sie, seien sie auch noch gehorsame Untertanen eines Königs, welcher gleichfalls ein Mensch sei, wenn auch ein sehr hoch über ihnen stehender – offensichtlich ihr Gegenstück zu einem Verehrten Sprecher.
Wie ich später noch berichten werde, Euer Exzellenz, waren nicht alle meine Landsleute bereit, der Beteuerung der Fremden – und auch meiner – Glauben zu schenken, daß sie einfache Menschen seien. Ich jedoch habe daran nach meiner ersten Begegnung mit ihnen nicht im geringsten gezweifelt, und mit der Zeit erwies es sich selbstverständlich, daß ich recht hatte. Infolgedessen werde ich von nun an nicht mehr von Fremden sprechen und auch nicht mehr von geheimnisvollen Wesen, sondern von Menschen.
Der Mann mit den Pickeln und Pusteln war Gonzalo Guerrero, seines Zeichens Zimmermann. Der Mann mit dem vernarbten Gesicht hieß Jerónimo de Aguilar und war von Beruf Schreiber wie die ehrwürdigen Patres hier. Es könnte sogar sein, daß der eine oder andere von euch ihn gekannt hat, denn er berichtete mir, zuerst habe er Priester seines Gottes werden wollen und habe auch eine Zeitlang in einer Calmécac studiert oder wie immer ihr eure Priesterschulen nennt.
Die beiden seien, so sagten sie, aus einem Land im Osten gekommen, weit jenseits des Horizonts überm Meer. Das hatte ich mir selbstverständlich schon selbst gedacht, und so sagte es mir auch nicht viel mehr, als sie erklärten, dieses Land heiße Cuba und dieses Cuba sei nur eine Kolonie eines viel größeren und noch weit, weit ferneren Landes im Osten namens Spanien oder Castilien, und von diesem Machtzentrum aus regiere ihr König seine weit auseinander liegenden spanischen Kolonien. Dieses Spanien oder Castilien, sagten sie, sei ein Land, in welchem alle Männer und Frauen von weißer Hautfarbe seien, mit Ausnahme einiger weniger niedrig stehender Personen, welche Mauren oder Mohren hießen und deren Haut vollständig schwarz sei. Letztere Behauptung hätte ich wohl dermaßen unglaubwürdig gefunden, daß ich geradezu allem, was die beiden Männer mir erzählten, mit größtem Argwohn begegnet wäre. Dann jedoch überlegte ich, daß in unseren Landen gelegentlich ein krankhaft weißer Tlacaztáli geboren werde. Warum sollte daher nicht in einem Land, in welchem alle Menschen weiß waren, gelegentlich auch ein krankhaft schwarzer Mensch zur Welt kommen?
Aguilar und Guerrero erklärten, sie seien einzig und allein durch einen Unglücksfall bei uns an Land gespült worden. Sie hätten zu den einigen hundert Männern und Frauen gehört, welche Cuba in zwölf der großen schwimmenden Häuser – Schiffe, nannten sie sie – unter dem Kommando eines Capitán Diego de Nicuesa verlassen hätten, welche ausersehen worden waren, eine weitere spanische Kolonie zu gründen, zu welcher er als Gouverneur bestellt worden sei und die Castilla de Oro heißen und irgendwo weit im Südosten von hier liegen solle. Die Expedition sei jedoch vom Unglück verfolgt gewesen, welches sie geneigt waren, auf den Einfluß des unheilbringenden »geschweiften Kometen« zu schieben.
Ein heftiger Sturm habe die Schiffe auseinandergetrieben, und dasjenige, auf dem sie gefahren seien, sei schließlich auf Felsen aufgelaufen, leck geschlagen, gekentert und zuletzt gesunken. Nur Aguilar und Guerrero und zwei anderen Männern sei es gelungen, das sinkende Fahrzeug in einer Art von großem Kanu zu verlassen, welches für derlei Notfälle an Bord dieser großen Schiffe mitgeführt werde. Zu ihrer Überraschung sei dieses Kanu kaum lange flott gewesen, als es hier in unserem Land an den Strand getrieben worden wäre. Die anderen beiden Insassen des Kanus seien in den gewaltigen Brechern ertrunken, und Aguilar und Guerrero würde wohl das gleiche Schicksal geblüht haben, wären nicht »die roten Männer« gelaufen gekommen und hätten sie gerettet.
Aguilar und Guerrero bekundeten ihre Dankbarkeit dafür, gerettet und so gastfreundlich aufgenommen worden zu sein, wohl genährt und unterhalten. Noch dankbarer würden sie jedoch sein, sagten sie, wenn wir roten Männer sie zurückbrächten an die Küste und zu ihrem Kanu. Guerrero, der Zimmermann, war überzeugt, jeden Schaden beheben zu können, welchen das Boot genommen habe, und außerdem Ruder machen zu können, um es vorwärts zu bewegen. Er und Aguilar waren gleichermaßen sicher, daß im Falle ihr Gott ihnen günstiges Wetter schenkte, sie nach Osten rudern und Cuba wiederfinden könnten.
»Soll ich sie ziehen lassen?« fragte Ah Tutál, für welchen ich dolmetschte, als wir mit den Befragungen weiter vorankamen.
Ich sagte: »Wenn sie das Land Cuba von hier aus finden können, sollten sie keine Schwierigkeiten haben, Uluümil Kutz von dort aus gleichfalls wiederzufinden. Und ihr habt ja gehört: Auf ihrem Cuba scheint es von weißen Männern zu wimmeln, die darauf brennen, überall neue Kolonien zu gründen, wo sie hinkommen können. Wollt Ihr, daß sie in großen Haufen hierher kommen, Herr Mutter?«
»Nein«, sagte er bekümmert. »Aber sie könnten einen Arzt herbringen, welcher die sonderbare Krankheit heilen kann, die sich unter uns ausbreitet. Unsere eigenen Heilkundigen haben jedes Mittel angewandt, das sie kennen, aber es erkranken jeden Tag mehr Menschen, und drei sind bereits daran gestorben.«
»Vielleicht kennen diese Männer selbst ein Heilmittel«, gab ich zu bedenken. »Laßt uns einen der Kranken ansehen.«
Ah Tutál geleitete mich und Aguilar in eine Hütte in der Stadt, in der ein Arzt stand, der sich das Kinn rieb, etwas Unverständliches brummelte und mit sorgengefurchter Stirn auf ein junges Mädchen hinunterblickte, das sich im Fieber auf seinem Lager hin und her warf; ihr Gesicht glänzte vom Schweiß, und ihre Augen waren glasig und erkannten nichts. Aguilars weiße Haut überzog sich mit feiner Röte, als er in ihr eines der Mädchen erkannte, die ihn in seiner und Guerreros Wohnung besucht hatten.
Langsam, damit ich es verstehen könnte, sagte er: »Ich muß Euch leider sagen, daß sie die Blattern hat. Seht Ihr? Die Ausbrüche beginnen ihr auf der Stirn zu wachsen.«
Ich dolmetschte das für den Arzt, der von Berufs wegen mißtrauisch aussah, aber sagte: »Fragt ihn, was seine Leute machen, um sie zu behandeln.«
Ich tat es, doch Aguilar zuckte nur mit den Achseln und sagte: »Sie beten.«
»Offensichtlich rückständige Menschen«, knurrte der Arzt, fügte jedoch hinzu: »Fragt ihn, zu welchem Gott.«
Aguilar sagte: »Selbstverständlich Zum Herrgott.«
Das half uns zwar nicht weiter, aber ich hielt es für richtig, immerhin zu fragen: »Betet Ihr zu diesem Gott auf eine Weise, die wir nachahmen könnten?«
Er versuchte, es zu erklären, doch die Erklärung war so verworren, daß ich sie nicht verstand. Infolgedessen deutete er an, das lasse sich leicht vorführen, und so eilten wir drei – Ah Tutál, der Arzt und ich – hinter ihm her zurück zum Palasthof. Er lief in seine Wohnung, während wir in einiger Entfernung davon stehenblieben, und er kam zurück und trug in jeder Hand etwas.
Eines der Dinge war ein kleines Kästchen mit einem dicht schließenden Deckel. Aguilar machte es auf und zeigte uns den Inhalt: eine Anzahl von kleinen Scheiben, die aus einem dicken weißen Papier herausgeschnitten zu sein schienen. Er versuchte es mit einer weiteren Erklärung, welcher ich entnahm, daß er dieses Kästchen zur Erinnerung an seine Tage in der Priesterschule gestohlen oder unrechtmäßigerweise behalten habe. Des weiteren entnahm ich seinen Worten, daß es sich bei diesen Scheiben um eine besondere Art von Brot handele, der allerheiligsten und mächtigsten aller Speisen, weil ein Mensch, welcher von ihr genieße, die Kraft dieses allmächtigen Gottes in sich aufnehme.
Bei dem anderen Gegenstand handelte es sich um eine Kette aus vielen kleinen Kugeln, zwischen denen in regelmäßigen Abständen größere aufgezogen waren. All diese Kugeln bestanden aus einer blauen Substanz, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte: so blau und hart wie Türkis, gleichzeitig dabei aber so durchscheinend wie blaues Wasser. Aguilar begann mit einer weiteren, äußerst verzwickten Erklärung, der ich nur entnahm, daß jedes Kügelchen ein Gebet darstelle. Selbstverständlich wurde ich an unsere Gepflogenheit erinnert, den Toten einen kleinen Jadebrocken in den Mund zu stecken, und ich meinte, diese Kügelchen ließen sich auf ähnliche Weise wohltätig für die noch nicht Gestorbenen verwenden. Deshalb unterbrach ich Aguilar und fragte dringlich:
»Steckt ihr diese Gebete in den Mund?«
»Nein, nein«, sagte er. »Sie werden in der Hand gehalten.« Und stieß einen Protestschrei aus, als ich ihm Kästchen und Kügelchen wegnahm.
