Erster Teil - Vorbereitungen

 

 

Maryland, USA

14. Juli 2016

 

Das weiße Holzhaus mit den dunkelgrauen Dachschindeln und der großzügigen Veranda thronte majestätisch über der kleinen Bucht. Das zweistöckige Gebäude stammte noch aus der Kolonialzeit und wirkte trotz seines Alters ungewöhnlich gut gepflegt. Die Bretter der Fassade waren frisch gestrichen, die prächtigen Laubbäume entlang der bekiesten Zufahrt schienen perfekt geschnitten und die saftig grüne Rasenfläche des riesigen Gartens war makellos. Direkt von der Veranda des Hauses führte eine lange Metalltreppe hinunter zum etwa dreißig Meter tiefer liegenden Sandstrand. Von dort verlief ein gepflasterter Weg weiter zu einem kleinen Strandhaus, dessen Fensterläden geschlossen waren. Ein breiter verwitterter Steg führte an die fünfzig Meter weit in die schmale Bucht hinaus. Draußen lag ein weißes Segelboot vor Anker und schaukelte ruhig im klaren, dunkelblauen Wasser. Eine milde Brise wehte würzige Seeluft aus der Chesapeake Bay über das stolze Anwesen und ließ das Sternenbanner auf dem langen Fahnenmast zaghaft flattern.

Oben auf der Veranda sog Vice Admiral  Jim Franklin an seiner dicken Zigarre und genoss die Ruhe des Tages. Der große Marineoffizier lehnte entspannt an dem weißen Geländer und blickte träumerisch auf die Bucht hinaus. Ganz weit draußen konnte er mehrere Segelboote erkennen, die den aufkommenden Wind nutzten und Richtung Süden die Bay hinunter glitten. Beinahe sehnsüchtig beobachtete er die kleinen Boote, deren schnittige Rümpfe scheinbar widerstandslos durch die niedrigen Wellen schnitten.

Der Admiral war in seinem Herzen immer ein Seemann geblieben, mit dem unbeschreiblichen Drang nach den endlosen Weiten des Ozeans. Daran konnte auch der manchmal sehr weit vom Meer entfernte Posten an seinem Schreibtisch im Kommandogebäude der Naval Special Warfare Group Two in Little Creek, Virginia, nichts ändern. Jim Franklins Kommando unterstanden unter anderem die SEAL-Teams Zwei, Vier und Acht. Jedes der Teams setzte sich aus mehrfach handverlesenen Männern der berüchtigten Spezialeinheit der Navy für besonders heikle Fälle zusammen. Die Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaftsgrade, die unter Franklin dienten, hatten sich, wie ihre Vorgänger seit den Zeiten des Vietnamkrieges, einen ausgezeichneten Ruf als Kampfschwimmer, Fallschirmjäger, Kommandoeinheiten, als Sabotagetrupps und neuerdings auch als Antiterroreinheit erworben. Franklin war stolz auf seine Jungs und fühlte sich immer noch als einer von ihnen.  Im Grunde genommen war es das ja auch, was der goldene Trident-Anstecker an der Brust seiner Uniform deutlich machte. Ein Abzeichen, das er nach wie vor mit Stolz trug, obwohl seine aktive Zeit schon lange zurücklag.

Doch war man einmal ein SEAL, dann war man dies solange, bis man den Löffel abgab, das zumindest war Franklins Meinung zu diesem Thema. Und in dieser Hinsicht akzeptierte er keinerlei andersartige Ansichten.

Franklin trug legere Freizeitkleidung, Jeans und einen hellgrauen Sweater, der jedoch seine breiten Schultern und die ausgebildeten Oberarme nicht zu verbergen vermochte. Der neunundfünfzigjährige Karriereoffizier hatte sich außerordentlich gut in Schuss gehalten und legte sehr viel Wert auf körperliche Fitness. Sein Credo lautete, dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnen konnte. Das konnte manchmal durchaus falsch verstanden werden, doch darum scherte sich der alternde SEAL kein bisschen. Er war schon immer in seinem Leben angeeckt, hatte sich mit Leuten angelegt, denen jeder andere wahrscheinlich aus dem Weg gegangen wäre, doch war dabei immer seinen Überzeugungen und Grundsätzen treu geblieben. Grundsätze und Wertvorstellungen, die heute offenbar nichts mehr wert waren, resümierte er verbittert, als er an den Grund dachte, aus dem er heute hier war.

Franklin sog noch einmal an dem Stumpen seiner Zigarre und schickte das erkaltete Stück kubanischen Tabaks danach mit einem Fingerschnippen über die steilen Klippen. Er hatte das Motorengeräusch gehört und sich deshalb auf den Weg zum kreisrunden Vorplatz des Hauses gemacht. Franklin verließ die Veranda und durchquerte das Erdgeschoß des alten Hauses. Als er durch das Fliegengitter der Haustür nach draußen ging, sah er den silbernen Lincoln mit dem Washingtoner Kennzeichen gerade das offen stehende Einfahrtstor passieren und danach langsam die Auffahrt heraufkommen. Franklin stieg die wenigen Stufen vor dem Hauseingang hinab und blieb vor dem abbremsenden Wagen stehen. Der Motor erstarb und die Türen öffneten sich.

„Hallo John, schön dich zu sehen“, sagte Franklin und schüttelte dem Fahrer des Autos, der mühsam ausgestiegen war, einem wesentlich kleineren, dicklichen Mann so knapp an die sechzig, die behaarte Hand. Der Mann schwitzte stark, doch sein Händedruck war fest wie ein Schraubstock.

„Tag, Jim“, sagte er nur, um danach die Tür des Wagens geräuschvoll zuzuknallen. Franklin umrundete den Lincoln und begrüßte nun auch die beiden anderen Männer, die ausgestiegen waren. Danach deutete Franklin auf das große Haus.

