Ich stieß einen Fluch aus, mit dem für gewöhnlich nicht gerade Verehrte Sprecher belegt werden. »Was wäre unser Waffenstillstandsbruch im Verhältnis dazu, daß auf sein Anraten hin tausend Frauen und Kinder seines eigenen Volkes hingemetzelt wurden?«
»Nehmen wir nachsichtig an, daß er erwartet hat, Alvarado werde nur die Feier verbieten, und daß er nicht ahnen konnte, auf welche Weise die Feiernden auseinandergetrieben wurden.«
»Auseinandergetrieben!« knurrte ich. »Das ist ein neues Wort für rücksichtsloses Abschlachten. Meine Frau, die nur zugesehen hat ist verwundet worden. Eine ihrer Dienerinnen wurde getötet und die andere hat sich vor Entsetzen irgendwo verkrochen.« »Wenn nichts anderes dabei herausgekommen ist«, sagte Cuautémoc seufzend, »hat der Zwischenfall unser Volk zumindest in seiner Empörung vereint. Zuvor haben sie nur gemurrt und geknurrt; manche haben Motecuzóma mißtraut, andere ihn unterstützt. Jetzt sind alle bereit, ihn zusammen mit allen anderen in dem Palast in Stücke zu reißen.«
»Gut«, sagte ich. »Dann laßt uns das tun. Wir verfügen immer noch über die meisten unserer Krieger. Ruft die Städter auf – selbst alte Männer wie mich – und stürmt den Palast.«
»Das wäre reiner Selbstmord. Die Fremden haben sich jetzt im Palast verbarrikadiert und hinter ihren Kanonen, Hakenbüchsen und Armbrüsten verschanzt, die aus jedem Fenster auf uns gerichtet sind. Wir könnten nicht an das Gebäude heran, ohne daß wir niedergemäht würden. Wir müssen sie in Handgemenge verwickeln, wie ursprünglich geplant, und müssen abwarten, bis sich dazu wieder eine günstige Gelegenheit bietet.«
»Warten!« schnaubte ich und stieß noch einen Fluch aus.
»Aber während wir warten, bringt Cuitláhuac noch mehr Krieger auf die Insel. Wahrscheinlich ist Euch bereits eine Zunahme des Verkehrs von Kanus und Frachtkähnen zwischen der Insel und dem Festland aufgefallen. Dem Anschein nach bringen sie Gemüse und Blumen und dergleichen. Doch unter jeder Ladung sind Männer und Waffen verborgen – Cacámas Acólhuas, Truppen aus Texcóco, Tecpanéca-Krieger aus Tlácopan. Und während wir stärker werden, dürften unsere Gegner schwächer werden. Während des Massakers sind sämtliche Diener und Sklaven aus dem Palast geflohen. Jetzt wird ihnen selbstverständlich kein einziger Mexícatl-Händler Nahrung oder irgend etwas anderes liefern. Wir lassen die weißen Männer und ihre Freunde – Motecuzóma, Malíntzin und alle anderen – in ihrer Festung sitzen und eine Zeitlang schmoren.«
Ich fragte: »Hofft Cuitláhuac, sie auszuhungern und dadurch zum Waffenstrecken zu zwingen?«
»Nein. Zwar wird es nicht besonders angenehm darinnen sein, aber die Küchen und Vorratskammern sind so voll, daß es ausreichen dürfte, bis Cortés wieder zurückkommt. Wenn er kommt, darf er nicht den Eindruck gewinnen, daß offene Feindseligkeiten bestehen und wir den Palast belagern, denn dann brauchte er nur die Insel selbst auf ähnliche Weise abzuriegeln, um uns auszuhungern, so wie wir sie aushungern.«
»Aber warum ihn überhaupt wieder hierherkommen lassen?« wollte ich wissen. »Wir wissen, daß er auf dem Anmarsch ist. Ziehen wir doch hinaus und stellen wir uns ihm in offener Feldschlacht.«
»Habt Ihr vergessen, wie er die Schlacht von Texcála gewonnen hat? Und jetzt verfügt er über wesentlich mehr Männer, Pferde und Waffen. Nein, auf dem offenen Felde werden wir uns ihm nicht entgegenstellen. Cuitláhuac will Cortés hierherkommen lassen, ohne daß ihm irgendwelcher Widerstand begegnet. Er soll alle seine Leute im Palast vorfinden, ohne daß ihnen ein Haar gekrümmt worden wäre; es soll aussehen, als wäre der Waffenstillstand wiederhergestellt. Doch wenn wir ihn und alle weißen Männer in unseren Stadtgrenzen haben, werden wir angreifen – wenn es sein muß, auch selbstmörderisch –, und wir werden sie hinwegfegen von dieser Insel und dem ganzen Seenbecken.«
Vielleicht hatten die Götter ein Einsehen und meinten, es sei Zeit, daß das Tonáli von Tenochtítlan sich zum Besseren wende, denn dieser letzte Plan gelang. Es gab nur wenige unvorhergesehene Schwierigkeiten.
Als uns die Meldung erreichte, daß Cortés mit seiner großen Streitmacht näher rücke, bemühte sich jeder in der Stadt nach einem Befehl des Regenten Cuitláhuac den Eindruck zu erwecken, als gehe das Leben ungestört und normal weiter; darin bildeten auch die Witwer und Waisen und anderen Angehörigen der erschlagenen Unschuldigen keine Ausnahme. Alle drei Dammstraßen erhielten wieder ihre Brücken, und Reisende und Träger zogen und trotteten hin und her. Die Kanus und Frachtkähne, welche auf den Kanälen der Stadt und auf dem See um die Insel herum verkehrten, beförderten in der Tat nur harmlose Fracht. Die Tausende von Acólhua und Tecpanéca-Kriegern, welche sie zuvor unbemerkt und vor der Nase von Cortés' Verbündeten auf dem Festland in die Stadt hineingeschafft hatten, ließen sich in dieser Zeit nicht blicken. Allein in meinem Haus lebten acht von ihnen, langweilten sich und brannten darauf, etwas zu unternehmen. Der einzige nahezu leere Teil der Stadt war Das Herz Der Einen Welt, dessen Marmorboden noch von Blut gefärbt war und über den nur die Priester der umliegenden Tempel hinwegeilten, die nach wie vor ihren täglichen Pflichten nachgingen, beteten und sangen, Weihrauch abbrannten und morgens, mittags und abends auf ihren Muschelhörnern die Zeit angaben.
Cortés war sehr mißtrauisch und fürchtete offensichtlich Feindseligkeiten, denn selbstverständlich hatte er von dem nächtlichen Massaker gehört und wollte nicht mit seinem riesigen Heer Gefahr laufen, in einen Hinterhalt zu geraten. Nachdem er Texcóco in einiger Entfernung vorsichtig umrundet hatte, stieß er wie zuvor um das südliche Seeufer herum vor, marschierte jedoch nicht über die südliche Dammstraße nach Tenochtítlan hinein. Wären seine Leute auf dem längsten Damm auseinandergezogen gewesen, hätten sie sich möglicherweise einem von Kanus vorgetragenen Angriff ausgesetzt sehen können. Er marschierte daher weiter um den See herum, ließ unterwegs Prinz Schwarz Blume und seine Krieger zurück, stellte in Abständen seine großen Kanonen mit Bedienungsmannschaft auf, welche alle über das Wasser auf die Stadt gerichtet waren. Er marschierte ganz bis nach Tlácopan, weil die von dort ausgehende Dammstraße den kürzesten Zugang zur Stadt bildete. Als erste galoppierten er und rund hundert Reitersmänner darüber hinweg, als erwarteten sie, daß der Damm unter ihnen weggerissen würde.
Dann taten seine Fußsoldaten eiligst das gleiche, das heißt, es liefen immer Kompanien von je etwa hundert Mann auf einmal.
Nachdem er endlich wieder auf der Insel war, muß Cortés aufgeatmet haben. Es hatte weder einen Hinterhalt gegeben noch war er irgendwelchen Hindernissen begegnet. Zwar wurden sie von den Menschen auf den Straßen nicht stürmisch begrüßt, aber sie riefen ihnen auch keine Schmähungen zu. Sie nickten nur, als wären sie nie fortgewesen.
Außerdem muß Cortés sich mit den anderthalbtausend Soldaten, die seine eigenen Landsleute waren, wesentlich gestärkt vorgekommen sein – von den vielen Tausenden verbündeter Krieger, welche in einem Bogen rings auf dem Festland kampierten, ganz zu schweigen. Vielleicht hat er sich sogar in dem Glauben gewiegt, wir Mexíca hätten uns nunmehr damit abgefunden, seine Oberherrschaft anzuerkennen. Infolgedessen marschierte er vom Stadtrand oder vom Ende der Dammstraße an durch die Stadt, als wäre er der anerkannte Eroberer.
Cortés zeigte sich nicht überrascht, als er den Großen Platz so leergefegt daliegen sah; vielleicht glaubte er sogar, er sei eigens für ihn leergemacht worden. Jedenfalls machte das Gros seiner Streitmacht dort Halt und begann unter viel Lärm und mit viel Geschäftigkeit und unter Verströmen ganzer Wellen üblen Körpergeruches die Pferde anzuhalftern, Bettzeug auszurollen, Lagerfeuer anzulegen und sich überhaupt für eine unbestimmte Zeit häuslich dort niederzulassen. Sämtliche Texcaltéca mit Ausnahme ihrer Ritteranführer räumten den Palast des Axayácatl und schlugen ihr Lager gleichfalls auf dem Großen Platz auf. Motecuzóma und eine Schar ihm treu ergebener Höflinge kam zum erstenmal seit dem Iztocíuatl-Fest aus dem Palast heraus – und zwar, um Cortés zu begrüßen, welcher jedoch keinerlei Notiz von ihnen nahm. Er und sein neugewonnener Waffenkamerad, Narváez, stürmten an ihnen vorüber in den Palast.
Ich nehme an, daß sie als erstes nach Essen und Trinken riefen, und gern hätte ich Cortés' Gesicht gesehen, als er nicht von Dienern bedient wurde, sondern von Alvarados Soldaten – und überdies nur muffige alte Bohnen und Atóli-Brei oder was sonst noch an Vorräten geblieben sein mochte, vorgesetzt bekam. Desgleichen wäre ich gern Zeuge der ersten Unterredung zwischen Cortés und Alvarado gewesen, als dieser sonnengleiche Offizier ihm berichtete, wie heldenhaft er den »Aufstand« unbewaffneter Frauen und Kinder niedergeschlagen, gleichwohl jedoch verabsäumt habe, mehr als eine Handvoll von Mexíca-Kriegern zu töten, welche also immer noch eine Bedrohung darstellten.
Cortés und seine vergrößerte Streitmacht waren am Nachmittag auf die Insel gekommen. Offensichtlich blieben er und Narváez und Alvarado bis nach Einbruch der Dunkelheit zusammen, um zu beratschlagen, doch worüber sie sprachen und welche Pläne sie schmiedeten, wird niemand je erfahren. Ich weiß nur, daß Cortés zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Trupp seiner Soldaten zu Motecuzómas eigenem Palast hinüberschickte, wo sie mit Speeren, Brechstangen und Rammböcken die Mauern durchbrachen, mit denen Motecuzóma die Schatzkammern hatte verschließen lassen. Hinterher schafften die Soldaten – Ameisen gleich, welche zwischen Honigtopf und Nest hin und her eilten – den gesamten Schatz an Gold und Edelsteinen in den Speisesaal von Cortés' Palast. Selbiges kostete die Soldaten den größten Teil der Nacht, denn die Beute war gewaltig und bot sich ihnen nicht in leicht transportabler Form dar aus Gründen, die ich vielleicht besser erklären sollte.
Da unser Volk glaubte, Gold seien die geheiligten Exkremente der Götter, horteten unsere Schatzmeister es nicht im Rohzustand von Goldstaub oder – klumpen und schmolzen es auch nicht in gesichtslose Barren oder schlugen Münzen daraus, wie ihr Spanier es tut. Ehe es im Schatzhaus verschwand, ging es durch die geschickten Hände der Goldschmiede, welche seinen Wert und seine Schönheit noch erhöhten, indem sie kleine Figürchen, edelsteinbesetzten Schmuck, Medaillons, Diademe, Filigran, Krüge, Becher und Schüsseln daraus fertigten – allerlei kleine Kunstwerke, zu Ehren der Götter geformt. Während Cortés also vor Zufriedenheit gestrahlt haben muß, als er den gewaltigen und immer größer werdenden Schatzhaufen sah, den seine Männer in seinem Speisesaal aufhäuften, so daß er diesen großen Saal nahezu füllte, muß er jedoch ob der Formenvielfalt dieser Gerätschaften die Stirn gerunzelt haben, da sie sich einfach nicht eigneten, auf Pferde oder Träger geladen zu werden.
Während Cortés also die erste Nacht auf der Insel damit verbrachte, blieb die Stadt um ihn herum ruhig, als ob kein Mensch sich um das kümmere, was er tat. Er legte sich irgendwann vor Morgengrauen schlafen, nahm Malintzin mit und befahl auf höchst erniedrigende Weise, Motecuzóma und seine vornehmsten Berater hätten sich bereitzuhalten, vor ihm zu erscheinen, sobald er aufwache und nach ihnen rufe. Also schickte der kläglich gehorsame Motecuzóma in der Frühe des nächsten Tages Boten aus, seinen gesamten Staatsrat und andere, darunter mich, zusammenzurufen. Er hatte keine Palastpagen mehr, die er schicken konnte; es war einer seiner eigenen jüngeren Söhne, der in mein Haus kam, und der sah nach der langen Zeit des Eingesperrtseins im Palast recht abgerissen und verkommen aus. Wir Verschwörer hatten eine solche Nachricht erwartet und uns verabredet, uns in Cuitláhuacs Haus zu treffen. Als alle versammelt waren, waren aller Augen erwartungsvoll auf den Regenten und Oberbefehlshaber gerichtet, und einer von den Weisen Männern des Staatsrats fragte: »Nun, kommen wir der Aufforderung nach, oder tun wir so, als hätten wir sie nie erhalten.«
»Gehorcht«, erklärte Cuitláhuac. »Cortés glaubt, er hat uns in der Hand, weil er unseren nachgiebigen Herrscher in der Hand hat. Wir wollen ihm diese Illusion nicht rauben.«
»Warum nicht?« fragte der Hohepriester Huitzilopóchtlis. »Wir stehen zum Angriff bereit. Cortés kann nicht sein gesamtes Heer in den Palast des Axayácatl hineinstopfen und sich vor uns verbarrikadieren, wie der Tonatíu Alvarado es getan hat.«
»Das braucht er auch nicht«, sagte Cuitláhuac. »Alarmieren wir ihn auch nur im geringsten, kann er rasch das gesamte Herz Der Einen Welt zu einer genauso uneinnehmbaren Festung ausbauen, wie es der Palast war. Wir müssen ihn noch ein wenig länger in Sicherheit wiegen. Wir werden uns daher wie befohlen in den Palast begeben, als wären wir und alle Mexíca immer noch fügsame Puppen Motecuzómas.«
Die Weibliche Schlange erklärte: »Cortés kann aber die Eingänge versperren, sobald wir drinnen sind, und dann hat er auch uns als Geiseln in der Hand.«
»Darüber bin ich mir im klaren«, sagte Cuitláhuac. »Aber all meine Ritter und Cuáchictin haben bereits ihre Befehle; auf meine Person sind sie nicht mehr angewiesen. Einer meiner Befehle besteht darin, daß sie mit den verschiedenen Ablenkungsmanövern und Vorstößen beginnen, gleichgültig, welche Gefahren das für mich oder irgend jemand sonst birgt, welcher sich zur festgesetzten Stunde des Losschlagens im Palast befindet. Falls Ihr dieses Risiko lieber nicht eingehen möchtet, Tlacótzin – oder irgendeiner sonst von euch –, ihr habt hier und jetzt meine Erlaubnis, nach Hause zu gehen.«
Selbstverständlich drückte sich keiner von uns. Wir alle begleiteten Cuitláhuac bis zum Herzen Der Einen Welt und bahnten uns gleichsam mit zugehaltenen Nasen den Weg durch das überfüllte und übelriechende Lager von Männern, Pferden, Lagerfeuern, aufgestapelten Waffen und anderem Zubehör. Was mich überraschte, war eine Gruppe von schwarzen Männern, welche, als seien sie etwas Geringeres, abseits von den weißen Männern ein eigenes kleines Lager aufgeschlagen hatten. Man hatte mir zwar schon von solchen Wesen berichtet, doch bis dahin hatte ich noch nie eines davon zu Gesicht bekommen.
Neugierig ließ ich meine Gefährten weiterziehen und ging etwas näher an diese merkwürdigen Menschen heran. Sie trugen die gleichen Helme und Uniformen wie die Spanier, doch körperlich ähnelten sie den Spaniern wesentlich weniger als ich. Sie waren nicht ganz und gar schwarz, sondern von einem bräunlichen Schwarz wie das Kernholz des Ebenholzbaums. Sie wiesen auffallend flache, breite Nasen und große, wulstige Lippen auf – ehrlich gesagt, sahen sie jenen riesigen Steinköpfen ähnlich, welche ich einmal im Olméca-Land gesehen hatte – und ihre Barte waren nur eine Art spröden schwarzen Flaums, erst zu erkennen, als ich ganz nahe bei ihnen war. Doch dann stand ich dicht vor ihnen, und mir fiel auf, daß einer von diesen schwarzen Mohren ein Gesicht hatte, das von Pickeln und schwärenden Pusteln blühte, wie ich sie das erstemal bei dem weißen Mann Guerrero gesehen hatte, und da beeilte ich mich, meine Gefährten wieder einzuholen.
Die weißen Wachen, die an dem Tor in der Schlangenmauer Aufstellung genommen hatten, tasteten uns alle nach verborgenen Waffen ab, ehe sie uns eintreten ließen. Wir gingen durch den Speisesaal hindurch, in welchem ein Berg von kunterbunt durcheinander geworfenem Goldgerät, Schmuck und Edelstein sich türmte, deren Metallteile und Edelsteine selbst in dem Dämmer, das hier herrschte, immer noch blitzte. Etliche Soldaten, welche den Schatz wohl bewachen sollten, fingerten an einzelnen Stücken herum, lächelten beseligt, und das Wasser lief ihnen förmlich aus dem Mund. Wir gingen nach oben in den Thronsaal, wo Cortés, Alvarado und zahlreiche andere Spanier warteten, darunter ein neuer, ein Einäugiger, welcher Narváez war. Motecuzóma machte einen eher umzingelten und belagerten Eindruck, denn bis zu unserem Eintreten war die Frau Malintzin der einzige andere Mensch seiner Rasse weit und breit. Wir alle vollführten die Geste des Erdeküssens vor ihm, er nickte nur kühl und fuhr fort, sich mit den weißen Männern zu unterhalten.
»Ich weiß nicht, was die Leute vorhatten. Ich weiß nur, daß sie eine Zeremonie feiern wollten. Über Eure Malintzin ließ ich Eurem Alvarado sagen, ich hielte es für besser, eine solche Versammlung so nahe bei seiner Garnison nicht zu gestatten; er solle einmal überlegen, ob es nicht besser sei, den Großen Platz zu räumen.« Motecuzóma seufzte tragisch auf. »Nun, Ihr wißt ja wohl, in welch beklagenswerter Weise er das tat.«
»Ja«, stieß Cortés zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, die Augen eisig auf Alvarado gerichtet, der dastand, die Hände rang und überhaupt so aussah, als hätte er nicht gerade eine angenehme Nacht hinter sich. »Du hast damit alles aufs Spiel gesetzt, was ich …« Cortés hüstelte und sagte statt dessen: »Damit hätte ich mir Euer Volk für alle Zeiten zu Feinden machen können. Was ich nicht begreife, Don Montezuma, ist, daß ich das nicht getan habe. Warum nicht? Wäre ich einer Eurer Untertanen, und mir wäre eine solche schändliche Behandlung widerfahren, ich hätte mich mit Kot beworfen, als ich hier einritt. Keiner in der Stadt scheint die geringste Verachtung zu bekunden, und das finde ich unnatürlich. Es gibt ein spanisches Sprichwort, das lautet: ›Ich kann dem reißenden Strom entgehen; Gott bewahre mich vor den stilleren Wassern.‹«
»Das liegt daran, daß sie alle mir die Schuld geben«, sagte Motecuzóma unglücklich. »Sie glauben, ich hätte irrsinniger weise befohlen, daß mein eigenes Volk getötet werde – all diese Frauen und Kinder – und daß ich mich auf niederträchtige Weise Eurer Männer als Waffe bedient hätte.« Es standen sogar Tränen in seinen Augen. »Deshalb haben alle meine Bediensteten entsetzt das Weite gesucht, und seither ist nicht einmal ein Straßenhändler mit gesottenen Maguey-Würmern in die Nähe gekommen.«
»Jawohl, eine höchst mißliche Lage«, sagte Cortés. »Wir müssen versuchen, das wieder in Ordnung zu bringen.« Er wandte seinen Blick Cuitláhuac zu, gab mir zu verstehen, ich solle dolmetschen und sagte: »Ihr seid der Oberbefehlshaber. Ich will mich jeder Spekulation über diese sogenannte religiöse Feier enthalten. Ich werde mich sogar demütig für das vorschnelle Verhalten meines Lieutenants entschuldigen. Gleichwohl möchte ich Euch daran erinnern, daß wir immer noch einen Waffenstillstand haben. Ich meine, es fällt unter die Verantwortlichkeit des Oberbefehlshabers, dafür zu sorgen, daß meine Männer nicht ins Abseits gedrängt werden, und weder Nahrungsmittel bekommen noch Kontakt mehr mit ihren Gastgebern haben.«
Cuitláhuac sagte: »Ich befehlige nur Krieger, Capitán-General. Wenn die Zivilbevölkerung es vorzieht, diesen Palast zu meiden, besitze ich nicht die Macht, ihnen das Gegenteil zu befehlen. Dazu ist nur unser Verehrter Sprecher befugt. Es waren Eure eigenen Leute, welche sich hier eingeschlossen haben und der Verehrte Sprecher mit ihnen.«
Cortés wandte sich wieder an Motecuzóma. »Dann ist es an Euch, Don Montezuma, diese Menschen zu beruhigen und sie zu bewegen, daß sie uns wieder mit Nahrungsmitteln versorgen und uns dienen.«
»Wie soll ich das tun, wenn sie nicht mehr in meine Nähe kommen wollen?« sagte Motecuzóma fast wehklagend. »Und wenn ich zu ihnen hinausgehe – das könnte mein Tod sein.«
»Wir werden eine Eskorte bereitstellen …«, begann Cortés, doch wurde er von einem Soldaten unterbrochen, der herbeigelaufen kam und auf spanisch zu ihm sagte: »Capitán, die Eingeborenen fangen an, sich auf der Plaza zu versammeln. Männer und Frauen drängen durch unser Lager und kommen hierher. Unbewaffnet zwar, aber allzu freundlich sehen sie auch nicht aus. Werfen wir sie hinaus? Drängen wir sie zurück?«
»Laßt sie kommen«, sagte Cortés, wandte sich dann an Narváez und sagte: »Geht raus und übernehmt das Kommando. Der Befehl lautet: Nicht feuern! Kein Mann macht irgendeine Bewegung, ehe ich es nicht befehle. Ich werde auf dem Dach stehen, wo ich alles überblicken kann, was geschieht. Kommt, Pedro! Kommt, Don Montezuma!« Er griff sogar nach der Hand des Verehrten Sprechers und riß ihn vom Thron herunter.
Alle, die wir im Thronsaal waren, folgten ihnen, liefen die Treppe zum Dach hinauf, und ich hörte, wie Malintzin atemlos Cortés' Anweisungen für Motecuzóma wiederholte:
»Eure Leute versammeln sich auf dem Platz. Ihr werdet zu ihnen sprechen. Schließt Euren Frieden mit ihnen. Schiebt alle Schuld und alles, was geschehen ist, auf uns Spanier. Erzählt ihnen, was Ihr wollt – Hauptsache, es bleibt ruhig in der Stadt.«
Das Dach war gerade vor der Ankunft der ersten Weißen zum Garten umgestaltet worden, doch war dieser seither nicht gepflegt worden und hatte überdies auch noch einen Winter über sich ergehen lassen. Wo der Boden nicht durch die Räder der schweren Kanonen aufgerissen worden war, dehnte sich eine Wüste aus trockenem Boden, verdorrten Stengeln, unbelaubten Sträuchern, verwelkten Blüten und vom Wind zusammengetriebenem braunem Laub. Eine ödere und verlassenere Plattform war für Motecuzómas letzte Ansprache nicht denkbar.
Wir alle traten an die Brüstung, welche auf den Platz hinausging, standen auseinandergezogen dahinter und blickten hinunter auf Das Herz Der Einen Welt. Das runde Tausend Spanier war an seinen schimmernden Rüstungen deutlich zu erkennen; sie standen unter den doppelt so vielen Mexíca oder bewegten sich unsicher unter ihnen, während diese in Massen unter uns zusammenströmten. Wie der Bote berichtet hatte, waren es zwar Männer und Frauen, doch trugen sie nur ihre Alltagskleidung und kümmerten sich offensichtlich nicht im geringsten um die Soldaten oder die unerhörte Tatsache, daß hier auf heiligem Boden ein bewaffnetes Lager aufgeschlagen worden war. Sie bahnten sich nur ihren Weg hindurch, weder hastig, aber auch nicht zögernd, bis sie dicht gedrängt unter uns standen.
»Der Korporal hatte recht«, sagte Alvarado. »Sie tragen keine Waffen.«
Bissig versetzte Cortés: »Genau die Art Gegner, die du am liebsten hast, was Pedro?« und Alvarados Gesicht wurde fast genauso rot wie sein Bart. Zu allen Anwesenden gewandt, sagte Cortés: »Laßt uns zurücktreten. Laßt die Leute nur ihren eigenen Herrscher und ihre Edelleute sehen.«
Er und Malintzin und die anderen zogen sich bis zur Mitte des Daches zurück. Motecuzóma räusperte sich unruhig und mußte dreimal laut rufen, jedesmal lauter als das Mal zuvor, ehe die Menge ihn über ihrem eigenen Gemurre und dem Lärm aus dem Lager hörte. Einige von den schwarzen Punkten wurden fleischfarben, als sich die Gesichter nach oben wandten, dann wurden es mehr und immer mehr. Zuletzt hatten alle zusammengeströmten Mexíca die Gesichter nach oben gewendet, viele von den Weißen desgleichen, und das Gemurmel der Menge erstarb.
»Mein Volk …« begann Motecuzóma mit belegter Stimme.
Er räusperte sich abermals und sprach dann laut und deutlich. »Mein Volk …«
»Dein Volk!« dröhnte es laut und feindselig von unten zurück, und danach kam ein Durcheinander von erregten Stimmen: »Das Volk, das du betrogen hast!« – »Dein Volk sind die weißen Männer!« – »Du bist nicht unser Verehrter Sprecher!« – »Diesen Titel hast du verwirkt!« Ich schrak zusammen, wiewohl ich dieses erwartet hatte und wußte, daß alles von Cuitláhuac in die Wege geleitet worden war, und daß die Männer in der Menge alle Krieger waren, nur vorübergehend unbewaffnet, um diese dem Anschein nach spontane, gemeinsame Schmähung zu veranstalten.
Ich sollte sagen, daß sie unbewaffnet waren in dem Sinne, daß sie keine gewöhnlichen Waffen trugen, denn in diesem Augenblick zogen alle Steine und Brocken von Lehmziegeln hervor – die Männer unter ihren Umhängen, die Frauen unter ihren Röcken – und begannen sie, immer noch Flüche und Verwünschungen heraufrufend, hinaufzuschleudern. Die meisten Geschosse der Frauen kamen nicht bis herauf und prallten dumpf gegen die Mauer des Palastes unter uns, doch erreichten genug andere das Dach, daß wir uns ducken und ihnen ausweichen mußten. Der Priester Huitzilopóchtlis stieß einen höchst unpriesterlichen Fluch aus, als die Steine ihn an der Schulter trafen. Etliche von den Spaniern hinter uns fluchten gleichfalls, als die Steine zwischen ihnen niederprasselten. Der einzige Mann – daß muß ich zugeben – der einzige Mann, der sich nicht rührte, war Motecuzóma.
Er stand immer noch da, die Arme in versöhnlicher Geste in die Höhe gereckt, und schrie über den Lärm hinweg: »Wartet!« Er rief es auf náhuatl: »Mixchá …« Und dann traf ein Stein ihn direkt an der Stirn, er machte schwankend ein paar Schritte zurück und verlor die Besinnung.
Cortés übernahm augenblicklich wieder das Kommando. Er fuhr mich an: »Kümmert Euch um ihn! Beruhigt ihn!« Dann packte er Cuitláhuac bei seinem Umhang, streckte den Arm aus, zeigte hinüber und sagte: »Tut, was Ihr könnt! Sagt irgend etwas! Der Mob muß beruhigt werden.« Malintzin dolmetschte es für Cuitláhuac, und er stand an der Brüstung und schrie, während ich und zwei spanische Offiziere Motecuzómas schlaffen Körper hinuntertrugen in den Thronsaal. Wir legten den Besinnungslosen auf eine Bank, und die beiden Offiziere rannten hinaus, vermutlich, um einen ihrer Wundärzte zu holen.