»Hier, Meister«, sagte ich zu dem Arzt, riß die Kette auseinander, gab ihm zwei von den Kügelchen und dolmetschte das wenige, was ich von Aguilars Erklärungen begriffen hatte. »Nehmt sie und laßt das Mädchen jeweils die Hand um eines schließen …«
»Nein, nein«, rief Aguilar klagend. »Was Ihr auch damit macht, es ist falsch! Zum Gebet gehört mehr als nur …«
»Schweigt still!« fuhr ich ihn in seiner Sprache an. »Wir haben keine Zeit für mehr.«
Ich holte einige von den papierenen kleinen Stückchen Brot aus dem Kästchen heraus und steckte eines mir in den Mund. Es schmeckte wie Papier und löste sich auf meiner Zunge auf, ohne daß ich es hätte kauen müssen. Allerdings fühlte ich nicht auf der Stelle etwas von der Gotteskraft in mich einströmen, doch erkannte ich immerhin, daß das Brot dem Mädchen selbst in halb bewußtlosem Zustand verabreicht werden könne. »Nein, nein!« rief Aguilar noch einmal, als ich das Ding aß. »Das geht einfach nicht! Ihr könntet das Sakrament nicht empfangen!«
Er betrachtete mich mit demselben Ausdruck des Schreckens, welchen ich jetzt auf dem Gesicht von Euer Exzellenz erkenne. Ich bedaure mein schockierendes und unüberlegtes Benehmen außerordentlich. Aber Ihr dürft nicht vergessen, daß ich damals noch ein unwissender Heide war und es mir um nichts anderes ging, als darum, dem Mädchen das Leben zu retten. Ich drückte also eine der kleinen Scheiben dem Arzt in die Hand und sagte zu ihm:
»Das ist Götternahrung, eine Zauberspeise, und leicht zu essen. Ihr könnt sie dem Mädchen auch mit Gewalt in den Mund stecken, sie wird nicht dran ersticken.«
Er nahm die Beine in die Hand und lief, so schnell es mit seiner Würde zu vereinbaren war …
Eigentlich nicht anders, als seine Exzellenz es gerade eben getan haben.
Ich klopfte Aguilar freundschaftlich auf die Schulter und sagte: »Verzeiht, daß ich Euch die Sache aus der Hand genommen habe. Aber wenn das Mädchen wieder gesund wird, wird das Verdienst daran ausschließlich Euch zugeschrieben werden, und diese Menschen werden Euch sehr ehren. Jetzt laßt uns Guerrero finden und uns hinsetzen und weiter über Eure Landsleute reden.«
Es gab immer noch sehr viele Dinge, die ich gern von Jerónimo Aguilar und Gonzalo Guerrero erfahren hätte. Und da wir uns mittlerweile ohne allzu große Schwierigkeiten, wenn auch immer noch stockend, verständigen konnten, waren sie genauso neugierig in bezug auf unsere Lande wie ich auf ihre. Sie stellten mir etliche Fragen, bei denen ich so tat, als verstünde ich sie nicht: »Wer ist Euer König? Verfügt er über große Heere? Besitzt er große Reichtümer an Gold?« Und manche andere Fragen, deren Sinn ich in der Tat nicht begriff: »Wer sind eure Herzöge, Grafen und Barone? Wer ist der Papst eurer Kirche?« Und einige Fragen, bei denen ich nicht anstehe zu behaupten, daß niemand sie beantworten könnte: »Warum haben eure Frauen dort kein Haar?« So wehrte ich ihre Fragen ab, indem ich selber welche stellte, und sie beantworteten sie alle ohne jedes Zögern, ohne Arg und ohne Verstellung.
Ich hätte mindestens ein Jahr bei ihnen bleiben können, mich in ihrer Sprache vervollkommnen und ihnen doch ständig neue Fragen stellen können. Dann jedoch entschloß ich mich, Hals über Kopf abzureisen; denn zwei oder drei Tage nach unserem Besuch bei dem siechen Mädchen kam der Arzt zu mir und forderte mich schweigend auf, ihn zu begleiten. Ich folgte ihm in besagte Hütte und blickte hinab auf das Gesicht des toten Mädchens, welches furchtbar aufgedunsen und von einer so schauerlich violetten Färbung war, daß ich sie nicht wiedererkannte.
»All ihre Blutgefäße sind geplatzt und ihr Gewebe ist angeschwollen«, sagte der Heilkundige, »auch die in ihrer Nase und in der Mundhöhle. Sie ist jämmerlich gestorben, einfach in dem Versuch, atmen zu wollen.« Und fügte noch geringschätzig hinzu: »Die Speise, die Ihr mir gegeben habt, hat keinen Zauber gewirkt.«
Ich fragte: »Und wie viele Leidende habt Ihr gerettet, ohne Zuflucht zu dieser Zauberei zu nehmen?«
»Keine«, sagte er aufseufzend, und wurde ganz kleinlaut. »Auch meine Kollegen haben keinen einzigen Patienten gerettet. Manche sterben wie dieses Mädchen hier, das heißt, sie ersticken. Andere sterben an einem Blutsturz aus Nase und Mund. Und noch andere bei einem Tobsuchtsanfall. Ich fürchte, sie werden alle sterben, und das heißt, sie werden elendiglich zugrunde gehen.«
Er sah die Tote an, die einst ein hübsches Mädchen gewesen sein mußte, und sagte: »Sie hat mir erzählt, dieses Mädchen hier, nur ein Geier könne von den weißen Männern Lust empfangen. Sie muß es wohl geahnt haben. Jetzt werden die Geier sich voller Lust über ihren Leichnam hermachen, und irgendwie hat ihr Sterben etwas mit den weißen Männern zu tun.«
Als ich in den Palast zurückkehrte und selbiges Ah Tutál meldete, sagte er mit größtem Nachdruck. »Ich will diese von Krankheit befallenen und schmutzigen Fremden nicht mehr hier haben!« Ich konnte nicht herausfinden, ob er mit seinen schielenden Augen mich anfunkelte oder sein Blick an mir vorbeiging; daß jedoch Zorn in ihnen geschrieben stand, konnte ich sehr wohl sehen. »Laß ich sie jetzt in ihrem Kanu fortfahren, oder nehmt Ihr sie mit nach Tenochtítlan?«
»Weder das eine noch das andere«, sagte ich. »Und tötet sie auch nicht, Herr Mutter, zumindest nicht eher, als bis Ihr die Erlaubnis dazu von Motecuzóma erhaltet. Ich würde vorschlagen, Ihr entledigt Euch ihrer, indem Ihr sie zu Sklaven macht. Schenkt sie irgendwelchen Häuptlingen, die sehr weit von hier entfernt leben. Die Häuptlinge sollten sich geschmeichelt und geehrt fühlen, so ein Geschenk zu erhalten. Nicht einmal der Verehrte Sprecher der Mexíca hat weiße Sklaven.«
»Hm … ja …« machte Ah Tutál nachdenklich. »Da sind zwei Häuptlinge, gegen die ich ganz besonders etwas habe und denen ich mißtraue. Sollten die weißen Männer ihnen Unglück bringen, würde mir das nichts weiter ausmachen.« Jetzt betrachtete er mich mit größerer Freundlichkeit. »Aber Ihr seid ganz bis hierher geschickt worden, Ritter Ek Mu-yal, um mit diesen Fremden zu sprechen. Was wird Motecuzóma sagen, wenn Ihr mit leeren Händen heimkehrt?«
»Ganz mit leeren Händen nun doch nicht«, sagte ich. »Ich werde zumindest das Kästchen mit der Götternahrung und die kleinen blauen Gebete mit zurückbringen. Und außerdem habe ich viel erfahren, was ich Motecuzóma berichten kann.«
Plötzlich kam mir ein Einfall. »Ach ja, Herr Mutter – und da wäre noch etwas, was ich ihm zeigen könnte. Falls eine von euren Frauen, die den weißen Männern beigewohnt haben, schwanger geworden ist und nicht den Blattern zum Opfer fällt – nun, falls das Kind geboren werden sollte, schickt das nach Tenochtítlan. Der Verehrte Sprecher kann es im Tierhaus der Stadt ausstellen. Sie müßten Ungeheuer ganz besonderer Art unter anderen Ungeheuern sein.«
Die Nachricht von meiner Rückkehr nach Tenochtítlan muß mir um mehrere Tage vorausgeeilt sein und Motecuzóma muß vor Ungeduld gekocht haben zu erfahren, welche Nachrichten – oder Besucher – ich wohl heimbringen mochte. Aber er war ganz derselbe alte Motecuzóma, und ich wurde nicht sofort bei ihm vorgelassen. Ich mußte auf dem Korridor draußen vor seinem Thronsaal warten, zunächst mein Prachtgewand aus- und das vorgeschriebene Sackgewand des Bittstellers anziehen und dann das vorgeschriebene kriecherische Ritual des Erdeküssens von der Tür bis zu der Stelle vollführen, wo er zwischen dem goldenen und dem silbernen Gong saß. Trotz der Kühle und Gelassenheit, mit welcher er mich empfing, war ihm offensichtlich daran gelegen, daß er meinen Bericht als erster zu hören bekam – vielleicht sogar als einziger –, denn Mitglieder seines Staatsrates waren diesmal nicht anwesend. Er gestattete mir, die Förmlichkeit, nur dann zu sprechen, wenn ich gefragt wurde, beiseite zu lassen, und so berichtete ich ihm alles, was ich auch euch berichtet habe, ehrwürdige Patres, nebst ein paar Dingen, welche ich von euren Landsleuten erfahren hatte.