„Lasst uns reingehen. Ich habe eine kleine Erfrischung vorbereitet.“

 

„Verdammt schönes Haus, Jim“, lobte General John Grant, United States Army, nachdem er draußen auf der Veranda von seinem Whiskey genippt und die Aussicht auf die Bucht genossen hatte. „Jammerschade, dass du dein Büro nicht hier draußen hast.“

„Wieso?“ grinste Franklin, „Weil du dann in Washington der alleinige Platzhirsch und begehrteste Junggeselle wärst?“

„Ganz genau, Seemann!“ Der Dreisternegeneral der Army, seines Zeichens Vorsitzender des unter Präsident Bush gegründeten Kommandos zur teilstreitkräfteübergreifenden Terrorbekämpfung, lächelte verschmitzt und dachte an die unzähligen Abende, die er zusammen mit seinem alten Akademiekameraden durchzecht hatte.

„Ich wusste gar nicht, dass Sie beide sich so gut kennen“ stellte einer der beiden anderen Gäste fest, der ebenfalls an einem Whiskey nippend die Veranda betrat. Major General Cliff Garrett vom US Marine Corps war ein mittelgroßer Mann mit scharfen Gesichtszügen und feuerroten, kurz geschorenen Haaren. Seine stechenden, dunkelblauen Augen zeugten von messerscharfem Verstand, seine Haltung war immer kerzengerade und wirkte angespannt, wie eine Raubkatze kurz vor der Attacke. Garrett kommandierte den Stützpunkt der Marines in Quantico, Virginia, mit eiserner Hand und rigoroser Disziplin.

„Na ja, wir haben das eine oder andere Ding zusammen gedreht“, schmunzelte General Grant, dem gerade wieder die Geschichte mit dem hübschen Lieutenant damals auf dem NATO-Ball eingefallen war. Dann fiel sein Blick auf den vierten Teilnehmer des Treffens, Air Force-Colonel Ed Bremner, der bis dato ziemlich ruhig gewesen war und sich irgendwie nicht ganz wohl zu fühlen schien. Bremner, den Franklin als überaus patriotischen und loyalen Offizier kannte, arbeitete die meiste Zeit des Jahres an einem der nicht für die Öffentlichkeit zugänglichen Spezialprogramme der Air Force und erforschte dort neue Wege, den Weltraum militärisch zu nutzen. Und das meistens alleine. Er war also nicht gerade der geborene Teamspieler, weshalb er sich an dem zwanglosen Geplauder auch nicht ohne weiteres beteiligen konnte. Ein kurzer Blick zu Admiral Franklin bestätigte Grant, dass dieser das auch gemerkt hatte und dass die Zeit des Smalltalks vorbei war.

„Gentlemen“ sagte Franklin, der sein leeres Glas auf das Geländer der Veranda stellte, „ich schlage vor, wir beginnen mit dem geschäftlichen Teil unseres Zusammentreffens.

 

Das großzügige Arbeitszimmer im Erdgeschoss des Hauses war mit roten Samtmöbeln aus dem letzten Jahrhundert ausgestattet. Ein riesiger Tisch aus poliertem Eichenholz stand in der Mitte des mit dickem Teppichboden ausgelegten Raumes. Die Wände und Decken waren restauriert, ansonsten aber im Originalzustand belassen worden. Ein großer Deckenventilator drehte sich langsam, verwehte die schwüle Luft des lauen Abends und passte irgendwie überhaupt nicht zur sonstigen Einrichtung des Raumes. Die vier Männer saßen in tiefen Polstersesseln in einem lockeren Halbkreis und blickten durch das große Panoramafenster auf die dunkle Bay hinaus. Am Horizont sah man die Positionslichter eines großen Frachters, der von Baltimore aus in den Atlantik auslief.

Admiral Jim Franklin wandte seinen Blick von der Bucht ab und sah die anderen Männer aufmerksam an. Dann ergriff er das Wort.

„Ich habe Sie gebeten, an diesem Treffen teilzunehmen, weil ich Sie lang genug kenne, um mir über Ihre Loyalität und Ihre Grundsätze im Klaren zu sein. Ich weiß, dass Sie das, was ich Ihnen nun berichten werde, ebenso erschütternd finden werden wie ich und dass wir zusammen über die Konsequenzen beraten sollten.“

Franklin setzte sich seine Lesebrille auf und blätterte in einer ziemlich dicken Akte, die er seinem schwarzen Lederkoffer entnommen hatte. Die anderen drei Männer warteten aufmerksam, bis Franklin wieder zu sprechen begann.

„Das“, sagte er und deutete kurz auf die Akte, „ist ein Dokument direkt aus dem Weißen Haus, von dessen Existenz eigentlich niemand außer dem Präsidenten und seinem engsten Vertrautenkreis etwas wissen sollte. Wenn bekannt wird, dass wir dieses Dokument besitzen, würde das katastrophale Folgen für uns nach sich ziehen. Ich selber werde mir deshalb höchste Verschwiegenheit und Diskretion auferlegen.“ Franklin schaute ernst in die Augen der anderen Offiziere.

„Dasselbe erwarte ich natürlich von Ihnen, Gentlemen.“

General Grant paffte an seiner Zigarre, bevor er antwortete.

„Jim, ich glaube wir alle hier sind uns über die Brisanz dieses Treffens im Klaren. Jeder von uns würde sich lieber die Zunge herausreißen, als irgendwas darüber durchsickern zu lassen.“

„Das versteht sich natürlich von selbst, Admiral“, pflichtete Cliff Garrett mit ernster Mine bei. Colonel Bremner nickte und sagte nichts.

Franklin öffnete die Akte, nachdem er noch für ein paar Sekunden in die Augen der Männer geblickt hatte.

„Die Akte ist streng vertraulich und dürfte sich nicht in meinem Besitz befinden. Woher oder von wem ich sie habe, ist nicht wichtig. Wichtig ist vielmehr der Inhalt, und über den werden wir uns jetzt unterhalten.“

Franklin nippte kurz an seinem Scotch, dann begann er vorzutragen.