Ich stand da und blickte hinab auf Motecuzómas Gesicht. Ganz entspannt und friedlich sah er aus, trotz der Beule, welche sich auf seiner Stirn bildete. Mir gingen in diesem Augenblick viele Dinge durch den Kopf: die Ereignisse und Begebenheiten, welche wir beide miterlebt hatten. Ich dachte daran, wie er während des Feldzugs in Uaxyácac treulos seinem eigenen Verehrten Sprecher Ahuítzotl getrotzt hatte … und wie er in seiner Verruchtheit versucht hatte, die Schwester meiner Frau zu schänden … und wie er mich aus Rache nach Yanquitlan geschickt hatte, wo meine Tochter Nochipa gestorben war … und sein schwächliches Zaudern, seit die weißen Männer an unseren Gestaden aufgetaucht waren … und sein Verrat an dem Versuch kühnerer Männer, unsere Stadt von den weißen Männern zu befreien. Jawohl, ich hatte viele Gründe, zu tun, was ich tat, und einige von diesen waren neu und zwingend. Doch ich vermute, ebensosehr wie aus irgendeinem anderen Grund tötete ich ihn aus Rache für das, was er vor langer Zeit Béu Ribé angetan, welche Zyanyas Schwester gewesen war und jetzt dem Namen nach meine Frau.
All diese Gedanken gingen mir blitzschnell durch den Kopf. Ich blickte von seinem Gesicht auf und sah mich im Raum nach einer Waffe um. Zwei Texcaltéca-Krieger waren als Wachen zurückgelassen worden. Einen winkte ich heran, und als er kam und mich finster anblickte, bat ich ihn um den Dolch, welchen er an der Hüfte stecken hatte. Sein Gesicht verfinsterte sich womöglich noch mehr, unsicher, wer ich sei oder welchen Rang ich bekleidete, oder was ich vorhatte, doch als ich die Bitte herrisch und in befehlendem Ton wiederholte, reichte er mir die Obsidianklinge. Ich zielte sehr sorgfältig. Ich hatte genug Opferungen beigewohnt, um genau zu wissen, wo das Herz in der Brust eines Menschen sitzt. Dann stieß ich den Dolch bis ans Heft hinein, und Motecuzómas Brust hörte auf, sich leise zu heben und zu senken. Ich ließ den Dolch in der Wunde stecken, und so quoll nur wenig Blut rings um ihn hervor. Mit aufgerissenen Augen starrte der Texcaltéca mich fassungslos und entsetzt an, dann flohen er und sein Kamerad Hals über Kopf aus dem Raum.
Mir war gerade eben Zeit genug geblieben. Ich hörte, wie der Aufruhr der Menge auf dem Großen Platz allmählich abebbte und ein immer noch zorniges, aber nicht mehr ganz so wütendes Grollen daraus wurde. Dann kamen alle, die auf dem Dach gewesen waren, die Treppe heruntergeklappert, eilten durch den Gang und kamen in den Thronsaal. Aufgeregt und besorgt redeten sie in ihren verschiedenen Sprachen miteinander, doch dann verstummten sie unvermittelt, als sie unter der Tür standen, erkannten, was geschehen war, und über die Ungeheuerlichkeit dessen nachsannen, was ich getan. Langsam kamen sie näher, Spanier und Mexíca-Edelleute gemeinsam, starrten sprachlos auf den Leichnam Motecuzómas, den Dolchgriff, welcher aus seiner Brust ragte, und auf mich, der ich ungerührt neben dem Leichnam stand. Cortés richtete seine ausdruckslosen Augen auf mich und sagte mit unheilverkündend leiser Stimme:
»Was … habt … Ihr … getan?«
Ich sagte: »Wie Ihr befohlen habt, Capitán-General, ich habe ihn beruhigt.«
»Zum Teufel mit deiner Unverfrorenheit, du Hurensohn!« sagte er, doch noch leise, mit beherrschter Wut. »Es ist nicht das erstemal, daß ich höre, wie du dich lustig machst.«
Gelassen schüttelte ich den Kopf. »Wo Motecuzóma beruhigt ist, Capitán-General, können wir anderen uns jetzt vielleicht auch beruhigen. Ihr selbst eingeschlossen.«
Er stieß mir einen steifen Finger vor die Brust, dann zeigte er in Richtung auf den Großen Platz. »Dort draußen braut sich ein Krieg zusammen! Wer wird jetzt diesen Mob zur Vernunft bringen?«
»Motecuzóma jedenfalls nicht, ob tot oder lebendig. Aber hier steht sein Nachfolger, sein Bruder Cuitláhuac, ein Mann mit einer festeren Hand, und ein Mann, den die Menge draußen noch achtet.«
Cortés drehte sich um und blickte zweifelnd den Oberbefehlshaber an, und ich konnte mir denken, was ihm durch den Kopf ging. Cuitláhuac mochte zwar die Mexíca zur Vernunft bringen, doch damit beherrschte Cortés noch lange nicht Cuitláhuac. Als ob auch sie seine Gedanken läse, sagte Malintzin:
»Wir können den neuen Herrscher ja auf die Probe stellen, Señor Hernán. Laßt uns alle wieder hinaufgehen aufs Dach und der Menge die Leiche Motecuzómas zeigen. Laßt Cuitláhuac seine Nachfolge verkünden und uns sehen, ob das Volk seinem ersten Befehl gehorcht … daß wir in diesem Palast wieder mit Lebensmitteln beliefert und bedient werden.«
»Ein kluger Gedanke, Malinche«, sagte Cortés. »Gebt ihm genau diese Anweisungen. Und sagt ihm auch, er soll ihnen unmißverständlich klar machen, daß Montezuma gestorben« – er riß den Dolch aus der Leiche und warf mir einen schneidenden Blick zu –, »daß Montezuma von der Hand seines eigenen Volkes gestorben ist.«
Folglich kehrten wir aufs Dach zurück, und wir anderen hielten uns ein wenig im Hintergrund, während Cuitláhuac den Leichnam seines Bruders in die Arme nahm, an die Brüstung hintrat und um Aufmerksamkeit rief. Als er ihnen den Leichnam zeigte und sagte, was geschehen sei, hörte sich das, was von unten heraufdrang, nach Zustimmung an. Doch noch etwas anderes tat sich: Ein sanfter Regen setzte vom Himmel ein, als ob Tlaloc, Tlaloc allein und kein anderes Wesen außer Tlaloc das Ende von Motecuzómas Straßen und Tagen und Herrschaft beweinte. Cuitláhuac sprach so laut, daß die Menschen unten ihn verstehen konnten. Gelassen dolmetschte Malintzin für Cortés und versicherte ihm: »Der neue Herrscher spricht, wie Ihr es befohlen habt.«
Zuletzt drehte Cuitláhuac sich nach uns um und rief uns mit einer Kopfbewegung zu sich. Wir alle traten zu ihm an die Brüstung, und zwei oder drei Priester nahmen ihm Motecuzómas Leiche ab. Die Menge, welche zuvor dicht an dicht dagestanden hatte, löste sich auf und die Leute gingen durch das Lager hindurch wieder auseinander. Ein paar von den spanischen Soldaten machten immer noch mißtrauische Gesichter und fingerten an ihren Waffen herum, so daß Cortés hinunterrief: »Laßt sie ungehindert kommen und gehen, Leute! Sie bringen frische Verpflegung!« Die Soldaten brachen in Hochrufe aus, und dann verließen wir alle endgültig das Dach.
Als wir wieder im Thronsaal waren, sah Cuitláhuac Cortés an und sagte: »Wir müssen reden.« Cortés stimmte zu und rief nach Malintzin, als ob er mir beim Dolmetschen nicht traute, ohne daß sein eigener Dolmetsch dabei war. Cuitláhuac sagte:
»Wenn ich meinem Volk auch erklärt habe, ich sei der neue Uey-Tlatoáni, bin ich es deshalb noch lange nicht. Es müssen bestimmte Formalitäten eingehalten werden, und zwar in der Öffentlichkeit. Wir werden heute nachmittag mit den Nachfolgezeremonien beginnen, solange es noch hell ist. Da Eure Truppen Das Herz Der Einen Welt besetzt halten, werden ich und die Priester und der Staatsrat« – er beschrieb eine ausladende Handbewegung, die alle im Raum versammelten Mexíca einschloß – »uns zur Pyramide von Tlaltelólco begeben.«
Cortés sagte: »Aber doch nicht gleich. Der Regen verstärkt sich. Wartet auf einen geeigneteren Tag. Ich lade den neuen Verehrten Sprecher ein, mein Gast in diesem Palast zu sein, wie Montezuma es war.«
Mit fester Stimme erklärte Cuitláhuac: »Wenn ich hierbleibe, werde ich noch nicht der Verehrte Sprecher sein und bin daher als Euer Gast wertlos. Was wählt Ihr?«
Cortés legte die Stirn in Falten; er war es nicht gewohnt, einen Verehrten Sprecher wie einen Verehrten Sprecher sprechen zu hören. Cuitláhuac fuhr fort:
»Selbst wenn ich in aller Form von den Priestern und dem Staatsrat in meinem Amt bestätigt worden bin, muß ich noch das Vertrauen und die Zustimmung des Volkes erlangen. Es würde mir helfen, das Vertrauen des Volkes zu erringen, wenn ich ihm genau sagen könnte, wann der Capitán-General und sein Gefolge vorhat, Tenochtítlan zu verlassen.«
»Nun …«, sagte Cortés und zog das Wort in die Länge, um klarzumachen, daß er darüber selbst noch nicht nachgedacht und es auch nicht eilig habe, das zu tun. »Ich habe Eurem Bruder versprochen, ich würde mich von hier verabschieden, sobald ich in der Lage sei, den Schatz mitzunehmen, welchen er uns zum Geschenk gemacht hat. Den habe ich jetzt. Aber ich brauche noch etwas Zeit, um alles einzuschmelzen, damit wir ihn an die Küste transportieren können.«
»Das könnte Jahre dauern«, sagte Cuitláhuac. »Unsere Goldschmiede haben selten mit mehr als kleinen Mengen Gold auf einmal gearbeitet. Ihr werdet keine Anlagen in der Stadt finden, um all diese ungezählten Kunstwerke zu entweihen … einzuschmelzen.«
»Und ich darf meinem Gastgeber nicht auf Jahre hinaus zur Last fallen«, sagte Cortés. »Dann werde ich das Gold aufs Festland bringen lassen und es meinen eigenen Schmieden überlassen, es einzuschmelzen.«
Rüde wandte er sich von Cuitláhuac ab und Alvarado zu und sagte auf spanisch: »Pedro, laß ein paar von unseren Kompaniehandwerkern hierherkommen. Mal überlegen … sie können diese dicken Türen und all die anderen Türen im Palast herausnehmen. Laßt sie ein paar schwere Schlitten daraus bauen, mit denen wir das ganze Gold transportieren können. Und den Sattlern sage, sie sollen Geschirr für genug Pferde anfertigen, diese Schlitten zu ziehen.«
Dann wandte er sich wieder Cuitláhuac zu: »Bis dahin, Verehrter Sprecher, gestattet, daß ich und meine Männer noch eine vertretbare Zeit in der Stadt bleiben. Der größte Teil meines Gefolges war, wie Ihr wißt, während meines letzten Besuches nicht hier und ist selbstverständlich begierig darauf, die Sehenswürdigkeiten Eurer großen Stadt kennenzulernen.«
»Für eine vertretbare Zeit, also«, wiederholte Cuitláhuac und nickte. »Ich werde das dem Volk mitteilen und die Leute bitten, nachsichtig, ja freundlich zu sein. Jetzt werden meine Edelleute und ich Euch verlassen, um die Vorbereitungen für das Begräbnis meines Bruders und meine eigene Thronbesteigung zu treffen. Je schneller wir all dies hinter uns bringen, desto eher werde ich wirklich Euer Gastgeber sein.«
Als wir alle, die wir von Motecuzóma herbeigerufen waren, den Palast verließen, waren die spanischen Schreinersoldaten bereits dabei, den Berg von Schätzen unten anzustaunen und abschätzen, wieviel es wohl sei und was es wiege. Durch die Schlangenmauer traten wir hinaus auf den Großen Platz und blieben stehen, um zu sehen, was hier vor sich ging. Die weißen Männer waren mit ihren verschiedenen Lageraufgaben beschäftigt und schienen nicht gerade erfreut, bis auf die Haut naß zu werden. Aber es regnete stark. Eine Menge von unseren Männern bewegte sich geschäftig unter den Spaniern oder tat so, als ob sie geschäftig wären. Alle waren bis auf das Schamtuch nackt, und so machte der Regen ihnen nichts weiter aus. Bis jetzt lief alles so, wie Cuitláhuac es geplant und uns erklärt hatte – bis auf den unvorhergesehenen aber keineswegs ungelegenen Tod Motecuzómas.
Alles, was ich berichtet habe, ehrwürdige Patres, war von Cuitláhuac in jeder Einzelheit vorausgeplant worden, längst ehe wir vor Cortés erschienen. Auf seinen Befehl hin hatte die Menge der Mexíca-Männer und -Frauen sich versammelt, um vor dem Palast ihr Geschrei zu erheben. Und es war auch auf seinen Befehl geschehen, daß sie dann auseinandergingen, um Essen und Trinken für die weißen Männer herbeizuschaffen. Allerdings – und das hatte keiner der Spanier in der ganzen Aufregung bemerkt – es waren nur die Frauen, welche den Großen Platz auf seinen Befehl hin verlassen hatten. Als sie zurückkehrten, kamen sie nicht wieder ins Lager herein, sondern überreichten ihre Körbe und Krüge den Männern, welche zurückgeblieben waren. Also befanden sich keine Frauen mehr im Gefahrenbereich bis auf Malintzin und ihre Texcaltéca-Dienerinnen, um deren Sicherheit wir nichts gaben. Und unsere Männer kamen und gingen immer noch, in den Palast hinein und heraus, gingen hin und her durch das Lager, teilten Fleisch und Mais und andere Verpflegung aus, brachten frisches Holz für das Feuer der Soldaten, kochten in den Küchen des Palastes, taten alles mögliche, was als Grund für ihre Anwesenheit gelten konnte … und sie dort festhielt, bis die Muschelhörner die Mitternacht verkündeten.
»Um Mitternacht schlagen wir zu«, rief Cuitláhuac uns nochmals ins Gedächtnis. »Inzwischen werden Cortés und alle anderen sich an den ständigen Verkehr und die augenscheinliche Unterwürfigkeit unserer nackten und fast unbewaffneten Männer gewöhnt haben. Soll Cortés doch bis dahin Musik hören und Weihrauch aufsteigen sehen und das für die Jubelfeier halten, welche meiner Inthronisierung vorausgeht. Holt jeden Priester herbei, den ihr auftreiben könnt. Sie wissen bereits, daß sie Anweisungen bekommen werden, aber vielleicht müßt ihr sie ein bißchen antreiben, denn wie die weißen Männer werden sie etwas dagegen haben, sich von diesem Regen sauber waschen zu lassen. Versammelt die Priester bei der Pyramide von Tlaltelólco. Sie sollen so laut feiern und soviel Fackeln und Urnenfeuer anzünden, wie sie es noch nie getan haben. Auch sollen sich dort alle Frauen und Kinder und alle Männer einfinden, die nicht mehr kämpfen können. Sie werden eine überzeugende Menge von Feiernden abgeben und außerdem sollten sie dort sicher sein.«
»Herr Regent«, sagte einer von den Weisen Männern des Staatsrats. »Ich meine, Verehrter Sprecher. Wenn die Fremden alle um Mitternacht sterben sollen, warum habt Ihr dann Cortés gedrängt, einen Tag für seine Abreise zu benennen?«
Cuitláhuac sah den alten Mann stumm an; ich wettete, daß der alte Mann nicht mehr lange Mitglied des Staatsrats sein würde. »Cortés ist nicht ein solcher Narr wie Ihr. Er weiß selbstverständlich, daß ich ihn gern los werden möchte. Hätte ich nicht ärgerlich und mit Nachdruck gesprochen, hätte er Verdacht schöpfen können, daß er mit Gewalt verdrängt werden soll. Jetzt kann ich immerhin hoffen, daß er sich in Sicherheit wiegt, denn ich habe mich ja zögernd damit abgefunden, daß er hier ist. Ich hoffe inständig, daß er keinen Grund hat, es sich zwischen jetzt und Mitternacht noch anders zu überlegen.«
Er tat es nicht. Doch wenn Cortés offenbar auch nicht ängstlich auf seine und seiner Genossen Sicherheit bedacht war, schien er ängstlich darauf bedacht, den geraubten Schatz aus der Reichweite seiner rechtmäßigen Besitzer fortzuschaffen – vielleicht hat er sich aber auch überlegt, daß die regennassen Straßen es den Pferden erleichtern würden, die Schlitten zu ziehen. Doch wie dem auch sei, obwohl sie im strömenden Regen arbeiten mußten, waren seine Schreinersoldaten nicht lange nach Einsetzen der Dunkelheit fertig und hatten roh zwei Landboote zusammengezimmert. Daraufhin halfen andere Soldaten zusammen mit unseren eigenen Leuten, die sich den Spaniern immer noch nützlich machten, das Gold und die Edelsteine aus dem Palast hinauszutragen und zu gleichen Teilen auf die Schlitten zu verteilen. Andere Soldaten benutzten ein Gewirr aus Lederriemen, um vier Pferde vor jede Ladung zu spannen. Es war immer noch etwas vor Mitternacht, als Cortés den Befehl zur Abfahrt gab, und die Pferde stemmten sich in das Ledergeschirr wie menschliche Träger, welche sich gegen die Stirnriemen stemmten, und die Schlitten glitten recht glatt über das feuchte Marmorpflaster Des Herzens Der Einen Welt.
Nun, wenn auch das Gros des weißen Heeres auf dem Großen Platz zurückblieb, begleitete doch eine beträchtliche Eskorte von Bewaffneten, unter dem Befehl der ranghöchsten Spanier die beiden Gefährte: Cortés, Narváez und Alvarado. Diesen gewaltigen Schatz zu transportieren, war keine Kleinigkeit, das kann ich euch versichern, erforderte aber kaum die Anwesenheit aller drei Befehlshaber. Ich vermute, daß sie alle mitgingen, weil keiner dem anderen oder den beiden anderen traute, auch nur für eine kleine Weile im Besitz all dieser Reichtümer zu sein. Malintzin begleitete ihren Herrn und Meister gleichfalls, vermutlich bloß, um den kleinen erfrischenden Ausflug zu genießen, nachdem sie tagelang im Palast eingesperrt gewesen war. Die Schlitten glitten nach Westen über den Platz und auf die Straße nach Tlacópan zu.
Keiner von den weißen Männern schöpfte irgendwelchen Verdacht, als sie feststellten, daß die Stadt außerhalb des Großen Platzes völlig menschenleer war, denn sie konnten das Getrommel und die Musik vom Nordende der Insel hören, sahen die niedrigen Wolken dort rot überhaucht vom Widerschein der Urnenfeuer und der Fackeln.
Genauso wie zuvor die unerwartete Gelegenheit, Motecuzóma zu beseitigen, stellte auch Cortés' unerwartet plötzlicher Abtransport des Schatzes einen Umstand dar, den wir nicht vorhergesehen hatten, und zwang Cuitláhuac, früher loszuschlagen als geplant. Doch genauso wie Motecuzómas Hinscheiden, wirkte sich auch Cortés überstürzter Abtransport des Goldes für Cuitláhuac zum Vorteil aus. Da die Schlitten mit dem Schatz auf die Straße von Tlacópan zufuhren, nahmen sie offensichtlich den kürzesten Weg, welcher zum Festland hinüberführte. Cuitláhuac konnte die Krieger zurückrufen, welche er aufgestellt hatte, die beiden anderen Dammstraßen zu bewachen, und sie seiner Streitmacht zufügen. Dann erteilte er an alle Ritter und Cuáchictin den Befehl: »Wartet nicht auf die Mitternachtshörner! Schlagt jetzt zu!«
Ich muß dazu sagen, daß ich während dieser Ereignisse, von denen ich berichte, daheim bei Wartender Mond weilte, denn ich war einer jener Männer, welche Cuitláhuac freundlicherweise als »von der Teilnahme am Kampf entschuldigt« bezeichnet hatte: Männer, welche dafür zu alt oder sonst ungeeignet waren. Folglich war ich persönlich nicht Zeuge der Ereignisse auf der Insel und auf dem Festland – doch überall hätte ein einzelner Zeuge ohnehin nicht sein können. Freilich war ich später dabei, als die Berichte unserer verschiedenen Befehlshaber einliefen. Deshalb kann ich euch, meine Herren Skribenten, mehr oder weniger genau berichten, was in dieser Nacht geschah, welche Cortés seither Die
Traurige Nacht genannt hat.
Auf den Befehl zum Losschlagen hin gingen als erste etliche von unseren Männern zu Werke, die sich auf Dem Herzen Der Einen Welt aufgehalten hatten, seit Motecuzóma mit Steinen beworfen worden war. Ihnen war die Aufgabe zugewiesen worden, die Pferde der Spanier loszumachen und auseinanderzutreiben – und es mußten beherzte Männer sein, denn nie zuvor hatten unsere Krieger gegen etwas anderes gekämpft als gegen menschliche Gegner. Zwar waren einige der Pferde mit der Schatzkolonne fortgezogen, doch standen immer noch rund achtzig von ihnen in jener Ecke des Großen Platzes angehalftert, wo der Tempel stand, welcher zu einer christlichen Kapelle gemacht worden war. Unsere Männer lösten die Riemen des Kopfgeschirrs, rissen dann Feuerbrände aus einem Lagerfeuer in der Nähe und liefen damit zwischen den losgemachten Tieren hin und her. Die Pferde gerieten in Panik und stoben in alle Richtungen auseinander, sprengten in vollem Galopp durch das Lager, warfen die aufgestellten Hakenbüchsen um, rissen etliche von ihren Besitzern zu Boden und stürzten alle anderen weißen Männer in Verwirrung, so daß sie laut rufend und fluchend durcheinanderrannten.
Dann strömte die Masse unserer bewaffneten Krieger auf den Platz. Jeder von ihnen trug zwei Maquáhuime, von denen er eins den Männern zuwarf, welche schon länger auf dem Platz waren. Keiner von den Unseren trug den gesteppten Kampfanzug. Im Nahkampf gewährte der ohnehin nicht viel Schutz und wäre mit Regen vollgesogen nur hinderlich gewesen; unsere Kämpfer trugen nichts weiter als ihr Schamtuch. Der Große Platz war den ganzen Abend über nur schwach beleuchtet gewesen, da die Kochstellen der Soldaten vor dem Regen hatten geschützt werden müssen, indem man Schilder und andere Dinge über sie gelehnt hatte. Die dahinsprengenden und -stürzenden Pferde zertrampelten die meisten dieser Feuer und verwirrten die Soldaten dermaßen, daß sie völlig fassungslos waren, als sie plötzlich fast nackte Krieger aus den Schatten springen sahen, von denen manche auf jedes bärtige Gesicht und jeden gepanzerten Körper einhieben, während andere sich den Weg ins Innere des Palasts erzwangen, den Cortés vor so kurzer Zeit verlassen hatte.
Die Spanier, welche die Kanonen auf dem Palastdach bemannten, hörten das Getöse unten, konnten jedoch nur wenig von dem erkennen, was geschah und hätten ihre Waffen ohnehin nicht in das Lager ihrer Kameraden abfeuern können. Ein weiterer Vorteil war, daß die wenigen Spanier auf dem Großen Platz, welchen es gelang, ihre Hakenbüchsen zu ergreifen, feststellen mußten, daß es zu feucht war, als daß sie Blitz und Donner und Tod hätten speien können. Eine Anzahl von den Soldaten im Inneren des Palastes konnte ihre Hakenbüchsen nur ein einziges Mal abfeuern; ihnen blieb keine Zeit, wieder zu laden, da fielen unsere eindringenden Krieger auch schon über sie her. So wurde jeder weiße Mann und Texcaltécatl im Palast getötet oder gefangengenommen, und wir selbst erlitten dabei nur leichte Verluste. Unsere Krieger hingegen, welche draußen auf Dem Herzen Der Einen Welt kämpften, waren nicht so bald oder nicht so vollständig siegreich. Schließlich waren sämtliche Spanier und ihre Texcaltéca-Bundesgenossen tapfere Männer und ausgebildete Soldaten. Nachdem sie sich von ihrer ersten Überraschung erholt hatten, wehrten sie sich. Die Texcaltéca waren genauso bewaffnet wie wir, und die weißen Männer waren, selbst wenn sie ihre Hakenbüchsen nicht gebrauchen konnten, mit Säbeln und Speeren bewaffnet, welche den unseren überlegen waren.
Wiewohl ich nicht dabei war, kann ich mir die Szene lebhaft vorstellen: es muß ausgesehen haben, als ob in unserer Mictlan oder in eurer Hölle ein Krieg ausgebrochen wäre. Der riesige Platz war von den Resten der Lagerfeuer nur spärlich beleuchtet, und diese Glut stob immer wieder in Funken auseinander, wenn Männer oder Pferde durch sie hindurchpreschten. Der Regen fiel immer noch und breitete einen Schleier über alles, was verhinderte, daß eine Gruppe von Kämpfern sah, wie es ihren Kameraden anderswo erging. Über dem ganzen Marmorpflaster lagen wild verstreut Bettzeug und Gerät der Spanier. Die Reste des Abendessens, die Gefallenen und das Blut machten den Marmor womöglich noch schlüpfriger, als er ohnehin schon war. Das Blitzen von Stahlsäbeln, kleinen Stahlschilden und bleichen Gesichtern stand im Gegensatz zu den nackten, jedoch weniger sichtbaren Körpern unserer kupferhäutigen Krieger. Auf den Stufen der Großen Pyramide fanden Zweikämpfe statt, die Kämpfe wogten in den vielen Tempeln hin und her und entspannen sich unter den gelassenen Blicken der blicklosen Augen des Schädelgerüsts. Was die ganze Schlacht noch unwirklicher machte, war, daß die in Panik geratenen Pferde immer noch durcheinanderliefen, hochstiegen und auskeilten. Die Schlangenmauer war zu hoch für sie, sie konnten nicht hinübersetzen, doch gelegentlich fand eines der Tiere durch Zufall einen der Durchlässe in der Mauer und entfloh in die Straßen der Stadt.
An einem Punkt machte eine Anzahl weißer Männer kehrt und zog sich in eine Ecke des Platzes zurück, während eine Reihe ihrer Kameraden ihre Schwerter schwang, um unsere Männer davon abzuhalten, hinter ihnen herzusetzen – und dieser scheinbare Rückzug erwies sich als kluges Täuschungsmanöver. Die Fliehenden hatten im Laufen alle Hakenbüchsen an sich genommen und schafften es in dieser kurzen Pause, trockenes Pulver auf die Pfannen zu schütten, traten vor und feuerten ihre tödlichen Geschosse alle auf einmal in die Menge unserer Krieger hinein, welche sie bedrängt hatten, und viele von unseren Männern gingen in dieser einen Salve tot oder verwundet zu Boden. Doch ließen sich die Hakenbüchsen nicht so schnell wieder laden, wie unsere Männer vorwärts stürmten. Danach wurde nur noch mit Steinwaffen gegen Stahlwaffen gekämpft.
Ich habe keine Ahnung, woran Cortés merkte, daß etwas mit dem Heer, welches er führerlos zurückgelassen hatte, nicht stimmte. Vielleicht kam eines der freigelassenen Pferde durch die Straßen auf ihn zugeprescht; vielleicht war es auch einem Soldaten gelungen, sich aus dem Kampfgetümmel zu entfernen; oder vielleicht war es auch die eine laute Salve, welche er hörte. Was ich jedoch weiß, ist, daß er und seine Kolonne die Dammstraße nach Tlacópan erreichten, ehe sie wußten, daß irgend etwas schief ging. Er brauchte nur einen Moment, um zu entscheiden, was er tun sollte, und wenn auch später niemand berichten konnte, wie genau die Worte lauteten, die er sagte – was er beschloß, war folgendes: »Wir können den Schatz nicht hierlassen. Laßt uns machen, daß wir ihn aufs Festland hinüberschaffen und dann zurückeilen.«
Inzwischen war die Hakenbüchsensalve auch überall auf den nähergelegenen Ufern des Sees gehört worden – von den dort lagernden Truppen von Cortés genauso wie von unseren wartenden Bundesgenossen. Cuitláhuac hatte unsere Festlandstruppen angewiesen, auf die Mitternachtshörner zu warten, doch waren sie so klug, sich sofort in Bewegung zu setzen, als sie den Kampfeslärm hörten. Cortés' Truppen hingegen waren ohne Anweisungen. Sie müssen bei dem plötzlichen Lärm gleichfalls aufgesprungen und hellwach gewesen sein, wußten jedoch nicht, was tun. Genauso hatten auch die weißen Männer an den Kanonen, welche um den See herum aufgestellt worden waren, diese geladen und auf ihr Ziel eingestellt, konnten jedoch ihre Geschosse kaum in die Stadt hinüberschicken, in welcher ihr Capitán-General und die Mehrzahl ihrer Kameraden sich aufhielten. Deshalb nehme ich an, daß die Festlandstruppen von Cortés einfach unentschlossen dastanden und erschrocken zu der im Regen gerade eben noch sichtbaren Insel hinüberblickten, als sie von hinten angegriffen wurden.