»Wenn mir in meiner Rechnung kein Fehler unterlaufen ist, Verehrter Sprecher, müssen es etwa zwanzig Jahre her sein, daß die ersten ›Schiffe‹ genannten Schwimmenden Häuser aus jenem fernen Land Spanien ausgelaufen sind, um die westlich davon liegenden Meere zu erforschen. Unsere Gestade erreichten sie nur deshalb nicht, weil offenbar eine große Anzahl von größeren und kleineren Inseln zwischen uns und Spanien liegen. Auf diesen Inseln müssen bereits Menschen gelebt haben, und nach den Beschreibungen zu urteilen, müssen es so etwas wie die barbarischen Chichiméca in unseren nördlichen Landen gewesen sein. Einige von diesen Insulanern kämpften, um die weißen Männer zurückzujagen, manche gestatteten ihnen kleinmütig, sich auf ihren Inseln niederzulassen, doch inzwischen sind sie alle zu Untertanen dieser Spanier und ihres Königs gemacht worden. Im Laufe der letzten zwanzig Jahre sind die weißen Männer also damit beschäftigt gewesen, diese Inseln zu besiedeln, sie in bezug auf Bodenschätze und Erzeugnisse auszubeuten und zwischen diesen Inseln und dem spanischen Mutterland Handel zu treiben. Nur einige wenige von ihren Schiffen haben auf der Fahrt zwischen den Inseln oder auf Forschungsreisen oder wenn der Wind sie abgetrieben hatte unsere Lande erst flüchtig gesehen. Wir dürfen hoffen, daß diese Inseln die weißen Männer noch auf Jahre hinaus beschäftigt halten, doch bitte ich, in dieser Beziehung Zweifel anmelden zu dürfen. Auch die größte dieser Inseln ist nur eine Insel, die Reichtümer, deren sich die weißen Männer bemächtigen können, und auch das Land zur Besiedelung ist daher nur begrenzt. Auch scheinen diese Spanier unersättlich sowohl was ihre Neugier als auch ihre Habgier betrifft. Sie sind bereits jetzt dabei, jenseits dieser Inseln neue Entdeckungen zu machen und neue Gelegenheiten zu erkunden. Früher oder später wird ihre Suche sie in unsere Lande bringen. Es wird sein, wie der Verehrte Sprecher Nezahualpíli es vorausgesagt hat: eine Landung, auf die wir vorbereitet sein müssen.«
»Vorbereitet!« schnarrte Motecuzóma. Vermutlich versetzte es ihm einen Stich, daß Nezahualpíli diese Prophezeiung dadurch hatte stützen können, daß er das Tlachtli-Spiel gewonnen hatte. »Dieser alte Narr bereitet sich dadurch vor, daß er sich zurücksetzt und die Hände in den Schoß legt. Er will mir nicht einmal helfen, Krieg gegen die unerträglichen Texcaltéca zu führen.«
Ich hütete mich, ihn daran zu erinnern, was Nezahualpíli noch gesagt hatte: daß alle unsere Völker mit den alten Feindschaften aufhören und sich gegen die bevorstehende Landung zusammentun sollten.
›»Landung‹, hast du gesagt«, fuhr Motecuzóma fort. »Du hast aber auch gesagt, daß diese beiden Fremden ohne Waffen und völlig wehrlos gekommen sind. Das ließe doch auf eine friedliche Landung schließen.«
Ich sagte: »Was für Waffen mit ihrem leckgeschlagenen Schiff untergegangen sind, haben sie mir nicht anvertraut. Vielleicht brauchen sie überhaupt keine Waffen – jedenfalls keine Waffen in unserem Sinne –, wenn sie uns eine tödliche Krankheit bringen können, gegen die sie gefeit sind, als wäre es nichts.«
»Ja, das wäre allerdings eine mächtige Waffe«, sagte Motecuzóma. »Eine Waffe, wie sie bisher den Göttern vorbehalten geblieben ist. Gleichwohl behauptest du, sie sind keine Götter.« Nachdenklich betrachtete er das kleine Kästchen und seinen Inhalt. »Sie tragen eine gottgegebene Speise mit sich.« Er fingerte an einigen der blauen Kügelchen herum. »Sie haben Gebete bei sich, welche man anfassen kann, und die aus einem geheimnisvollen Stein bestehen. Gleichwohl behauptest du, sie sind keine Götter.«
»Das tue ich in der Tat, Hoher Gebieter. Sie werden betrunken wie Menschen, sie wohnen Frauen bei, wie Männer es tun …«
»Ayyo!« unterbrach er mich triumphierend. »Das sind genau die Gründe, warum der Gott Quetzalcóatl von hier fortging.
Nach allen Berichten erlag er einmal dem Rausch und beging irgendeine sexuelle Missetat, was ihn so sehr mit Scham erfüllte, daß er auf seine Herrschaft über die Toltéca verzichtete.«
»Aber gleichfalls nach diesen alten Berichten«, erklärte ich trocken, »waren alle diese Lande hier zur Zeit des Quetzalcóatl von Blumenduft erfüllt, trug jeder Windhauch einen süßen Duft heran. Der Geruch der beiden Männer, die ich kennenlernte, wäre geeignet, den Windgott ersticken zu lassen.« Geduldig, aber nachdrücklich beharrte ich auf meiner Überzeugung: »Die Spanier sind nichts weiter als Menschen, Hoher Gebieter. Sie unterscheiden sich von uns nur dadurch, daß sie eine weiße Haut haben, behaart sind und im Durchschnitt vielleicht größer als wir.«
»Die Standbilder der Toltéca in Tolan sind sehr viel größer als wir«, sagte Motecuzóma eigensinnig, »und in welcher Farbe sie bemalt waren, läßt sich heute nicht mehr erkennen. Soweit wir wissen, können die Toltéca durchaus eine weiße Haut gehabt haben.« Ich stieß verzweifelt den Atem aus, doch er achtete nicht darauf. »Ich werde unsere Historiker beauftragen, all die alten Aufzeichnungen noch einmal peinlich genau durchzuarbeiten. Wir werden herausfinden, wie die Toltéca ausgesehen haben. Inzwischen werde ich unsere höchsten Priester beauftragen, diese Götternahrung in ein schön gearbeitetes Behältnis zu tun, mit allen Zeichen der Hochachtung und Verehrung nach Tolan zu bringen und in Reichweite der Standbilder der Toltéca aufzustellen …«
»Verehrter Sprecher«, sagte ich, »in der Unterhaltung mit diesen beiden weißen Männern habe ich den Namen Toltéca mehrere Male erwähnt. Er hat ihnen nicht im geringsten etwas bedeutet.«
Motecuzóma riß sich vom Anblick des Gottesbrotes und der Kugeln los und lächelte ein wirklich triumphierendes Lächeln.
»Da hast du es! Einem echten Toltécatl kann dieser Name gar nichts bedeuten. Wir nennen sie die Meisterhandwerker, weil wir nicht wissen, wie sie sich selbst genannt haben.«
Damit hatte er selbstverständlich recht, und ich war verlegen. Ich wußte nichts darauf zu erwidern als zu murmeln: »Ich bezweifle, daß sie sich Spanier genannt haben. Dieses Wort – die ganze Sprache – hat nicht das geringste mit irgendwelchen anderen Sprachen zu tun, die in unseren Landen gesprochen werden.«
»Adlerritter Mixtli«, sagte er, »diese weißen Männer, können, wie du gesagt hast, Menschen sein – einfach Menschen – und trotzdem Toltéca, Nachkommen jener, die vor so langer Zeit verschwunden sind. Dieser König, von dem sie dir erzählt haben, könnte der Gott Quetzalcóatl sein, welcher freiwillig in die Verbannung gegangen ist. Er könnte bereit sein zurückzukehren, wie er es versprochen hat, und jenseits des Meeres darauf warten, daß seine Tolteca-Untertanen ihm melden, daß wir seiner Rückkehr nichts in den Weg stellen.«
»Stellen wir uns ihm denn nicht in den Weg, Hoher Gebieter?« erkühnte ich mich zu fragen. »Seid Ihr bereit dazu? Die Rückkehr Quetzalcóatls würde bedeuten, daß jeder Herrscher, welcher jetzt in diesen Landen regiert, abzudanken hätte, von den Verehrten Sprechern bis zu den niedrigsten Stammeshäuptlingen. Er würde die Oberherrschaft ausüben.«
Motecuzóma setzte eine Miene frommer Bescheidenheit auf. »Ein zurückgekehrter Gott wird zweifellos jenen dankbar sein, die seine Reiche bewahrt, ja sogar noch verbessert haben, und wird diese Dankbarkeit ohne Zweifel auch zeigen. Wenn er mir nur zugestände, eine Stimme in seinem Staatsrat zu sein, ich würde mich höher geehrt fühlen als jeder andere Sterbliche.«
Ich sagte: »Hoher Gebieter, ich habe mich früher geirrt. Ich kann auch jetzt fehlgehen in der Annahme, daß diese weißen Männer keine Götter oder Vorboten irgendeines Gottes sind.
Aber könnte es nicht sein, daß Ihr einem womöglich noch schwererwiegenden Irrtum erliegt, wenn Ihr davon ausgeht, daß sie es sind?«
»Davon ausgehen? Ich gehe von nichts aus und nehme nichts an«, erklärte er streng. »Ich sage weder ja, ein Gott kommt, noch nein, er kommt nicht, wie du es so bedenkenlos tust!« Er stand aufrecht da und schrie fast, als er sagte: »Ich bin der Verehrte Sprecher Der Einen Welt, und ich sage weder dieses noch jenes, weder ja noch nein, weder Götter noch Menschen, bis ich darüber nachgesonnen, beobachtet und abgewartet habe, um ganz sicher zu sein.«
Daß er aufgestanden war, nahm ich als Zeichen dafür, daß ich entlassen war. Rückwärts gehend entfernte ich mich von seinem Thron, küßte wie vorgeschrieben die Erde, verließ den Raum, zog das Sackgewand aus und ging nach Hause.