„Ich halte hier das inoffizielle Regierungsprogramm von President James in Händen. Dieses Programm ist festgelegt und wird in der zweiten Legislaturperiode der Regierung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umgesetzt werden. James hat es zum Programm gemacht und wartet mit der Veröffentlichung natürlich bis nach den Wahlen. Wie wir alle wissen, ist sein republikanischer Herausforderer eine ausgewiesene Pfeife und wird im November zweifellos untergehen.“

General Grant nickte grimmig und wurde schon wieder zornig, als er an den charakterlosen Trottel dachte, den seine Partei in den Kampf gegen James schicken würde. Wie hatte es nur so weit kommen können, fragte er sich nicht zum ersten Mal.

„Wie auch immer“, fuhr Franklin fort, „James wird zu fünfundneunzig Prozent auch die nächsten vier Jahre der Präsident sein und wird alles, was in diesem Dossier steht, umsetzen wollen. Das hat mir meine Quelle bestätigt. Sehen Sie also alles, was ich Ihnen jetzt berichte, als festgelegt und unausweichlich an.“

Franklin befeuchtete seine Lippen und blätterte ein paar Seiten in der Akte weiter. Grant sog angestrengt an seiner Zigarre und beobachtete aufmerksam die beiden anderen Offiziere.

„James hat vor, all unsere Truppen aus der Golfregion abzuziehen“, sagte Franklin und blickte auf. Der Schock in den Augen der beiden rangniedrigeren Offiziere saß tief, Grants Gesichtsausdruck war eher mürrisch.

„Das kann der Mistkerl nicht machen!“ polterte der bis dato sehr ruhige Colonel Edward Bremner von der United States Air Force. Der schlaksige Texaner sah mit seiner fortgeschrittenen Stirnglatze und dem dünnen Oberlippenbart wesentlich harmloser aus, als er es war. Die meisten seiner Untergebenen konnten dies nur bestätigen.

„Die verdammten Araber werden sich gegenseitig massakrieren und die, die übrig geblieben sind, werden danach gemeinsam auf die Israelis losgehen. Das ist doch Irrsinn!“ Bremner war fassungslos.

„Warten Sie ab, Edward. Es kommt noch besser“, brummte General Grant, der den Inhalt der Akte bereits kannte und sein berüchtigtes Temperament daher zügeln konnte. Franklin berichtete weiter.

„Weiters ist geplant, die Besetzung von Teheran einfach aufzuheben und alle Truppen aus dem Iran abzuziehen.“

„So kurz vor den ersten freien Wahlen? Das kann nicht sein Ernst sein, oder?“ General Garrett dachte an seine Marines, die für diesen bis dato letzten Kampf gegen den Terror gestorben waren. Dass das alles umsonst gewesen sein sollte, konnte er einfach nicht glauben.

„Wie lange glaubt dieser Idiot denn, dass es dauert, bis die Mullahs wieder die Macht ergriffen haben, wenn keiner meiner Männer dort unten ist und denen die Mündung eines M16 auf die Nase drückt. Oder was ist mit dem Irak?“ fragte Garrett. „Und die ohnehin sehr brüchige Demokratie, die dort im Begriff ist zu entstehen, wie lange würde die halten, ohne den Schutz unserer Flugzeugträger im Golf?“

„Und Afghanistan?“, ergänzte der Marine nach einer kurzen Pause, die er zum Luftholen genutzt hatte. „Wir haben nach wie vor große Probleme in den nördlichen Gebirgsregionen. Da liegt noch jahrelange Arbeit vor uns, bis wir die verdammten Taliban endlich ausgerottet haben. Die sitzen da immer noch irgendwo in ihren Höhlen und hecken was gegen uns aus.“

„Cliff, ich verstehe Ihre Aufregung. Uns ging es genauso. Aber warten Sie bitte noch kurz ab, bis Sie alles gehört haben, okay?“, versuchte Franklin den Heißsporn der Marines zu beruhigen. „Hören Sie sich den Rest an und danach werden wir uns alle darüber unterhalten. Eins kann ich Ihnen aber vorab schon sagen: Afghanistan wird ebenfalls aufgegeben.“

Garrett schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Es sog tief Luft ein und lockerte sich den Kragen, der ihm in den letzten Minuten zu eng geworden war. Das war alles einfach unglaublich, einfach unakzeptabel und größenwahnsinnig. Franklin hingegen blieb ruhig, als er fortfuhr.

„Der Präsident will den Krieg gegen den Terrorismus, den wir seit 2002 führen, beenden. Er hat vor, eine radikale Änderung in der US-Außenpolitik durchzuführen. James hat genug davon, dass amerikanische Soldaten überall auf der Welt die Polizisten und Aufpasser spielen sollen. Er möchte, dass diese Rolle an die regional zuständigen Länder übertragen wird. Was an sich eigentlich gar keine so schlechte Idee ist, nur nicht in dieser extrem kurzen Zeit, quasi von heute auf morgen. Das, was George W. Bush angefangen und zu einem unrühmlichen Ende geführt hat, und das, was President Obama und auch President James zu Beginn seiner Amtszeit danach erheblich besser gemacht haben, steht jetzt alles auf dem Spiel. Wir haben viel erreicht, doch es ist noch so verdammt viel zu tun. Es ist ernst, meine Herren.“

Franklin machte eine kurze Pause und sah in die Augen der anderen Offiziere, die sich nur mühsam zurückhielten, dann fuhr er fort.

„Punkt eins ist also: Änderung der Außenpolitik, Beendigung des zuletzt ohnehin schon gemäßigten Antiterrorfeldzuges und Rückzug aus dem Nahen Osten.“

„Man könnte es auch die Opferung Israels nennen!“, ergänzte General Grant mit bitterer Miene. Sein eigenes Kommando würde mit der Beendigung des Antiterrorfeldzuges zweifellos mit untergehen. All die jahrelange Aufbauarbeit, der Schweiß, das Blut, das seine Männer vergossen hatten, all das würde umsonst gewesen sein.

Franklin nickte zustimmend und dachte an seine Freunde in der Marinebasis von Tel Aviv. Kurz waren seine Gedanken abgelenkt, dann fuhr er fort.

„Aber ich habe auch Zahlen und Fakten zu definitiv geplanten Eingriffen direkt ins Verteidigungssystem zur Verfügung. Hier ein paar davon …“

Franklin hob die rechte Hand und zählte die Punkte mit den Fingern mit.