Hinter dem gesamten westlichen Bogen des Seeufers erhoben sich die Heere des Dreibunds. Wiewohl viele von ihren besten Kriegern in Tenochtitlan waren und zusammen mit unseren Mexíca kämpften, standen immer noch große Mengen guter Kämpfer auf dem Festland. Selbst aus dem fernen Süden, aus den Xochimilca- und Chalca-Landen waren insgeheim Truppen nach Norden verlegt und für diesen Augenblick zusammengezogen worden. Jetzt fielen sie über Prinz Schwarz Blumes Acólhua her, welche ihr Lager bei Coyohuácan aufgeschlagen hatten. Auf der anderen Seite der See-Enge griffen die Culhua Cortés' Totonáca-Truppen an, welche auf der vorspringenden Landzunge in Ixtapalápan lagerten. Die Tecpanéca erhoben sich gegen die Texcaltéca, welche ihr Lager bei Tlacópan hatten.
Etwa um die gleiche Zeit beschlossen die Spanier im Herzen Der Einen Welt das vernünftigste, was sie tun konnten: zu fliehen. Einer von ihren Offizieren fing ein Pferd ein, das durchs Lager galoppierte, schwang sich ihm auf den Rücken und fing an, auf spanisch etwas zu rufen. Was genau er rief, weiß ich nicht, doch lief es auf den Befehl: »Sammelt euch und folgt Cortés!« hinaus. Damit hatten die noch am Leben gebliebenen weißen Männer endlich ein Ziel. Sie kämpften sich aus allen Ecken des Platzes frei, in welche sie getrieben worden waren, und schafften es, einen dichten Haufen zu bilden, welcher von scharfem Stahl nur so starrte. Wie ein kleines Stachelschwein sich zusammenrollt und seine Stacheln ausstreckt, denen nicht einmal ein Kojote etwas anhaben kann, wehrten die Spanier die wiederholten Angriffe unserer Männer ab.
Den Anweisungen folgend, die der eine Mann auf dem Pferd ihnen zurief, bewegte dieser waffenstarrende Haufen sich zurück auf die westliche Öffnung in der Schlangenmauer. Dabei gelang es mehreren von ihnen, noch Pferde einzufangen und sich auf sie zu schwingen. Als all diese weißen Männer und die Texcaltéca vom Großen Platz verschwunden waren und auf dem Weg nach Tlácopan waren, bildeten die berittenen Soldaten die Nachhut. Mit geschwungenen Säbeln und den auskeilenden Hufen der Pferde schafften sie es, unsere sie verfolgenden Krieger lange genug aufzuhalten, daß es den Fußsoldaten gelang, in die Richtung zu fliehen, welche Cortés eingeschlagen hatte.
Cortés muß ihnen auf dem Weg zurück in die Stadt begegnet sein, denn selbstverständlich waren er und seine Schatzkolonne nur bis zu dem Punkt auf der Dammstraße gekommen, wo die erste Kanudurchfahrt diese unterbrach und wo sie sahen, daß die sie überspannende Brücke entfernt worden war, so daß sie nicht hinüber konnten. Infolgedessen ritt Cortés allein zur Insel zurück und stieß dort auf die fliehenden Reste seines Heeres, welche ihre Feinde verfluchten, über ihre Wunden stöhnten und alle um ihr Leben liefen. Nicht weit hinter ihnen hörte er das Kriegsgeschrei unserer sie verfolgenden Krieger, welche immer noch versuchten, sich an den sie aufhaltenden Reitern vorbeizukämpfen.
Ich kenne Cortés und weiß, daß er sich nicht erst lange damit aufhielt sich im einzelnen erklären zu lassen, was geschehen war. Er muß diesen Männern gesagt haben, sie sollten dort Stellung beziehen, wo die Dammstraße auf die Insel stieß, und den Feind so lange wie möglich aufhalten. Denn er galoppierte augenblicklich wieder den Damm zurück, wo Alvarado und Narváez und die anderen Soldaten warteten, und schrie ihnen zu, sie sollten den Schatz in den See schütten, die Schlitten freimachen und sie dann über die Durchfahrt schieben, um eine behelfsmäßige Brücke zu bilden. Ich kann wohl behaupten, daß von Alvarado hinunter bis zum einfachsten Fußsoldaten alle in ein Protestgeheul ausbrachen, und ich stelle mir vor, daß Cortés sie mit einem Befehl zum Schweigen brachte wie: »Tut, was ich euch gesagt habe. Oder wir sind alle des Todes.«
Infolgedessen gehorchten sie ihm. Im Schütze der Dunkelheit, noch ehe sie halfen, die Schlitten zu entleeren, leerten die Soldaten, was immer sie an Behältnissen und Beuteln bei sich hatten und füllten diese sowie ihre Wämser und selbst ihre hohen Stulpenstiefel mit allem Goldgerät das klein genug war, es zu stehlen. Aber der größte Teil des Schatzes verschwand im Wasser des Sees, und die Pferde wurden ausgespannt. Dann schoben die Männer die Schlitten über die Durchfahrt für die Kanus hinüber.
Inzwischen kam der Rest des Heeres über die Dammstraße von der Stadt her, und zwar nicht aus freien Stücken, denn unsere Krieger waren ihnen hart auf den Fersen. Als sie bis dorthin gekommen waren, wo Cortés und die anderen warteten, stockte der Rückzug eine Weile, und die vordersten Linien der Spanier und der Mexíca gerieten in ein Handgemenge, bei dem es weder vorwärts noch zurück ging. Wiewohl die Dammstraße breit genug war, daß zwanzig Männer nebeneinander darüber hinmarschieren konnten, konnten nicht genau so viele nebeneinander kämpfen, ohne einander ins Gehege zu kommen. Es konnten wohl nicht mehr als zwölf von unseren Kriegern mit zwölf von den ihren kämpfen, und das Gewicht unserer großen Zahl hinten nützte gar nichts.
Dann schienen die Spanier plötzlich nachzugeben und wichen zurück, doch während sie das taten, zogen sie die Schlittenbrücken mit sich hinüber, so daß unsere vordersten Kämpfer unversehens schwankend am Abgrund standen. Einer der Schlitten und etliche von unseren Leuten sowie mehrere Spanier fielen in den See. Aber die weißen Männer auf der anderen Seite hatten kaum Zeit, Atem zu schöpfen. Unsere Krieger waren fast unbekleidet und waren überdies gute Schwimmer. Sie sprangen aus freien Stücken ins Wasser, schwammen über die Durchfahrt hinüber und kletterten die Stämme hinauf, wo die weißen Männer standen. Gleichzeitig ging von beiden Seiten ein Pfeilregen auf die Spanier hernieder. Cuitláhuac hatte an alles gedacht. Kanus mit Bogenschützen waren mittlerweile auf dem See und strebten auf die Dammstraße zu. Cortés blieb keine andere Wahl, als sich kämpfend weiter zurückzuziehen. Da seine Pferde die größten und wertvollsten und verwundbarsten Ziele bildeten, befahl er einigen Männern, die Pferde ins Wasser zu treiben und sich an ihnen festzuhalten, während sie aufs Festland zuschwammen. Ohne daß man es ihr befohlen hätte, sprang Malintzin zusammen mit ihnen ins Wasser und wurde von einem schwimmenden Pferd an Land gebracht.
Dann taten Cortés und die ihm noch verbliebenen Männer ihr Bestes, einen geordneten Rückzug anzutreten. Diejenigen, welche Armbrüste und funktionierende Hakenbüchsen hatten, schossen sie aufs Geratewohl links und rechts vom Damm ins Dunkel ab, in der Hoffnung, einen von den Angreifern in den Kanus zu treffen. Die anderen Spanier, welche abwechselnd mit dem Säbel kämpften und den ihnen noch verbliebenen Schlitten zogen, wichen immer weiter hinter den immer zahlreicheren Kriegern zurück, denen es gelungen war, die erste Lücke in der Dammstraße zu überwinden. Es gab noch zwei weitere dieser Kanudurchfahrten zwischen Cortés und dem Festland von Tlácopan. Der Schlitten half ihm, sich und seine Männer auf den nächsten Abschnitt hinüberzubringen, doch dort mußten sie diese Behelfsbrücke zurücklassen, da ihre Verfolger sie gleichfalls überwanden. Bei der nächsten Durchfahrt kämpften die weißen Soldaten und wichen zurück, bis sie vom Rand in den See hinunterfielen.
Doch in so großer Nähe des Ufers war das Wasser bereits so seicht, daß auch jemand, der nicht schwimmen konnte, durch eine Reihe von Hüpfern ans Land kommen konnte und den Kopf dabei über Wasser behielt. Nur trugen die weißen Männer schwere Panzer, und viele von ihnen wurden auch durch das noch schwerere Gold belastet, und so schlugen sie, als sie ins Wasser fielen, wild mit den Armen um sich und strampelten mit den Beinen, um nicht unterzugehen. Cortés und seine Kameraden, welche nach ihnen kamen, zögerten bei dem Versuch, den Durchlaß hinter sich zu bringen, nicht, auf sie zu treten. So kam es, denke ich, daß viele Männer, die ins Wasser fielen, versanken, wobei die untersten, wie ich vermute, tief in den Schlickgrund des Sees hineingestampft wurden. Da mehr und immer mehr von den Spaniern hineinfielen und ertranken, stapelten sich ihre Leichen so hoch, daß sie eine Brücke aus Fleisch bildeten, und auf diese Weise gelangten die letzten überlebenden Spanier hinüber.
Nur einer von ihnen schaffte die Überbrückung ohne Panik, sondern ihm gelang ein Sprung, welchen unsere Krieger so bewunderten, daß sie heute noch von »Tonatíus Sprung« sprechen. Als Pedro de Alvarado an den Rand gestoßen wurde, war er nur mit einem Speer bewaffnet. Er wandte seinen Angreifern den Rücken zu, steckte den Speer in die sich hebende und senkende und ertrinkende Masse von Leibern im Wasser und machte einen mächtigen Satz. Wiewohl schwer gepanzert, wahrscheinlich auch verwundet und bestimmt völlig erschöpft, schwang er sich vom einen Ende der Dammstraße über die Durchfahrt bis auf die andere Seite und brachte sich so in Sicherheit.
Denn dort kamen unsere Krieger, welche die weißen Männer verfolgten, nicht weiter. Sie blieben stehen. Sie hatten die letzten Fremden aus Tenochtítlan auf Tecpanéca-Gebiet hinausgedrängt und nahmen an, daß der Rest dort getötet oder gefangengenommen werden würde. Unsere Krieger kehrten auf der Dammstraße zurück – wo die Bootsmänner bereits die fehlenden Brücken wieder heranführten und einsetzten – und vollbrachten auf dem Rückweg die Arbeit der Feßler und der Garaus-Macher. Ihre gefallenen Kameraden nahmen sie mit; desgleichen diejenigen weißen Männer, welche als Opfer dienen sollten, und gaben mit ihren Klingen gnädig denjenigen Spaniern endgültig den Tod, welche dem Tode bereits nahe waren.
Cortés und die ihn begleitenden Überlebenden sahen sich nicht mehr bedrängt und konnten sich in Tlácopan ausruhen. Die Tecpanéca, die dort lebten, waren nicht so gute Kämpfer wie die Texcaltéca, welche Cortés bei ihnen einquartiert hatte; nur war ihnen bei ihrem Angriff das Überraschungsmoment zu Hilfe gekommen, und außerdem kannten sie das Gelände. Als Cortés also die Stadt erreichte, hatten die Tecpanéca seine Texcaltéca-Verbündeten von Tlácopan in nördlicher Richtung nach Azcapotzálco abgedrängt, so daß sie sich immer noch auf der Flucht befanden. Cortés und seinen Gefährten war eine Ruhepause vergönnt, in welcher sie ihre Wunden verbinden, sich einen Überblick über die Lage verschaffen und beschließen konnten, was sie jetzt tun sollten.
Unter den noch Lebenden fand Cortés immerhin die wichtigsten seiner Unterbefehlshaber: Narváez, Alvarado und andere – und seine Malintzin –, aber sein Heer war kein Heer mehr. Im Triumph war er mit rund eintausendfünfhundert anderen weißen Männern in Tenochtítlan eingezogen. Jetzt war er mit nicht einmal vierhundert aus Tenochtítlan vertrieben worden – dazu etwa dreißig Pferden, von denen einige dem Kampf auf Dem Herzen Der Einen Welt entkommen waren und von der Insel herübergeschwommen kamen. Cortés hatte keine Ahnung, wo seine eingeborenen Verbündeten waren oder wie es ihnen erging. Tatsache ist, daß auch sie sich auf der Flucht vor den rachedurstigen Heeren des Dreibunds befanden. Bis auf die Texcaltéca, die in nördlicher Richtung von ihm fortgedrängt wurden, wurden alle seine anderen Streitkräfte, welche er am Seeufer entlang aufgestellt hatte, in diesem Augenblick nach Norden getrieben – dorthin, wo er erschöpft und niedergeschlagen saß.
Es heißt, Cortés habe genau das getan. Habe dagesessen, als ob er sich nie wieder erheben würde, mit dem Rücken gegen eine der »ältesten der alten« Zypressen gelehnt, und geweint. Ob er mehr über die vernichtende Niederlage weinte oder um den verlorenen Schatz, weiß ich nicht. Aber vor kurzem ist ein Zaun um jenen Baum errichtet worden, wo Cortés weinte, um eine Gedenkstätte für die »Traurige Nacht« daraus zu machen. Wir Mexíca, schrieben wir noch Geschichtsbücher, würden dieser Nacht einen anderen Namen geben – »Nacht des letzten Sieges der Mexíca« vielleicht-, aber es seid ihr Spanier, die ihr jetzt die Geschichte schreibt, und so nehme ich an, wird diese regengepeitschte und blutige Nacht – nach eurem Kalender der dreizehnte Tag des Mondes Juni im Jahre eintausendfünfhundertundzwanzig – wohl für immer als La Noche Triste in der Erinnerung bleiben.
In mancher Hinsicht war es auch für Die Eine Welt keine glückliche Nacht. Als am unseligsten erwies sich der Umstand, daß unsere Heere die Verfolgung Cortés' und seiner ihm verbliebenen Weißen sowie der Eingeborenen, die ihn unterstützten, abbrachen, bevor sie sie bis auf den letzten Mann erschlagen hatten. Doch wie ich bereits gesagt habe, wiegten die Krieger von Tenochtítlan sich in dem Glauben, eben dieses würden ihre Verbündeten auf dem Festland tun, und so kehrten sie auf die Insel zurück, um den Rest der Nacht einen Sieg zu feiern, von dem sie annahmen, daß er vollständig sei. Die Priester unserer Stadt und der größte Teil der Bevölkerung waren noch vor der Pyramide von Tlaltelólco versammelt, wo sie zum Schein eine Zeremonie gefeiert hatten, die unsere Feinde hatte ablenken sollen. Jetzt waren sie nur allzu bereit, in großen Scharen zum Herzen Der Einen Welt zu ziehen, um dort vor der Großen Pyramide eine richtige Dankzeremonie zu feiern. Auch Béu und ich verließen, als wir die frohen Rufe der zurückkehrenden Krieger hörten, unser Haus, um daran teilzunehmen. Und Tlaloc – gleichsam als wolle er dem Jubel seiner Anhänger besser zusehen – hob den Vorhang seines Regens auf.
In normalen Zeiten hätten wir es nicht gewagt, irgendeine Zeremonie auf dem Großen Platz zu feiern, bis nicht jeder Stein, jedes Standbild und noch der geringste Gebäudeschmuck geschrubbt, vom letzten Schmutzfleck gesäubert und von jeder möglichen Besudelung befreit worden wäre, bis Das Herz Der Einen Welt strahlte, auf daß es den Beifall und das Wohlgefallen der Götter finde. Doch in dieser Nacht bot sich der riesige Platz im Schimmer der Fackeln und Urnenfeuer als ein einziger Haufen Unrat dar. Überall lagen Leichen oder Leichenteile herum, weißhäutige ebenso wie kupferfarbene: außerdem viele Eingeweide, graurosa und graublau, so daß man nicht sagen konnte, von wem sie stammten. Überall lagen zerbrochene oder fortgeworfene Waffen herum, Exkremente der verängstigten Pferde und Menschen, welche sich im Sterben entleert hatten, und das streng riechende Bettzeug, die Kleidung und die anderen Habseligkeiten der Spanier. Aber die Priester erhoben keinen Einspruch gegen diesen grausigen Hintergrund für die Feier, und die Menschen strömten herbei, ohne allzu großen Abscheu vor den häßlichen Dingen zu bekunden, auf die sie oder in die sie traten. Wir waren alle überzeugt, daß die Götter gleichfalls dieses eine Mal keinen Anstoß an dem verheerenden Zustand des Platzes nehmen würden, waren es doch nicht nur unsere, sondern auch ihre Feinde gewesen, welche wir hier besiegt hatten.
Ich weiß, es hat euch immer mit Abscheu erfüllt, wenn ich beschrieben habe, wie Menschen geopfert wurden, ehrwürdige Patres, selbst wenn es sich um Opfer der von eurer Kirche verachteten Heiden handelte, und deshalb will ich mich nicht lange bei der Opferung eurer eigenen Landsleute aufhalten, die begann, als Tonatíu sich strahlend von seinem Lager erhob. Ich will nur sagen – selbst wenn wir in euren Augen damit als sehr töricht dastehen –, daß wir auch die ungefähr vierzig Pferde opferten, welche die Soldaten zurückgelassen hatten – denn, versteht ihr, wir konnten ja nicht ganz sicher sein, ob sie nicht auch gewissermaßen Christen wären. Ich sollte vielleicht auch noch sagen, daß die Pferde wesentlich würdevoller in den Blumentod gingen als die Spanier, die sich wehrten, als man sie auszog, und fluchten, als man sie die Treppe hinaufschleifte, und wie die Kinder weinten, als sie über den Opferstein gelegt wurden. Unsere Krieger erkannten einige der weißen Männer, welche am tapfersten gegen sie gekämpft hatten, und nachdem diese Männer gestorben waren, wurden ihre Schenkel abgeschnitten, um sie zu sieden und …
Aber vielleicht mindert es euren Abscheu, meine Herren Skribenten, wenn ich euch versichere, daß die meisten der Leichen einfach den Tieren im Tierhaus der Stadt vorgeworfen wurden …
Sehr wohl, ehrwürdige Herren, ich werde mich jetzt also den weniger glanzvollen Ereignissen dieser Nacht zuwenden. Während wir den Göttern Dank sagten, daß wir die Fremden nun endlich los wären, ahnten wir nicht, daß unsere Heere auf dem Festland sie nicht vernichtet hatten. Cortés saß immer noch in Tlácopan und blies Trübsal, da wurde er aus seinem Kummer herausgerissen durch den Lärm seiner anderen fliehenden Truppen – der Acólhua und Totonáca oder dasjenige, was von ihnen übriggeblieben war –, welche von den Xochimilca und Chalca nach Norden gejagt wurden. Cortés und seinen Offizieren und Malintzin – die ohne Zweifel lauter schrie, als sie jemals in ihrem Leben hatte schreien müssen – gelang es, die heillose Flucht aufzuhalten und einigermaßen so etwas wie Ordnung herzustellen. Dann führten Cortés und seine weißen Männer – einige zu Pferde, andere zu Fuß, manche humpelnd und manche auf Tragbahren – die Eingeborenentruppen, welche wieder richtige Formationen bildeten, weiter nach Norden, ehe ihre Verfolger sie hatten einholen können. Und diese Verfolger, welche vermutlich glaubten, daß die Flüchtenden auch von anderen Streitkräften des Dreibunds zerschlagen werden könnten, oder weil auch sie darauf versessen waren, endlich mit ihren Siegesfeiern zu beginnen, ließen die Flüchtenden laufen.
Irgendwann gegen Morgengrauen am nördlichen Ausläufer des Tzumpánco-Sees erkannte Cortés, daß er ausgerechnet den mit uns verbündeten Tecpanéca dicht folgte. Und sie, welche wiederum den ihm verbündeten Texcaltéca dicht auf den Fersen waren, waren alles andere als erbaut, als sie überrascht feststellten, daß sie zwischen zwei feindlichen Streitkräften dahinzogen. In der Annahme, daß irgend etwas mit dem Schlachtplan schiefgelaufen sein müsse, brachen auch die Tecpanéca die Verfolgung ab, schlugen sich in die Büsche und kehrten heim nach Tlácopan.
Cortés holte zuletzt seine Texcaltéca ein, und so war seine gesamte Streitmacht wieder beisammen, wenn auch beträchtlich geschrumpft und in sehr gedrückter Stimmung. Immerhin mag es Cortés einigermaßen erleichtert haben, daß seine besten Eingeborenentruppen, die Texcaltéca, die geringsten Verluste erlitten hatten – eben, weil sie die besten Kämpfer waren. Ich kann mir denken, was Cortés dabei durch den Kopf ging:
»Wenn ich nach Texcála ziehe, wird der alte König Xicoténca anerkennen, daß ich die meisten Krieger, welche er mir zur Verfügung gestellt hat, gerettet habe. Folglich wird er nicht allzu böse und zornig auf mich sein können oder mir vorhalten, ich hätte völlig versagt. Vielleicht kann ich ihn sogar bewegen, dem Rest von uns dort Zuflucht zu gewähren.«
Ob er nun so gedacht hat oder nicht – auf jeden Fall führte Cortés seine erschreckend mitgenommenen Truppen um den Nordrand der Seen herum nach Texcála. Auf diesem langen Marsch erlag noch eine ganze Anzahl von Verwundeten ihren Verletzungen, und alle litten beträchtlich, denn sie machten klugerweise einen großen Umweg, mieden jeden größeren Ort und konnten daher nicht hingehen und um Nahrung bitten oder sie verlangen. Sie waren gezwungen, sich von wilden Tieren und Pflanzen zu ernähren, die sie fanden, und mindestens einmal mußten sie sogar einige von ihren kostbaren Pferden und Jagdhunden schlachten und verzehren.
Nur einmal wurden sie auf diesem langen Marsch in einen Kampf verwickelt. An den Ausläufern der Berge im Osten wurden sie von einer Streitmacht von Acólhua-Kriegern aus Texcóco überrascht, die dem Dreibund noch treu waren. Aber diesen Acólhua mangelte es sowohl an einem Anführer als auch dem Anreiz, überhaupt zu kämpfen, und so verlief dieses Gefecht nahezu so unblutig wie ein Blumenkrieg. Als die Acólhua sich eine Reihe von Gefangenen gesichert hatten – alles Totonáca, glaube ich –, zogen sie sich vom Schlachtfeld zurück und kehrten heim nach Texcóco, um dort selbst ihren »Sieg« zu feiern. Infolgedessen wurde die Cortés noch verbliebene Streitmacht auf der zwölftägigen Flucht zwischen der Traurigen Nacht und ihrer Ankunft in Texcála nicht sonderlich verringert. Der erst vor kurzem zum Christentum übergetretene Herrscher dieses Volkes, der alte und blinde Xicoténca, hieß Cortés willkommen und gestattete ihm und seinen Truppen, so lange zu bleiben, wie er wollte. All diese Dinge, welche ich gerade eben erzählt habe und die sich alle zu unserem Nachteil auswirkten, waren uns in Tenochtítlan unbekannt, als wir in dem strahlenden Sonnenaufgang nach der Traurigen Nacht die ersten spanischen Xochimíqui zum Opferstein auf der Großen Pyramide hinaufschickten.
Es geschahen in besagter Traurigen Nacht auch noch andere Dinge, die, wenn auch nicht besonders traurig, so doch etwas waren, was nachdenklich stimmte. Wie ich berichtet habe, verlor das Volk der Mexíca seinen Verehrten Sprecher Motecuzóma. Aber auch der Verehrte Sprecher der Tlácopan, Totoquihuáztli, fand in dieser Nacht bei den Kämpfen den Tod. Und der Verehrte Sprecher von Texcóco, Cacáma, welcher zusammen mit den Acólhua gekämpft hatte, die er Tenochtítlan zur Verfügung gestellt, wurde gleichfalls unter den Toten gefunden, als unsere Sklaven sich an das grausige Werk machten. Das Herz Der Einen Welt von dem ganzen Unrat der Nacht zu säubern. Keiner betrauerte sehr den Tod von Motecuzóma und seines Neffen Cacáma, doch war es schon ein beunruhigender Zufall, daß alle drei Herrscher des Dreibunds an einem Nachmittag und in einer Nacht den Tod gefunden hatten. Selbstverständlich hatte Cuitláhuac bereits den leerstehenden Thron der Mexíca bestiegen – wiewohl er nie dazu kam, alle Pracht und Feierlichkeiten einer offiziellen Krönungszeremonie zu genießen. Und das Volk von Tlácopan wählte als Nachfolger für ihren gefallenen Uey-Tlatoáni seinen Bruder Tétlapanquétzal.
Die Wahl des neuen Verehrten Sprechers von Texcóco war weniger leicht. Legitimer Anwärter auf den Thron war Prinz Schwarz Blume, welcher ohnehin hätte Herrscher werden sollen, und die meisten Acólhua hätten ihn gewiß gern auf dem Thron gesehen – nur, daß er sich mit den verhaßten weißen Männern verbündet hatte. Deshalb einigte sich der Staatsrat von Texcóco in Absprache mit den neuen Verehrten Sprechern von Tenochtítlan und Tlácopan darauf, einen so unbedeutenden Mann zu ernennen, daß er für alle Teile annehmbar war, gleichwohl jedoch jenem Führer Platz machen konnte, welcher sich später als der stärkste unter den zersplitterten Acólhua herausstellte. Sein Name war Cohuanácoch, und ich glaube, er war ein Neffe des verstorbenen Nezahualpíli. Es lag in der allgemeinen Unsicherheit und Zerrissenheit und an der schwächlichen Führung dieses Volkes, daß die Acólhua-Krieger die fliehenden Streitkräfte von Cortés nur so halbherzig angriffen, wohingegen sie sie vollständig hätten vernichten sollen. Nie wieder bewiesen die Acólhua das kriegerische Ungestüm, welches ich so sehr bewundert hatte, als Nezahualpíli sie vor so vielen Jahren gegen die Texcaltéca geführt hatte.
Ein weiteres merkwürdiges Vorkommnis in der Traurigen Nacht war, daß irgendwann im Laufe dieser Nacht die Leiche Motecuzómas aus dem Thronsaal des Palastes verschwand, in welchem er zuletzt gelegen hatte, und nie wieder gesehen ward. Ich habe viele Vermutungen darüber gehört, was aus ihr geworden ist – sie sei bösartig zerhackt und in Stücke geschlagen worden, als unsere Krieger den Palast stürmten; seine Frauen und Kinder hätten die Leiche heimlich weggeschafft, um ihr ein würdiges Begräbnis zu verschaffen; seine ergebenen Priester hätten die Leiche mit Konservierungsmitteln präpariert und versteckt und würden sie eines Tages, wenn ihr weißen Männer fort sein werdet und die Mexíca wieder regieren, durch Zauberei wieder zum Leben erwecken. Ich persönlich nehme an, daß Motecuzómas Leiche unter diejenigen der Texcaltéca-Ritter geriet, welche in diesem Palast erschlagen wurden, und unerkannt dort verschwand, wo auch sie verschwanden: als Futter für die Tiere des Tierhauses. Nur eines ist sicher. Motecuzóma verließ diese Welt genauso unbestimmt und unentschlossen, wie er in ihr gelebt hatte, so daß die Stelle, wo seine leibliche Hülle ruht, genauso unbekannt ist wie der Verbleib des Schatzes, welcher in dieser Nacht gleichfalls verschwand.
Ach ja, der Schatz: dasjenige, was heute der »verlorene Schatz der Azteken« genannt wird. Ich hatte mich schon gefragt, wann ihr mich danach fragen würdet. In späteren Jahren ließ Cortés mich des öfteren kommen, damit ich Malintzin half zu dolmetschen, während er viele Menschen ausfragte, jeden einzelnen viele Male und oft auf sehr nachdrücklich überzeugende Weise; und oft hat er auch mich gefragt, was ich wohl über den Verbleib des Schatzes wisse, wenn er mich auch keinen ausdrücklich überzeugenden Methoden der Befragung unterwarf. Außer Cortés haben noch viele andere Spanier mich und ehemalige Höflinge gebeten, ihnen zu sagen: Woraus bestand der Schatz eigentlich? Und wieviel war er wert? Und vor allen Dingen: Wo ist er jetzt? Ihr würdet nicht glauben, welche Verlockungen man mir auf den heutigen Tag bietet, möchte aber immerhin soviel sagen, daß diejenigen, welche am hartnäckigsten fragen und sich dabei am großzügigsten zeigen, hochgeborene spanische Doñas sind.
Ich habe euch, ehrwürdige Patres, bereits gesagt, woraus der Schatz bestand. Was seinen Wert betrifft, so habe ich keine Ahnung, wie ihr diese unzähligen Kunstwerke abschätzen würdet. Selbst, wenn man den Wert des Goldes und der Edelsteine allein für sich nimmt, wüßte ich nicht zu sagen, wie man ihn in Maravedíes und Reales ausdrücken sollte. Doch nach dem, was man mir über den gewaltigen Reichtum eures Königs Carlos und eures Papstes Clemens und anderer reicher Persönlichkeiten in eurer Alten Welt erzählt hat, glaube ich, kann man füglich behaupten, daß ein Mann, welcher den »verlorenen Schatz der Azteken« besäße, der bei weitem reichste aller reichen Männer in eurer Alten Welt sein würde.