Was die Frage – Götter oder Menschen? – betrifft so hatte Motecuzóma erklärt, er werde abwarten, bis er sich sicher sei, und genau das tat er. Er wartete, und er wartete zu lange, und selbst als das schon keine Rolle mehr spielte, war er sich immer noch nicht ganz sicher. Und weil er in Ungewißheit abwartete, starb er zuletzt in Schande, und der letzte Befehl, welchen er seinem Volke zu geben versuchte, begann unsicher mit: »Mixchia …!« Ich weiß es. Ich war dabei. Und ich habe das letzte Wort gehört, welches Motecuzóma je in seinem Leben sprach: »Wartet …!«
Wartender Mond tat diesmal nichts, um mir meine Heimkehr zu verderben. Zwar hatte sich inzwischen manches natürliche Grau in ihr Haar eingeschlichen, doch was von ihrer verletzenden weißen Strähne noch geblieben war, hatte sie entweder abgeschnitten oder wieder dunkel gefärbt. Und wenn Béu aufgehört hatte, zu versuchen, so zu werden wie ihre verstorbene Schwester, war sie inzwischen überhaupt ein ganz anderer Mensch geworden als jener, den ich seit nahezu einem halben Schock Jahre gekannt hatte – seit ich sie zum erstenmal in der Hütte ihrer Mutter in Tecuantépec gesehen. Stets war es in all diesen Jahren so gewesen, daß wir uns bei jedem Zusammensein gestritten und gekämpft oder bestenfalls einen heiklen Waffenstillstand bewahrt hatten. Offenbar war sie jedoch inzwischen zu dem Entschluß gekommen, daß wir fürderhin die Rolle eines freundschaftlich verbundenen alternden Ehepaares spielen sollten. Ich weiß nicht ob das daran lag, daß ich sie so gründlich gezüchtigt hatte, oder ob sie diese Rolle nur unseren bewundernden Nachbarn vorzuspielen gedachte, oder ob Béu Ribé sich damit abgefunden hatte, gleichfalls im Alter des Niemals zu stehen und sich sagte: »Nie mehr irgendwelche offenen Feindseligkeiten zwischen uns.«
Jedenfalls erleichterte mir ihre neue Einstellung es, mich zur Ruhe zu setzen und mich daran zu gewöhnen, wieder in einem Haus und in einer Stadt zu leben. Jedesmal, wenn ich früher, selbst schon in der Zeit, da meine Frau Zyanya und meine Tochter Nochipa noch lebten, heimgekehrt war, hatte ich es in der Erwartung getan, irgendwann wieder loszuziehen und ein neues Abenteuer zu bestehen. Doch bei dieser letzten Heimkehr war mir, als ob ich nunmehr für den Rest meines Lebens heimgekommen sei. Wäre ich jünger gewesen, hätte ich vermutlich gegen diese Aussicht aufbegehrt und gewiß bald eine Gelegenheit gefunden, wieder aufzubrechen, auf Reisen zu gehen und Neues kennenzulernen. Oder, wäre ich ein ärmerer Mann gewesen, hätte ich mich rühren müssen, nur um unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Oder, wäre Béu immer noch so unausstehlich gewesen wie früher, hätte ich jeden Vorwand ergriffen, fortzukommen, und wenn ich irgendeinen Trupp Krieger in einen Krieg hätte führen müssen. Doch zum erstenmal hatte ich keinen Grund und lag auch keine Notwendigkeit für mich vor, weiterzulaufen und all die Wege und all die Tage bis zum Ende zu erforschen. Ich konnte mir sogar einreden, ich hätte diese lange Ruhepause und das leichte Leben verdient, welches mein Reichtum und meine Frau mir bieten konnten. Infolgedessen schickte ich mich nach und nach in ein geregeltes Leben, welches weder Anforderungen an mich stellte noch große Belohnung für mich bereithielt, mich jedoch immerhin beschäftigt hielt und nicht allzu langweilig war. Und zu alledem wäre ich nicht fähig gewesen, hätte sich nicht dieser Wandel mit Béu vollzogen.
Wenn ich sage, daß sie sich gewandelt hatte, meine ich nur, daß es ihr gelang, ihre lebenslange Abneigung und die Verachtung meiner Person zu verhehlen. Nie hat sie mir Grund zu der Annahme gegeben, daß diese Gefühle wirklich vergangen wären, aber sie ließ ihnen immerhin nicht mehr freien Lauf, und diese kleine Lüge genügte mir. Sie hörte auf, stolz und anmaßend zu sein und wurde sanft und fügsam wie die meisten anderen Frauen. In gewisser Weise vermißte ich die hochfahrende Frau sogar, die sie gewesen war, doch dieser Hauch von Bedauern wurde bei weitem aufgewogen durch die Erleichterung, es nicht mehr mit ihrem Eigensinn und ihrer Halsstarrigkeit aufnehmen zu müssen. Als Béu ihre einst überwältigende Persönlichkeit unterdrückte und die Unauffälligkeit einer Frau annahm, die ganz Ehrerbietung und Zuvorkommenheit war, konnte auch ich sie gleichermaßen zuvorkommend behandeln.
Die Hingabe, mit der sie jetzt Hausfrau spielte, ließ auch nicht den leisesten Hinweis darauf erkennen, daß sie erwartete, ich würde vielleicht doch irgendwann einmal einen jener einzigen Ansprüche an sie stellen, die ich nie an sie gestellt hatte. Sie ließ nie verlauten, daß wir die Ehe richtig vollziehen sollten; niemals wieder versuchte sie, mich mit ihrer Fraulichkeit zu verführen, und nie beklagte sie sich darüber, daß wir in verschiedenen Kammern schliefen. Und ich bin froh, daß sie das nicht tat. Derlei Versuche zurückzuweisen, hätte die Ausgeglichenheit unseres Zusammenlebens gestört, und ich hätte sie nun einmal nie als Frau in die Arme schließen können. So traurig es war, aber Wartender Mond war so alt wie ich, und man sah ihr dieses Alter an. Von ihrer Schönheit, welche einst genauso groß gewesen war wie die Zyanyas, war nichts geblieben als ihre schönen Augen, und die sah ich nur selten. In ihrer neuen Rolle der Unterwürfigkeit bemühte Béu sich stets, sie züchtig niedergeschlagen zu halten und auch nie wieder die Stimme zu erheben.
Früher hatte sie mich mit diesen Augen angefunkelt, hatte sie mich mit ihrer Stimme böse, kratzbürstig oder höhnisch angefahren. In ihrer neuen Verkleidung sprach sie jedoch nur noch leise und nicht viel. Verließ ich morgens das Haus, fragte sie wohl: »Wann möchtest du, daß das Essen für dich fertig ist, mein Gebieter, und was würdest du wohl gern essen?« Und wenn ich das Haus abends verließ, ermahnte sie mich wohl: »Die Nacht wird kalt, mein Gebieter, und du läufst Gefahr, dich zu erkälten, wenn du keinen wärmeren Umhang umnimmst.«
Ich habe die Regelmäßigkeit meines Tagesablaufs erwähnt. Nun, er verlief folgendermaßen: Ich verließ mein Haus am Morgen und am Abend, um die Zeit auf die einzigen beiden Weisen zu verbringen, die mir einfielen.
Jeden Morgen suchte ich das Haus der Fernhändler auf und verbrachte den größeren Teil des Tages dort, redete, hörte zu und trank die kräftige Schokolade, die von den Dienern gereicht wurde. Die drei Vorsitzenden, welche mich einst, vor einem halben Schock Jahre in diesen Räumen ausgefragt hatten, waren selbstverständlich längst gestorben. An ihre Stelle waren zahllose andere Männer wie sie gerückt: alt, fett, glatzköpfig, selbstgefällig und selbstsicher in ihrer Überzeugung, einen festen Platz in unserer Gesellschaft einzunehmen. Bis auf letzteres, war ich bis jetzt weder glatzköpfig noch fett geworden, noch fühlte ich mich wie ein alter Mann; sonst, vermute ich, hätte ich wohl als einer der ihren durchgehen können und tat kaum etwas anderes, als mich in Abenteuern zu sonnen, welche ich bestanden, und meinen augenblicklichen Wohlstand zu genießen.
Bisweilen gab mir die Ankunft eines Pochtéca mit seiner Trägerkolonne Gelegenheit, ein Angebot auf seine Waren insgesamt oder auf einen Teil davon abzugeben, der mir besonders ins Auge stach. Und ehe der Tag vorüber war, gelang es mir für gewöhnlich, mit einem anderen Händler zu feilschen, was für gewöhnlich damit endete, daß ich meine Ware mit Gewinn an ihn verkaufte. Um das zu tun, brauchte ich nicht einmal meinen Becher Schokolade niederzusetzen oder auch nur mit eigenen Augen gesehen zu haben, was ich eigentlich gekauft und wieder verkauft hatte. Manchmal traf ich auch einen jungen und ehrgeizigen Händler in dem Gildehaus, welcher Vorbereitungen traf, zu seiner ersten Reise ins Unbekannte aufzubrechen. Dann hielt ich ihn wohl solange zurück, wie es brauchte, um ihn alle meine Erfahrungen auf dieser ganz besonderen Route zuteil werden zu lassen oder jedenfalls solange er mir zuhörte, ohne unruhig zu werden und dringende Geschäfte vorzuschützen.
Doch an den meisten Tagen waren nur wenige andere Menschen dort außer mir und etlichen anderen Pochtéca, welche sich von den Geschäften zurückgezogen und keinen anderen Platz hatten, wo sie sich lieber aufgehalten hätten. So setzten wir uns nieder und tauschten lieber Erinnerungen als Waren miteinander aus. Ich lauschte ihren Erzählungen aus Tagen, da sie weniger Jahre gehabt und weniger wohlhabend gewesen waren, dafür jedoch von unermeßlichem Ehrgeiz besessen; jenen Tagen, da sie selbst unterwegs gewesen waren und manches Wagnis und so manche Gefahr auf sich genommen hatten. Selbst wenn wir sie nicht ausgeschmückt hätten, wären unsere Geschichten noch aufregend gewesen – und ich hatte keinen Grund, bei meinen zu übertreiben –, doch da die alten Männer alle versuchten, sich in bezug auf die Einzigartigkeit und Vielfalt ihrer Erlebnisse sowie im Hinblick auf die Gefahren, welche sie bestanden und darauf, wie sie nur mit knapper Not irgendwelchen Mißgeschicken entkommen waren, auszustechen, fiel mir auf, daß manche von den Anwesenden, nachdem sie ihre Abenteuer zehn- oder zwölfmal zum besten gegeben hatten, anfingen, sie auszuschmücken …
Abends verließ ich mein Haus nicht, um Gesellschaft zu suchen, sondern Einsamkeit in der ich unbeobachtet ganz für mich allein meinen Erinnerungen nachhängen, meiner Sehnsucht und dem Aufbegehren gegen mein Geschick freien Lauf lassen konnte. Selbstverständlich hätte ich nichts dagegen gehabt, wenn diese Einsamkeit durch ein lang herbeigesehntes Wiedersehen unterbrochen worden wäre. Doch wie ich euch schon gesagt habe, ist das noch nie geschehen. Infolgedessen wanderte ich nur mit sehnsüchtiger Hoffnung, nicht mit irgendwelchen Erwartungen durch die nahezu menschenleeren Straßen von Tenochtítlan, von einem Ende der Insel zum anderen, erinnerte mich daran, was hier geschehen war und was dort.
Im Norden war die Dammstraße nach Tepeyáca, über welche ich damals meine kleine Tochter getragen hatte, als wir aus der überfluteten Stadt geflohen und auf dem Festland Sicherheit gesucht hatten. Damals hatte Nochipa nur Sätze sprechen können, die aus zwei Wörtern bestanden, doch mit manchen davon hatte sie viel ausgedrückt. Bei dieser besonderen Gelegenheit hatte sie gemurmelt: »Dunkle Nacht«.