„Erstens: Beschneidung des Verteidigungshaushaltes um ca. dreißig bis vierzig Prozent, vielleicht auch mehr, das steht noch nicht genau fest.“

Garrett sog hörbar die Luft ein, Bremner wurde blass und Franklin fuhr fort.

„Zweitens: Was die Navy betrifft … Streichung des kurz vor der Fertigstellung befindlichen Arsenalschiffprogramms, und damit Eliminierung eines der fortschrittlichsten und effektivsten Waffensysteme, die man sich nur vorstellen kann … Verschrottung von drei unserer derzeit fünfzehn Flugzeugträgern und damit Kürzung auf die Kapazität von vor dem 11. September 2001 … Ein großer Teil der Atlantikflotte soll mangels eines Bedrohungsszenarios außer Dienst gestellt werden, dazu gehören insgesamt gesehen cirka die Hälfte der Boomer, also der strategischen Unterseeboote mit Interkontinentalraketen an Bord …  komplette Streichung des Superflugzeugträgerprogramms, also Vernichtung der geplante X-Klasse …“

Franklin sah wieder in die Runde der Infanterie- und Luftwaffenoffiziere, die irgendwie wohl noch hofften, dass das alles war, obwohl das auch schon genügt hätte. Doch er erhob stattdessen den dritten Finger seiner rechten Hand.

„Drittens: Das Raumflugprogramm wird komplett zurückgefahren, die Marsmission ist gestorben …  etwa ein Drittel der festlandgestützten Atomwaffen wird demontiert und eingemottet.“

Es war totenstill in dem schwülen Raum, man konnte nur das leise Surren des Deckenventilators hören. Colonel Bremner, der wohl als Einziger die Folgen dieser Entscheidung in ihrer gesamten Tragweite abschätzen konnte, war käsebleich. Er brachte kein Wort heraus, jetzt, da er seine Zukunft in Scherben liegen sah.

„Und viertens: Die 3rd Division der US Marines soll aufgelöst und die Stützpunkte in Okinawa und Hawaii sollen aufgelassen werden.“

„Dafür gibt es seit 1952 ein Gesetz, das genau das verhindern soll, verdammt!“, polterte General Garrett, der die geplante Kastrierung seiner ohnehin nur drei Divisionen nicht fassen konnte. „Er kann doch das Gesetz nicht einfach aufheben lassen!“

General Grant grunzte mürrisch, als er sich aus seinem Sessel erhob. „Wenn die öffentliche Stimmung vorhanden ist, und der Präsident genug Unterstützung im Kongress und aus den Reihen des Senats bekommt, dann kann er viel ändern, sehr viel …“

Garretts Zähne knirschten beinahe und seine Gesichtsfarbe war wesentlich bleicher, als sie das zu Beginn des Zusammentreffens gewesen war.

Franklin sah auf. „Kurz: Wir lassen die Hosen vor der Welt herunter und können nur hoffen, dass uns in Zukunft alle in Ruhe lassen und auf der ganzen beschissenen Erde alle in Frieden und Eintracht miteinander leben.“

Niemand konnte über diese letzte sarkastische Bemerkung lächeln, zu tief saß der Schock über das Gehörte.

„Wie sicher sind Sie sich mit dem, was Sie da gesagt haben? Ist die Quelle vertraulich?“ fragte General Garrett, der sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

„Zu fünfundneunzig Prozent, Cliff. Präsident James hat die Richtung vorgegeben, seine Berater haben Maßnahmen ausgearbeitet, James hat sie zusammengestaucht und Drastischeres verlangt, und schließlich ist diese Akte entstanden. Vielleicht wird noch das eine oder andere abgeändert, doch ich habe das sichere Gefühl, dass es deswegen nicht besser wird.“

„Das bedeutet für mich nur eins: Der Mann hat den Verstand verloren, eine andere Erklärung habe ich dafür nicht.“ Garrett schüttelte ungläubig den Kopf.

„Eine andere Frage ist,“ überlegte Colonel Bremner, der sich wieder einigermaßen gefangen hatte „angenommen, er hat wirklich alles vor, was Sie uns gerade erzählt haben, wie viel davon wird er umsetzen können? Was bringt er durch den Kongress und was kann er der Bevölkerung verkaufen?“

„Die Menschen haben genug von fünfzehn Jahren Krieg mit vielen Opfern und ohne richtige Siege. Die meisten werden hinter ihm stehen. Außerdem ist James ein Meister darin, seinen Wählern etwas schmackhaft zu machen. Das haben wir doch schon oft genug erlebt. Und der Kongress kann  auf längere Sicht gesehen im Grunde auch nur das machen, was die Bevölkerung will. Es war doch auch in der Vergangenheit immer dasselbe. Ich glaube, dass er vielleicht die Hälfte oder sogar zwei Drittel von dem, was er vorhat, durchsetzen kann. Bei den für sein Vorhaben nötigen Gesetzen sieht die Sache da vielleicht schon ein bisschen besser für uns aus …“, resümierte General Grant, der sich schon so seine Gedanken gemacht hatte. Der Armeegeneral stand hinter seinem Stuhl und hatte die Lehne des Möbels mit beiden Händen fest gepackt.

„Wie steht’s mit unseren Verbündeten?“, fragte Garrett. „Die Israelis werden durchdrehen, wenn sie von James’ Vorhaben Wind bekommen. Und die Europäer? Sind die stark genug, um die Situation im Nahen Osten in den Griff zu bekommen? Ich bezweifle das stark. Die können sich doch nicht einmal innerhalb der Europäischen Union richtig leiden. Was sollen die dann mit einem handfesten Konflikt in ihrem Hinterhof machen?“

Franklin verstand Garrett und seine Befürchtungen nur zu gut, er war in diesem Punkt ähnlicher Ansicht.