Aber wo ist er? Nun, die alte Dammstraße erstreckt sich auch heute noch von hier nach Tlácopan – oder Tácuba, wie ihr die Stadt lieber nennt. Wiewohl kürzer als damals, ist die westlichste Kanudurchfahrt immer noch da, und das ist die Stelle, wo viele spanische Soldaten vom Gewicht des Goldes in ihrem Gepäck, ihren Wämsern und Stiefeln in die Tiefe gezogen wurden. Selbstverständlich müssen sie in den elf Jahren, welche seither vergangen sind, tief im Schlick auf dem Grund des Sees versunken sein und noch tiefer unter den Ablagerungen liegen, welche sich in denselben Jahren dort unten gesammelt haben. Wer jedoch habgierig genug ist und genügend Kraft aufbringt, um dort hinabzutauchen und zu graben, müßte viele gebleichte Knochen und unter ihnen viele edelsteingeschmückte goldene Diademe, Medaillons, Figürchen und dergleichen finden. Vielleicht nicht genug, um es mit König Carlos oder Papst Clemens aufnehmen zu können, aber genug, so daß er nie mehr habgierig zu sein brauchte.
Für jeden von echter Habgier getriebenen Schatzsucher wurde der größere Teil der Beute auf Cortés' Befehl an der ersten, in der Stadt am nächsten gelegenen Acáli-Durchfahrt in den See geworfen. Der Verehrte Sprecher Cuitláhuac hätte hinterher Taucher hinabschicken können, um ihn wieder herauszuholen, und vielleicht hat er das auch getan, doch habe ich gute Gründe, das zu bezweifeln. Auf jeden Fall starb Cuitláhuac, bevor Cortés ihn fragen konnte – entweder höflich oder unter Anwendung nachdrücklich überzeugender Methoden. Und wenn irgendwelche Mexíca-Taucher den Schatz des Volkes aus dem See herausgeholt haben, so sind diese Männer entweder gleichfalls gestorben oder bewahren in dieser Beziehung absolutes Schweigen.
Ich glaube, der größte Teil des Schatzes liegt immer noch dort, wo Cortés ihn in der Traurigen Nacht in die Tiefe werfen ließ. Doch als Tenochtitlan später dem Erdboden gleichgemacht wurde und auch hinterher, als die Trümmer fortgeräumt wurden, um die Stadt im spanischen Stil wiederaufzubauen, wurden die Überreste Tenochtítlans, die man nicht gebrauchen konnte, einfach über den Rand der Insel in den See gekippt – teils, damit sie euren Baumeistern nicht im Wege wären, teils auch, um die Oberfläche der Insel zu vergrößern. Dadurch wurde die Dammstraße nach Tlácopan verkürzt, und die der Stadt am nächsten gelegene Acáli-Durchfahrt liegt jetzt zugeschüttet da. Wenn ich mit meinen Berechnungen, wo der Schatz liegen müßte, recht habe, müßte er sich irgendwo in der Tiefe unter den Grundmauern der eleganten und herrschaftlichen Häuser befinden, welche die heutige Avenida Calzada Tácuba säumen.
Soviel ich auch im einzelnen von den Dingen erzählt habe, welche sich in der Traurigen Nacht abspielten, ein Ereignis habe ich nicht berichtet, eines, welches ganz allein die Zukunft Der Einen Welt bestimmte. Es handelte sich um den Tod nur eines einzigen Mannes. Er war niemand Bedeutendes. Wenn er einen Namen hatte – ich habe ihn nie gehört. Vielleicht hat er in seinem ganzen Leben weder etwas Rühmens- noch etwas Tadelnswertes getan – außer, daß seine Wege und Tage ausgerechnet hier enden mußten, wobei ich noch nicht einmal weiß, ob er tapfer starb oder feige. Doch als Das Herz Der Einen Welt am nächsten Tag gesäubert wurde, fand man seine von einem Maquáhuitl erschlagene Leiche, und die Sklaven schrien auf, als sie ihn fanden, weil er weder ein weißer Mann war noch einer von unserer Rasse, und weil diese Sklaven ein solches Wesen noch nie zuvor erblickt hatten. Ich hingegen hatte das. Er war einer von jenen unglaublich schwarzen Männern, welche zusammen mit Narváez aus Cuba gekommen waren; und es handelte sich um jenen, vor dessen verwüstetem Gesicht ich zurückgeschreckt war.
Heute lächle ich – kläglich und geringschätzig zwar, aber immerhin, ich lächle –, wenn ich sehe, wie stolz und aufgeblasen Hernán Cortés, Beltrán de Cuzmán und Pedro de Alvarado und all die anderen spanischen Veteranen daherkommen, welche sich heute brüsten, die eigentlichen conquistadores zu sein. O gewiß, sie haben manch kühne und verwegene Tat getan, das kann ich nicht leugnen. Daß Cortés seine eigenen Schiffe nach seiner Ankunft hier in Brand steckte, ist eine Tat, die an Waghalsigkeit wohl so leicht von niemand übertroffen wird, nicht einmal von irgendeiner Laune der Götter. Und es gab auch noch andere Dinge, welche zum Fall Der Einen Welt beitrugen – nicht zuletzt die beklagenswerte Tatsache, daß diese Eine Welt sich gegen sich selbst kehrte: ein Volk gegen das andere Volk, ein Nachbar gegen den anderen, und zuletzt sogar Bruder gegen Bruder. Doch wenn ein einzelner Mensch allein den Titel Conquistador verdient, so dieser namenslose schwarze Mohr, welcher die Blatternkrankheit nach Tenochtítlan brachte.
Er hätte auf der Überfahrt von Cuba Narváez' Soldaten anstecken können. Er tat es nicht. Er hätte Narváez' und Cortés' Truppen auf ihrem Marsch von der Küste hierher anstecken können. Er tat es nicht. Er hätte selbst längst an der Krankheit sterben können, ehe er hierherkam. Er tat es nicht. Er blieb am Leben, kam nach Tenochtítlan und brachte uns die Krankheit. Vielleicht entsprang es einer Laune der Götter, ihn das tun zu lassen, jedenfalls gab es nichts, was wir dagegen hätten unternehmen können. Ich wünschte, er wäre unter denjenigen seiner Kameraden gewesen, die entkamen, damit er seine Krankheit früher oder später mit ihnen hätte teilen können. Aber nein. Tenochtítlan wurde von den Blattern verwüstet, und die Krankheit breitete sich im gesamten Seengebiet aus, drang bis in jedes Gemeinwesen des Dreibunds vor, erreichte aber niemals Texcála und machte unseren dortigen Feinden nicht zu schaffen.
Die ersten Einwohner von Tenochtítlan erkrankten bereits, als wir noch nicht einmal wußten, daß Cortés und seine Streitmacht in Texcála Zuflucht gefunden hatten. Die ehrwürdigen Patres kennen die Symptome der Krankheit gewiß und wissen, wie das weitergeht. Gleichviel, ich habe euch einmal beschrieben, wie ich vor vielen Jahren im fernen Tihó ein Xiu-Mädchen an den Blattern sterben sah. Deshalb brauche ich euch nicht zu sagen, daß unser Volk auf die gleiche Weise zugrunde ging: sie erstickten an den geschwollenen Geweben in ihrer Nase und im Hals – oder auf eine ähnlich grauenhafte Weise: im heftigen Delirium um sich schlagend und schreiend, bis ihr Gehirn die Qual nicht mehr ertrug, oder indem sie Blut spuckten, bis kein Blut mehr in ihrem Körper war, bis sie im Tode mehr einer leeren Hülse glichen als einem Menschen. Selbstverständlich erkannte ich die Krankheit frühzeitig und sagte zu unseren Heilkundigen:
»Das ist ein verbreitetes Gebrechen unter den Weißen, doch sie achten nicht sonderlich darauf, denn sterben tun sie nur selten daran. Sie nennen das die Blattern.«
»Was machen die weißen Männer, um nicht daran zu sterben?« fragten die Ärzte mich.
»Es gibt kein Heilmittel. Zumindest haben sie mir das gesagt. Außer beten.«
Infolgedessen waren unsere Tempel fortan voll von Priestern und Gläubigen, welche Patécatl, dem Gott des Heilens, Opfer darbrachten und ihn verehrten. Der Tempel, den Motecuzóma den Spaniern überlassen hatte, war gleichfalls ständig überfüllt von jenen unserer Leute, welche sich hatten taufen lassen und die plötzlich inständig hofften, wirklich zu Christen geworden zu sein – womit ich meine, daß sie hofften, der christliche Gott der Blattern werde sie als Weiße ansehen und sie daher verschonen. Sie zündeten Kerzen an und bekreuzten sich, murmelten Dinge, an welche sie sich aus den Gottesdiensten erinnerten, an einen Glauben, in welchem man sie kaum unterwiesen hatte und dem sie noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt hatten.
Aber nichts hielt die Ausbreitung der Krankheit und das Sterben auf. Unsere Gebete waren so fruchtlos und unsere Ärzte so hilflos, wie es die der Maya gewesen waren. Es dauerte nicht lange, und uns drohte auch noch eine Hungersnot, da unsere Krankheit nicht geheimgehalten werden konnte und die Menschen vom Festland sich fürchteten, uns nahezukommen. Infolgedessen hörte der Verkehr mit den Acáltin auf, welche uns Lebensmittel brachten, ein Verkehr, der für die Versorgung unserer Insel so unumgänglich notwendig war. Freilich dauerte es nicht lange, da trat die Krankheit auch in den Gemeinwesen auf dem Festland auf, und nachdem klar wurde, daß der gesamte Dreibund gleichermaßen heimgesucht wurde, nahmen die Bootsleute ihren Verkehr wieder auf – oder vielleicht sollte ich sagen, jene Bootsleute, welche noch nicht angesteckt worden waren. Denn wählerisch schien die Krankheit nur in einer ganz besonders grausamen Hinsicht zu sein. Ich selber wurde nie angesteckt, Béu auch nicht, überhaupt keiner in unserem Alter. Die Blattern schienen Menschen unseres Alters und diejenigen, welche bereits an einer anderen Krankheit litten, sowie jene, die von jeher von schwacher Konstitution gewesen waren, zu verschmähen. Ja, sie stürzte sich auf die Jungen, die Kräftigen und Lebensvollen und verschwendete ihre Tücke nicht an jene, welche aus anderen Gründen ohnehin nicht mehr lange zu leben hatten.
Daß wir mit den Blattern geschlagen wurden, ist einer der Gründe, warum ich bezweifle, daß Cuitláhuac jemals etwas unternahm, um den im See versenkten Schatz zu heben. Die Krankheit kam gleich nach dem Auszug der weißen Männer über uns – nur Tage, nachdem wir den Unrat fortgeschafft hatten, den sie hinterlassen hatten, ehe wir uns von der Belastung der langen Besetzung hatten erholen können, ehe wir unser Leben als Gemeinwesen überhaupt dort wieder angefangen hatten, wo es unterbrochen worden war – deshalb weiß ich, daß der Verehrte Sprecher damals keinen Gedanken daran verschwendete, das Gold und die Edelsteine zu retten. Später, als die Krankheit zu einer verheerenden Epidemie geworden war, hatte er andere Gründe, diese Aufgabe hintanzustellen. Versteht ihr, wir waren eine lange Zeit hindurch von allen Nachrichten über den Rest der Welt außerhalb des Seengebietes abgeschnitten. Kaufleute und Boten von anderen Völkern weigerten sich, unser befallenes Gebiet zu betreten, und unseren eigenen Pochtéca und Reisenden verbot Cuitláhuac, woanders hinzugehen und die Ansteckung womöglich dort hinzutragen. Ich glaube, es waren vier volle Monde nach der Traurigen Nacht vergangen, ehe einer unserer in Texcála stationierten Quimíchime-Mäuse den Mut aufbrachte, von dort zu uns zu kommen und uns zu berichten, was in dieser Zeit alles geschehen war.
»Wisset also, Verehrter Sprecher«, sagte sie zu Cuitláhuac und den anderen, darunter mir, denen sehr daran gelegen war, ihn zu hören, »Cortés und seine Leute ruhten sich zunächst einmal nur aus, aßen gierig, kurierten ihre Verwundungen aus und waren überhaupt mit nichts anderem beschäftigt, als wieder richtig auf die Beine zu kommen. Aber sie taten es nicht, um sich darauf vorzubereiten, weiter an die Küste zu ziehen, an Bord ihrer Schiffe zu gehen und diese Lande zu verlassen. Sie erholten sich nur zu einem einzigen Zweck: um Kraft zu sammeln und einen neuen Angriff auf Tenochtítlan vorzutragen. Jetzt, wo sie sich wieder erholt haben und aktiv sind, ziehen sie und ihre Gastgeber, die Texcaltéca, durch die gesamten Lande östlich von hier und rekrutieren immer mehr Krieger von Stämmen, welche den Mexíca nicht besonders freundlich gesonnen sind.«
Die Weibliche Schlange unterbrach die Maus, um eindringlich zum Verehrten Sprecher zu sagen: »Wir hatten gehofft, wir hätten sie für immer entmutigt. Da wir das nicht getan haben, müssen wir jetzt tun, was wir schon längst hätten tun sollen. Wir müssen sämtliche Streitkräfte zusammenziehen und gegen sie marschieren. Wir müssen auch noch den letzten weißen Mann töten, alle ihre Verbündeten und diejenigen, die sie unterstützen, jeden einzelnen von unseren abtrünnigen Tributpflichtigen, welche Cortés geholfen haben. Und wir müssen es jetzt tun, ehe er so stark ist, daß er genau dies mit uns macht.«
Matt sagte Cuitláhuac: »Welche Streitkräfte meint Ihr, sollen wir zusammenziehen, Tlácotzin? Es gibt in all den Truppen des Dreibunds kaum einen einzigen Krieger, der Kraft genug in beiden Armen hätte, seine eigene Klinge hochzuheben.«
»Verzeiht mir, Hoher Gebieter, aber es gibt noch mehr zu berichten«, sagte die Quimíchi. »Cortés hat auch viele seiner Männer an die Küste geschickt, wo sie und ihre Totonáca mehrere von den dort festgemachten Schiffen auseinandergenommen haben. Unter unvorstellbarer Mühe und Plackerei haben sie all diese vielen und schweren Stücke Holz und Metall den ganzen schwierigen Weg von der Küste über die Berge bis nach Tex-cála geschafft. Dort sind Cortés' Bootsbauer im Augenblick dabei, kleine Schiffe daraus zu bauen. Genauso, wie sie es hier zum Vergnügen des verstorbenen Motecuzóma getan haben, Ihr werdet Euch erinnern. Nur jetzt bauen sie viele davon.«
»Auf dem trockenen Land?« rief Cuitláhuac ungläubig. »In ganz Texcála gibt es kein Gewässer, das tiefer wäre, als daß mehr als ein Acáli darauf fahren könnte. Das klingt doch wahnsinnig.«
Zurückhaltend zuckte die Quimíchi mit den Achseln. »Cortés mag durch die Demütigung, welche er kürzlich hier erfahren hat, wahnsinnig geworden sein. Doch ich bitte ergebenst zu bedenken, Verehrter Sprecher, daß ich wahrheitsgetreu berichte, was ich mit eigenen Augen gesehen habe, und ich bin nicht wahnsinnig. Oder vielmehr: war es nicht, bis ich fand, was sich dort tue, sei so unheilverkündend, daß ich mein Leben aufs Spiel setzte, hierherzukommen und Euch zu unterrichten.«
Cuitláhuac lächelte. »Ob wahnsinnig oder nicht, es war die Tat eines tapferen und getreuen Mexícatl, und ich bin dankbar dafür. Du wirst reich belohnt werden – und dann noch reicheren Lohn erhalten: Meine Erlaubnis nämlich, diese verpestete Stadt zu verlassen, so schnell dich deine Füße tragen.«
Auf diese Weise also erfuhren wir von Cortés' Tun und zumindest einiges über seine Absichten. Ich habe viele – die damals nicht hier waren – sich kritisch über unsere scheinbare Gleichgültigkeit und Stumpfheit äußern hören oder über unsere Dummheit oder darüber, daß wir uns trügerisch in Sicherheit wiegten, weil wir in der Isolation blieben und nichts unternahmen, um Cortés daran zu hindern, seine Streitkräfte um sich zu sammeln. Doch der Grund, warum wir nichts taten, ist der, daß wir nichts tun konnten. Von Tzumpánco im Norden bis nach Xochimilco im Süden, von Tlácopan im Westen bis Texcóco im Osten war jeder Mann und jede Frau, welche nicht half, die Erkrankten zu pflegen, entweder selbst krank, lag im Sterben oder war bereits tot. In unserer Schwäche blieb uns nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu hoffen, daß wir uns wenigstens einigermaßen wieder erholt haben würden, ehe Cortés zurückkehrte. Darüber gaben wir uns keinerlei Illusionen hin; wir wußten, daß er wiederkommen würde. Und es war in diesem traurigen Sommer des Abwartens, daß Cuitláhuac in meiner Gegenwart und der seines Vetters Cuautémoc folgende Bemerkung machte:
»Ich sähe es lieber, daß der Schatz unseres Volkes für alle Ewigkeit auf dem Boden des Texcóco-Sees liegt – oder immer tiefer hinabsinkt in die schwarzen Tiefen der Mictlan –, als daß die weißen Männer ihn jemals wieder in die Hand bekommen.«
Ich bezweifle, daß er später anderen Sinnes wurde, denn dazu blieb ihm kaum Zeit. Ehe die Regenzeit vorüber war, wurde auch er von den Blattern hinweggerafft, spuckte sein ganzes Blut aus und starb. Armer Cuitláhuac, er wurde unser Verehrter Sprecher ohne die geziemenden Krönungsfeierlichkeiten, und als er starb, wurde er auch nicht mit Begräbnisfeierlichkeiten geehrt, welche seinem Rang entsprochen hätten.
Um die Zeit konnte nicht einmal der edelste aller Edelleute in einer Zeremonie mit Trommeln und prächtigem Trauergefolge bestattet werden – nicht einmal der Luxus einer Erdbestattung wurde ihm zuteil. Dafür waren einfach zu viele Tote da, starben jeden Tag zu viele. Es war kein Platz mehr vorhanden, wo sie hätten bestattet werden können, oder Männer, welche das Grab ausgehoben hätten, oder genug Zeit, all die Gräber zu graben, welche nötig gewesen wären. Statt dessen stellte jedes Gemeinwesen irgendein Stück nicht genutzten Landes zur Verfügung, auf welches die Toten geschafft, sang- und klanglos aufeinandergeworfen und zu Asche verbrannt wurden – und selbst diese Massenbestattung war in den feuchten Tagen der Regenzeit nicht ganz einfach. Der Verbrennungsplatz von Tenochtltlan lag auf einem unbewohnten Gelände auf dem Festland hinter dem Hügel von Chapultépec, und zwischen ihm und unserer Insel herrschte der regste Verkehr von Frachtkähnen. An den Rudern saßen alte Männer, denen die Krankheit nichts anhaben konnte, und so ruderten sie immer hin und her, den ganzen Tag lang, einen Tag wie den anderen.
Cuitlahuacs Leiche war nur eine von den Hunderten, welche an dem Tag, da er starb, hinübergeschafft wurden.
Die Blatternkrankheit war der Bezwinger von uns Mexíca und einigen anderen Völkern. Noch andere Völker wurden geschlagen oder werden noch heute von Krankheiten heimgesucht, welche zuvor in diesen Landen unbekannt waren; und wenn man an manche denkt, könnten wir Mexíca geradezu dankbar sein, daß wir nur von den Blattern befallen wurden.
Da gibt es jene Krankheit, welche ihr die Beulenpest nennt und bei der dem Opfer am Hals, im Schritt und unter den Achseln schmerzende schwarze Beulen wachsen, so daß er ständig den Kopf nach hinten reckt und seine Gliedmaßen verrenkt, als ob er sie am liebsten von seinem Körper abreißen würde, um den Schmerz endlich loszuwerden. Dabei sind alle seine Ausscheidungen – sein Speichel, sein Urin und seine Exkremente, aber auch sein Schweiß und sogar sein Atem – von einem dermaßen pestilenzialischen Gestank, daß weder abgehärtete Ärzte noch liebevolle Verwandte es in der Nähe des Opfers aushalten, bis endlich die Beulen aufbrechen, eine widerwärtige schwarze Flüssigkeit herausspritzt und der Leidende gnädig erlöst ist.
Da ist jene Krankheit, welche ihr die Cholera nennt, deren Opfer in jedem Muskel des Körpers von Krämpfen befallen werden, entweder willkürlich einer allein oder alle auf einmal. Da kann es vorkommen, daß jemand Arme und Beine angstvoll verrenkt, um sie gleich darauf von sich zu strecken, als wolle er sich selbst zerreißen, und sein Körper sich dann zu einem qualvollen Knoten verkrampft. Zusätzlich wird er noch von einem ständigen Durst gequält. Wiewohl er Mengen von Wasser in sich hinein trinkt, erbricht er es sogleich wieder und kann weder seine Blase, noch seinen Darm beherrschen. Da er keinerlei Flüssigkeit bei sich behält, sieht er zuletzt, wenn er stirbt, aus wie eine alte verschrumpelte Bohnenschote.
Da gibt es noch andere Krankheiten, welche ihr Masern und Warzenpocken nennt, die zwar nicht so qualvoll, aber gleich tödlich verlaufen. Die einzigen sichtbaren Symptome sind ein juckender Ausschlag im Gesicht und am Körper, doch ohne daß man es sieht, dringen diese Krankheiten ins Hirn ein, so daß das Opfer zuerst in Bewußtlosigkeit fällt und dann stirbt.
Ich berichte euch nichts, was ihr nicht bereits wüßtet, ehrwürdige Patres, aber habt ihr jemals darüber nachgedacht? Die grauenhaften Krankheiten, welche eure Landsleute uns brachten, breiteten sich häufig schneller vor ihnen aus, als sie selbst marschieren konnten. Einige der Menschen, welche sie unterwerfen wollten, wurden unterworfen und waren tot, ehe sie überhaupt wußten, daß sie unterworfen werden sollten. Diese Menschen starben, ehe sie jemals gegen ihrer Eroberer kämpfen oder sich ihnen unterwerfen konnten, ja, ohne die Menschen, welche ihnen den Tod brachten, jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Es ist durchaus möglich, daß es in abgelegenen Gegenden dieser Lande noch Menschen gibt, welche ein ganz zurückgezogenes Leben führen – Stämme wie die Rarámuri etwa oder die Zyú Huave –, die noch nicht einmal ahnen, daß es so etwas wie weiße Menschen überhaupt gibt. Gleichwohl ist es denkbar, daß diese Menschen elendiglich an den Blattern oder der Beulenpest zugrunde gehen und sterben, ohne daß sie wissen, daß sie erschlagen werden, oder warum oder von wem.
Ihr habt uns die christliche Religion gebracht, und ihr versichert uns, daß der Herrgott uns nach unserem Tode mit dem Himmel belohnt, doch, wenn wir Ihn nicht anerkennen, wir zur Hölle verdammt sind, wenn wir sterben. Warum hat der Herrgott dann auch diese Heimsuchungen geschickt, welche töten und so viele Unschuldige zur Hölle verdammen, ehe sie Seine Missionare kennenlernen und von Seiner Religion hören? Die Christen werden ständig aufgefordert, den Herrgott und alle Seine Werke zu loben und zu preisen, wozu schließlich auch das Werk gehört, welches Er hier vollbracht hat. Wenn ihr, ehrwürdige Patres, uns nur erklären könntet, warum der Herrgott beschloß, Seine sanfte neue Religion im Gefolge dieser grausam-mörderischen neuen Krankheiten zu schicken, könnten wir, die wir sie überlebt haben, freudiger in die Lobgesänge auf Seine unendliche Weisheit und Güte einstimmen und Sein Mitleid, Seine Gnade und Seine väterliche Liebe preisen, die Er für Seine Kinder überall auf Erden hegt.
Durch einstimmigen Beschluß wurde vom Staatsrat Cuautémoc zum nächsten Uey-Tlatoáni der Mexíca gewählt. Es ist reizvoll, sich zu überlegen, wie anders unsere Geschichte und unser Schicksal verlaufen sein würden, wäre Cuautémoc vor achtzehn Jahren beim Tod seines Vaters Ahuítzotl Verehrter Sprecher geworden, wie es ihm eigentlich zugestanden hätte. Reizvoll, das zu überlegen, aber selbstverständlich fruchtlos. »Wenn« ist ein kleines Wort in unserer Sprache – tla – wie in eurer auch, doch ich bin nachgerade zu der Überzeugung gelangt, daß es das belastetste Wort aller Wörter überhaupt ist.
Der Tribut, welchen die Blattern forderten, senkte sich, als die Hitze des Sommers und der Regen nachließen, und zuletzt, als die ersten Winterfröste einsetzten, entließ die Krankheit das Seengebiet aus ihrem Würgegriff, ließ jedoch den Dreibund in jedem Sinne des Wortes geschwächt zurück. Alle Menschen waren zutiefst niedergeschlagen; wir grämten uns um die unzähligen Toten; wir bedauerten diejenigen, welche – für den Rest ihres Lebens grausam entstellt – überlebt hatten; wir hatten keine Kraft nach dieser schrecklichen langen Heimsuchung; wir waren jeder Einzelne und insgesamt völlig entkräftet. Unsere Bevölkerung war etwa um die Hälfte geschrumpft; zurückgeblieben waren hauptsächlich die Alten und ohnehin Siechen. Da diejenigen, welche zugrundegegangen waren, vornehmlich die jüngeren Männer gewesen waren, von den Frauen und Kindern gar nicht zu reden, waren unsere Heere um weit mehr als die Hälfte verringert. Kein vernünftiger Befehlshaber hätte ihnen befohlen, die sich zusammenziehenden Fremden anzugreifen, und selbst um ihren Verteidigungsnutzen war es zweifelhaft bestellt.
In diesem Augenblick, da der Dreibund schwächer war als jemals zuvor, zog Cortés wieder gegen uns zu Felde. Er rühmte sich nicht mehr des großen Vorteils der überlegenen Waffen, denn er verfügte nur mehr über weniger denn vierhundert weiße Soldaten, und wie viele Hakenbüchsen und Armbrüste diese noch mitführten, weiß ich nicht. Sämtliche Kanonen, welche er in der Traurigen Nacht zurückgelassen hatte – vier auf dem Dach von Axayácatls Palast und die rund dreißig, welche auf dem Festland aufgestellt worden waren –, hatten wir in den See geworfen. Aber er gebot immer noch über zwanzig Pferde und eine Anzahl von Jagdhunden sowie über alle schon früher oder erst in letzter Zeit gewonnenen eingeborenen Krieger – die Texcaltéca, die Totonáca und andere unbedeutendere Stämme sowie die Acólhua, welche immer noch Prinz Schwarz Blume folgten. Alles in allem verfügte Cortés wohl über eine Streitmacht von hunderttausend Mann. Wir vom Dreibund hingegen konnten in all den Städten und Landen – selbst wenn man weit abgelegene Gebiete wie Tolócan und Quaunáhuac dazuzählte, welche nicht eigentlich zum Bund gehörten, uns aber dennoch unterstützten – noch nicht einmal den dritten Teil an kampffähigen Männern auf die Beine stellen.
Als daher Cortés' lange Marschsäulen von Texcála auf die nächstgelegene Hauptstadt des Dreibunds – Texcóco – zumarschierten, nahmen sie sie. Ich könnte lange über die verzweifelten Verteidigungsbemühungen der geschwächten Stadt berichten, von den Verlusten an Gefallenen, welche die Verteidiger zufügten und erlitten, und von der Taktik, mit welcher sie schließlich zuletzt geschlagen wurden … doch wozu? Man braucht eigentlich nur noch zu sagen, daß sie in die Hand von Räubern fiel. Und zu diesen Räubern gehörten auch Prinz Schwarz Blumes Acólhua, welche gegen ihre Acólhua-Brüder kämpften, die ihrem neuen Verehrten Sprecher Cohuanácoch – oder richtiger gesagt, wohl ihrer Stadt Texcóco – treu ergeben waren. Und so kam es, daß in dieser Schlacht so mancher Acólhuatl die Klinge mit einem anderen Acólhuatl kreuzte, welcher sein leiblicher Bruder war.
Zumindest wurden Texcócos Krieger nicht alle beim Kampf um die Stadt getötet, und vielleicht zweitausend konnten entkommen, ehe sie dort in die Falle gerieten. Cortés' Truppen hatten die Stadt von der Landseite her angegriffen, und so gelang es den Verteidigern, als sie dem Ansturm nicht mehr standhalten konnten, sich langsam bis an den See zurückzuziehen. Dort nahmen sie jedes Fischer-, Vogelsteller-, Passagier- und Fracht-Acáli und auch alle eleganten Acáltin des Hofes und ruderten hinaus auf den See. Ihre Gegner, denen kein einziges Fahrzeug geblieben war, um sie zu verfolgen, konnten nur einen Pfeilhagel nach dem anderen zu ihnen hinüberschicken, doch richteten die Pfeile nur geringen Schaden an. So ruderten die Acólhua-Krieger über den See und schlossen sich unseren Streitkräften in Tenochtítlan an, wo wegen der vielen Toten in der letzten Zeit reichlich Platz war, sie alle unterzubringen.