Die südliche Dammstraße führte nach Coyohuácan und die darunterliegenden Gebiete, jene Dammstraße, über welche ich zusammen mit Cozcatl und Blut Schwelger zu meiner ersten Handelsexpedition aufgebrochen war. In der Pracht der Morgendämmerung jenes Tages hatte der mächtige Vulkan Popocatépetl uns nachgesehen, und mir war gewesen, als hätte er gesagt: »Ihr zieht fort, meine Freunde, doch ich bleibe hier …«
Dazwischen lagen die beiden großen Plätze der Stadt. Auf dem weiten im Süden gelegenen, Dem Herzen Der Einen Welt, stand die große Pyramide, so wuchtig, so fest und unverrückbar, daß der Betrachter meinen könnte, sie habe genauso lange dort gestanden wie der Popocatépetl am fernen Horizont. Selbst mir fiel es schwer zu glauben, daß ich älter war als die fertiggestellte Pyramide und daß sie nur ein unvollendeter Stumpf gewesen war, als ich sie das erstemal gesehen.
Über den nördlicheren Platz, den riesigen, ausgedehnten Marktplatz von Tlaltelolco, war ich das erstemal an der Hand meines Vaters hinweggegangen. Dort hatte er großzügig einen unerhörten Preis bezahlt, um mich zum erstenmal in meinem Leben wohlschmeckenden Schnee kosten zu lassen, während er dem Verkäufer erzählte: »Ich erinnere mich noch an die Harten Zeiten …« Damals war ich auch zum erstenmal dem verhutzelten, kakaobraunen Mann begegnet, welcher mir genau vorhergesagt hatte, wie mein Leben verlaufen werde.
Die Erinnerung daran war leicht beunruhigend, mußte ich doch darüber nachdenken, daß die Zukunft, welche er für mich vorausgesehen, schon meine Vergangenheit war. Dinge, die ich einst erwartet, waren bereits Erinnerungen. Ich näherte mich dem Ende meines ersten Schock Lebensjahre, und nicht viele Menschen wurden wesentlich älter als zweiundfünfzig Jahre. Gab es denn für mich wirklich keine Zukunft mehr? Als ich mir gesagt hatte, ich genösse zu Recht mein müßiges Leben, für das ich mich immerhin abgerackert hatte – hatte ich mich da nicht geweigert zuzugeben, daß ich mich selbst überlebt hatte und zu nichts mehr nütze war? Daß ich alle Menschen überlebt, welche ich jemals geliebt oder welche mich geliebt? Nahm ich einfach nur Raum in dieser Welt ein, bis ich in eine andere abberufen wurde?
Nein! Daran wollte ich einfach nicht glauben, und wie zur Bestätigung blickte ich hinauf in den Nachthimmel. Wieder hing ein rauchender Stern dort, genauso wie ein rauchender Stern über meiner Wiederbegegnung mit Motecuzóma in Teotihuácan gehangen hatte und dann über der Begegnung mit dem Mädchen Ce-Malinali und schließlich auch über meiner Begegnung mit den weißen Männern aus Spanien. Unsere Sternkundigen konnten sich nicht einigen: War es nun ein und derselbe Komet, welcher in unterschiedlicher Gestalt und verschieden hell an einer anderen Ecke des Himmels auftauchte, oder war es jedesmal ein neuer Komet? Doch nach jenem, welcher mich auf meiner letzten Reise in den Süden begleitet hatte, tauchte in beiden folgenden Jahren irgendein rauchender Stern am Nachthimmel wieder auf und blieb jedesmal die ganzen Nächte eines Monds über zu sehen. Selbst die für gewöhnlich unerschütterlichen Astronomen mußten zugeben, daß es sich um ein Zeichen mit einer bösen oder guten Vorbedeutung handelte, daß in drei Jahren drei Kometen sich jeder Erklärung entzogen hatten. Infolgedessen ging etwas vor in der Welt, und – ob es nun gut war oder schlecht – es sollte sich lohnen, darauf zu warten. Es ist möglich, daß ich dabei eine Rolle spielte oder vielleicht auch nicht, aber ich wollte fürs erste jedenfalls noch nicht von dieser Welt abtreten.
Verschiedene Dinge geschahen in diesen Jahren, und jedesmal fragte ich mich: Ist es das, was die rauchenden Sterne verkündet haben? In irgendeiner Weise waren alle diese Ereignisse bemerkenswert, manche davon auch beklagenswert, doch keines schien ganz bedeutsam genug, als daß es gerechtfertigt gewesen wäre, wenn die Götter uns eine solche dunkle Warnung hätten zukommen lassen.
So war ich erst ein paar Monde von meinem Zusammentreffen mit den Spaniern zurück, als uns aus Uluümil Kutz gemeldet wurde, daß die geheimnisvolle Krankheit der Blattern wie eine Flutwelle über die gesamte Halbinsel hinweggegangen sei. Unter den Xiu, den Tzotxil, den Quiche und all den anderen Nachfolgestämmen der Maya waren drei von zehn Bewohnern dieser Krankheit zum Opfer gefallen – unter anderen mein Gastgeber, der Herr Mutter Ah Tutál –, und fast jeder derer, die überlebt hatten, sollte für den Rest seines Lebens durch die Blatternnarben entstellt werden.
So unsicher sich Motecuzóma in Hinsicht auf das Wesen und die Absichten dieser Besucher aus Spanien war – mochten sie nun Götter sein oder Menschen –, er legte keinen Wert darauf, sich irgendeiner Götterkrankheit auszusetzen. Endlich einmal handelte er schnell und entschlossen und verbot streng jeden Handel mit den Mayalanden. Unseren Pochtéca wurde verboten, dorthin zu ziehen, und unsere südlichen Grenzwachen erhielten Anweisungen, alle Produkte und Waren zurückzuweisen, die von dort kamen. Dann wartete der Rest Der Einen Welt ängstlich noch ein paar Monde länger. Aber die Blattern waren erfolgreich gebannt worden, hatten nur innerhalb der unglücklichen Mayastämme gewütet und setzten anderen Völkern nicht zu – jedenfalls noch nicht.
Es vergingen noch ein paar Monde, und eines Tages schickte Motecuzóma einen Boten, mich in seinen Palast zu holen, und abermals überlegte ich: bedeutet dies, daß die Prophezeiung des rauchenden Sterns sich erfüllt hat? Doch als ich mich ihm auf die übliche vorgeschriebene Weise des Bittstellers im Sackgewand im Thronsaal näherte, sah der Verehrte Sprecher mich diesmal nur leicht verärgert an, nicht von Furcht geschlagen, fassungslos oder mit irgendwelchen anderen größeren Gefühlen. Etliche Mitglieder seines Staatsrats, welche im Raum umherstanden, schienen eher belustigt. Ich selbst muß ziemlich blöde dreingeschaut haben, als er sagte:
»Dieser Wahnsinnige nennt sich Tliléctic-Mixtli.«
Dann ging mir auf, daß er nicht von mir sprach, sondern zu mir und auf einen finster dreinschauenden, abgerissen gekleideten Fremden zeigte, welcher von zwei Palastwachen festgehalten wurde. Ich hob meinen Sehkristall, um ihn genau ins Auge fassen zu können, und erkannte, daß es sich bei dem Mann nicht um einen Fremden handelte, lächelte erst ihm zu, dann Motecuzóma und sagte:
»Er heißt wirklich Tliléctic-Mixtli, Hoher Gebieter. Der Name Dunkle Wolke ist keineswegs selten unter …«
»Du kennst ihn!« unterbrach Motecuzóma mich oder beschuldigte er mich. »Vielleicht ein Verwandter von dir?«
»Vielleicht auch von Euch, Verehrter Sprecher, und möglicherweise nicht minder von Adel als Ihr.«
»Du wagst es, mich mit diesem dreckigen und einfältigen Bettler zu vergleichen?« sagte er aufbrausend. »Als meine Palastwachen ihn ergriffen, verlangte er, bei mir zur Audienz vorgelassen zu werden, er sei ein Würdenträger, der uns besuchen komme. Aber sieh ihn dir an! Der Mann ist wahnsinnig!«
Ich erklärte: »Nein, Hoher Gebieter. Dort, wo er herkommt, ist er genau das gleiche wie Ihr, nur, daß die Azteca nicht den Titel Verehrter Sprecher benutzen.«
»Was?« sagte Motecuzóma verblüfft.
»Der vor Euch steht, ist der Tlatocapíli Tliléctic-Mixtli von Aztlan.«
»Von was?« fragte Motecuzóma erstaunt.
Ich bedachte meinen Namensvetter nochmals mit einem Lächeln. »Hast du den Mondstein mitgebracht?«
Er nickte kurz und zornig und murmelte vernehmlich: »Nachgerade wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Aber der Stein liegt unten auf dem Platz, bewacht von den Männern, welche die Mühsal überlebt haben, ihn hierherzurollen, zu ziehen und mit dem Floß zu transportieren …«
Einer der Wachen, die ihn festhielten, murmelte vernehmlich: »Dieser verfluchte große Stein hat das halbe Pflaster zwischen hier und dem Damm von Tepeyáca aufgerissen.«
Der Neuankömmling fuhr fort: »Meine Männer und ich sind halb tot vor Erschöpfung und Hunger. Wir haben uns hier ein anderes Willkommen erhofft. Zwar hätten wir uns mit einfacher Gastfreundlichkeit zufriedengegeben. Aber man hat mich einen Lügner genannt, bloß weil ich meinen eigenen Namen genannt habe.«
Ich wandte mich wieder Motecuzóma zu, welcher ihn immer noch ungläubig anstarrte. Ich sagte: »Wie Ihr seht, Hoher Gebieter, ist der Herr von Aztlan selbst imstande, seinen Namen zu erklären. Und auch, welchen Rang er bekleidet, wo er herkommt und alles andere, was Ihr vielleicht über ihn erfahren möchtet. Ihr werdet das Náhuatl der Azteca ein wenig altertümlich finden, doch ist es durchaus zu verstehen.«
Mit einem Ruck kam Leben in Motecuzóma, und er brachte Entschuldigungen vor und begrüßte meinen Namensvetter. »Wir werden uns eingehend unterhalten, Herr von Aztlan, wenn Ihr gegessen und geruht habt« – und gab den Wachen und seinen Beratern Befehl, die Besucher zu verköstigen, sie einzukleiden und unterzubringen, wie es hohen Würdenträgern gebühre. Mir gab er zu verstehen, ich sollte bleiben, als die Menge den Thronsaal verließ, und dann sagte er:
»Ich kann es kaum glauben. Ein Erlebnis, das mich genauso umwirft, als würde ich plötzlich meinem eigenen legendären Großvater Motecuzóma begegnen. Oder als träte eine Steinfigur plötzlich aus einem der Tempelfriese heraus. Man stelle sich das einmal vor! Ein echter Aztécatl, zum Leben erwacht.« Doch dann setzte sein angeborener Argwohn sich wieder bei ihm durch, und er fragte: »Aber was will er hier?«
»Er bringt ein Geschenk, Hoher Gebieter, wie ich es ihm vorschlug, als ich Aztlan wiederentdeckte. Wenn Ihr Euch hinunter begebt auf den Großen Platz und den Stein Euch anseht, werdet Ihr es, wie ich annehme, viele zerbrochene Pflastersteine wert finden.«
»Das werde ich tun«, sagte er und fügte immer noch mißtrauisch hinzu: »Aber er will doch gewiß etwas dafür haben.«
Ich sagte: »Ich meine auch, daß der Mondstein es wert ist, daß man dem Geber einige hochklingende Titel verleiht. Und ein paar Federumhänge, edelsteinbesetzten Zierat, damit er seinem neuen Rang entsprechend gekleidet sei. Und vielleicht, daß man ihm ein paar Mexíca-Krieger gibt.«
»Krieger?«
Daraufhin unterbreitete ich Motecuzóma den Gedanken, welchen ich zuvor dem Herrscher von Aztlan schmackhaft gemacht hatte: Daß die erneuerten Familienbande zwischen uns Mexíca und diesen Azteca dem Dreibund etwas geben würden, was er im Augenblick nicht hatte – eine starke Garnison an der Nordwestküste.