„Mit den Kürzungen innerhalb unserer Streitkräfte kann ich ja noch ansatzweise leben, oder lassen Sie es mich anders ausdrücken: Ich finde das nicht ganz so geisteskrank, wie das Vorhaben am Golf“, sagte Bremner. „Das ist ein verdammtes Pulverfass da unten und wir geben den ganzen Spinnern einfach die Lunte und die Streichhölzer in die Hand und hauen ab. Ich kann nicht glauben, dass James das ernsthaft vorhat. Ich kapier’s einfach nicht …“

Der Air-Force-Offizier war ziemlich fertig und malte sich Konsequenzen und Folgen eines Rückzuges der Amerikaner aus dieser Gegend aus. Mit dem Ergebnis seiner Überlegungen konnte er nicht zufrieden sein.

Garrett kratzte sich hörbar die kurz geschorenen Haare und sagte, an Franklin gewandt:

„Aber warum war Marvin James jetzt beinahe vier Jahre Präsident, ohne solch drastische Schritte zu setzen? Er hat doch den Antiterroreinsatz weitergeführt und ist sogar in den Iran einmarschiert. Ich verstehe das einfach nicht. Das ist doch völlig absurd!“

„Wie Sie alle sicher wissen“, brummte General Grant, „hat der Präsident erst vor einem Jahr seinen einzigen Sohn bei der Eroberung von Teheran verloren. Der Panzer, den er kommandiert hat, ist von unseren eigenen Hubschraubern beschossen und zerstört worden. Ich glaube, das hat die ganzen Änderungen seines Programms ausgelöst oder schon vorhandene Vorhaben bestärkt.“

„Kann sein, John“, stimmte ihm Franklin zu, „aber im Grunde war James schon immer ein Präsident, der mehr der Macht und weniger der damit verbundenen Verantwortung zugetan war. Und im Iran einzumarschieren war damals nach der Versenkung der Queen Mary II fast nicht zu vermeiden. Hätte er damals gekniffen, hätte er den Mullahs die Ermordung von eintausendfünfhundert westlichen Passagieren einfach durchgehen lassen, dann hätte er seine politische Zukunft getrost begraben können.“

Die Erinnerung an die Torpedierung eines der größten und modernsten Kreuzfahrtschiffe der Gegenwart durch ein iranisches dieselelektrisches U-Boot war für alle Anwesenden noch frisch. Genauso, wie die teilweise erschütternden Reaktionen ihres Präsidenten, der anfänglich alle Beweise ignoriert hatte, die auf die Iraner hingedeutet hatten. Erst eineinhalb Wochen, nachdem der Rumpf der Queen Mary II etwa vierhundert Kilometer südlich der Malediven in fast fünftausend Metern Tiefe am Grund des Zentralindischen Beckens zerschellt war, gestattete er der Navy, das U-Boot mitsamt allen an Bord befindlichen Terroristen zu versenken. Nur zu gerne hatte der Commander an Bord der Tucson, das Angriffs-U-Boot der Los Angeles-Klasse, das die Iraner beim Aufladen der Batterien aufgespürt hatte, den Feuerbefehl erteilt und das Kilo versenkt. Die diplomatische Verstimmung mit dem Hauptleidtragenden des Anschlages, der geschockten britischen Regierung, hatte mehrere Monate lang angedauert. Bis heute hatten die Briten die Untätigkeit ihres mächtigsten Verbündeten nicht vergessen und würden es wahrscheinlich auch nicht tun. Präsident James hatte wertvolles Porzellan zerbrochen, das nur die Zeit und sehr viel Mühe vielleicht wieder zu kitten vermochten.

„Erinnerst du dich an seine jämmerlichen Auftritte damals in Jakarta und in Berlin, als er die Iraner als schuldlos an dieser „Tragödie“ bezeichnete? Ich hätte ihn damals am liebsten hängen sehen.“ Franklins Miene war düster, als er an die Tage damals im Frühjahr 2014 dachte, die genauso schlimm waren, wie jene Tage damals im September 2001, als die westliche Welt das erste Mal unter Beschuss geraten war.

„Und das Fiasko in China nicht zu vergessen, als er ganz frisch im Amt war“, grunzte Grant. „Das war sowieso die größte Sauerei, die sich dieser Kerl jemals geleistet hat. Hat leider keiner mitgekriegt, die Sache. Der Mann hat aus seiner Ablehnung gegen das Militär wirklich nie ein Geheimnis gemacht.“

„Vielleicht will er aber auch nur als der Präsident in die Geschichte eingehen, der das amerikanische Militär kastriert und im nahen Osten einen Flächenbrand entzündet hat, der so leicht nicht wieder zu löschen sein wird.“ Colonel Bremner hatte die Hände zu Fäusten geschlossen, als er weiter redete.

„Wenn nicht irgendjemand etwas dagegen unternimmt, wird uns dieser Mann alle mit in den Abgrund reißen.“

„Genau deswegen sind wir hier, meine Herren“, sagte Admiral Franklin und leerte sein Glas.

 

 

Washington Dulles International Airport, USA

16. Juli 2016

 

Die Boeing 777-300 der United Airlines, Flugnummer LH9280, die in München mit einer knappen halben Stunde Verspätung um 12:07 Uhr Ortszeit abgehoben hatte, setzte nun beinahe pünktlich auf die Minute auf der Rollbahn auf. Über dem Atlantik hatte es nur relativ geringen Gegenwind gegeben, wodurch sich die neunstündige Flugzeit angenehm verkürzt hatte.

Dem Passagier auf Platz 21A war dies allerdings egal, da er die meiste Zeit des Fluges gegen die leicht vibrierende Innenverkleidung des Druckkörpers gelehnt tief und fest geschlafen hatte. Der Mann war nur während der beiden leidlich schmackhaften Mahlzeiten kurz wach gewesen und hatte diese in kürzester Zeit verputzt, um sich danach sofort wieder zur Seite zu drehen und einzuschlafen. Die attraktive Brünette, die direkt neben ihm saß, und die sich auf dem langen Flug gerne mit diesem interessant aussehenden Mittdreißiger unterhalten hätte,  musste sich ihre Zeit stattdessen mit Kreuzworträtseln und einem dicken Buch vertreiben.