Cortés wird aus seinen Unterhaltungen mit Motecuzóma wenn nicht aus irgendwelchen anderen Quellen gewußt haben, daß Texcóco nach Tenochtítlan die stärkste Bastion des Dreibunds war. So war er, nachdem er Texcóco so mühelos erobert hatte, zuversichtlich, daß er alle unsere anderen und kleineren Orte am See noch müheloser in die Hand bekommen könnte. Deshalb setzte er nicht sein gesamtes Heer auf diese Aufgabe an und befehligte sie auch nicht persönlich. Zur größten Verwirrung unserer Spione schickte er eine volle Hälfte seines Heeres zurück nach Texcála. Die andere Hälfte teilte er in kleinere Truppenteile auf, welche von seinen Unterbefehlshabern befehligt wurden: von Alvaradao, Narvaéz, Montejo und Guzmán. Einige marschierten von Texcóco aus nach Norden, andere nach Süden, um den ganzen See herum, wobei sie unterwegs unabhängig voneinander oder gemeinsam die verschiedenen kleinen Gemeinwesen angriffen. Wiewohl unser Verehrter Sprecher Cuautémoc jene Flotte von Acáltin einsetzte, welche die Acolhua auf ihrer Flucht mitgebracht hatten, um diese selben Krieger und unsere eigenen Mexíca den belagerten Städten zu Hilfe zu schicken, waren der Kämpfe so viele und vollzogen sich diese auch noch auf so weit auseinanderliegenden Schauplätzen, daß er einfach nicht genug Hilfstruppen schicken konnte, um am Ausgang etwas zu ändern. Jeden Ort, welchen die von den Spaniern geführten Truppen angriffen, nahmen sie ein. Das beste, was unsere Männer tun konnten, war, aus diesen Städten an heimischen Kriegern zu uns zu bringen, was noch übriggeblieben war, um unsere eigenen Streitkräfte und unsere eigene Verteidigung zu verstärken, wenn wir an der Reihe sein würden.
Dem Vernehmen nach leitete Cortés durch Melder die allgemeine Strategie seiner verschiedenen Offiziere und ihrer Truppenteile, doch er – und Malintzin – blieben in der luxuriösen Residenz des Palasts von Texcóco, in welchem ich selbst einst gelebt hatte, und behielt auch den glücklosen Verehrten Sprecher Cohuanácoch dort – als Zwangsgastgeber oder Gast oder Gefangenen. Denn ich sollte erwähnen, daß Kronprinz Schwarz Blume, welcher alt dabei geworden war, darauf zu warten, Uey-Tlatoáni der Acólhua zu werden, diesen Titel und diesen erhabenen Rang nie erlangte.
Selbst nach der Einnahme der Hauptstadt der Acólhua, an welcher Schwarz Blumes Truppen keinen geringen Anteil hatten, bestimmte Cortés, daß der harmlose und nicht umstrittene Cohuanácoch weiterhin auf dem Thron blieb. Cortés wußte, daß alle Acólhua mit Ausnahme derjenigen Krieger, welche so lange Zeit hindurch Schwarz Blume gefolgt waren, den einst geachteten Kronprinzen als Verräter an seinem eigenen Volk und als Werkzeug der weißen Männer haßten. Cortés konnte nicht einen künftigen Aufstand des gesamten Volkes riskieren dadurch, daß er dem Verräter einen Thron gab, um dessentwillen er zum Verräter geworden war. Selbst als Schwarz Blume sich soweit erniedrigte, sich taufen zu lassen, Cortés zu seinem Taufpaten zu wählen und in allzu durchsichtiger Unterwürfigkeit den christlichen Namen Fernando Cortés Ixtlil-Xochitl annahm, konnte das seinen Paten nur so weit in seiner Entschlossenheit wankend machen, daß er ihn zum Oberherrscher dreier unbedeutender Provinzen des Acólhua-Landes ernannte. Woraufhin Don Fernando Schwarz Blume ein letztes Aufflackern seines einst herrischen Wesens zeigte und zornig aufbegehrte:
»Ihr gebt mir, was ich bereits besitze? Was meinen Väter immer gehört hat?«
Aber er brauchte die ihm nicht gewährte Genugtuung und Erniedrigung nicht lange zu ertragen. Er stürmte aus Texcóco hinaus, um die Herrschaft in einer dieser hinterwäldlerischen Provinzen zu übernehmen und traf dort gerade in dem Augenblick ein, da die Blatternkrankheit gleichfalls dort eintraf, und war nach ein oder zwei Monden tot.
Bald erfuhren wir, daß der Capitán-General der sengenden und plündernden Heere nicht nur in Texcóco zurückgeblieben war, um sich im Luxus auszuruhen. Unsere Quimíchime kamen nach Tenochtítlan und berichteten nicht mehr Verwirrendes, sondern, daß die Hälfte von Cortés' Streitmacht sich auf dem Rückmarsch nach Texóco befinde und dabei auf dem Rücken oder auf Rollen die vielen und unterschiedlichen Rümpfe und Masten und anderen Bestandteile der dreizehn »Schiffe« heranschaffte, welche auf dem trockenen Boden von Texcála gebaut worden waren. Cortés war in Texcóco geblieben, um zur Stelle zu sein, als sie eintrafen und die Zusammensetzung und das Zuwasserlassen dieser Wasserfahrzeuge zu überwachen.
Selbstverständlich handelte es sich nicht um so schreckenerregende Fahrzeuge wie die seegängigen Schiffe, aus denen sie gebaut worden waren. Sie ähnelten mehr unseren dem Frachtverkehr dienenden Flachbooten, nur, daß die Bordwände in die Höhe gezogen und die Boote mit flügelgleichen Segeln ausgestattet waren, die es ihnen, wie wir zu unserem Kummer bald feststellen sollten, gestatteten, schneller zu fahren als unsere vielruderigen größten Acáltin und weit wendiger zu sein als unsere kleinsten. Außer den Seeleuten, welche sie bedienten, war jedes noch mit zwanzig spanischen Soldaten bemannt, welche auf Brettern hinter den hohen Bordwänden standen. So hatten sie den bedeutsamen Vorteil, bei jedem Wassergefecht hoch über unseren niedrigen Kanus aufzuragen, ja, so hoch, daß sie ihre Waffen sogar über unsere Dammstraßen hinweg abfeuern konnten.
An dem Tag, da sie ihre Probefahrt von Texcóco aus in den See unternahmen, stand Cortés selbst an Bord des Anführerschiffes, welches La Capitana hieß. Eine Anzahl unserer größten Kriegs-Kanus verließ Tenochtítlan durch die Lücken in dem großen Damm, um sie draußen auf dem freien See zum Kampf herauszufordern. In jedem Kanu saßen sechzig Krieger, jeder mit einem Bogen und vielen Pfeilen bewaffnet, einem Atlatl und mehreren Wurfspießen. Doch bei dem recht bewegten Wasser bildeten die schwereren Fahrzeuge der weißen Männer eine viel stabilere Plattform, ihre Geschosse davon abzufeuern, so daß sie mit ihren Hakenbüchsen und Armbrüsten eine größere Zielgenauigkeit erreichten als unsere Männer mit den freihändig gehaltenen Bogen. Außerdem brauchten ihre Soldaten nur ihren Kopf, ihre Arme und ihre Waffen herauszustecken und blieben unsere Pfeile in den hohen Bordwänden stecken oder flogen, ohne Schaden anzurichten, über sie hinweg. Unsere Männer in den niedrigen, offenen Kanus hingegen waren ihren Pfeilen und Metallkugeln schutzlos ausgesetzt, und viele von ihnen fielen oder wurden verwundet. So versuchten die Steuermänner der Kanus verzweifelt, sich in sicherer Entfernung von den Booten der Weißen zu halten, zu weit, als daß unsere Männer ihre Wurfspieße hätten schleudern können. Es dauerte nicht lange, und alle unsere Kriegskanus kehrten schmählich zurück, und die feindlichen Fahrzeuge nahmen überheblich Abstand davon, sie zu verfolgen. Eine Zeitlang tanzten sie fast fröhlich auf dem Wasser, kreuzten und fuhren allerlei Manöver, als ob sie uns zeigen wollten, daß der See ihnen gehöre, ehe sie dann nach Texcóco zurückkehrten. Am nächsten Tag waren sie jedoch wieder draußen, jeden Tag von nun an, und sie taten mehr als nur tanzen.
Inzwischen hatten Cortés' Unterbefehlshaber und ihre verschiedenen Truppen den ganzen Seenbezirk umrundet und jedes Gemeinwesen zerstört oder besetzt, das auf ihrem Weg lag, bis sie sich um diese Zeit zu zwei stattlichen Heeresgruppen vereint hatten, welche auf den vorspringenden Landkeilen nördlich und südlich unserer Insel Stellung bezogen. Sie mußten nur noch die größeren und zahlenmäßig stärkeren Städte am Westufer des Sees zerstören oder unterwerfen; dann hatten sie Tenochtitlan vollständig umzingelt.
Dabei ließen sie sich viel Zeit. Während die andere Hälfte von Cortés Heer sich in Texcóco ausruhte von ihrer unglaublichen Arbeit, die auseinandergenommenen Kriegsboote Überland zu transportieren, kreuzten diese Boote selbst auf der gesamten Fläche des Texcóco-Sees östlich des Großen Damms, so daß kein anderes Kanu sich mehr hinauswagen konnte. Sie rammten oder brachten die Kanus zum Kentern, oder sie töteten die Insassen eines jeden Kanus, welches diese Gewässer befuhr. Und das waren keineswegs Kriegskanus, sondern vielmehr die Acáltin der Fischer und Vogelsteller sowie Frachtkähne, welche friedlich Waren von einem Ort zum anderen brachten. Sehr bald gehörte den geflügelten Kriegsboten dieser Teil des Sees tatsächlich. Kein Fischer wagte es mehr hinauszufahren, nicht einmal, um die Netze für seine eigene Familie auszulegen. Nur auf unserem Teil des Sees, innerhalb des Großen Damms, konnte der normale Verkehr auf dem Wasser weitergehen, doch auch das sollte nicht lange so bleiben.
Endlich holte Cortés sein ausgeruhtes Reserveheer aus Texcóco heraus und teilte es in zwei gleiche Teile, die unabhängig voneinander um den See marschierten, um sich den anderen, nördlich und südlich von uns postierten Truppen anzuschließen. Und während das geschah, schlugen die Kriegsboote Breschen in den Großen Damm. Ihre Soldaten brauchten nur die gesamte Länge des Dammes mit ihren Hakenbüchsen und Armbrüsten zu bestreichen und sämtliche unbewaffneten Dammarbeiter zu töten oder vertreiben, welche die Schutzschleusen gegen die Überflutung hätten schließen können, um sie daran zu hindern. Dann glitten die Boote durch diese Durchgänge und befanden sich in Mexíca-Gewässern. Wiewohl Cuautémoc sofort Krieger ausschickte, die sich Schulter an Schulter die nördliche und die südliche Dammstraße entlang aufstellten, konnten sie das Eindringen der Boote, welche sofort auf die Kanudurchfahrten zuhielten, nicht mehr verhindern. Während einige von den weißen Soldaten die Verteidiger mit einem Hagel von Metallkugeln und Armbrustpfeilen vertrieben, lehnten sich andere Soldaten über die Bordwand, um die Holzbrücken zu lockern und ins Wasser stürzen zu lassen, welche diese Durchgänge überspannten. Auf diese Weise kamen die Kriegsboote durch die letzten Hindernisse hindurch, und taten jetzt das gleiche, was sie schon draußen auf dem See getan hatten: sie unterbanden auch hier jeglichen Kanuverkehr von Kriegskanus, Fracht-Acáltin und allem anderen.
»Die weißen Männer beherrschen sämtliche Dammstraßen und Wasserwege«, erklärte die Weibliche Schlange. »Wenn sie die anderen Städte auf dem Festland belagern, können wir diesen keine Männer mehr zur Hilfe schicken. Was jedoch noch schlimmer ist, wir können überhaupt nichts mehr vom Festland bekommen. Weder zusätzliche Streitkräfte noch zusätzliche Waffen. Und keine Nahrungsmittel.«
»In den Lagerhäusern auf der Insel ist genug vorhanden, daß wir es eine Zeitlang aushallen können«, sagte Cuautémoc, um dann noch bitter hinzuzufügen: »Wir können den Blattern danken, daß wir längst nicht mehr so viele Menschen ernähren müssen, wie das sonst der Fall gewesen wäre. Und außerdem haben wir ja noch das, was wir von den Chinampa ernten können.«
Die Weibliche Schlange sagte: »In den Lagerhäusern liegt nur getrockneter Mais, und die Chinampa sind nur mit besonderen Leckerbissen bepflanzt: mit Tomaten, Pfefferschoten, Koriander und dergleichen. Das gibt schon ein merkwürdiges Essen ab – Armeleutetortillas und Brei, garniert mit eleganten Zutaten.«
»An dieses merkwürdige Essen werdet Ihr Euch noch liebevoll erinnern«, sagte Cuautémoc, »wenn Ihr statt dessen spanischen Stahl im Bauch habt.«
Jetzt, wo seine Kriegsboote unsere Krieger nicht mehr von der Insel herunterließen, nahmen Cortés' Landstreitkräfte ihren Marsch um die Westkrümmung des Sees wieder auf, und eine nach der anderen wurden die Städte dort gezwungen, sich zu ergeben. Als erste fiel Tepeyáca, unser nächster Nachbar auf der nördlichen Landzunge, dann die auf dem bergigen südlichen Gegenstück gelegenen Städte Ixtapalápan und Mexicaltzinco. Sodann Tenayúca im Nordwesten und Azcapotzálco und schließlich Coyohuácan im Südwesten. Der Ring schloß sich, und so brauchten wir in Tenochtítlan keine Quimíchime mehr, uns zu berichten, was geschah. Jedesmal, wenn einer unserer Verbündeten auf dem Festland fiel oder sich ergab, flohen im Schütze der Nacht zahlreiche Krieger von dort auf unsere Insel; sie kamen entweder in Acaltin und schafften es, den patrouillierenden Kriegsbooten zu entgehen, oder krochen über die Dammstraßen und durchschwammen die Durchbrüche, oder legten überhaupt die ganze Strecke schwimmend zurück.
An manchen Tagen leitete Cortés hoch zu Roß den unaufhaltbaren Vormarsch seiner Landstreitkräfte. An anderen Tagen stand er an Deck seiner Capitana und lenkte durch Signalflaggen die Bewegungen seiner anderen Fahrzeuge sowie das Abschießen ihrer Waffen, die alle Krieger töteten oder vertrieben, welche sich am Festlandufer des Sees oder auf den unterbrochenen Dammstraßen zu unserer Insel zeigten. Um diese gefährlichen Boote abzuwehren, dachten wir uns auf Tenochtítlan die einzig wirksame Verteidigungswaffe gegen sie aus. Jedes brauchbare Stück Holz auf der Insel wurde an einem Ende zugespitzt; Taucher trieben sie unter Wasser schräg nach außen gerichtet in den Boden, und zwar rund um die gesamte Insel und eben unter der Wasseroberfläche. Würden wir das nicht getan haben, hätten Cortés' Kriegsboote einfach in unsere Kanäle einlaufen können und wären mitten in der Stadt gewesen. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als der Mühe wert, denn eines Tages wollte eines der Boote offensichtlich eines unserer Chinampa verwüsten, auf denen wir Gemüse zogen, kam jedenfalls nahe genug heran und pfählte sich selbst auf einem oder zweien dieser zugespitzten Pfähle. Unsere Krieger deckten das Boot augenblicklich mit einem Pfeilhagel ein und haben vermutlich einige von der Besatzung getötet, ehe es ihnen gelang, das Boot wieder flottzumachen und sich aufs Festland zurückzuziehen, um es zu reparieren. Von da an hielten die spanischen Seeleute, die ja nicht wissen konnten, wie weit vom Ufer entfernt wir unsere spitzen Pfähle eingerammt hatten, sich immer in gehöriger Entfernung.
Dann fanden Cortés' Landtruppen die Kanonen, welche wir in der Traurigen Nacht in den See geworfen hatten – so schwere Dinge konnten ja nicht weit geworfen werden – und begannen, sie zu bergen. Leider hatte das Wasser den verfluchten Dingern nichts anhaben können, wie wir gehofft hatten. Sie brauchten nur vom Schlick gereinigt, getrocknet und neu geladen zu werden, und sie waren wieder einsatzbereit. Nach der Bergung ließ Cortes die ersten dreizehn auf seinen Kriegsbooten montieren, und diese Boote bezogen Stellungen vor den Städten, um welche seine Truppen noch kämpften, und trugen Blitz und Donner und einen Regen von männertötenden Geschossen hinüber. Unfähig, sich noch länger zu verteidigen, nachdem sie gleichzeitig von vorn und von den Seiten bestürmt wurden, mußten auch diese Städte sich ergeben, und als die letzte – Tlácopan, Hauptstadt der Tecpanéca, die drittstärkste Bastion des Dreibunds – fiel, trafen die beiden Arme von Cortés' Landstreitkräften aufeinander und schloß sich der Ring endgültig.
Jetzt wurden die Kriegsboote nicht mehr gebraucht die Truppen an Land zu unterstützen, doch gleich am nächsten Tag fuhren sie wieder hinaus auf den See und schossen ihre Kanonen ab. Wir auf der Insel konnten sie beobachten, und eine Zeitlang begriffen wir nicht was sie eigentlich vorhatten, denn sie zielten weder auf uns noch auf irgendwelche erkennbaren Ziele auf dem Festland. Dann jedoch, als wir den zerstörerischen Aufprall der Kanonenkugeln hörten und sahen, begriffen wir. Die schweren Geschosse zertrümmerten erst den alten Aquädukt von Chapultépec und danach den von Ahuítzotl erbauten von Coyohuácan.
Die Weibliche Schlange sagte: »Die Aquädukte waren unsere letzte Verbindung mit dem Festland. Jetzt treiben wir hilflos wie ein Boot ohne Ruder auf stürmischer See voll böser Ungeheuer. Wir sind umzingelt ungeschützt und sind ihnen hilflos preisgegeben. Jeder andere Stamm in der Nähe, welcher sich nicht freiwillig den weißen Männern angeschlossen hat, ist von ihnen überrannt worden und tut jetzt, was sie verlangen. Bis auf die geflüchteten Krieger an unserer Seite trotzt niemand außer uns – den Mexíca allein – Der ganzen Einen Welt.«
»Wie es sich geziemt«, erklärte Cuautémoc ruhig. »Sollte unser Tonáli es wollen, daß wir zuletzt nicht den Sieg davontragen, soll Die ganze Eine Welt sich auf ewige Zeiten daran erinnern – daß die Mexíca die letzten waren, welche besiegt wurden.«
»Aber Verehrter Sprecher«, gab die Weibliche Schlange zu bedenken, »die Aquädukte waren auch unsere letzte Verbindung mit dem Leben. Möglich, daß wir eine Zeitlang ohne frische Nahrungsmittel weiterkämpfen können, aber wie lange gelingt uns das ohne Trinkwasser?«
»Tlacótzin«, sagte Cuautémoc sanft wie ein Lehrer, welcher sich an einen zurückgebliebenen Schüler wendet »es hat eine Zeit gegeben – viele Schock Jahre ist es her –, da waren die Mexíca auch ganz auf sich allein gestellt, hier, genau an dieser Stelle, ungewünscht und verachtet von allen anderen Völkern. Sie hatten nur Unkraut zu essen und nur das brackige Wasser des Sees zu trinken. Unter den elenden und hoffnungslosen Umständen damals hätten sie sich den sie umgebenden Feinden beugen können; sie wären in alle Winde zerstreut worden, aufgesogen und von der Geschichte vergessen. Aber sie taten es nicht. Sie blieben aufrecht stehen, und sie blieben, und dann bauten sie all dies hier auf!« Mit weitausholender Geste umfaßte er die ganze Pracht Tenochtítlans. »Wie immer das Ende aussehen mag, jetzt kann die Geschichte sie nicht mehr vergessen. Die Mexíca standen aufrecht da. Die Mexíca stehen aufrecht da. Die Mexíca werden aufrecht stehen, bis sie nicht mehr stehen können.«
Nach den Aquädukten nahmen die Kanonen sich unsere Stadt zum Ziel – diejenigen, welche wieder auf dem Festland aufgestellt worden waren, und diejenigen, welche auf den Kriegsbooten montiert waren und ständig um die Insel herumfuhren. Die Eisenkugeln, welche aus Chapultépec herübergeflogen kamen, waren diejenigen, welche den meisten Schaden anrichteten und am meisten Angst machten, denn die weißen Männer hatten einige der Kanonen ganz bis oben auf den Kamm des Hügels hinaufgeschafft und konnten die Kugeln von dort aus in hohem Bogen fliegen lassen, daß sie nahezu senkrecht auf Tenochtítlan herniederfielen, gleich großen eisernen Regentropfen. Eine der allerersten, welche auf die Stadt herniedergingen, das möchte ich noch erwähnen, zerstörte den Tempel des Huitzilopóchtli oben auf der Großen Pyramide, woraufhin die Priester »Wehe!« und »Unheilverkündendes Zeichen!« schrien und anfingen, Zeremonien abzuhalten, in welchen sie den Kriegsgott in unterwürfigen Gebeten um Verzeihung baten und denselben Kriegsgott in verzweifelten Gebeten gleichzeitig anflehten, sich für uns ins Mittel zu legen.
Wiewohl die Kanonen diesen ersten Donner über ein paar Tage durchhielten, schossen sie jedoch nur in großen Abständen, und das wirkte recht ziel- und planlos verglichen mit dem, was die Kanonen, wie ich wohl wußte, anrichten kannten. Ich glaube, Cortés hoffte, wir würden einsehen, daß wir von jeder Hilfe abgeschnitten waren, wehrlos und zur Niederlage verurteilt, auf daß wir uns kampflos ergäben, wie er es unter diesen Bedingungen von jedem vernünftigen Volk erwarten konnte. Ich glaube nicht, daß er irgendwelches Mitleid oder Bedenken hatte, uns zu vernichten; ihm war nur daran gelegen, die Stadt heil in die Hand zu bekommen, damit er seinem König Carlos die Kolonie Neuspanien mitsamt einer Hauptstadt zu Füßen legen konnte, welche einer jeden Stadt im alten Spanien überlegen war.
Doch Cortés ist und war ein ungeduldiger Mann. Er verschwendete nicht viele Tage darauf zu warten, daß wir Vernunft annähmen und uns ergäben. Er ließ seine Kompanieschreiner leichte, tragbare Holzbrücken bauen, die Durchfahrten in allen drei Dammstraßen damit zu überspannen, und ließ in einem Überraschungsangriff schwere Einheiten aus allen drei Richtungen auf einmal auf die Stadt zulaufen. Doch noch waren unsere Krieger nicht durch Hunger geschwächt, und die drei Kolonnen der Spanier und ihrer Verbündeten wurden aufgehalten, als wären sie gegen eine Mauer aus Stein gelaufen, welche die Insel umgab. Viele von ihnen fielen, und der Rest trat den Rückzug an, wenn auch nicht ganz so schnell, wie sie gekommen waren, denn sie mußten viele Verwundete mit zurückschaffen.
Cortés wartete ein paar Tage und versuchte es dann auf dieselbe Weise noch einmal, diesmal freilich mit womöglich noch schlimmerem Ergebnis. Als die Feinde diesmal auf die Insel strömten, schossen unsere Kriegskanus hervor, und die Krieger darin kletterten hinter den ersten Wellen der Angreifer auf die Dammstraßen. Sie ließen die tragbaren Brücken ins Wasser stürzen und schafften es auf diese Weise, einen nicht geringen Teil der Angriffstruppen zusammen mit uns auf der Insel einzuschließen. Diese in der Falle sitzenden Spanier kämpften um das nackte Leben; doch ihre eingeborenen Verbündeten wußten besser, was ihrer harrte, und kämpften, bis sie getötet wurden, statt sich gefangen nehmen zu lassen. In dieser Nacht war die ganze Stadt feierlich von Fackeln, Urnenfeuern, Weihrauchbränden und Altarfeuern erhellt – insbesondere die Große Pyramide war hell erleuchtet –, so daß Cortés und die anderen weißen Männer sehen konnten, was geschah – wenn sie nahe genug herankamen, und falls ihnen überhaupt daran gelegen war, dabei zuzusehen, was wir mit ihren rund vierzig Kameraden machten, die uns lebend in die Hände gefallen waren.
Offensichtlich wurde Cortés Zeuge dieses Massenopfers oder zumindest sah er genug davon, um ihn in eine Raserei der Rache zu treiben. Jetzt wollte er uns alle in der Stadt ausrotten, selbst wenn er dabei einen großen Teil der Stadt, die er so gern unversehrt in die Hand bekommen hätte, in Schutt und Asche legen mußte. Er hörte mit seinen Versuchen einzudringen auf, unterwarf aber die Stadt dafür einem mörderischen Sperrfeuer, bei dem die Kugeln so rasch und regelmäßig abgeschossen wurden, wie das wohl möglich war, ohne daß die Kanonenrohre durch den ständigen Gebrauch anfingen zu glühen und zu schmelzen. Die Geschosse sausten vom Festland zu uns herüber und pfiffen von den uns umkreisenden Booten übers Wasser. Unsere Stadt begann zugrunde zu gehen, und viele von unseren Leuten fanden den Tod. Eine einzige Kanonenkugel konnte ein mächtiges Stück aus einem Gebäude herausreißen, selbst wenn es so fest gebaut war wie die Große Pyramide – und viele von ihnen taten das, bis das einst herrlich glatte Gebäude aussah wie ein Haufen Brotteig, welcher von riesigen Ratten angenagt war. Eine einzige Kanonenkugel konnte die Mauer eines fest gebauten Steinhauses zum Einsturz bringen, und ein Lehmziegelbau sank einfach in Staub und Brocken zusammen.
Dieser Eisenregen zog sich mindestens zwei Monde lang hin, Tag für Tag, und ebbte nur des Nachts ab. Doch selbst in den Nächten noch schickten die Kanoniere in unregelmäßigen Abständen drei oder vier Kugeln zu uns herüber, nur, um dafür zu sorgen, daß wir nicht ruhig schlafen konnten, falls überhaupt, und daß wir keine Gelegenheit hatten, ungestört zu ruhen. Nach einiger Zeit waren die Eisengeschosse der weißen Männer aufgebraucht, und so mußten sie dazu übergehen, statt dessen gerundete Steine zu nehmen. Diese waren in der Wirkung nicht ganz so kräftig, doch dafür waren ihre umherfliegenden Splitter um so verheerender für die Leiber der Menschen.
Doch diejenigen, welche durch sie umkamen, fanden zumindest einen raschen Tod. Uns anderen schien ein langsamerer und qualvoll in die Länge gezogener Tod beschieden. Da die Vorräte in den Lagerhäusern so lange wie möglich halten sollten, gaben die mit der Verteilung beauftragten Männer den trockenen Mais nur in den allerkleinsten Mengen aus, welche uns gerade eben gestatteten, am Leben zu bleiben. Eine Zeitlang konnten wir auch noch die Hunde und das Geflügel auf der Insel verzehren und teilten die Fische, welche von Männern gefangen wurden, die sich des Nachts mit Netzen auf die Dammstraßen oder auf die Chinampa schlichen, um zwischen ihren Wurzeln Angelschnüre hinabzulassen. Doch zuletzt gab es keine Hunde und kein Federvieh mehr und selbst die Fische mieden die Nähe der Insel. Sodann verteilten und aßen wir alle bis auf die absolut ungenießbaren und die allerseltensten und schönsten Geschöpfe im Tierhaus, von denen die Wärter sich nicht trennen konnten. Diese letzten Tiere wurden am Leben erhalten – ja, wurden besser am Leben erhalten als ihre Wärter-, indem man ihnen die Leichen unserer Sklaven vorwarf, die verhungert waren.
Dann gingen wir dazu über, Ratten, Mäuse und Eidechsen zu fangen. Unsere Kinder, die wenigen, welche die Blattern überlebt hatten, entwickelten ein großes Geschick, fast jeden Vogel, welcher töricht genug war, sich auf der Insel niederzulassen, mit Schlingen zu fangen. Noch später schnitten wir die Blumen auf unseren Dachgärten, streiften die Blätter von den Bäumen und kochten sie wie Gemüse. Gegen das Ende suchten wir diese Gärten sogar nach eßbaren Insekten ab und schälten die Rinde von den Bäumen, kauten die Decken aus Kaninchenfell und Lederkleidung und die Kitzhautseiten von Büchern, um an Nahrhaftem aus ihnen herauszuholen, was herauszuholen war. Manche versuchten sogar, ihre Bäuche zu täuschen, indem sie sich einredeten, sie hätten gegessen, nachdem sie sie mit dem Bindekalk von zerstörten Gebäuden gefüllt hatten.
Die Fische blieben nicht aus Angst, gefangen zu werden fort, sondern hielten sich fern, weil das Wasser um die Insel herum faulig geworden war. Wiewohl wir mittlerweile wieder Regenzeit hatten, fiel der Regen nur zeitweise jeden Nachmittag. Wir stellten jeden verfügbaren Topf und jede Schüssel auf, um ihn aufzufangen; des weiteren hängten wir Stoffe auf, um diese auszuwringen, wenn sie sich vollgesogen hatten, doch trotz all unserer Mühen gab es selten mehr als einen kleinen Schluck frisches Regenwasser für jeden ausgetrockneten Mund. Infolgedessen gewöhnten wir uns, nachdem wir unseren anfänglichen Ekel überwunden hatten, daran, das brackige Wasser des Sees zu trinken. Doch da wir inzwischen keine Möglichkeit mehr hatten, die Abfälle und die menschlichen Exkremente zu sammeln und fortzuschaffen, gelangten diese Dinge in die Kanäle und durch sie in den See. Cuautémoc befahl, daß Leichen nur auf der Westseite ins Wasser geworfen werden dürften, da dort die größere Wasserfläche war und dieses Wasser durch die vorherrschenden Ostwinde mehr oder weniger ständig umgewälzt wurde; er hoffte, das Wasser auf dieser Seite weniger zu verseuchen als das andere. Aber die Abfälle und die verwesenden Leichen verseuchten das Wasser auf jeder Seite der Insel immer von neuem. Da wir es immer noch trinken mußten, wenn der Durst uns dazu trieb, seihten wir es vorher durch Tücher und kochten es hinterher ab. Gleichwohl brachte es uns alle Qualen von Durchfällen und Krämpfen. Viele von unseren älteren Leuten und den kleinen Kindern starben nur daran, daß sie dieses faulige Wasser tranken.