Vorsichtig sagte er: »Wenn man an all die vielen Vorzeichen denkt, ist dies vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, unsere Streitkräfte zu verzetteln, aber ich will weiter darüber nachdenken. Und eines ist sicher. Selbst wenn er jünger ist als du und ich, unser Ahne verdient einen besseren Titel als den eines Tlatocapili. Ich werde zumindest das – tzin an seinen Namen anhängen.«
So verließ ich den Palast an diesem Tage mit dem nicht unangenehmen Gefühl, daß, wenn schon nicht ich selbst, so doch ein anderer Mixtli fortan den edlen Namen Mixtzin tragen sollte. Wie sich herausstellte, ging Motecuzóma auf alle meine Vorschläge ein. Unser Besucher verließ die Stadt und trug fürderhin den klangvollen Titel Azteca Tlani-Tlatoáni oder Geringerer Sprecher der Azteca. Außerdem nahm er einen beträchtlichen Trupp bewaffneter Krieger und eine Anzahl von Kolonistenfamilien mit, die eigens ihrer besonderen Fähigkeiten im Häuser- und Festungsbau wegen ausgesucht worden waren.
Ich führte, während er in Tenochtítlan weilte, nur eine einzige kurze Unterhaltung mit meinem Namensvetter. Er dankte mir überschwenglich für alles, was ich dazu beigetragen hatte, daß er willkommen geheißen, geadelt und zum Bündnispartner des Dreibunds gemacht worden war. Dann fügte er noch hinzu:
»Da ich jetzt das – tzin an meinen Namen anhängen darf, gilt das auch für den Namen meiner gesamten Familie und meiner Nachkommen, selbst jener, die von einer nicht so eng mit uns verbundenen Nebenlinie abstammen. Du mußt unbedingt wieder nach Aztlan kommen, Bruder, dann wirst du eine kleine Überraschung erleben. Du wirst mehr vorfinden als eine neue und schönere Stadt.«
Damals dachte ich, er hätte vor, eine kleine Feier zu veranstalten, und mich zu einer Art Ehrengebieter der Azteca zu machen. Doch bin ich nie wieder in Aztlan gewesen, und so weiß ich nicht, was in den Jahren nach Mixtzins Rückkehr aus der Stadt geworden ist. Was den prachtvollen Mondstein betrifft, so zauderte Motecuzóma wie gewöhnlich und konnte sich zu keinem Entschluß durchringen, wo im Herzen Der Einen Welt er am besten aufgestellt werden solle. So lag der Stein, als ich ihn das letztemal sah, immer noch flach auf dem Pflaster des Großen Platzes und ist heute genauso verschüttet und verloren wie der Sonnenstein.
Es sollte jedoch noch etwas geschehen, und dieses Ereignis ließ mich und die meisten anderen Menschen rasch den Besuch der Azteca vergessen, daß sie den Mondstein mitgebracht hatten und Pläne hätten, Aztlan zu einer großen Stadt am Meer auszubauen. Ein Bote kam über den See aus Texcóco; er trug den weißen Umhang der Trauer. Die Nachricht, welche er brachte, kam nicht völlig unerwartet, da der Verehrte Sprecher Nezahualpíli mittlerweile ein sehr alter Mann geworden war. Gleichwohl erfüllte es mein Herz mit großer Trauer, als ich hörte, daß mein frühester Gönner und Beschützer gestorben sei.
Ich hätte zusammen mit all den anderen Adlerrittern nach Texcòco gehen können, gemeinsam mit all den anderen Mexíca-Edelleuten und Höflingen, welche über den See fuhren, um der Beisetzung von Nezahualpíli beizuwohnen, und welche entweder gleich dort blieben, oder aber einige Zeit später noch einmal über den See hinüberfuhren, um der Krönung des Kronprinzen Ixtlil-Xochitl zum neuen Verehrten Sprecher der Acólhua beizuwohnen. Ich zog es jedoch vor, ohne Aufsehen und Gepränge hinzugehen, in schlichter Trauerkleidung und als privater Bürger. Ich ging als Freund der Familie und wurde von meinem alten Schulkameraden Prinz Huexotl empfangen, der mich genauso herzlich begrüßte, wie er es das erstemal vor dreiunddreißig Jahren getan, und zwar mit dem Namen, welchen ich damals getragen hatte: »Willkommen, Kopf Neiger!« Ich konnte nicht umhin zu bemerken, daß mein alter Schulkamerad Weide in der Tat alt geworden war; ich bemühte mich, mir nicht anmerken zu lassen, was ich empfand, als ich sein ergrautes Haar und sein verrunzeltes Gesicht sah; in meiner Erinnerung war er ein ranker junger Prinz, welcher mit seinem Lieblingshirsch im grünen Park spazierenging. Doch dann dachte ich beklommen: Er ist nicht älter als ich.
Der Uey-Tlatoáni Nezahualpíli wurde auf dem Boden seines Stadtpalastes bestattet und nicht auf dem ausgedehnteren Landsitz hinter dem Texcotzinco-Hügel. Infolgedessen standen die Menschen dichtgedrängt auf den Rasenflächen dieses kleineren Palastes, um diesem vielgeliebten und hochgeachteten Mann Lebewohl zu sagen. Da waren die Herrscher und Edelleute der Völker des Dreibunds sowie auch aus anderen Ländern, befreundeten und nichtbefreundeten. Die Abgesandten jener weiter entfernten Länder, welche nicht rechtzeitig zu Nezahualpílis Begräbnisfeierlichkeiten eintreffen konnten, waren gleichwohl in diesem Augenblick unterwegs nach Texcóco und beeilten sich, um rechtzeitig einzutreffen, seinen Sohn als den neuen Herrscher zu begrüßen. Von allen, die am Grabe Nezahualpílis hätten stehen sollen, war am auffälligsten das Fehlen Motecuzómas, der an seiner Statt seine Weibliche Schlange Tlácotzin und seinen Bruder Cuitláhuac schickte, den Oberbefehlshaber der Heere der Mexica.
Prinz Weide und ich standen Seite an Seite am Grab und nicht weit entfernt von seinem Halbbruder Ixtlil-Xochitl, dem Thronerben der Acólhua. Dieser machte immer noch seinem Namen Schwarze Blume Ehre, denn er hatte immer noch die zusammengewachsenen Augenbrauen, welche dafür verantwortlich waren, daß er stets aussah, als runzele er die Stirn. Aber sonst hatte er das meiste Haar verloren, und ich dachte: Er muß jetzt zehn Jahre älter sein als sein Vater damals, als ich zuerst nach Texcóco kam, um hier die Schule zu besuchen. Nach der Beerdigung zog die Menge sich in die Festräume des Palastes zurück, um zu schmausen und zu singen, zu trauern und laut Taten und Verdienste des verstorbenen Nezahualpíli zu preisen. Doch Weide und ich besorgten uns ein paar Krüge besten Octlis, zogen uns in seine Privatgemächer zurück und betranken uns langsam, während wir die alten Tage an uns vorüberziehen ließen und über die Tage nachsannen, die da kommen sollten.
Ich erinnere mich, an einer Stelle gesagt zu haben: »Ich habe viel über Motecuzómas unhöfliches Fehlen heute murren hören. Er hat es deinem Vater bis heute nicht verziehen, daß er sich in den letzten Jahren von allem ferngehalten hat, insbesondere, daß er sich geweigert hat, sich an den kleineren Kriegen zu beteiligen.«
Der Prinz zuckte mit den Achseln. »Mit seinen schlechten Manieren wird Motecuzóma meinem Halbbruder keine Zugeständnisse abringen. Schwarz Blume ist der Sohn unseres Vaters und hängt denselben Vorstellungen an wie er – daß Die Eine Welt eines Tages, und zwar bald, von Fremden heimgesucht werden wird, und daß unsere einzige Sicherheit in unserer Einigkeit besteht. Er wird die Politik unseres Vaters fortführen, daß wir Acólhua unsere Kraft für einen Krieg aufsparen müssen, der nun wahrhaftig alles andere als ein kleiner Krieg sein wird.«
»Vielleicht ist das der richtige Kurs«, sagte ich. »Aber Motecuzóma wird deinen Bruder nicht mehr lieben als deinen Vater.«
Als nächstes erinnere ich mich daran, daß ich zum Fenster hinausschaute und ausrief: »Wie ist die Zeit nur vergangen? Es ist spät in der Nacht – und ich bin furchtbar betrunken.«
»Nimm die Gästekammer dort drüben«, sagte der Prinz. »Wir müssen morgen früh hoch und hören, wie die Hofdichter ihre Lobgesänge vortragen.«
»Wenn ich jetzt schlafe, habe ich morgen einen Brummschädel«, sagte ich. »Wenn du gestattest, möchte ich vorher einen Spaziergang in der Stadt machen und mir von Nacht Wind das Gehirn reinblasen lassen.«
Die Art, wie ich ging, muß umwerfend gewesen sein, doch war kein Mensch da, mich zu sehen. Die nächtlichen Straßen waren menschenleerer als gewöhnlich, denn alle Bewohner Texcócos weilten in ihren Häusern und trauerten. Offenbar hatten die Priester Kupferfeilspäne auf die Fackeln an den Straßenecken gestreut, denn ihre Flammen brannten blau, und das Licht, welches sie verbreiteten, war fahl und bedrückend. In meinem etwas benebelten Zustand gewann ich den Eindruck, als wiederholte ich den Spaziergang, den ich schon einmal vor langer, langer Zeit gemacht. Verstärkt wurde dies noch, als ich vor mir unter einem rotblühenden Tapachini-Baum eine Steinbank erblickte, auf welcher ich dankbar Platz nahm und eine Zeitlang saß und es genoß, mich von den vom Wind heruntergewirbelten scharlachroten Blütenblättern berieseln zu lassen. Dann wurde ich gewahr, daß links und rechts von mir noch jemand saß.