„Lassen Sie mich in Ruhe, Lady“, hatte er kurz angebunden geantwortet, als sie ihn freundlich ansah und sich ihm vorstellte, um ein Gespräch zu beginnen. Sie hatte pausenlos geplaudert, weil sie, so wie immer, wenn sie es mit einem gutaussehenden Mann zu tun bekam, furchtbar nervös wurde.

„Ich bin müde und ich habe keine Lust, mich mit Ihnen zu unterhalten, okay?“

Dann hatte er sich weggedreht, die Augen geschlossen und war offensichtlich in kürzester Zeit wieder eingeschlafen. Obwohl sie natürlich überrascht und verstört durch seine direkte und abweisende Art war, konnte sie es nicht lassen, ihn weiter zu beobachten, während er schlief.

Einzelne Strähnen seines dunkelbraunen Haars fielen ihm ins Gesicht. Ein dunkler Dreitagebart und eine etwa fünf Zentimeter lange weiße Narbe an seinem entblößten Hals verliehen ihm etwas Wildes, etwas Abenteuerliches, das sie irgendwie anzog. Sie hatte sich ihm etwas genähert, um ihn genauer zu betrachten, hatte den unaufdringlich männlichen Duft eines ihr nicht bekannten Eau de Colognes wahrgenommen, als er mit geschlossenen Augen und ohne erkennbare Gemütsregung noch mal etwas zu ihr gesagt hatte.

„Ich mein es Ernst, Lady. Lassen Sie´s einfach bleiben.“

Daraufhin war sie peinlich berührt zurück geschreckt und hatte es den Rest des Fluges vermieden, zu ihm hinüber zu blicken. IDIOT, dachte sie und wusste aber nicht, ob sie damit diesen wortkargen Typ neben sich oder doch sich selbst meinte.

Der Mann schlief immer noch, als die Maschine stark bremste, zuerst durch die enorme Umkehrschubleistung der beiden gewaltigen Triebwerke und anschließend durch die rotglühenden Bremsen an den Rädern der schweren Fahrwerke. Er schlief, als das Flugzeug von der Landebahn auf die Rollbahn nach rechts abbog und sich dem Terminal näherte. Erst als die Boeing auf ihrer Parkposition stehen blieb, öffnete er die Augen und richtete sich auf. Sein Blick, als er gewohnt seine direkte Umgebung beobachtete und dabei die ihn ängstlich anblickende Brünette schweifte war klar, seine grauen Augen leuchteten kühl und reserviert. Er sah sie einige Augenblicke an, dann huschte der Hauch eines Lächelns auf seine Lippen.

„Es tut mir leid, Lady“, begann er vorsichtig und beobachtet dabei ihr schönen tief grünen Augen, „aber ich bin momentan so ziemlich die schlechteste Gesellschaft, die man sich wünschen kann.“ Sie sagte nichts, sah ihn nur unsicher an, während um sie herum die ersten Passagiere übereifrig aufsprangen, um ihr Handgepäck aus den überfüllten Staufächern zu holen.

„Schon gut“, sagte er, als sein Lächeln langsam wieder verschwand, „vergessen Sie´s einfach.“

Vermutlich hätte sie ihn verstanden, wenn sie nur im Ansatz erahnt hätte, was dieser attraktive und seltsam unnahbare Mann in letzter Zeit erlebt hatte. Doch das, was Steven Crowe durchgemacht hatte, würde sie sich in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können.

„Vergessen Sie´s einfach.“

Er selbst würde niemals vergessen können, niemals.

 

Nachdem Steven Crowe beinahe eine Stunde auf seinen Koffer an einem völlig überlasteten Gepäckausgabeband gewartet hatte, buchte er einen Mittelklassewagen bei Avis und verließ den Ankunftsterminal. Er fand den dunkelgrauen Chevrolet auf seinem zugewiesenen Parkplatz, verstaute sein Gepäck im Kofferraum und stieg ein. Das Navigationsgerät, dessen melodisch weibliche Stimme ihn begrüßte, schaltete er kurzerhand ab. Er brauchte es nicht, denn er war schon oft hier gewesen und auch dort, wo er hinwollte, kannte er sich aus. Die Klimaanlage, die verzweifelt gegen die brütende Sommerhitze auf dem riesigen Asfaltplatz ankämpfte, ließ er laufen. Crowe war Hitze gewöhnt, hatte er seine Zeit doch zuletzt fast ausschließlich in tropisch schwül feuchter Umgebung verbracht. Doch jetzt hatte er nicht das Geringste gegen ein bisschen angenehme Abkühlung einzuwenden.

Er manövrierte den Wagen aus der engen Parklücke und verließ den Parkplatz. Er gelangte auf den Saarinen Circus, folgte dem Dulles Airport Access und fuhr schließlich die Toll Road entlang, bis er auf die I-495 gelangte. Dort fuhr er bei angenehm lichtem Verkehr etwa elf Meilen, um dann nach Süden auf die I-95 abzubiegen. Er beschleunigte den Wagen und fuhr weiter nach Süden, gelangte über die Staatsgrenze nach North Carolina. Nach etwa fünfeinhalb Stunden Fahrt entdeckte er ein Motel, das mit grellgrüner Leuchtreklame um Gäste warb und gleich neben dem Highway lag. Er lenkte seinen Chevrolet auf den schäbigen Parkplatz und bezahlte bei einem desinteressierten Portier für eine Nacht im Voraus. Als er geduscht hatte, fiel er ins Bett und schlief beinahe augenblicklich ein. Sein Schlafdefizit machte ihm immer noch zu schaffen.

 

 

Fort Bragg. North Carolina, USA

17. Juli 2016

 

Der Chevrolet blieb langsam stehen und der Motor verstummte, als der Wachsoldat mit grimmigem Gesichtsausdruck an die Fahrerscheibe trat. Er bückte sich und spähte ins Innere des Wagens, den Mann am Steuer kannte er nicht.

„Guten Morgen Corporal“, sagte Steven Crowe freundlich und hielt dem Soldaten seinen Dienstausweis entgegen. Der Corporal der US Army, ein kleiner schmächtiger Mann mit kurzrasiertem Haar und käsig weißem Gesicht schnappte sich die ID-Karte und las die Daten. Dann hellte sich sein Blick auf und er straffte sich etwas.