Eines Abends, als er nicht mehr länger zusehen konnte, wie sein Volk litt, rief Cuautémoc die gesamte Bevölkerung der Stadt auf Dem Herzen Der Einen Welt zusammen. Die Kanonen schwiegen gerade, und ich glaube, jeder, der noch gehen konnte, war dort. Wir standen um die Löcher dessen herum, was einst das glatte Marmorpflaster des Großen Platzes gewesen war, umgeben von den Trümmern dessen, was einst die gewellte Schlangenmauer gewesen war, und der Verehrte Sprecher sprach zu uns von der Höhe dessen herab, was von der Treppe der Großen Pyramide noch geblieben war.
»Wenn Tenochtítlan noch ein wenig länger ausharren soll, darf es keine Stadt mehr sein, sondern eine Festung, und eine Festung muß von jenen bemannt werden, welche kämpfen können. Ich bin stolz auf die Treue und das Durchhaltevermögen, welche mein ganzes Volk bewiesen hat, doch ist die Zeit gekommen, wo ich euch voller Bedauern bitten muß, eure Treue aufzugeben. Ein Lagerhaus ist bis jetzt noch nicht geöffnet worden, aber nur ein einziges …«
Die versammelte Menge brach weder in Hochrufe aus noch schrien sie irgendwelche Forderungen. Sie murmelten nur, doch zusammen ergab dies Gemurmel einen Laut, wie das hungrige Knurren eines sehr großen Magens.
»Wenn ich dieses Lagerhaus aufmache«, fuhr Cuautémoc fort, »wird der Mais an alle, die kommen, gleichmäßig ausgeteilt werden. Nun kann also vielleicht jeder, der noch in der Stadt geblieben ist, eine letzte karge Mahlzeit erhalten. Oder es sollte vielleicht ausreichen, unseren Kriegern den Hunger etwas besser zu stillen und ihnen Kraft zu geben, bis zum Ende zu kämpfen, wann dieses Ende nun kommt und wie es auch aussehen mag. Ich werde euch nicht befehlen, mein Volk. Ich bitte euch nur, die Wahl zu treffen und euch zu entscheiden.«
Die Menschen sagten überhaupt nichts.
Er fuhr fort: »Ich habe heute abend Brücken über die Durchfahrten in der nördlichen Dammstraße schlagen lassen, man kann also hinübergehen. Argwöhnisch wacht der Feind auf der anderen Seite und zerbricht sich den Kopf darüber, was das zu bedeuten haben mag. Ich habe es getan, damit alle von euch, die fortkönnen und wollen, das auch tun können. Ich habe keine Ahnung, was euch drüben in Tepeyáca erwartet – Essen und Erleichterung oder der Blumentod. Aber ich bitte euch, die ihr nicht mehr kämpfen könnt: ergreift die Gelegenheit, Tenochtítlan zu verlassen. Ihr laßt uns nicht im Stich, es ist auch kein Eingeständnis einer Niederlage, und wenn ihr geht, so ist das keine Schande. Im Gegenteil, ihr setzt unsere Stadt dadurch nur in die Lage, dem Feind noch ein wenig länger zu trotzen. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«
Keiner ging in Eile oder auch nur gern, alle gingen in Tränen und Kummer, doch erkannten sie an, daß Cuautémocs Bitte gerechtfertigt sei, und in dieser einen Nacht zogen alle alten und ganz jungen Menschen aus Tenochtítlan fort, alle Kranken, Verkrüppelten und Bresthaften, die Priester und Tempeldienerinnen, alle, welche im Kampf nicht mehr von Nutzen sein konnten. Sie trugen Bündel unterm Arm oder Lasten an Stirnriemen, nahmen ihre geliebtesten Habseligkeiten mit, welche sie im Fortgehen noch ergreifen konnten, sie zogen aus allen vier Stadtteilen Tenochtítlans gen Norden und trafen sich in der Gegend des Markts von Tlaltelólco, bildeten dort einen Zug und zogen über die Dammstraße. An ihrem Nordende wurden sie nicht mit Donner und Blitz empfangen. Wie ich später erfuhr, war den weißen Männern auf der anderen Seite ihre Ankunft einfach gleichgültig, und für die Texcaltéca, welche diese Stellung besetzt hielten, waren diese wankenden Schutzsuchenden viel zu ausgemergelt, sie bei einer Siegesfeier zu opfern, und die Bewohner von Tepeyáca – wiewohl selbst Gefangene der Besatzungsmächte – hießen sie mit Nahrung und frischem Wasser willkommen und boten ihnen Unterkunft.
Zurück blieben in Tenochtítlan Cuautémoc, die anderen Edelleute seines Hofes und sein Staatsrat, die Frauen und Kinder des Verehrten Sprechers und einiger anderer Edelleute, etliche Heilkundige und Wundärzte sowie sämtliche noch kampffähigen Ritter und Krieger – und ein paar eigensinnige alte Männer, darunter ich, welche vor der Belagerung in so gutem Gesundheitszustand gewesen waren, daß sie bis jetzt noch nicht ernstlich unter den Entbehrungen gelitten hatten und daher nötigenfalls immer noch kämpfen konnten. Außerdem blieben die Kräftigen und Gesunden unter den jungen Frauen zurück, welche gleichfalls noch von Nutzen sein konnten – und eine ältere Frau, die es trotz all meines Drängens ablehnte, ihr Krankenlager zu verlassen, welches sie nun schon seit geraumer Zeit hütete.
»Ich bin weniger eine Last, wenn ich hier liege«, sagte Béu, »als wenn ich auf einem Tragstuhl von anderen getragen werden müßte, die selbst kaum laufen können. Auch ist es schon lange her, daß ich großen Hunger gehabt hätte; ich kann genausogut überhaupt nichts mehr essen. Vielleicht finde ich, wenn ich bleibe, sogar früher Erlösung von meiner schrecklichen langen Krankheit. Außerdem, Záa, hast du selbst auch einmal eine Gelegenheit abgelehnt, dich in Sicherheit zu bringen. Es mag töricht sein, hast du gesagt, aber ich möchte das Ende der Dinge erleben.« Sie lächelte schwach. »Willst du es mir jetzt abschlagen, nach all deinen Torheiten, mit denen ich mich habe abfinden müssen, die eine mit dir zu teilen, welche wahrscheinlich deine letzte sein wird?«
Nach dem plötzlichen Auszug und dem Aussehen derer, die Tenochtítlan verlassen hatten, folgerte Cortés zurecht, daß auch die noch in der Stadt verbliebenen Bewohner beträchtlich geschwächt sein müßten. Infolgedessen trug er am nächsten Tag abermals einen direkten Angriff auf die Stadt vor, wenn auch diesmal nicht ganz so ungestüm wie zuvor. Der Tag begann mit dem schwersten Geschoßhagel, der überhaupt jemals auf uns herniedergegangen war; er muß seine Kanonen bis nahe heran an den Schmelzpunkt abgefeuert haben. Zweifellos hoffte er, daß wir noch lange in Deckung hocken würden, nachdem der verheerende Hagel aufgehört hatte. Aber selbst, als die Kanonen vom Festland her aufhörten zu feuern, ließ er seine Kriegsboote am Nordende der Insel kreuzen und jene Hälfte der Stadt von Geschossen eindecken, während seine Fußsoldaten über die südliche Dammstraße vorstürmten.
Wir hockten nicht in unseren Schutzlöchern. Ja, was sie vorfanden, ließ die ersten Glieder der weißen Männer so unvermittelt in ihrem Lauf innehalten, daß die nachfolgenden recht unordentlich hinter ihnen aufliefen. Denn dort, wo die Eindringlinge auf die Insel gelangen konnten, hatten wir einen der fettesten Männer unter uns – nun, zumindest rundlich im Vergleich zu uns anderen – aufgestellt, und die Spanier sahen ihn dort einfach umherschlendern, zufrieden rülpsen und auf einem Hundeschenkel oder einer Kaninchenkeule oder einem ähnlichen Stück Fleisch herumkauen. Hätten die Soldaten es von nahem gesehen, würden sie erkannt haben, daß das Fleisch schon in einem schrecklich grünen Zustand war, da es seit langer Zeit für eine solche prahlerische Gelegenheit aufgehoben worden war.
Aber sie sahen es nicht von nahem. Der fette Mann verschwand urplötzlich, und ein Haufe von wesentlich magereren Männern erhob sich unversehens aus den zerbrochenen Häusern und den Trümmern ringsum und schleuderten ihre Spieße. Wenn auch viele von den Angreifern in diesem Augenblick zu Boden gingen, preschten einige weiter vor, um sich plötzlich mit Maquáhuime bewaffneten Kriegern gegenüberzusehen; andere wichen zurück und wurden mit einem Pfeilhagel überschüttet. Alle, welche diese überraschend standhafte Verteidigung überlebten, zogen sich noch weiter zurück – bis aufs Festland. Ich bin sicher, sie meldeten das Auftauchen des wohlgenährten und immer noch essenden Mannes – und ich bin sicher, Cortés hat sich ausgeschüttet vor Lachen über diese rührende prahlerische Drohung unsererseits –, aber sie meldeten auch ganz sachlich, daß die Trümmer der Stadt ihren Verteidigern womöglich bessere Stellungen biete als die Stadt es getan haben würde, wäre sie noch heil und ganz.
»Nun denn«, soll der Capitán-General einem späteren Bericht zufolge gesagt haben, »ich hatte gehofft, zumindest einen Teil davon zu retten, zum Ergötzen unserer Landsleute, welche später als Kolonisten hierherkommen. Aber wir werden sie dem Erdboden gleichmachen … jeden Stein und jedes Stück Holz darauf … es so sehr dem Erdboden gleichmachen, daß nicht einmal ein Skorpion ein Versteck darauf findet, aus dem er auf uns zukriechen. kann.«
Und genau das tat er selbstverständlich, und zwar auf folgende Weise: Während die Kanonen von den Kriegsbooten weiterhin ihre Geschosse auf den Nordteil der Stadt abfeuerten, ließ Cortés auf den südlichen und westlichen Dammstraßen etliche seiner auf dem Festland aufgestellten Kanonen heranrollen; ihnen folgten die Soldaten, einige zu Fuß, andere zu Pferd, und alle begleitet von ihren Jagdhunden; und diesen wiederum folgten viele Männer, welche mit Äxten und großen Hämmern, Brecheisen und Rammböcken bewaffnet waren. Zuerst wurden die Kanonen abgefeuert, alles, was vor ihnen lag, fortzufegen und unsere Krieger, welche sich versteckt hielten, zu töten oder zumindest in gebückter Stellung kriechen zu lassen, damit sie nichts ausrichten konnten. Dann rückten die Soldaten in das verwüstete Gebiet vor; sobald unsere Krieger sich aufrichteten, um gegen sie zu kämpfen, wurden sie von den Reitern niedergeritten oder von den Fußsoldaten überrannt. Unsere Männer kämpften tapfer, aber sie waren vom Hunger geschwächt und halb betäubt von der Kanonade, welche sie gerade über sich hatten ergehen lassen, und so fielen sie entweder oder sie mußten sich weiter in die Stadt zurückziehen.
Einige versuchten, unentdeckt in ihren Verstecken zu bleiben, während der Kampf an ihnen vorüberrauschte, und hofften, wenn der Feind später nicht mehr so auf der Hut sei, zumindest noch einen tödlichen Spieß schleudern oder einen Maquáhuitl-Hieb austeilen zu können, ehe sie getötet wurden. Doch dazu erhielt keiner Gelegenheit; sie wurden immer rasch entdeckt, denn zu diesem Zweck hatten die Soldaten ja ihre Hunde mitgebracht. Diese riesigen Jagdhunde konnten mit ihrer Nase einen Mann aufspüren, mochte er sich noch so gut verborgen haben, und wenn die Hunde selbst ihn nicht in Stücke rissen, verrieten sie den Soldaten zumindest, wo er war. Dann erst, nachdem das Gebiet von den Verteidigern befreit war und keinerlei Gefahr mehr bestand, machten sich die Arbeitstrupps mit ihren Abbruchwerkzeugen ans Werk und räumten aus dem Weg, was noch übriggeblieben war. Sie rissen Häuser und Türme, Tempel und Denkmäler ein, und sie setzten alles in Brand, was brennen wollte. Und wenn das geschafft war, blieb nur noch ein flachgewalztes, gesichtsloses Stück Boden zurück.
Das war ein Tageswerk. Am folgenden Tag konnten die Kanonen dann über dieses eingeebnete Gebiet ungehindert weiter vorrücken und ein neues unter Beschuß nehmen, wonach dann wieder die Soldaten und die Hunde an der Reihe waren und danach die Arbeitstrupps. Und so wurde die Stadt von Tag zu Tag immer kleiner, gleichsam wie von der Krankheit heimgesucht, die wir Von-den-Göttern-gefressen-Werden nennen. Wir, die wir in den bisher noch nicht befallenen Teilen der Stadt lebten, konnten auf den Hausdächern stehen und zusehen, wie das Dem-Erdboden-Gleichmachen weiterging und auf uns zukam.
Ich erinnere mich noch an den Tag, da die Arbeitstruppe Das Herz Der Einen Welt erreichten. Zuerst vergnügten sie sich damit, brennende Pfeile in jene gewaltigen Federbanner hineinzuschießen, welche, wenn auch arg zerrupft, gleichwohl immer noch majestätisch über uns schwebten, und so verschwanden die Banner eines nach dem anderen in einem einmaligen Auflodern von Flammen. Immerhin sollte es viele Tage länger dauern, um die Zerstörung dieser Stadt in einer Stadt zum Abschluß zu bringen – des Tempels, des Tlachtli-Spielfelds, des Schädelgerüsts, der Paläste und Hofgebäude. Wiewohl die Große Pyramide bereits eine angefressene Ruine und weder eine Bastion war, noch ein Versteck bieten konnte, welches Cortés Sorgen hätte bereiten können, muß er gemeint haben, einfach deshalb, weil es Tenochtítlans prachtvollstes und vornehmstes Symbol sei, müsse sie abgetragen werden. Und es war nicht einfach, sie dem Erdboden gleichzumachen, nicht einmal, als Hunderte von Arbeitern ihr mit schweren Stahlwerkzeugen zu Leibe rückten, doch zuletzt gab sie nach, Schicht um Schicht, und gab die älteren in ihrem Inneren verborgenen Pyramiden preis, jede kleiner und jede gröber und weniger elegant als die über sie gestülpte, doch auch sie wurden dem Erdboden gleichgemacht. Als die Arbeiter daran gingen, Motecuzóma Xocóyotls Palast niederzureißen, wies Cortés sie an, etwas behutsamer vorzugehen, denn offenbar erwartete er, den Schatz unseres Volkes wieder in den darin befindlichen Schatzkammern mit den dicken Mauern vorzufinden. Als sich das als Trugschluß erwies, ging die Zerstörung nur um so wütender weiter.
Ich erinnere mich auch noch, wie das ein wenig außerhalb der zertrümmerten Schlangenmauer gelegene Tierhaus in Flammen aufging, denn an jenem Tag sah ich vom Dach eines Hauses zu, welches nahe genug stand, daß ich die Schreie, das Gebrüll und das Aufheulen der Insassen hören konnte, welche dort lebendigen Leibes verbrannten. Gewiß, die Zahl der Insassen des Tierhauses hatte sich stark verringert, denn wir waren ja gezwungen gewesen, viele von ihnen vorher zu verzehren. Trotzdem waren noch viele erstaunliche Tiere, Vögel und Reptilien zurückgeblieben. Manche von ihnen sind heute vielleicht nicht mehr zu bekommen, solltet ihr Spanier jemals beschließen, ein ähnliches Schauhaus zu errichten. So gab es in der Tierhalle damals zum Beispiel einen vollkommen weißen Jaguar, eine Seltenheit, welche wir Mexíca nie zuvor gesehen hatten und die vielleicht nie wieder ein Mensch zu sehen bekommen wird.
Cuautémoc, der sehr wohl wußte, wie entkräftet seine Krieger waren, hatte vorgehabt, nur mehr Rückzugskämpfe zu bestreiten, das Vorrücken des Gegners so weit wie möglich in die Länge zu ziehen und dabei so viele Eindringlinge zu töten wie nur irgend möglich. Aber die Krieger selbst waren dermaßen außer sich vor Wut über die Entweihung Des Herzens Der Einen Welt, daß sie weit über ihre Befehle hinausgingen. Ihr Zorn verlieh ihnen noch einmal soviel Kraft, und so tauchten sie mehrere Male aus den Trümmern um den Großen Platz herum auf, stießen ihre Kriegsschreie aus und trommelten gegen ihre Schilder und griffen wieder an, statt nur zu verteidigen. Selbst unsere Frauen waren außer sich vor Empörung, warfen von den Hausdächern Wespennester und Steine und andere unaussprechliche Dinge auf die Schänder hinab.
Zwar gelang es unseren Kriegern in der Tat, einige von den gegnerischen Soldaten und von den Arbeitern zu töten, und vielleicht hat das ihr Zerstörungswerk ein wenig verlangsamt. Weit mehr Männer fielen jedoch dabei, und sie wurden auch jedesmal wieder zurückgeworfen.
Gleichwohl, um sie von weiteren solchen Unternehmungen abzuhalten, schickte Cortés seine Kanonen weiter in Richtung Norden, auf daß sie noch mehr von der Stadt hinwegfegten, und seine Soldaten und Hunde und die Arbeitstrupps mußten den Kanonen folgen, um das, was noch stehengeblieben war, dem Erdboden gleichzumachen. Und weil sie plötzlich die Richtung wechselten, kam es, daß sie versäumten, dieses Haus des Gesanges abzureißen, in welchem wir heute sitzen, und noch ein paar andere Gebäude ohne besondere Bedeutung hier auf der Südhälfte der Insel.
Doch es blieben nirgends viele Häuser stehen, und diese wenigen ragten aus der eingeebneten Ödnis auf wie die letzten weit auseinanderstehenden Zähne im Kiefer eines alten Mannes, und mein Haus war nicht darunter. Ich nehme an, ich sollte froh sein, daß ich, als mein Haus fiel, nicht darin war. Zu der Zeit hatte die gesamte noch verbliebene Bevölkerung im Tlatelólco-Viertel Schutz gesucht, und zwar genau in der Mitte, um sich so weit wie möglich von dem ständigen Hagel von Kanonenkugeln und Feuerpfeilen von den uns umkreisenden Kriegsbooten entfernt zu halten. Die Krieger und die Kräftigeren von den Überlebenden lebten im Freien auf dem Marktplatz, wohingegen alle Frauen und alle Schwächeren sich in den bereits von den Nachbarn, welche hier Schutz gesucht hatten, überbelegten Häusern zusammendrängten. Cuautémoc und sein Hof lebten in dem alten Palast, der einst Moquihuix, dem letzten Herrscher von Tlaltelólco gehört hatte, als Tlaltelólco noch eine unabhängige Stadt gewesen war. Als Edelmann war auch mir eine kleine Kammer darin zugewiesen worden, welche ich mit Béu teilte. Wiewohl sie abermals Einspruch dagegen erhoben hatte, aus ihrem Haus herausgeholt zu werden, hatte ich sie auf meinen Armen dorthin getragen. Und so stand ich zusammen mit Cuautémoc und vielen anderen oben auf der Pyramide von Tlaltelólco und blickte hinüber, als Cortés' Arbeitstrupps in das Ixacuálco-Viertel eindrangen, in welchem ich gelebt hatte. Des Kanonenrauchs und des Kalkstaubs wegen konnte ich nicht genau sehen, wann mein Haus einstürzte. Doch als der Feind am Ende dieses Tages abzog, war das Ixacuálco-Viertel genauso wie der größte Teil der Südhälfte eine Wüste.
Ich weiß nicht, ob Cortés hinterher darüber aufgeklärt wurde, daß jeder reiche Pochtécatl unserer Stadt in seinem Hause eine verborgene Schatzkammer hatte – wie auch ich. Damals jedenfalls hat er das ganz offensichtlich nicht gewußt, denn seine Arbeitstrupps rissen unterschiedslos und aufs Geratewohl jedes Haus ein, und in dem Rauch und dem Staub, welche aufwölkten, sobald es zusammenbrach, erhaschte niemand jemals einen Blick von den Paketen oder Ballen mit Gold und Edelsteinen, Federn und Farbstoff und dergleichen, die unter den Trümmern noch unsichtbarer vergraben und später bei den Aufräumungsarbeiten und der Vergrößerung der Insel einfach beiseite geschoben wurden. Doch selbst wenn Cortés all die Wertgegenstände der Pochtécatl in die Hand bekommen hätte, wäre das selbstverständlich alles zusammen weit weniger gewesen als der immer noch verlorene Schatz; gleichwohl hätte das ein Geschenk ergeben, welches seinen König Carlos erstaunt und entzückt hätte. So beobachtete ich das Zerstörungswerk dieses Tages mit einer gewissen ironischen Genugtuung, wenngleich ich am Ende dieses Tages ein armer alter Mann war, ärmer noch als das kleine Kind, welches ich gewesen war, als ich Tenochtítlan zum erstenmal gesehen hatte.
Nun, das erging keinem Mexícatl anders, der damals noch am Leben war, unser Verehrter Sprecher nicht ausgenommen. Das Ende kam nicht lange danach, und es kam schnell. Wir waren seit ungezählten Tagen ohne jeden Happen zu essen gewesen, und unsere Fähigkeit, überhaupt zu gehen, ja, selbst miteinander zu reden, war derart geschwächt, daß wir ganz stumpf geworden waren. Cortés und sein Heer – so erbarmungslos, zahlreich und gefräßig wie jene Ameisen, welche ganze Wälder leerfressen können – erreichten endlich den Marktplatz von Tlaltelólco und fingen an, die Pyramide dort abzutragen, was bedeutete, daß wir Flüchtlinge, die wir uns dort auf engstem Raum zusammendrängten und verbargen, kaum noch Platz hatten, bequem zu stehen. Gleichwohl, Cuautémoc wäre wohl auch dann noch stehengeblieben, wenn er auf einem Fuß hätte stehen müssen, doch nachdem ich und die Weibliche Schlange und einige andere Ratgeber unter uns beratschlagt hatten, gingen wir zu ihm und sagten:
»Hoher Gebieter, wenn Ihr von den Fremden ergriffen werdet, fällt das ganze Volk der Mexíca mit Euch. Doch wenn Ihr entkommt, wird die Herrschaft dort sein, wo ihr hingeht. Selbst wenn jeder andere Mensch auf dieser Insel getötet oder gefangengenommen wird, wird Cortés die Mexíca nicht besiegt haben.«
»Fliehen«, sagte er wie benommen. »Wohin? Und um was zu tun?«
»Um nur mit Euren engsten Angehörigen und ein paar Eurer vornehmsten Edelleute in die Verbannung zu gehen. Es stimmt, daß wir keine vertrauenswürdigen Verbündeten mehr in den Landen ringsum haben. Aber es gibt fernere Lande, von denen Ihr Unterstützung bekommen könnt. Es mag lange dauern, ehe Ihr hoffen dürft, mit Macht und im Triumph wieder zurückzukehren, aber solange es auch dauern mag, die Mexíca werden immer noch unbesiegt sein.«
»Welche ferneren Lande?« fragte er ohne große Begeisterung.
Die anderen Edelleute blickten mich an, und ich sagte: »Aztlan, Verehrter Sprecher. Kehrt zurück zu unseren Anfängen.«
Er starrte mich an, als ob ich wahnsinnig wäre. Doch dann erinnerte ich ihn daran, daß wir vor vergleichsweise kurzer Zeit unsere Bande mit unseren Vettern aus unserer allerersten Heimat erneuert hätten, und ich gab ihm eine Karte, welche ich gezeichnet hatte, um ihm den Weg dorthin zu zeigen. Ich fügte hinzu: »Ihr könnt eines herzlichen Willkommens gewiß sein, Hoher Gebieter. Als ihr Sprecher Tliléctic-Mixtli von hier fortging, hat Motecuzóma ihm einen Trupp unserer Krieger und eine Anzahl von Mexíca-Familien mitgegeben, welche geübt waren in allen modernen Künsten des Städtebaus. Vielleicht haben sie aus ihrem Aztlan schon ein kleines Tenochtítlan gemacht. Und wenn alles zu Ende ist, könnten die Azteca die Samenkörner sein, aus denen – wie schon einmal – ein ganzes neues und mächtiges Volk erwächst.«
Es bedurfte schon wesentlich mehr an Überredung, um Cuautémoc zu bewegen, sich einverstanden zu erklären, doch möchte ich das nicht alles erzählen, denn es führte ohnehin zu nichts. Ich meine immer noch, daß der Plan durchaus hätte klappen können; er wurde gut vorbereitet und ausgeführt; doch die Götter beschlossen, daß nichts daraus werden sollte. Als die Dämmerung hereinbrach und die Kriegsboote mit ihrem Bombardement aufhörten, welches den ganzen Tag über angedauert hatte, und sich anschickten, zum Festland zurückzukehren, begleitete eine stattliche Anzahl von uns Cuautémoc und seine ausgewählten Gefährten hinunter ans Wasser. Alle stiegen in Kanus, und auf ein Zeichen hin ruderten die vielen Acáltin auf den See hinaus, alle gleichzeitig, doch jedes in eine andere Richtung, und ruderten schnell, daß es wie eine plötzliche Massenflucht von der Insel aussah. Das Acáli mit Cuautémoc und seinem verkleinerten Hof an Bord lief auf die kleine Festlandbucht zwischen Tenayuca und Azcapotzálco zu. Da dort nur sehr wenige menschliche Behausungen standen, wurde sie vermutlich nicht von einem von Cortés' Lagern oder Wachen bewacht, und es hätte Cuautémoc nicht sonderlich schwerfallen dürfen, von dort ins Landesinnere zu verschwinden und sich nach Aztlan durchzuschlagen.
Doch die Kriegsboote, welche beobachtet hatten, wie plötzlich die vielen Acáltin von der Insel ablegten, wendeten und begannen, geschäftig zwischen ihnen hin- und herzufahren und versuchten herauszubekommen, ob sie wirklich auf der Flucht wären. Und wie das Schicksal es wollte, war einer der Schiffskapitäne scharfsinnig genug zu erkennen, daß einer der Insassen in einem der Kanus eigentlich zu reich gekleidet war, um ein einfacher Krieger zu sein. Dieses Boot warf Eisenhaken und zog das Kanu längsseits, holte den Verehrten Sprecher an Bord und brachte ihn geradenwegs vor den Capitán-General Cortés.
Ich war bei dieser Begegnung nicht zugegen, erfuhr jedoch später, daß Cuautémoc über den Dolmetsch Malintzin gesagt habe: »Ich habe mich nicht ergeben. Daß ich Euch zu entkommen trachtete, tat ich nur um meines Volkes willen. Aber Ihr habt mich ehrlich erwischt.« Er zeigte auf den Dolch an Cortés' Gürtel. »Da ich im Kriege gefangengenommen worden bin, verdiene ich – und verlange ich – den Tod eines Kriegers. Ich bitte Euch, mich zu töten, hier, wo ich stehe.«
Im Sieg großmütig, oder zumindest überschwenglich, sagte Cortés: »Nein, Ihr habt Euch nicht ergeben und Ihr habt nicht aufgehört zu herrschen. Ich lehne es ab, Euch zu töten, und ich bestehe darauf, daß Ihr die Herrschaft über Euer Volk beibehaltet. Laßt uns Eure Stadt zusammen in neuer Pracht und Größe aufbauen, mein erlauchter Herr Cuautémoc.«
Cortés hat den Namen vermutlich Guatemoc ausgesprochen, jedenfalls hat er es später immer getan. Ich glaube, ich habe schon vor langer Zeit erwähnt, ehrwürdige Patres, daß Cuautémoc Rauschender Adler bedeutet, doch ich glaube, es war unvermeidlich und wohl auch passend, daß der Name unseres letzten Verehrten Sprechers nach diesem Tag – nach unserem Kalender der Tag Ein Schlange des Jahres Drei Haus; nach eurem Kalender der dreizehnte Tag des August im Jahre eintausendfünfhundertundeinundzwanzig – immer als Stürzender Adler ins Spanische übersetzt wurde.
Nach dem Fall von Tenochtítlan änderte sich im größten Teil Der Einen Welt eine ganze Zeitlang nicht viel. Außerhalb des zum Dreibund gehörenden Gebietes war kein anderer Teil dieser Lande so sehr verwüstet worden wie dieser, und es gab vermutlich sogar noch viele andere Teile, wo die Leute sich noch gar nicht bewußt geworden waren, daß sie nicht mehr in Der Einen Welt lebten, sondern in einem Land namens Neuspanien. Wiewohl sie grausam von den geheimnisvollen neuen Krankheiten heimgesucht wurden, bekamen sie nur selten einen Spanier oder einen Christen zu sehen, wurden ihnen auch keine neuen Gesetze oder Götter aufgezwungen und fuhren sie in ihrer gewohnten Lebensweise fort. Sie ernteten, jagten oder fingen Fische, wie sie es all die vielen Schock Jahre zuvor getan hatten.