Ich wandte mich nach links, blickte blinzelnd durch meinen Topas und erkannte denselben verhutzelten, abgerissenen, kakaobraunen Mann, dem ich schon so oft in meinem Leben begegnet war. Ich wandte mich nach rechts und sah einen etwas besser gekleideten, doch staubbedeckten und erschöpften Mann, den ich nicht ganz so oft zuvor gesehen. Eigentlich hätte ich wohl erschrocken sein, aufschreien und davonlaufen müssen, doch gluckste ich nur trunken in mich hinein in dem Wissen, daß sie nur Trugbilder waren, erzeugt durch den vielen Octli, den ich genossen. Immer noch glucksend, wandte ich mich an sie beide:
»Verehrungswürdige Gebieter, hättet Ihr nicht mit Eurem Urbild unter der Erde verschwinden müssen?«
Der kakaobraune Mann grinste und ließ die wenigen Zähne sehen, welche er noch hatte. »Es hat eine Zeit gegeben, da du uns beide für Götter gehalten hast. Von mir dachtest du, ich sei Huehuetéotl, Der Älteste Der Alten Götter, derjenige, welcher lange vor all den anderen in diesen Landen verehrt wurde.«
»Und mich hast du für Yoáli Ehécatl gehalten«, sagte der Staubbedeckte. »Den Herrn Nacht Wind, der nächtliche Wanderer, welche nicht auf der Hut sind, entführt oder sie belohnt, je nachdem, wie ihm der Sinn gerade steht.«
Ich nickte und beschloß, sie ernst zu nehmen, wiewohl sie nur Trugbilder waren. »Es stimmt, meine Gebieter, einst war ich jung und leichtgläubig. Doch dann erfuhr ich von Nezahualpílis Vorliebe, in Verkleidung durch die Welt zu ziehen.«
»Und das hat dich dazu gebracht, nicht mehr an die Götter zu glauben?« fragte der Kakaomann.
Ich hatte einen Schluckauf und sagte: »Laßt es mich so sagen: Ich habe nie irgendwelche andere getroffen außer Euch beiden.«
Dunkel murmelte der staubbedeckte Mann: »Es könnte sein, daß die richtigen Götter sich nur dann zeigen, wenn sie im Begriff stehen abzutreten.«
Ich sagte: »Dann verschwindet besser dorthin, wo Ihr hingehört. Nezahualpíli kann nicht sonderlich glücklich sein, die schaurige Straße ins Mictlan entlang zu ziehen, solange noch zwei Verkörperungen von ihm auf der Erde wandeln.«
Der Kakaomann lachte: »Vielleicht können wir es nicht ertragen, dich zu verlassen, alter Freund. Wir sind so lange Zeit hindurch damit beschäftigt gewesen, Wohlergehen und Geschick deiner verschiedenen Verkörperungen zu verfolgen: als Mixtli, als Maulwurf, als Kopf Neiger, als Hole!, als Záa Nayàzú, als Ek Muyal, als Su-kuru …«
Ich unterbrach ihn und sagte: »Ihr erinnert Euch meiner Namen besser als ich selbst.«
»Dann erinnere dich unserer Namen!« erklärte er ziemlich scharf. »Ich bin Huehuetéotl, und das hier ist Yoáli Ehécatl.«
»Wo Ihr doch nichts weiter als Erscheinungen seid«, brummte ich, »seid Ihr aber von einer vertrackten Hartnäckigkeit und Aufdringlichkeit. So betrunken wie jetzt, bin ich seit langem nicht gewesen. Es muß schon sieben oder acht Jahre her sein. Und ich erinnere mich … ich sagte damals, daß ich irgendwann und irgendwo einem Gott begegnen und ihm dann eine Frage stellen würde. Ich wollte ihn folgendes fragen: Warum haben die Götter mich so lange leben lassen, während sie jeden anderen Menschen, der mir jemals nahegestanden hat, niedergestreckt haben? Meine liebe Schwester, meine liebe Frau, meinen neugeborenen Sohn und meine Tochter, über der ich gewacht habe wie über meinen Augapfel, soviel enge Freunde, selbst flüchtige vergängliche Lieben …«
»Diese Frage läßt sich leicht beantworten«, sagte die abgerissene Erscheinung, welche sich selbst Ältester Der Alten Götter nannte. »Diese Menschen waren gleichsam Hammer und Meißel, mit denen du geformt wurdest; sie wurden zerbrochen oder beiseitegeworfen. Du jedoch mitnichten. Du hast allen Schlägen, allen Meißelstößen und allen Versuchen, dich zu glätten, standgehalten.«
Ich nickte mit dem Ernst der Betrunkenen und sagte: »Wenn das keine betrunkene Antwort ist, habe ich nie eine gehört.«
Die staubbedeckte Erscheinung, welche sich selber Nacht Wind nannte, sagte: »Ausgerechnet du, Mixtli, solltest doch wissen, daß ein Standbild oder ein Denkmal nicht schon fix und fertig aus einem Steinbruch herauskommt. Es muß mit Axt und Meißel bearbeitet, mit Obsidiangrus geschliffen und dadurch gehärtet werden, daß man es Wind und Wetter aussetzt. Und erst, wenn sie herausgemeißelt, gehärtet und geglättet sind, sind sie von Nutzen.«
»Nutzen?« sagte ich schroff. »Jetzt, wo sich das Ende meiner Wege und Tage nähert – wozu soll ich da noch nütze sein?«
Nacht Wind sagte: »Ich habe ein Denkmal erwähnt. Ein Denkmal tut nichts weiter, als aufrecht dastehen, doch das ist nicht immer leicht getan.«
»Und es wird auch nicht leichter werden«, sagte Der Älteste Der Alten Götter. »Gerade in dieser Nacht hat euer Verehrter Sprecher Motecuzóma einen nicht wieder gut zu machenden Fehler begangen und wird noch andere begehen. Was kommt, ist ein Sturm aus Feuer und Blut, Mixtli. Du bist nur zu einem einzigen Zweck geformt und gehärtet worden. Ihn zu überleben.«
Ich hatte abermals einen Schluckauf. »Warum ausgerechnet ich?« fragte ich.
Der Älteste Der Alten Götter sagte: »Vor langer Zeit hast du eines Tages vor einem Hügel nicht weit von hier gestanden, unentschlossen, ob du hinaufklettern solltest oder nicht. Damals habe ich dir gesagt, kein Mensch habe je ein anderes Leben gelebt als das, welches er sich selbst erwählt. Du hast dich entschlossen zu klettern. Und die Götter haben beschlossen, dir zu helfen.«
Ich stieß ein schauriges Lachen aus.
»Oh, gewiß, du hattest nicht viel Sinn für ihre Hilfe«, räumte er ein, »genausowenig wie der Stein zu schätzen weiß, was Hammer und Meißel aus ihm machen. Und dennoch haben sie dir geholfen. Und jetzt wirst du ihnen ihre Gunst vergelten.«
»Du wirst den Sturm überleben«, erklärte Nacht Wind.
Der Älteste Gott fuhr fort: »Die Götter haben dir geholfen, ein Wortkundiger zu werden. Dann haben sie dir geholfen, in ferne Lande zu reisen, viel zu sehen und viel zu erfahren. Das ist der Grund, warum du besser als jeder andere Mensch weißt, wie Die Eine Welt gewesen ist.«
»Gewesen ist?« wiederholte ich echogleich seine Worte.
Der Älteste Der Alten Götter vollführte mit seinem faltigen Arm eine umfassende Bewegung. »All dies wird verschwinden, und kein Mensch wird es sehen, anfassen oder sonstwie mit seinen Sinnen wahrnehmen. Nur in der Erinnerung wird es weiterleben. Und dir ist es bestimmt, dich zu erinnern.«
»Du wirst überleben«, sagte Nacht Wind.
Der Älteste Gott packte mich bei der Schulter und sagte unendlich traurig: »Eines Tages, wenn all dies vergangen ist … wenn niemand es jemals wieder sehen wird … werden die Menschen die Asche dieser Lande durchsuchen und Fragen stellen. Du hast die Erinnerungen und besitzt die Worte, von der Pracht Der Einen Welt zu erzählen, auf daß sie nicht vergessen werde. Du, Mixtli! Wenn alle anderen Denkmäler in diesen Landen zerbrochen sein werden, wenn sogar die Große Pyramide fällt – du wirst nicht fallen.«
»Du wirst stehen«, sagte Nacht Wind.
Wieder lachte ich, tat die Vorstellung verächtlich ab, daß die mächtige Große Pyramide jemals fallen könnte. Immer noch in dem Versuch, die beiden mahnenden Trugbilder bei Laune zu halten, sagte ich: »Meine Gebieter, ich bin nicht aus Stein. Ich bin nur ein Mensch, und der Mensch ist das hinfälligste aller Standbilder.«
Aber ich erhielt keine Antwort mehr darauf, keine Zurechtweisung. Die beiden Erscheinungen waren so rasch verschwunden, wie sie gekommen waren, und ich redete mit mir selbst.