„Guten Morgen First Sergeant“, bellte er Crowe entgegen. Doch es schien ein Problem zu geben, denn der Wachsoldat gab ihm die Karte nicht zurück.

„Einen Moment bitte, ich werde diesen Ausweis überprüfen müssen“, sagte der Corporal, drehte sich um und verschwand im Wachhäuschen. Das Ausstellungsdatum auf dem Ausweis war viel zu alt, dachte der Corporal, der im Zweifelsfall immer auf Nummer Sicher ging. Und außerdem hatte man das Design der Plastikkarten letztes Jahr geändert. Er griff nach einem Telefon, erkannte Crowe durch die Panzerglasscheibe und begann zu sprechen. Etwa eine knappe Minute später, legte der Corporal den Hörer wieder auf und verließ die Wachstube – zusammen mit zwei weiteren Wachen, die ihre M4-Karabiner vor der Brust trugen. Mit einer Hand auf dem Griff seiner Glock blieb der Corporal etwa zwei Meter vor dem Chevi stehen.

„Es tut mir leid, Sir“, sagte er und benutzte damit eine Anrede, die für einen Offizier, aber auch für einen Zivilisten üblich war, „aber dieser Dienstausweis ist nicht gültig. Ich muss sie bitten, auf der Stelle auszusteigen und unseren Anweisungen zu folgen.“

Crowe betrachtete die drei Männer, die mit angespannten Gesichtern auf dem in der Morgensonne dampfenden Asfalt vor dem großen Einfahrtstor standen und nahm die Hand vom Lenkrad, ließ sie nach unten sinken, außerhalb des Blickfeldes der Wachsoldaten. Das war ein Fehler.

„Das kann nicht sein, Corporal…“, begann er, um dann rüde unterbrochen zu werden.

„Beide Hände aufs Lenkrad und Schnauze halten, Mister!“, brüllte der Corporal plötzlich mit gezogener Handfeuerwaffe.

„Sofort aussteigen und lassen Sie ihre Hände oben!“

Crowe, der schon in zu viele feuerbereite Mündungen von viel zu vielen Feuerwaffen geblickt hatte, erstarrte. Dann hob er langsam, ganz langsam seine Hände und legte sie aufs Lenkrad.

„Aussteigen, Sofort!“, brüllte der Corporal der mittlerweile von zwei weiteren herbeieilenden Wachen Verstärkung erhielt, die sich rechts neben dem Chevrolet mit schussbereiten Gewehren aufbauten.

„Ganz ruhig, Corporal“, sagte Crowe. „Ich steige jetzt ganz langsam aus, okay?“

Das Schloss klickte und die Tür des Wagens sprang auf. Crowe schob sie vorsichtig weiter auf und stieg ganz langsam aus. Als er aufrecht stand, hob er beide Arme und folgte den Anweisungen des Corporals, sich umzudrehen. Keine fünf Sekunden später wurden seine Arme brutal nach unten gerissen und Handschellen klickten. Crowes Körper spannte sich, seine Sinne verschärften sich und nur mühsam unterdrückte er den langjährig antrainierten Impuls, zuzuschlagen.

Er war ein Gefangener, schon wieder.

 

Crowe saß in einem kleinen fensterlosen Raum und wartete. Der Ventilator an der grau gestrichenen Decke drehte sich langsam, die Wände konnten wieder mal einen neuen Anstrich vertragen und der Linoleumboden war erst vor kurzem frisch gewischt worden. Ein einzelnes schwarzes Kreuz zierte die Wand gegenüber des Tisches, an dem er nun schon seit mindestens eineinhalb Stunden saß und sich fragte, was zum Teufel er falsch gemacht hatte. Er beschwor sich ruhig zu bleiben und versuchte sich zu entspannen.

Crowe hatte nicht eine aufregend dramatische Flucht aus einem feindseligen fremdartigen Land hinter sich gebracht, nur um hier, in seiner Heimat, erneut eingesperrt zu werden. Er spürte die Schweißtropfen an seinem Haaransatz und unterdrückte das aufkeimende Gefühl der Klaustrophobie, das ihn hier in diesem winzigen Raum zu übermannen drohte.

Als die Tür sich plötzlich öffnete und ein breitschultriger grauhaariger Mann in grüner Uniform eintrat, schreckte Crowe aus seinen Gedanken und richtete sich auf. Sein Blick wanderte über die Gestalt des Mannes und er erkannte in Sekundenbruchteilen, Rang und Waffengattung seines Gegenübers. Ein weiterer Mann folgte dem Colonel der US Special Forces, dieser trug jedoch Zivil und war wesentlich jünger, als der Berufsoffizier. Der Typ sah ganz nach Anwalt aus und Crowe konnte ihn vom ersten Augenblick an nicht ausstehen.

Crowe folgte seiner Ausbildung und erhob sich trotz der Handschellen elegant und nahm Haltung an. Er wartete, hörte das Schließen der Tür und das Rücken der beiden Stühle auf der anderen Seite des Tisches. Sein Blick ging geradeaus, als der Colonel endlich etwas sagte.

„Setzen Sie sich“, sagte er müde und nahm dann selber auf dem billigen Plastikstuhl Platz. Crowe setzte sich ebenfalls und versuchte sich seine Irritation nicht anmerken zu lassen, die sich seiner bemächtigt hatte, da ihn der Colonel nicht mit seinem Rang angesprochen hatte. Der zweite Mann sagte nichts, parkte nur seinen in einem teuer aussehenden glänzenden schwarzen Halbschuh steckenden Fuß auf dem zweiten Stuhl und lehnte sich erwartungsvoll nach vorne. Crowe wartete noch immer, und als keiner der beiden Männer etwas sagte, war es an ihm, die erste Frage zu stellen.