Doch in den Landen des Seenbeckens änderte sich das Leben sehr, und es war hart, und es wurde niemals leichter, und ich bezweifle, daß es das überhaupt jemals werden wird. Von dem Tag nach Cuautémocs Gefangennahme an richtete Cortés seine ganze Aufmerksamkeit und Energie – unsere Energie, sollte ich vielleicht zutreffender sagen – auf den Wiederaufbau dieser Stadt. Denn er verfügte, da es ja ausschließlich die Schuld von uns störrischen Mexíca sei, daß Tenochtítlan zerstört worden war, solle ihre Wiedererstehung als Stadt Mexíco ganz allein auf unseren Schultern liegen. Wenn auch seine Baumeister die Pläne zeichneten und seine Handwerker die Arbeit überwachten und seine brutalsten Soldaten die Peitsche schwangen, damit sie getan werde, waren es unsere Leute, welche die Arbeit taten, waren wir es, welche das Baumaterial lieferten, und wenn wir nach getaner Arbeit essen wollten, war es an uns, auch dieses Essen zu beschaffen. Infolgedessen arbeiteten die Steinbrucharbeiter von Xaltócan härter, als sie es jemals in ihrem Leben zuvor getan hatten, und die Waldarbeiter schlugen die Hänge am Seeufer kahl, um Balken und Bretter zu schneiden, und unsere ehemaligen Krieger und Pochtéca wurden Furiere und Träger und schafften an Nahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Dingen herbei, was sie aus den umliegenden Landen herauspressen konnten, und unsere Frauen – wenn sie nicht offen von den weißen Soldaten belästigt und vor den Augen aller geschändet wurden – wurden als Träger und Boten zum Frondienst gezwungen, und sogar kleine Kinder mußten beim Mörtelmischen Hand anlegen.
Das wichtigste kam selbstverständlich zuerst an die Reihe. Die zerstörten Aquädukte wurden ausgebessert und dann die Grundmauern gelegt zu dem, was später eure Kathedralkirche werden sollte. Direkt davor wurden Schandpfahl und Galgen errichtet. Das waren die ersten Dinge, welche funktionierten in der neuen Ciudad de Mexíco, und sie wurden viel gebraucht, um uns zu unablässiger und gewissenhafter Arbeit anzuspornen. Diejenigen, welche bei der Arbeit nachlässig waren, wurden am Galgen aufgeknüpft, oder sie wurden mit dem G für Kriegsgefangene auf der Wange gebrandmarkt und dann an den Schandpfahl gestellt, damit die Fremden sie mit Steinen und Pferdeäpfeln bewerten könnten, oder sie wurden durch die Peitschenhiebe der Aufseher gefügig gemacht. Doch diejenigen, welche arbeiteten, starben genausooft wie die Säumigen, etwa daran, daß sie gezwungen wurden, Steine zu heben, die so schwer waren, daß es ihnen die Eingeweide zerriß.
Ich war wesentlich günstiger dran als die meisten, denn Cortés gab mir Arbeit als Dolmetsch. Wo es so viele Befehle und Anweisungen von den Baumeistern an die Arbeiter weiterzugeben galt und bei all den Gesetzen, Proklamationen, Erlassen und Predigten, welche für das Volk übersetzt werden mußten, war mehr zu tun, als Malintzin allein hätte schaffen können, und der Mann Aguilar, welcher bis zu einem gewissen Grade hätte helfen können, war vor langer Zeit in irgendeiner Schlacht gefallen. Deshalb stellte Cortés mich ein und zahlte mir sogar einen kleinen Lohn in spanischer Münze – und brachte mich und Béu überdies auch noch in der prachtvollen Residenz unter, dem einstigen Landsitz Motecuzómas in der Nähe von Quaunáhuac, welchen er für sich und Malintzin sowie für seine ranghöchsten Offiziere und ihre Konkubinen beschlagnahmt hatte und in welchen er auch Cuautémoc und seine Familie und Höflinge unter den Augen hatte.
Vielleicht sollte ich um Verzeihung bitten, wiewohl ich nicht weiß, bei wem, daß ich Arbeit bei den weißen Männern annahm, statt lieber trotzig zu sterben. Aber da die Schlachten alle geschlagen und wir darin nicht untergegangen waren, schien es mir in meinem Tonáli bestimmt, daß ich noch ein wenig länger wenigstens ums Überleben weiterkämpfen sollte. Einst hatte ich den Auftrag erhalten: »Stehe aufrecht! Harre aus! Erinnere dich!«, und genau das zu tun war ich entschlossen.
Eine Zeitlang bestand der größte Teil meiner Dolmetschertätigkeit darin, Cortés' unablässige und eindringliche Forderungen zu dolmetschen, zu erfahren, was aus dem verschwundenen Schatz der Mexíca geworden sei. Wäre ich ein jüngerer Mann und imstande gewesen, irgend etwas anderes zu tun, mit dem ich mich und meine kränkelnde Frau hätte über Wasser halten können, ich hätte auf der Stelle diese erniedrigende Arbeit niedergelegt. Ich mußte nämlich zusammen mit Cortés und seinen Offizieren sitzen, als wäre ich einer von ihnen, während sie meine Freunde, die Edelleute, einschüchterten und beleidigten und sie »verdammte, lügnerische, habgierige, verräterische und störrische Indianer« hießen. Ganz besonders schämte ich mich, als ich an den wiederholten Verhören des Uey-Tlatoáni Cuautémoc teilnehmen mußte, welchen Cortés nicht mehr mit salbungsvollen Worten anredete und dem er auch nicht mehr die geringste Hochachtung entgegenbrachte. Auf Cortés' wiederholte Fragen konnte oder wollte Cuautémoc mit nichts anderem antworten als:
»Nach bestem Wissen, Capitán-General, kann ich nur sagen, daß mein Vorgänger Cuitláhuac den Schatz im See hat liegen lassen, wo Ihr ihn hineingeworfen habt.«
Woraufhin Cortés fauchte: »Ich habe meine und eure besten Schwimmer hinuntergeschickt – sie finden nichts anderes als Schlamm!« Woraufhin Cuautémoc nur immer wieder entgegnen konnte oder wollte: »Der Schlamm ist weich. Eure Kanonen haben den ganzen See Texcóco erzittern lassen. Alle Dinge, die so schwer sind wie Gold, müssen immer tiefer in den Schlick hineingesunken sein.«
Am meisten schämte ich mich an dem Tag, da Cuautémoc und zwei der alten Weisen Männer vom Staatsrat, welche ihn zu dieser Sitzung des Verhörs begleitet hatten, der »Überredung« unterworfen wurden. Nachdem ich dieselben Sätze so viele Male gedolmetscht hatte, bekam Cortés einen Tobsuchtsanfall. Er befahl seinen Soldaten, drei große Schalen mit Glut aus der Küche herbeizuschaffen und zwang die drei Edelleute der Mexíca, mit den nackten Füßen in diesen glühenden Kohlen zu sitzen, während er dieselben Fragen noch einmal stellte und sie – der Martern wegen mit den Zähnen knirschend – dieselben Antworten gaben. Zuletzt warf Cortés die Hände in einer Gebärde des Abscheus in die Höhe und stapfte hinaus. Die drei richteten sich vorsichtig von ihren Stühlen auf, traten aus den Schalen heraus und machten sich mit größter Vorsicht auf, in ihre Quartiere zurückzukehren. Die beiden alten Männer und der jüngere taten ihr möglichstes, sich gegenseitig zu stützen und humpelten auf ihren brandblasenbesetzten und geschwärzten Füßen, und ich hörte, wie einer der älteren stöhnte:
»Ayya, Verehrter Sprecher, warum sagt Ihr ihnen nicht irgend etwas anderes? Egal, was? Es tut unerträglich weh!«
»Schweig!« fuhr Cuautémoc ihn an. »Glaubst du vielleicht, ich erginge mich im Augenblick in einem Lustgarten?«
Wiewohl ich Cortés und mich und unsere Verbindung verabscheute, enthielt ich mich jeder Tat oder Bemerkung, welche geeignet gewesen wäre, sein Mißfallen zu erregen und mich in meiner heiklen Lage zu gefährden, denn nach ein oder zwei Jahren gab es viele von den Meinen, welche mich mit Freuden als Mitarbeiter von Cortés abgelöst hätten und auch in der Lage gewesen wären, das zu tun. Immer mehr Mexíca und Angehörige anderer Stämme – ob sie nun zum Dreibund gehörten oder nicht – beeilten sich, Spanisch zu lernen und sich taufen zu lassen. Das geschah weniger aus Unterwürfigkeit, als vielmehr aus Ehrgeiz, wo nicht gar aus Notwendigkeit. Cortés hatte schon früh verkünden lassen, daß kein »Indianer« eine höhere Stellung als die eines einfachen Arbeiters bekleiden könne, es sei denn, er sei gläubiger Christ und spreche die Sprache der Eroberer.
Ich selber hieß bei den Spaniern bereits Don Juan Damasceno, und Malintzin war Doña Marina, und die Konkubinen der anderen Spanier waren Doña Luise und Doña Maria Immaculada und dergleichen. Selbst-einige Edelleute erlagen der Versuchung, der Vorteile teilhaftig zu werden, welche sie genossen, wenn sie Christen wurden und spanisch sprachen; die ehemalige Weibliche Schlange zum Beispiel wurde zu Don Juan Tlácotl Velásquez. Doch wie zu erwarten stand, verschmähten die meisten der ehemaligen Pipiltin – allen voran Cuautémoc – Religion und Sprache und Namen der weißen Männer. So bewundernswert ihre Einstellung auch sein mochte, sie erwies sich als Fehler, denn nun blieb ihnen nur noch ihr Stolz. Dafür belagerten die Angehörigen der untersten Klassen sowie die Niedrigstgeborenen der Mittelschicht und sogar die Sklaven der am allertiefsten stehenden Tlacótli-Klasse die Kapläne und Missionsbrüder, um im Christentum unterwiesen und mit spanischen Namen getauft zu werden. Sie waren es auch, welche – um Spanisch lernen zu können – jenen spanischen Soldaten, welche gebildet oder klug genug waren, sie zu unterrichten, eifrig ihre Schwestern und Töchter in Bezahlung gaben.
So kam es, daß das Mittelmaß und der Bodensatz der Gesellschaft, der keinerlei eingeborenen Stolz über Bord werfen mußte, sich von der Fronarbeit befreite und sich als Aufseher von Fronarbeitern einsetzen ließ – jenen, welche früher ihre Vorgesetzten, ihre Anführer und sogar ihre Besitzer gewesen waren. Diese Emporkömmlinge oder »Weißen-Nachäffer«, wie andere von uns sie nannten, erhielten schließlich Stellungen in der zunehmend verzwickten Verwaltung der Stadt und wurden zu Vorstehern weiter entfernt liegender Gemeinden, ja, sogar zu Gouverneuren etlicher unbedeutender Provinzen gemacht. Man sollte das als lobenswert betrachten: daß ein Niemand zu einer bedeutenden Persönlichkeit aufsteigen konnte – nur kann ich mich nicht eines einzigen entsinnen, welcher seine hohe Stellung zum Guten von irgend jemand anders genutzt hätte, außer für sich selbst.
Ein solcher Mann war plötzlich allen, welche zuvor seine Vorgesetzten oder Ebenbürtigen gewesen waren, überlegen, und weiter reichte sein Ehrgeiz nicht. Ob er nun den Posten eines Provinzgouverneurs erlangte oder nur den eines Aufsehers bei irgendeinem Bauvorhaben, er wurde zu einem Despoten für alle, die unter ihm standen. Der Aufseher konnte als Faulpelz oder Trunkenbold jeden Arbeiter anzeigen, welcher nicht, vor ihm katzbuckelte oder ihn bestach. Er konnte diesen Arbeiter zu allem verurteilen, vom Brandmarken auf der Wange bis zum Aufgeknüpftwerden am Galgen. Der Gouverneur konnte ehemalige Edelleute und Edeldamen zu Müllträgern und Straßenfegern erniedrigen und ihre Töchter zu dem zwingen, was ihr Spanier die »Rechte der Señorío« nennt. Gleichwohl muß ich in aller Gerechtigkeit sagen, daß die neue Adelsschicht der spanischsprechenden Christen sich allen ihren Landsleuten gegenüber genauso verhielt. So wie sie die ehemals höchststehenden Klassen demütigten und quälten, schurigelten sie die Unterschicht, welcher sie selbst entsprungen waren. Sie behandelten alle – mit Ausnahme ihrer eigenen Vorgesetzten, versteht sich – weit schlechter, als noch der niedrigste Sklave früher behandelt worden war. Zwar betraf mich diese vollkommene Umkrempelung der Gesellschaft physisch nicht, doch was mich bestürzte, war die Erkenntnis, wie ich es Béu gegenüber einmal ausdrückte, daß »diese Weißen-Nachäffer es sind, welche unsere Geschichte schreiben werden«.
Wiewohl ich selbst für mich in jenen Jahren eine angenehme Nische in der neuen Gesellschaft Neuspaniens gefunden hatte, ist mein Zögern, sie zu verlassen, vielleicht ein wenig damit zu entschuldigen, daß ich meine Stellung bisweilen nutzen konnte, um anderen außer mir zu helfen. Zumindest gelegentlich, und wenn Malintzin oder einer von den später eingestellten Dolmetschern nicht dabei war, mich zu verraten, konnte ich meine Übersetzung dergestalt formulieren, daß die Eingabe eines Bittstellers, welcher um eine Gunst bat, dringlicher klang, oder die Bestrafung eines angeklagten Missetäters gemildert wurde. Da Béu und ich freie Kost und Logis genossen, konnte ich meinen Lohn sparen für den Tag, da ich – vielleicht durch eigene Schuld oder weil Béus Zustand sich merklich verschlechterte – meiner Stellung verlustig gehen und ich aus dem Palast von Quaunáhuac hinausgejagt werden würde.
Wie es sich ergab, gab ich meine Stellung aus freien Stücken auf, und das kam so: Im dritten Jahr nach der Conquista wurde der ungeduldige Mann Cortés seiner nunmehr alles andere als abenteuerlichen Rolle als Verwaltungsbeamter, welcher sich mit vielen Kleinigkeiten befassen und als Schiedsrichter in vielen nichtigen Streitereien dienen mußte, überdrüssig. Ein großer Teil der Ciudad de Mexíco war inzwischen wieder aufgebaut worden, und was noch nicht fertig war, sollte bald fertig werden. Damals wie heute trafen jedes Jahr rund tausend neue weiße Männer in Neuspanien ein – die meisten von ihnen mit ihren Frauen –, ließen sich im oder in der Nähe des Seengebietes nieder, schufen sich auf den besten Ländereien ihr eigenes Kleinspanien, bemächtigten sich unserer kräftigsten Leute als »Kriegsgefangene« und ließen dieses Land bearbeiten. All diese Neuankömmlinge festigten ihre Stellung als Oberherren so rasch, daß jedes Aufbegehren gegen sie undenkbar war. Aus dem Dreibund war endgültig Neuspanien geworden, und es funktionierte, vermutete ich, so gut wie Cuba oder jede andere spanische Kolonie; die Eingeborenenbevölkerung wurde unterdrückt und ergab sich in ihr Schicksal, wenn sie in dieser Unterdrückung auch nicht gerade glücklich oder zufrieden war; und Cortés schien zuversichtlich, daß seine Unterbefehlshaber und die von ihm ernannten Weißen-Nachäffer in der Lage waren, den Zustand so zu erhalten, wie er war. Ihn selbst dürstete es, neue Lande zu erobern, oder – genauer gesagt – er wollte mehr von den Landen in Augenschein nehmen, welche er bereits als die seinen betrachtete.
»Capitán-General«, sagte ich zum ihm, »Ihr kennt bereits das Land zwischen der Ostküste und hier. Die Lande zwischen hier und der Westküste unterscheiden sich nicht sonderlich von diesen, und im Norden erstrecken sich zumeist öde Gebiete, die anzusehen sich nicht lohnt. Aber im Süden – ayyo, südlich von hier – ragen gewaltige Bergketten und grüne Ebenen und eindrucksvolle Wälder und noch weiter im Süden der Dschungel, welcher ehrfurchtgebietend und weg- und steglos und unendlich gefährlich ist, gleichwohl jedoch so voll von Wunderbarem, daß kein Mann sein Leben beschließen sollte, ehe er sich nicht einmal dort hingewagt hat.«
»Dann auf nach Süden!« rief er, als ob er einer Truppe befehle, in diesem Augenblick dorthin auszurücken. »Du bist dort gewesen? Du kennst das Land? Du sprichst seine Sprachen?« Ich sagte ja und ja und ja, woraufhin er tatsächlich einen Befehl gab: »Du wirst mich dort hinführen.«
»Capitán-General«, sagte ich. »Ich bin zweiundfünfzig Jahre alt. Das ist eine Reise für junge Männer voller Kraft und Unternehmungsgeist.«
»Tragstuhl und Träger werden bereitgestellt – und auch noch ein paar interessante Gefährten für dich«, sagte er, ließ mich einfach stehen, ging hin und wählte die Soldaten für diese Expedition aus, so daß ich nicht mehr dazu kam, ihm zu sagen, daß Tragstühle auf steilen Bergen und im Dschungelgewirr nicht zu gebrauchen sind.
Doch widersetzte ich mich nicht lange. Es müsse gut tun, eine letzte lange Reise durch diese Welt zu machen, ehe ich meine allerletzte und längste – bis in die nächste – antrat. Wenn auch Béu während meiner Abwesenheit einsam sein würde, so wußte ich sie doch in guten Händen und versorgt. Die Diener im Palast wußten, wie es um sie stand, pflegten sie liebevoll und gut und waren diskret; Béu brauchte nichts weiter zu tun, als achtzugeben, daß sie bei den hier lebenden Spaniern nicht auffiel. Und wenn ich selbst den Jahren nach auch schon alt war, fühlte ich mich doch noch keineswegs hinfällig. Wenn ich die Belagerung von Tenochtítlan hatte überstehen können, so sagte ich mir, konnte ich auch alle anderen Beschwernisse überstehen, welche mit Cortés' Expedition verbunden waren. Wenn das Glück mir hold war, konnte ich ihn dort sogar verlieren oder die Kolonne unter Völker führen, welche durch den Anblick weißer Männer dermaßen von Abscheu erfüllt wurden, daß sie uns alle umbrächten, und dann diente mein Tod sogar noch einem guten Zweck.
Was mich ein wenig verwirrte war, daß Cortés »interessante Gefährten« für mich erwähnt hatte, und an dem Herbsttag, an dem wir loszogen, war ich offen gestanden erstaunt, als ich sah, um wen es sich handelte: um die drei Verehrten Sprecher der drei Völker des Dreibunds. Ich überlegte, ob Cortés sie unbedingt mitnehmen wollte, weil er fürchtete, sie könnten während seiner Abwesenheit ein Komplott schmieden, oder weil er wollte, daß es Eindruck auf die Völker im Süden machen würde, wenn sie sähen, daß so erlauchte Persönlichkeiten so demütig in seinem Gefolge mitreisten.
Sie waren wirklich sehenswert, denn ihre reichgeschmückten Tragstühle waren auf so vielen der Reiseabschnitte derart ungefüge, daß die erlauchten Persönlichkeiten aussteigen und zu Fuß gehen mußten – und weil Cuautémoc für immer verkrüppelt war, als er von Cortés einer nachhaltig überzeugenden Behandlung unterzogen worden war. So wurde den Eingeborenen an vielen Orten auf dieser Reise der Anblick des Verehrten Sprechers Cuautémoc von den Mexíca geboten, wie er sich humpelnd und auf die Schultern zweier anderer gestützt vorwärtsbewegte: auf der einen Seite der Verehrte Sprecher Tétlapanquétzal von Tlácopan und auf der anderen der Verehrte Sprecher Cohuanácoch von Texcóco.
Doch keinem von den dreien kam je ein Wort der Klage über die Lippen, wiewohl sie nach einiger Zeit erkannt haben müssen, daß ich Cortés und seine Reiter und Fußsoldaten mit Absicht über schwierige Wege durch Lande führte, welche ich gar nicht kannte. Das tat ich nur zum Teil in der Absicht, die Expedition für die Spanier nicht zu einer Vergnügungsreise werden zu lassen, und in der Hoffnung, daß sie niemals von ihr zurückkehren würden. Ich tat das auch, weil es meine letzte große Reise sein sollte und ich fand, ich könne sie genausogut nutzen, auch noch einige neue Länder kennenzulernen. Daher brachte ich sie, nachdem ich sie durch die schroffsten Berge von Uaxyácac geführt hatte und hinterher durch die häßlichen Ödlande der Landenge zwischen dem Nord-Meer und dem Süd-Meer, nach Nordosten in das sumpfige Innere des Cupüco-Landes. Und dort, der Gesellschaft weißer Männer endgültig überdrüssig und überdrüssig der Tatsache, überhaupt etwas mit ihnen zu tun zu haben, machte ich mich selbständig und setzte mich von ihnen ab.
Ich sollte noch erwähnen, daß Cortés – zweifellos, um überprüfen zu können, daß ich unterwegs auch immer wahrheitsgemäß dolmetschte – noch einen zweiten Dolmetsch mitgenommen hatte. Zur Abwechslung diesmal nicht Malintzin, da diese damals noch ihren kleinen Sohn Martin Cortés nährte, und ich bedauerte geradezu ihr Fehlen, denn sie war immerhin angenehm anzusehen. Bei dem zweiten Dolmetsch handelte es sich gleichfalls um eine Frau, eine Frau jedoch mit dem Gesicht und dem Gewinsel und dem Wesen eines Moskitos. Sie war eine von jenen Emporkömmlingen aus der untersten Schicht, welche dadurch zur Weißen-Nachäfferin geworden war, daß sie Spanisch gelernt und den Christennamen Florencia angenommen hatte. Da ihre einzige andere Sprache jedoch das Náhuatl war, nützte sie hier in der Fremde gar nichts, außer Nacht für Nacht einen der vielen spanischen Soldaten zu bedienen, welchen es nicht gelungen war, mit Geschenken oder dem Reiz der Neugier jüngere und begehrenswertere leichte Mädchen auf ihr Lager zu ziehen.
Eines Abends lagerten wir, nachdem wir uns Anfang Frühling den ganzen Tag lang durch einen besonders häßlichen und unangenehmen Morast hindurchgemüht hatten, auf einem trockenen Stück Boden in einem Hain von Ceiba-und Amatl-Bäumen. Wir hatten unsere Abendmahlzeit zu uns genommen und lagen um die verschiedenen Lagerfeuer herum, als Cortés herüberkam, sich neben mich hockte, mir kameradschaftlich den Arm um die Schulter legte und sagte.
»Sieh mal dort hinüber, Juan Damasceno. Ist das nicht wirklich ein bewundernswürdiger Anblick?« Ich hob meinen Topas vor die Augen und blickte in die angegebene Richtung: auf die drei Verehrten Sprecher, die – etwas abseits von den anderen – beisammen saßen. So hatte ich sie auf dieser Reise schon viele Male zusammensitzen sehen, wie sie offensichtlich über Dinge diskutierten, über welche Herrschern, welche nichts mehr haben, über das sie herrschen können, zu diskutieren bleibt. Cortés sagte: »So etwas bekommt man selbst in der Alten Welt kaum noch zu sehen – drei Könige, die friedlich beisammensitzen –, und vielleicht bekommt man es auch hier bald nie wieder zu sehen. Daran möchte ich gern eine Erinnerung haben. Zeichne mir ein Bild von ihnen, Juan Damasceno, einfach so, wie sie dasitzen, die Gesichter einander zugeneigt und in ernster Unterhaltung begriffen.«
Mir wollte das als eine harmlose Bitte erscheinen. Ja, es schien sogar von tiefer Einsicht zu zeugen, daß ein Mann wie Hernán Cortés einen Augenblick als erinnerungswürdig erkannte. Ich schälte also ein Stück Borke von einem der Amatl-Bäume und zeichnete auf der sauberen Innenseite mit einem verkohlten und angespitzten Aststück aus dem Feuer das beste Bild, welches ich mit solch rohem Material zeichnen konnte. Die drei Verehrten Sprecher waren jeder einzeln durchaus zu erkennen; ich fing ihren feierlichen Gesichtsausdruck ein, so daß jeder, welcher das Bild betrachtete, sofort erriet, daß sie von bedeutenden Dingen sprachen. Erst am nächsten Morgen hatte ich Grund zu beklagen, meinen Schwur von vor vielen Jahren gebrochen zu haben, nie wieder irgendwelche Bildnisse zu malen, damit ich den Abkonterfeiten kein Unglück bringe.
»Heute wird nicht marschiert, Leute«, verkündete Cortés, als wir aufstanden. »Heute haben wir die unangenehme Pflicht, ein Kriegsgericht abhalten zu müssen.«
Seine Soldaten machten ein ebenso verdutztes und erschrockenes Gesicht wie ich und die Verehrten Sprecher auch.
»Doña Florencia«, sagte Cortés und zeigte auf die einfältig lächelnde Frau, »hat sich die Mühe gemacht, die Unterhaltungen zwischen unseren drei erlauchten Gästen und den Häuptlingen der Dörfer, durch welche wir hindurchgekommen sind, mit anzuhören. Sie wird bezeugen, daß diese Könige mit den Völkern hier ein Komplott geschmiedet haben, um einen Massenaufstand gegen uns in die Wege zu leiten. Desgleichen habe ich dank Don Juan Damasceno« – er wedelte mit meinem Stück Borke herum – »eine Zeichnung, welche unwiderleglich beweist, daß sie sich verschwörerisch zusammengetan haben.«
Die drei Verehrten Sprecher hatten die niederträchtige Florencia nur mit einem verächtlichen Blick bedacht, doch die Augen, mit denen sie mich ansahen, waren voll Traurigkeit und Enttäuschung. Ich sprang vor und schrie: »Das stimmt nicht!«
Augenblicklich zog Cortés den Säbel und setzte mir die Spitze auf die Kehle. »Ich meine«, sagte er, »was diese Verhandlung betrifft, so dürften deine Zeugenaussagen und deine Übersetzung nicht ganz unparteiisch sein. Doña Florencia wird als Dolmetsch dienen – und du schweigst!«
Folglich bildeten sechs seiner Unterbefehlshaber das Tribunal, und Cortés brachte die Anklagen vor, während seine Zeugin Florencia die fadenscheinigen Beweise vorbrachte, auf welche sie sich stützten. Cortés hatte ihr im voraus gesagt, wie sie sich verhalten solle, doch ich glaube, das wäre gar nicht nötig gewesen.
Niedrige Menschen wie sie – welche es der Welt nie verzeihen können, daß es ihr völlig gleichgültig ist, ob es sie gibt oder nicht – werden jede Gelegenheit beim Schöpfe ergreifen, um anerkannt zu werden, und sei es auch nur ihrer unerhörten Boshaftigkeit wegen. Und so ergriff Florencia die Gelegenheit, einmal bemerkt zu werden: dadurch, daß sie höher und über ihr Stehende verleumdete, selbiges ungestraft tun konnte und noch dazu vor einer aufmerksamen Zuhörerschaft, welche so tat, als glaubte sie ihr. Sie ließ ihrer Enttäuschung über ihre eigene Nichtigkeit freien Lauf und stieß einen Schwall von Lügen und Erdichtetem und Anschuldigungen aus, welche einzig und allein dazu dienen sollten, die drei Edelleute als Wesen hinzustellen, welche noch verächtlicher waren als sie selbst.
Ich konnte nichts sagen – bis heute nicht –, und die Verehrten Sprecher wollten nichts sagen. In ihrer Verachtung für den Moskito, welcher sich zu einem Geier aufplusterte, taten sie nichts, um die Verunglimpfungen zurückzuweisen oder sich zu verteidigen oder sich anmerken zu lassen, was sie von dieser Farce von einer Gerichtsverhandlung hielten. Florencia hätte womöglich zehn Tage lang weitergemacht und das Blaue vom Himmel heruntergelogen, um zu beweisen, daß die drei Verehrten Sprecher Teufel aus der Hölle seien, hätte sie nur soviel Grips besessen, auf derlei Dinge zu kommen. Doch zuletzt wurde das Tribunal es leid, sich ihr dummes Geschwätz anzuhören, befahl ihr kurz und bündig innezuhalten und verkündete dann genauso kurz und bündig, die drei Edelleute seien schuldig, eine Verschwörung gegen Neuspanien angezettelt zu haben.
Ohne Einspruch zu erheben, ohne Protest und ohne einander mit ver decktem Spott Lebewohl zu sagen, ließen die drei sich nebeneinander unter einen dicken Ceiba-Baum stellen, die Spanier warfen Stricke über einen passenden Ast, und dann wurden die drei zusammen in die Höhe gezogen. In dem Augenblick, da die Verehrten Sprecher Cuautémoc, Tétlapanquétzal und Cohuanácoch starben, verschwand auch die letzte Spur, daß es so etwas wie den Dreibund jemals gegeben hatte. Ich weiß nicht das genaue Datum des Jahres, da ich auf dieser Expedition kein Tagebuch geführt habe. Vielleicht könnt ihr, meine Herren Skribenten, den Tag errechnen, denn nachdem die Hinrichtung abgeschlossen war, rief Cortés fröhlich:
»Und jetzt laßt uns jagen, Leute, irgendein Tier erlegen und ein Festmahl bereiten. Heute ist Fastnachtdienstag, der letzte Tag des Karneval.«
Sie zechten die ganze Nacht hindurch, und so war es mir nicht schwer, mich unbemerkt vom Lager fortzustehlen und den Weg zurückzugehen, welchen wir gekommen waren. In wesentlich kürzerer Zeit, als wir gebraucht hatten hinzukommen, kehrte ich nach Quaunáhuac und in Cortés' Palast zurück. Die Wachen waren mein Kommen und Gehen gewöhnt und nahmen gleichgültig meine Bemerkung zur Kenntnis, ich sei nach Hause vorausgeschickt worden. Dann begab ich mich in Béus Kammer und berichtete ihr alles, was geschehen war.