Ein wenig weiter weg, hinter der Bank, flackerten die trüben blauen Flammen der Straßenbeleuchtung. In ihrem trauervollen Licht waren die roten Tapachini-Blütenblätter, welche auf mich herniederregneten, dunkel, von einem dunklen Rot, gleichsam als wären sie Blutstropfen. Ich erschauerte, und mich beschlich ein Gefühl, welches ich nur ein einziges Mal zuvor kennengelernt hatte – als ich das erstemal am Rande der Nacht und am Rande der Dunkelheit gestanden hatte –, das Gefühl, völlig allein zu sein in der Welt, verloren und verzweifelt. Der Platz, wo ich saß, war nur eine winzige Insel in dem fahlen blauen Licht, und rings um diesen Platz herum war nichts als Dunkelheit und Leere und das dumpfe Stöhnen des
Nachtwinds, und der Wind stöhnte: »Erinnere dich …«
Als mich im Morgengrauen ein Nachtwächter weckte, welcher dafür zu sorgen hatte, daß die Fackeln nicht ausgingen, lachte ich über mein wenig ansprechendes, betrunkenes Gehabe und meinen womöglich noch närrischeren Traum. Ich schlurfte zurück in den Palast, mit steifen Gliedern, weil ich auf der kalten Steinbank geschlafen hatte, und erwartete, daß der gesamte Hof noch schlief. Dort jedoch herrschte helle Aufregung, alle waren bereits auf, rannten erregt hin und her, und an den verschiedenen Portalen des Palastes hatte unerklärlicherweise eine Anzahl von Mexíca-Kriegern Posten bezogen. Als ich Prinz Weide fand und dieser mir mit umdüsterter Miene die Neuigkeit unterbreitete, fragte ich mich nachgerade, ob meine nächtliche Begegnung wirklich nur ein Traum gewesen sei. Denn die Nachricht lautete, daß Motecuzóma etwas sehr Niedriges und etwas Unerhörtes getan habe.
Wie ich schon gesagt habe, gehörte es zu den unverletzlichen Traditionen, daß feierliche Zeremonien wie die Bestattung eines Herrschers nicht durch Attentate oder andere verräterische Machenschaften besudelt wurden. Wie ich gleichfalls gesagt habe, war das Heer der Acólhua von dem verstorbenen Nezahualpüi so gut wie aufgelöst worden, und die wenigen Truppen, welche noch unter Waffen standen, waren nicht in einem Bereitschaftsstand, daß sie irgendwelche Eindringlinge hätten zurückwerfen können. Wie ich des weiteren gesagt habe, hatte Motecuzóma zur Bestattung seine Weibliche Schlange und seinen Oberbefehlshaber Cuitláhuac gesandt. Was ich jedoch nicht gesagt habe, weil ich es nicht wußte, war, daß Cuitláhuac mit einem Kriegs-Acáli gekommen war, welches mit sechzig ausgesuchten Mexíca-Kriegern bemannt war, die er heimlich außerhalb von Texcóco hatte von Bord gehen lassen.
In dieser Nacht, während ich in meiner Trunkenheit mit meinen Trugbildern des Gesprächs gepflogen – oder mit mir selbst gesprochen hatte –, hatten Cuitláhuac und seine Truppe die Palastwache vertrieben, die Gebäude besetzt, und die Weibliche Schlange hatte alle, welche hier Unterkunft gefunden hatten, zusammengerufen und ihnen eine Verlautbarung verlesen. Kronprinz Schwarz Blume werde nicht zum Nachfolger seines Vaters gekrönt werden. Motecuzóma habe als Oberster Herrscher des Dreibunds angeordnet, daß die Krone von Texcóco statt dessen an den weiter unten in der Nachfolge stehenden Prinzen Cacáma, Mais Kolben, gehe, den zwanzigjährigen Sohn einer von Nezahualpílis Konkubinen, welche nicht zufällig Motecuzómas jüngere Schwester war.
Einen solchen Zwang und eine solche Nötigung hatte es noch nie gegeben, es war unerhört und verwerflich, doch ließ sich nichts dagegen unternehmen. So bewundernswert Nezahualpílis Befriedungspolitik grundsätzlich auch gewesen sein mochte – durch sie war sein Volk beklagenswert unvorbereitet gewesen, sich Motecuzómas Einmischung in seine inneren Angelegenheiten zu widersetzen. Kronprinz Schwarz Blume führte sich auf wie ein wutschnaubender schwarzer Bär, doch mehr konnte er auch nicht tun. Oberbefehlshaber Cuitláhuac war kein böser Mensch, obwohl er Motecuzómas Bruder war und seinen Befehlen gehorchte. Er brachte dem abgesetzten Prinzen gegenüber sein Mitgefühl zum Ausdruck und riet ihm, ruhig irgendwo hinzugehen, ehe Motecuzóma auf den sehr naheliegenden Gedanken kam, ihn gefangen nehmen und beseitigen zu lassen.
Folglich reiste Schwarz Blume noch am selben Tage in Begleitung seines persönlichen Hofstaats, seiner Diener und Wachen sowie einer Anzahl Adliger ab, die zutiefst empört waren über die Wendung, welche die Ereignisse genommen hatten. Sie alle schworen laut Rache für den Verrat, welcher durch ihren langjährigen Bundesgenossen an ihnen verübt worden war. Alle anderen in Texcóco konnten nur in ohnmächtiger Wut schäumen und mußten sich mit der Krönung von Motecuzómas Neffen Cacámatzin zum Uey-Tlatoáni der Acólhua abfinden.
Ich blieb nicht bis zu dieser Zeremonie. Ich war ein Mexícatl, und Mexícatl waren im Augenblick nun einmal nicht sonderlich gern gelitten in Texcóco, und ich war auch nicht sonderlich stolz darauf, ein Mexícatl zu sein. Selbst mein alter Schulkamerad, Weide, betrachtete mich nachdenklich und überlegte wohl, ob ich eine verschleierte Drohung ausgesprochen haben mochte, als ich ihm sagte: »Motecuzóma wird deinen Bruder nicht mehr lieben als deinen Vater.« Folglich reiste ich ab und kehrte nach Tenochtítlan zurück, wo die Priester jubelnd in fast jedem Tempel besondere Riten veranstalteten, um »unseres Verehrten Sprechers kluge List« zu feiern. Und Cacamatzins Gesäß hatte sich kaum auf dem Thron von Texcóco gewärmt, da verkündete er eine Abkehr, ja Umkehrung der Politik seines Vaters: Er ließ neue Acólhua-Truppen ausheben, um seinem Onkel Motecuzóma zu helfen, neuerlich eine Streitmacht gegen das ewig befehdete Texcála aufzustellen.
Auch diesem Krieg war kein Erfolg beschieden, was vornehmlich an Motecuzómas neuem jungen und kriegerischen Verbündeten lag, welcher – wiewohl persönlich ausgesucht und ihm blutsmäßig verbunden – ihm keine sonderliche Hilfe war. Cacáma wurde von seinen Untertanen weder geliebt noch gefürchtet, und sein Ruf nach Freiwilligen verhallte praktisch ungehört. Selbst als er diesem Aufruf schließlich eine unnachgiebige Aushebung folgen ließ, stellten sich vergleichsweise nur wenige Männer, die sich in der Schlacht auch noch als recht schwunglos erwiesen. Andere Acólhua, welche sonst gewiß eifrig zu den Waffen gegriffen hätten, schützten vor, sie seien während Nezahualpílis Friedensjahren alt geworden oder krank, oder sie hätten inzwischen viele Kinder bekommen und wären daher nicht abkömmlich. In Wahrheit hielten sie alle noch dem Kronprinzen die Treue, in dem sie ihren eigentlichen Verehrten Sprecher sahen.
Als Schwarz Blume Texcóco verließ, begab er sich irgendwo in den Bergen weit im Nordosten auf einen anderen Landsitz seiner Familie, wo er begann, diesen zu einer befestigten Garnison auszubauen. Neben den Edelleuten und ihren Familien, welche freiwillig in die Verbannung mit ihm gegangen waren, schlossen sich ihm noch viele andere Acólhua an: Ritter und Krieger, welche früher unter seinem Vater gedient hatten. Noch andere, die nicht ständig ihr Zuhause oder ihre Berufe im Herrschaftsgebiet von Cacáma verlassen konnten, suchten in Abständen immer wieder Schwarz Blumes Bergfeste auf, um dort mit den anderen Truppen zu üben. Alle diese Tatsachen waren mir damals genausowenig bekannt wie den meisten anderen Menschen. Es war ein wohlgehütetes Geheimnis, daß Schwarz Blume sich langsam aber sorgfältig rüstete, dem Usurpator den Thron wieder zu entreißen, selbst wenn das bedeutete, daß er dieserhalb gegen den gesamten Dreibund würde kämpfen müssen.
An Motecuzómas Gemütsverfassung, die man auch in den besten Zeiten nur als giftig bezeichnen konnte, änderte sich inzwischen nichts. Er argwöhnte, daß er in der Achtung der anderen Herrscher durch sein herrisches Eingreifen in die Angelegenheiten von Texcóco tief gesunken war. Er fühlte sich gedemütigt durch den letzten Fehlschlag, die Texcaltéca endlich zu schlagen. Er war nicht sonderlich mit seinem Neffen Cacáma zufrieden. Und dann – als hätte er nicht schon genug Sorgen und Ärger – begannen viel schlimmere Dinge.
Nezahualpílis Tod hätte fast so etwas wie ein Signal sein können, auf welches hin sich seine düstersten Vorhersagen erfüllten. In dem Mond Der Baum Wird Aufgerichtet, der auf seine Bestattung folgte, traf ein Schnellbote aus dem Mayaland mit der beunruhigenden Nachricht ein, daß die merkwürdigen weißen Männer wieder nach Kutz Uluümil gekommen seien, diesmal jedoch nicht nur zwei von ihnen, sondern hundert. Sie waren in drei Schiffen gekommen, hatten vor der Hafenstadt Kimpéch festgemacht und waren mit ihren großen Kanus an Land gerudert. Die Bewohner von Kimpéch, diejenigen, welche nicht den Blattern zum Opfer gefallen waren, hatten sie ohne Widerstand landen lassen. Doch die weißen Männer waren dreist in einen Tempel eingedrungen und hatten begonnen, ohne jede vorherige Ankündigung und ohne irgendwelche Erlaubnis, den Tempel allen goldenen Zierats zu berauben, woraufhin die Bevölkerung nun doch zu den Waffen gegriffen hatte.