»Jetzt bin ich ein Vogelfreier«, sagte ich. »Aber ich glaube, Cortés hat nicht die geringste Ahnung, daß ich eine Frau habe und daß sie hier wohnt. Und selbst wenn er dahinterkäme, ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er seinen gerechten Zorn an dir ausläßt. Ich muß fliehen, und am besten verbergen kann ich mich unter den vielen Menschen in Tenochtítlan. Vielleicht finde ich eine Hütte im Viertel der Arbeiter. Ich möchte nicht, daß du in soviel Schmutz und Elend lebst, Wartender Mond, wo es doch möglich ist, daß du hier bleibst und es gut hast …«
»Wir sind jetzt Vogelfreie«, unterbrach sie mich mit belegter, aber entschiedener Stimme. »Vielleicht schaffe ich es sogar, bis zur Stadt zu gehen, Záa, wenn du mich führst.«
Was ich auch sagte und wenn ich auch flehte, sie wollte sich nicht davon abbringen lassen. So schnürte ich ein Bündel aus unseren Habseligkeiten, deren es nicht mehr viele gab, verlangte nach zwei Sklaven, sie im Tragstuhl zu tragen, und so zogen wir über den Bergrand zurück ins Seengebiet und über die südliche Dammstraße nach Tenochtítlan, und dort sind wir seither die ganze Zeit über gewesen.
Willkommen nochmals, Euer Exzellenz, nachdem Ihr solange nicht dabei gewesen seid. Seid Ihr gekommen, den Schluß meines Berichts anzuhören? Nun, ich habe alles erzählt, bis auf ganz weniges.
Etwa ein Jahr, nachdem ich ihn heimlich verlassen hatte, kehrte Cortés mit seinem Gefolge zurück und ließ es sich als erstes angelegen sein, die erlogene Geschichte von dem geplanten Aufstand der drei Verehrten Sprecher zu verbreiten, zum »Beweis« für ihre Verschwörung meine Zeichnung vorzuweisen und mit Nachdruck zu vertreten, wie gerecht es gewesen sei, sie ihres Verrats wegen hinzurichten. Für alle, welche einst zum Dreibund gehört hatten, war es ein Schock, denn ich hatte die Nachricht niemandem außer Béu anvertraut. Alle Menschen trauerten und hielten verspätet Gedenkfeiern ab. Unter sich murrten sie selbstverständlich auch, aber es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als nach außen hin so zu tun, als schenkten sie Cortés Glauben. Ich möchte noch darauf hinweisen, daß er sich hütete, Florencia mit zurückzubringen, um sich seine Geschichte von ihr bestätigen zu lassen. Er wollte nicht riskieren, daß sie nochmals Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wurde und Anerkennung fand, indem sie Gelegenheit bekam, womöglich öffentlich ihre Lügen als Lügen hinzustellen. Wo und wie er sich dieser Person entledigte, hat nie jemand gehört; aber es hat wohl auch niemand interessiert, sich zu erkundigen.
Zweifellos hat es Cortés' Zorn erregt, daß ich mich von seiner Expedition abgesetzt hatte, doch muß dieser Zorn im Laufe des folgenden Jahres ziemlich verraucht sein, denn er befahl nie, Jagd auf mich zu machen, jedenfalls nicht, daß ich wüßte. Keiner seiner Männer kam je, sich zu erkundigen, wo ich abgeblieben sei; keiner seiner Hunde wurde ausgeschickt, mich aufzustöbern. Béu und ich durften weiterleben, so gut es eben ging.
Inzwischen war der Markt von Tlaltelólco wiederhergestellt worden, wenn auch bei weitem nicht so groß, wie er früher gewesen war. Ich ging dorthin, um zu sehen, was dort gekauft und verkauft wurde und zu welchen Preisen. Auf dem Markt wimmelte es genauso von Menschen wie früher, wenn auch mindestens die Hälfte der Menge aus weißen Männern und Frauen bestand. Mir fiel auf, daß unter meinen Landsleuten die meisten Waren im Tausch den Besitzer wechselten – »Ich gebe dir diesen Truthahn für diese Schale« –, die spanischen Käufer hingegen zahlten mit Geld: Ducados, Reales und Maravedíes. Wenn sie auch zur Hauptsache Lebensmittel und andere Waren des täglichen Gebrauchs kauften, erstanden sie doch auch eine Menge Dinge, welche eigentlich so gut wie keinen Nutzwert besaßen oder schön gewesen wären. Ich lauschte ihren Unterhaltungen und erfuhr auf diese Weise, daß sie »lustige Eingeborenenhandarbeiten« kauften, um sie als Kuriosa aufzubewahren oder als »Erinnerung an Neuspanien« an ihre Verwandten daheim zu schicken.
Wie Ihr wißt, Euer Exzellenz, haben in den Jahren seit dem Wiederaufbau viele verschiedene Flaggen über der Ciudad de Mexíco geweht. Da ist Cortés' Hausstandarte gewesen: Blau und Weiß mit einem roten Kreuz darin; und die blutrotgoldene Flagge Spaniens; und diejenige mit der Heiligen Jungfrau in, wie ich meine, wirklichkeitsgetreuen Farben darin; und diejenige mit dem doppelköpfigen Adler des Kaiserreiches; und andere, deren Bedeutung mir unbekannt ist. An diesem Tage sah ich auf dem Markt viele Handwerker unterwürfig kleine Kopien dieser verschiedenen Flaggen feilhalten, gut oder schlecht ausgeführt, doch selbst die besten schienen den müßig suchenden Spaniern keine Begeisterung zu entlocken. Und ich sah, daß keiner von diesen Händlern ähnliche Abbilder unserer eigenen stolzen Zeichen des Volkes der Mexíca anboten. Vielleicht hatten sie Angst, man könne ihnen vorwerfen, Sympathien zu hegen, welche sich gegen den Frieden und die gute Ordnung wendeten.
Nun, dergleichen Ängste hatte ich nicht. Oder vielmehr hätte ich mich ja längst wesentlich schwerwiegenderer Vergehen wegen zu verantworten gehabt, so daß mir diese harmlosen keinerlei Sorgen bereiteten. Ich kehrte zurück in unsere armselige kleine Hütte und fertigte eine Zeichnung, kniete mich neben Béus Lager hin und hielt sie ihr dicht vor die Augen.
»Wartender Mond«, sagte ich, »kannst du dies deutlich genug erkennen, um es nachzumachen?« Sie strengte die Augen an, und ich zeigte ihr die verschiedenen Bestandteile. »Schau, das ist ein Adler, die Schwingen ausgebreitet wie zum Flug, und er hockt auf einem Nopáli-Kaktus, und im Schnabel hält er das Kriegssymbol ineinander verschlungener Bänder …«
»Ja«, sagte sie. »Ja, jetzt, wo du es mir sagst, kann ich die Einzelheiten besser erkennen. Aber sie nachmachen, Záa? Was meinst du damit«
»Wenn ich das Material dafür kaufe, könntest du dies dann nachmachen, indem du es mit verschiedenfarbenen Fäden auf ein kleines Stück Stoff stickst? Es braucht nicht so köstlich zu sein wie die Dinge, welche du früher geschaffen hast. Einfach Braun für den Adler, Grün für den Nopáli und vielleicht Rot und Gelb für die Bänder.«
»Ich glaube, das könnte ich wohl. Aber wozu?«
»Wenn du genug davon machst, könnte ich sie auf dem Markt verkaufen. An die weißen Männer und Frauen. Sie scheinen derlei Dinge zu schätzen, und sie zahlen in klingender Münze dafür.«
Sie sagte: »Ich werde eines machen, und du siehst mir dabei zu, so daß du mich darauf aufmerksam machen kannst, wenn ich etwas falsch mache. Wenn ich eines richtig gemacht habe und es mit den Fingerspitzen ertasten kann, könnte ich das als Vorlage nehmen, um viele andere danach zu sticken.«
Selbiges tat sie, und sehr hübsch dazu. Ich bewarb mich um einen Stand auf dem Markt, wo mir ein kleiner Platz zugewiesen wurde, und dort breitete ich ein Tuch auf dem Boden aus und darauf die Abbilder des alten Wappens der Mexíca. Niemand von der Obrigkeit kam, mich zu belästigen oder hieß mich die Dinge wegnehmen; vielmehr kamen viele Leute und kauften sie. Die meisten von ihnen waren Spanier, doch selbst ein paar Landsleute von mir boten mir zum Tausch dafür dies oder das an, weil sie gedacht hatten, sie würden diese Erinnerung daran, wer wir waren und was wir gewesen waren, nie wieder zu sehen bekommen.
Von Anfang an beklagten viele Spanier sich über die Darstellung: »Das ist keine lebensechte Schlange, welche der Adler frißt.« Ich versuchte ihnen klarzumachen, daß es auch keine Schlange sein solle und der Adler sie auch nicht fresse. Doch sie schienen unfähig zu begreifen, daß es sich um ein Wortbild handelte, die verschlungenen Bänder, welche Feuer und Rauch darstellten und infolgedessen Krieg bedeuteten. Und Krieg, so erklärte ich, habe einen Großteil der Geschichte der Mexíca ausgemacht, was man von einer Schlange nicht behaupten könne. Sie sagten nur: »Mit einer Schlange würde es sich besser machen.«
Nun, wenn sie unbedingt wollten, sollten sie es haben. Ich fertigte nochmals eine Zeichnung an und half Wartendem Mond, eine neue Stickerei danach zu machen, welche sie fortan als Vorlage benutzte. Als andere Händler auf dem Markt das Wappen nachmachten, was sich schließlich nicht vermeiden ließ, machten sie es samt Schlange nach. Keine der Nachahmungen war so gut wie die von Béu, und so litt mein Geschäft nicht sonderlich. Vielmehr belustigte es mich zu sehen, wie sklavisch die Leute sich an mein Vorbild hielten, freute es mich, daß ich eine völlig neue Industrie ins Leben gerufen hatte, und amüsierte mich auch darüber, daß ausgerechnet das mein letzter Beitrag zu Der Einen Welt sein sollte. Vieles war ich in meinem Leben gewesen, eine Zeitlang sogar der Edelmann Mixtzin, ein Mann, der etwas darstellte, der reich und hoch angesehen war. Gelacht hätte ich, würde mir damals jemand gesagt haben: »Du wirst deine Wege und Tage als gewöhnlicher Händler enden, welcher hochmütigen Fremden kleine Tuchkopien des Mexíca-Wappens verhökert – und eine schlechte Verfälschung noch dazu!« Ich würde gelacht haben, und so lachte ich wirklich, während ich Tag für Tag auf dem Markt hockte und diejenigen, welche stehenblieben und sich herabbeugten, mich für einen komischen alten Mann hielten.
Wie es sich ergab, endete ich nicht ganz damit, denn es kam der Tag, da Béus Augenlicht gänzlich versagte, ihre Finger auch nicht mehr wollten und sie nicht mehr sticken konnte. So mußte ich meinen kleinen Abstecher in den Kleinhandel abbrechen. Seither haben wir von den Ersparnissen gelebt, den Münzen, welche wir beiseitegelegt hatten, wiewohl Wartender Mond oft und ärgerlich den Wunsch geäußert hat, der Tod möge sie aus ihrem schwarzen Gefängnis der Langeweile, der Unbeweglichkeit und des Elends befreien. Mir selbst hätte ich diese Erlösung vielleicht gleichfalls gewünscht, doch dann fanden die Patres Eurer Exzellenz mich, brachten mich hierher, und Ihr ließet mich von vergangenen Zeiten erzählen und das ist Ablenkung genug gewesen, meinen Wunsch, noch weiterzuleben, weiterhin zu nähren. Wenn auch meine Beschäftigung hier für Béu eine womöglich noch traurigere und einsamere Gefangenschaft bedeutete, hat sie das ertragen, bloß, damit ich jemand hätte, zu dem ich heimkommen konnte in jenen Nächten, da ich heimgegangen bin in diese Hütte. Wenn ich für immer dorthin zurückkehre, werde ich vielleicht dafür sorgen, daß es sowohl für sie als auch für mich nicht mehr allzu lange dauert. Wir haben keine Aufgabe mehr und auch keine andere Entschuldigung, länger in dieser Welt der Lebenden zu bleiben. Und ich sollte vielleicht noch erwähnen, daß unser letzter Beitrag, welchen wir für Die Eine Welt leisteten, mich jetzt nicht mehr belustigt. Geht heute auf den Markt von Tlaltelólco, und Ihr werdet feststellen, daß das Wappen der Mexíca dort immer noch verkauft wird – samt Schlange. Doch was schlimmer ist – und weshalb es mich eben nicht belustigt- Ihr werdet dort auch noch die Geschichtenerzähler hören, welche diese erfundene und unpassende Schlange in unsere ehrwürdigste Legende einflechten:
»Höret mich und wisset! Als unser Volk zuerst hierher in dieses Seengebiet kam, als wir noch die Azteca waren, gebot unser großer Gott Huitzilopóchtli unseren Priestern, Ausschau zu halten nach einem Ort, wo ein Nopáli-Kaktus wächst, und darauf ein Adler, der eine Schlange frißt …«
Nun ja, Euer Exzellenz – soviel zur Geschichte. Ich vermag an den erbärmlichen kleinen Verfälschungen daran nichts zu ändern. Genausowenig, wie ich an der weit beklagenswerteren Wirklichkeit dieser Geschichte nichts ändern kann. Doch die Geschichte, welche ich erzählt habe, ist die Geschichte, welche ich erlebt und an welcher ich einigen Anteil gehabt habe, und ich habe sie wahrheitsgetreu erzählt. Darauf küsse ich die Erde, will sagen: Das schwöre ich.
Nun könnte es ja sein, daß ich in meiner Erzählung hier und da eine Lücke gelassen habe, welche Euer Exzellenz noch ausgefüllt haben möchte, oder es könnten Fragen aufgetaucht sein, auf welche Euer Exzellenz Antwort erheischt, oder Ihr könntet nach Einzelheiten fragen, welche das eine oder das andere betreffen. Allerdings bitte ich, daß sie noch für einige Zeit zurückgestellt werden und man mir gestattet, mich von meiner Arbeit auszuruhen. Ich bitte Euer Exzellenz um Erlaubnis, mich nun von Euch und den ehrwürdigen Patres und diesem Raum zu verabschieden, welcher in dem Haus liegt, welches einst das Haus des Gesanges gewesen ist. Nicht, daß ich es müde wäre zu sprechen, oder daß ich alles erzählt hätte, was gesagt werden könnte, oder weil ich vermutete, daß Ihr es überdrüssig wäret, mich erzählen zu hören. Ich bitte, mich verabschieden zu dürfen, weil gestern abend, als ich heimkehrte in meine Hütte und ich mich neben dem Lager meiner Frau niedersetzte, etwas Erstaunliches geschah. Wartender Mond sagte mir, sie liebe mich! Sie erklärte, sie liebe mich, habe mich immer geliebt und liebe mich immer noch. Da Béu nie in ihrem Leben so etwas zu mir gesagt hatte, meine ich, könnte jetzt das Ende ihres langen Sterbens gekommen sein, und daß ich bei ihr sein sollte, wenn es kommt. Mögen wir noch so verlassen und allein sein, sie und ich, wir sind alles, was wir noch haben … Gestern abend hat Béu gesagt, sie habe mich geliebt seit unserem ersten Kennenlernen vor vielen Jahren, in Tecuantépec, in den Tagen unserer grünsten Jugend. Doch habe sie mich bei der ersten Gelegenheit verloren, und zwar für immer verloren, sagte sie, als ich beschloß, den Purpurfarbstoff zu suchen, als sie und ihre Schwester Zyanya die kleinen Zweige zogen, um zu entscheiden, wer von den beiden Mädchen mich begleiten solle. Da habe sie mich zwar verloren, sagte sie, doch habe sie nie aufgehört, mich zu lieben, und sei nie einem anderen Mann begegnet, den sie habe lieben können. Und als sie mir gestern abend diese erstaunliche Enthüllung machte, ging mir ein unwürdiger Gedanke durch den Kopf. Ich dachte: Wärest du, Béu, es gewesen, die mit mir gegangen wäre, und die mich bald hinterher geheiratet hätte, dann würde es Zyanya sein, welche ich jetzt immer noch bei mir haben würde. Doch dieser Gedanke wich einem anderen, der sich gleich darauf einstellte: Würde ich denn wünschen, daß Zyanya all das erlitten hätte, was du erlitten hast, Béu? Und mich dauerte das arme Wesen, welches da lag und sagte, es liebe mich. Sie klang so traurig, daß ich es wagte, mich ein wenig lustig darüber zu machen. Ich meinte, sie habe schon eine recht merkwürdige Art gehabt, mir ihre Liebe zu zeigen, und erzählte ihr, ich hätte gesehen, wie sie sich in der schwarzen Kunst versucht und ein Lehmbild von mir gefertigt, wie die Hexenfrauen es tun, wenn sie einem Mann etwas Böses wünschen. Béu sagte, und das klang noch trauriger, sie habe es nicht gemacht, um mir weh zu tun; sie habe so lange und vergeblich darauf gewartet, daß wir das Lager miteinander teilten; deshalb habe sie dieses Bild gemacht, um damit zu schlafen und mich vielleicht dadurch zu verzaubern, auf daß ich sie in die Arme schließe und sie liebe. Schweigend saß ich daraufhin neben ihrem Lager, und ich sann über viele Dinge nach und erkannte, wie blind und wie unzugänglich ich gewesen war in all den Jahren, in denen Béu und ich einander gekannt hatten; daß ich blinder und kranker an den Augen gewesen war als Béu jetzt, wo sie völlig erblindet ist. Es steht einer Frau nicht an zu erklären, daß sie einen Mann liebe, und Béu hatte dieses traditionelle Verbot stets beachtet; nie hatte sie es gesagt, sondern ihre Gefühle stets hinter einer Keckheit verborgen, welche ich eigensinnig immer für Hohn und Spott gehalten. Nur wenige Male hatte sie ihre damenhafte Zurückhaltung aufgegeben – und mir fiel ein, daß sie einst sehnsüchtig gesagt hatte: »Früher habe ich mich gefragt, warum ich Wartender Mond genannt wurde« –, und ich hatte mich stets geweigert, diese Augenblicke zu erkennen, wo ich doch nichts weiter hätte zu tun brauchen, als die Arme auszubreiten … Gewiß, ich liebte Zyanya, habe sie immer geliebt und werde sie immer weiter lieben. Doch dem hätte es ja keineswegs irgendwelchen Abbruch getan, wenn ich später auch Béu geliebt hätte. Ayya, die Jahre, welche ich vertan habe! Schließlich hatte ich mich ja selbst um etwas gebracht; ich kann die Schuld daran auf niemand anders schieben. Und was mich im Herzen noch mehr schmerzt, ist die schroffe Art, in welcher ich Wartenden Mond zurückgestoßen habe, welche so lange gewartet hat, bis es jetzt zu spät ist, auch nur einen allerletzten Augenblick von all diesen vertanen Jahren zu retten. Ich würde es sie ja spüren lassen, wenn ich könnte, aber ich kann es nicht. Ich hätte sie ja gestern abend zu mir genommen und in Liebe bei ihr gelegen, und vielleicht hätte ich es gekonnt; aber was von Béu noch übriggeblieben ist, konnte es nicht. So tat ich das einzige, was möglich war, nämlich sprechen. und so sprach ich ganz aufrichtig, als ich sagte: »Béu, meine geliebte Frau, ich liebe dich auch.« Sie konnte nicht antworten, denn die Tränen kamen ihr und erstickten das bißchen Stimme, was ihr noch geblieben war. Aber sie streckte die Hand nach mir aus. Ich drückte sie zärtlich und saß da und hielt sie, und ich hätte auch unsere Finger verschränkt doch nicht einmal das konnte ich tun, denn sie hat keine Finger mehr. Wie Ihr vermutlich schon erraten habt, ehrwürdige Patres, war der Grund ihres langen Sterbens der, daß sie an der Krankheit des Von-den-Göttern-gefressen-Werdens litt. Ich habe bereits beschrieben, wie das ist, und so möchte ich jetzt lieber nicht erzählen, was die Götter noch nicht gefressen haben von der Frau, welche einst so schön gewesen war wie Zyanya. Ich saß einfach neben ihr, und wir schwiegen beide. Ich weiß nicht, was sie dachte, doch ich erinnerte mich an die Jahre, da wir zusammen und doch nicht zusammen gelebt haben, und was für eine unverzeihliche Verschwendung das ist. Liebe und Zeit, das sind die einzigen Dinge in der ganzen Welt und im ganzen Leben, welche man nicht kaufen, sondern nur geben kann. Gestern abend haben Béu und ich einander endlich unsere Liebe gestanden. Ich erinnerte mich an jene Nacht, da mein Vater mich auf den Schultern unter den »ältesten der alten« Zypressen über die Insel Xaltócan dahintrug, und wie ich vom Mondschein in Mondschatten getragen wurde und dann wieder hinein in den Mondschein. Damals ist es mir selbstverständlich nicht bewußt gewesen, doch habe ich damals erfahren, wie mein Leben verlaufen sollte – abwechselnd in Licht und in Schatten, in gesprenkelten Tagen und Nächten, guten Zeiten und schlechten. Seit jener Nacht habe ich mein Teil an Ungemach und Kummer getragen, möglicherweise mehr als ein gerüttelt Maß. Doch daß ich Béu Ribé unverzeihlicherweise vernachlässigt habe, ist Beweis genug, daß auch ich anderen Ungemach und Kummer zugefügt habe. Nun, es nützt nichts, sein Tonáli zu bedauern oder zu beklagen. Und ich meine, alles in allem ist mein Leben eher gut als schlecht verlaufen. Die Götter haben mir viel Glück geschenkt und mir bisweilen auch Gelegenheit gegeben, Gutes zu tun. Wenn ich irgend etwas an meinem Leben beklagen sollte, so nur, daß die Götter mir das allerletzte Glück versagten: meine Wege und Tage zu enden, als meine wenigen guten Taten getan waren. Das ist lange her, und ich lebe immer noch. Selbstverständlich, wenn ich will, kann ich mir einreden, daß die Götter auch dafür gute Gründe haben. Wenn ich mich entschließe, mich jener fernen Nacht als eines trunkenen Traums zu erinnern, kann ich mir einreden, daß zwei von diesen Göttern mir ihre Gründe sogar genannt haben. Sie sagten mir, mein Tonáli sei es nicht, glücklich oder traurig, reich oder arm, tätig oder müßig, ausgeglichen oder unausgeglichen, klug oder dumm, freudig oder verzagt zu sein – wiewohl ich auch all dies irgendwann einmal gewesen bin. Nach den Göttern sei es mir vom Tonáli einzig bestimmt zu wagen, jede Herausforderung und jede Gelegenheit wahrzunehmen, mein Leben so voll zu leben, wie ein Mensch es nur kann. Dadurch, daß ich das tat, habe ich an vielen Ereignissen teilgenommen, großen und kleinen, historischen und belanglosen. Aber die Götter – wenn es denn Götter waren und wenn sie wahr gesprochen – sagten auch, meine eigentliche Aufgabe bei diesen Ereignissen sei einzig und allein, mich ihrer zu erinnern, und sie denen zu erzählen, die nach mir kommen würden, auf daß diese Geschehnisse nicht vergessen würden. Nun, das habe ich jetzt getan. Bis auf ein paar Kleinigkeiten, von denen Euer Exzellenz vielleicht möchten, daß ich sie noch nachtrage. Sonst wüßte ich nichts mehr zu berichten. Wie ich gleich zu Anfang warnend gesagt habe, konnte ich nichts weiter als mein eigenes Leben erzählen, und das ist nun vorüber. Wenn es noch eine Zukunft gibt, so kann ich sie nicht vorhersehen, und ich glaube, ich würde es auch nicht wollen. Ich erinnere mich jener Worte, welche ich so viele Male während meiner Suche nach Aztlan zu hören bekam, jene Worte, welche Motecuzóma in jener Nacht, da wir im Mondschein oben auf der Pyramide von Teotihuácan saßen, wiederholte wie einen Grabspruch: »Die Azteca sind hiergewesen, aber sie haben nichts mitgebracht, und sie haben auch nichts hiergelassen, als sie fortzogen.« Die Azteca, die Mexíca – welchen Namen ihr auch vorziehen möget –, wir gehen jetzt, wir werden verstreut und aufgesogen, und bald werden wir alle fort sein, und es wird wenig dasein, was an uns erinnert. Auch all die anderen Völker, welche von euren Soldaten überrannt wurden, die ihnen neue Gesetze aufzwangen von euren Edelleuten und Besitzern, welche Sklavenarbeit fordern, von euren Missionspatres, welche neue Götter bringen – auch diese Völker werden vergehen, oder sich so sehr verändern, daß man sie nicht mehr wiedererkennt oder an Altersschwäche zugrunde gehen. Cortés siedelt in diesem Augenblick seine Kolonisten in den Landen am Süd-Meer an. Alvarado ist dabei, die Dschungelstämme Quautemálans zu unterwerfen. Montejo kämpft, um die zivilisierten Maya auf der Halbinsel Uluümil Kutz zu unterwerfen. Guzmán ist dabei, die trotzigen Purémpecha von Michihuácan zu unterwerfen. Zumindest können diese Völker wie wir Mexíca sich damit trösten, daß sie bis zum Letzten gekämpft haben. Mehr leid tun mir eigentlich jene Völker – selbst unsere alten Feinde, die Texcaltéca –, welche es jetzt so bitter bereuen, euch weißen Männern geholfen zu haben, Die Eine Welt so schnell einzunehmen. Soeben habe ich gesagt, ich könne die Zukunft nicht vorhersehen, doch in gewisser Weise habe ich sie bereits gesehen. Ich habe Malintzins Sohn Martin gesehen und die immer größer werdende Schar von kleinen Jungen und Mädchen von der Farbe billiger, verwässerter Schokolade. Möglich, daß das die Zukunft ist: nicht, daß alle die Völker Der Einen Welt ausgerottet werden, sondern daß sie verwässert werden zu einer flauen Schwäche und Gleichheit und Wertlosigkeit. Vielleicht habe ich unrecht; ich bezweifle es; aber ich kann hoffen, daß ich unrecht habe. Möglich, daß es irgendwo noch Menschen in diesen Landen gibt, so abgelegen, so unbesieglich, daß man sie in Frieden läßt, und daß sie sich vermehren, und dann … aquin ixnéntla? Ayyo, fast hätte ich Lust, so lange zu leben, daß ich noch erlebe, was dann geschieht! Meine eigenen Ahnen haben sich nicht geschämt, sich selbst die Unkrautmenschen zu nennen, denn mag Unkraut auch unansehnlich und unerwünscht sein, es ist ungeheuer stark, und es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, es ganz auszurotten. Erst nachdem die Zivilisation der Unkrautmenschen gedieh und zu großer Blüte gelangte, wurden sie niedergemäht. Blumen sind wunderschön, sie duften und sind begehrenswert, aber sie sind auch vergänglich. Vielleicht gibt es in Der Einen Welt andere Unkrautmenschen oder wird es geben, und vielleicht ist es ihr Tonáli, als nächste zu erblühen, und vielleicht werdet ihr weißen Männer nicht in der Lage sein, sie niederzumähen, und vielleicht gelingt es ihnen, so hoch aufzusteigen, wie wir einst aufgestiegen sind. Es könnte sein, wenn sie marschieren, daß einige meiner eigenen Nachkommen in ihren Reihen mitmarschieren. Ich habe keine Ahnung, welche Samen ich in den fernen Südlanden gelegt habe; die Menschen dort sind seit so langer Zeit so verkommen, daß sie nie wieder etwas sein werden, nicht einmal dadurch, daß ihnen Mexícatl-Blut zugeführt worden ist. Aber im Norden – nun, unter den vielen Orten, wo ich geliebt habe, ist immer noch Aztlan. Und vor langer Zeit ist mir aufgegangen, was die Einladung bedeutet hat, welche der Geringere Sprecher übermittelt hat, der gleichfalls Tliléctic-Mixtli hieß. Er sagte: »Du mußt wieder nach Aztlan kommen, Bruder, dort erwartet dich eine kleine Überraschung«, doch erst später fiel mir wieder ein, daß ich viele Nächte hindurch bei seiner Schwester gelegen habe, und ich wußte, worin diese Überraschung bestehen muß. Oft habe ich mich gefragt: Knabe oder Mädchen? Doch das eine weiß ich: Er oder sie wird nicht stumpf in Aztlan zurückbleiben, sollte eine neue Völkerwanderung von dort ausgehen. Und ich wünsche dem jungen Unkraut allen Erfolg … Aber ich schwafle schon wieder, Seine Exzellenz werden unruhig. Wenn Ihr denn gestattet, Señor Obispo, werde ich mich jetzt verabschieden. Ich werde gehen und bei Béu sitzen, und ich werde ihr immer wieder sagen, daß ich sie liebe, denn ich möchte, daß das die letzten Worte sind, welche sie jede Nacht hört, ehe sie einschläft, und ehe sie den allerletzten Schlaf beginnt. Und wenn sie schläft, werde ich mich erheben und hinausgehen in die Nacht und durch die leeren Straßen wandern.