„Colonel“, begann er ruhig, „darf ich fragen, was mit meinem Ausweis nicht stimmt und warum ich hier festgehalten werde?“

Sein militärisches Gegenüber sah ihn lange an, dann antwortete der Offizier. Crowe meinte, so etwas wie Unbehagen in den Augen des Colonels zu entdecken, nur ganz kurz zwar, aber für Crowe nicht zu übersehen.

„Es gibt da tatsächlich ein großes Problem mit Ihnen, Crowe“, sagte der Colonel ruhig und sah ihm dabei direkt in die Augen.

„Sie sind nämlich tot.“

Crowe glaubte, sich ganz gewaltig verhört zu haben, musste unabsichtlich grinsen und sah dann auch den zweiten Mann, den Zivilisten kopfschüttelnd an.

„Was soll das? Ich bin zwar durch die Hölle gegangen, aber ich bin ganz offensichtlich nicht tot, auch wenn Sie mich vielleicht schon lange abgeschrieben haben.“

Beide Männer sahen ihn ernst an, sagten aber nichts.

„Aber alle Männer meiner Einheit sind tot“, schloss Crowe leise. „Aber das wissen Sie ja mit Sicherheit.“

„Ich glaube, Sie haben uns nicht ganz richtig verstanden“, sagte nun der zweite Mann, worauf Crowe ihn genauer musterte. CIA, entschied er, ganz eindeutig.

„Sie sind tot, Crowe. Für uns hat es Sie nie gegeben und wir können hier gar nichts für Sie tun, kapiert? Dieser Ausweis“, lächelte der CIA-Mann und wedelte mit der ID-Karte vor Crowes Gesicht, „ist eine ziemlich gute Fälschung und wird hiermit eingezogen.“

Crowe nickte langsam und konzentrierte sich darauf, den unbändigen Zorn, der in ihm hochstieg, zu unterdrücken. Er hatte verstanden, es fügte sich ein weiteres Puzzleteilchen zu einem immer klarer werdenden Bild zusammen. Er wusste immer noch viel zu wenig doch er hatte mittlerweile eine ganz gute Vorstellung davon, was damals in China passiert sein musste.

„Ich will auf der Stelle mit Colonel Joe Gibson sprechen“, verlangte er beinahe knurrend.

Die beiden Männer gegenüber sahen sich kurz an, dann wandte sich wieder der Colonel an ihn.

„Colonel Gibson hat letztes Jahr seinen Abschied eingereicht. Er ist nun ein Zivilist und wird Ihnen nicht weiterhelfen können.“

„Dann holen Sie mir General Di Marco her. Er wird sich an mich erinnern.“ Crowe sah seine Felle davon schwimmen.

„Der General ist leider verstorben“, lächelte der CIA-Mann. „Gehirntumor“, schloss er zufrieden.

Crowe versuchte sich an weitere Offiziere zu erinnern, unter denen er bei den Special Forces gedient hatte doch der Schock der Neuigkeiten machte ihm zu schaffen.

„Major Parks?“, fragte er vorsichtig.

„Tot“, antwortete der Colonel ruhig. „Gefallen“, ergänzte er emotionslos.

„Sergeant Major Anderson?“

Der Colonel schüttelte bedauernd den Kopf.

„Auch tot, jammerschade. Verdammt guter Operator. Hat´s zusammen mit dem Major erwischt.“

Crowe schluckte, sein Hals fühlte sich staubtrocken an und die Last der Neuigkeiten drohte ihn zu erdrücken. General Di Marco, Major Parks und der alte Lou Anderson. Alle tot? Wie konnte das passieren? Was ging hier vor? Der CIA Mann riss ihn aus seinen Gedanken.

„Hören sie zu, Crowe“, begann er, nahm seinen Fuß vom Sessel und begann, im Raum auf und ab zu gehen.

„Falls Sie´s immer noch nicht kapiert haben, dann sag ich´s Ihnen jetzt nochmal ganz klar und deutlich. Sie haben die Sache verkackt und nun gibt es Sie nicht mehr, okay? Sie sind tot. Gefallen irgendwo im Einsatz für ihr Vaterland und die Army hat keinerlei Verwendung mehr für eine Leiche. Sie haben keine Angehörigen und es gibt daher keine Hinterbliebenenpension. Und da Sie selber tot sind, gibt es auch keine Veteranenpension. Sind existieren in unseren Datenbanken nicht und haben das auch nie getan.“

Der CIA Mann grinste, als ob ihm der Vortrag Spaß machen würde und Crowe stellte sich vor, wie er ihm die Nasenwurzel ins Gehirn rammen würde. Er würde das Knacken der Knochen genießen und lächelnd auf die sich in ihren letzten Zuckungen befindliche CIA-Leiche hinunterblicken. Stattdessen kam der Mann näher und sah Crowe nun direkt in die Augen.

„Sie haben sich auf das Spiel eingelassen und Sie wissen was passiert, wenn in einer schwarzen Operation Scheiße gebaut wird. Sie wussten, dass wir bei einer eventuellen Gefangennahme jegliche Kenntnis über die Operation und deren Teilnehmer beharrlich leugnen würden. Das ist doch ein alter Hut, Mann.“

Crowe sagte nichts, sondern presste nur wütend die Zähne zusammen. Er ahnte, wer wirklich die Scheiße gebaut hatte und wünschte sich, er könnte sich entsprechend revanchieren.

„Und dann kommen wir und schippen die Scheiße aus dem Weg, damit alles wieder schön sauber wird“, lächelte die CIA. Crowes Wut nahm nur noch zu, er schwitzte und seine Hände kribbelten.

„Wenn Sie nun also hier raus spazieren und der Welt erzählen, was Ihnen passiert ist, dann werde ich mit dem Finger schnippen und wir schaufeln einen letzten Haufen Scheiße auch noch weg. Darauf kommt es uns wirklich nicht mehr an, verstanden?“

Oh ja, Crowe verstand nur zu gut. Im Scheiße schippen war die CIA Weltmeister, verzapfte sie doch selber einen Riesenhaufen Mist jedes Jahr, den es dann wegzuräumen galt. Das Fiasko mit Bin Ladens Kronprinzen nach dessen Exekution durch die Seals oder zuletzt die jämmerlichen Ergebnisse im Iran. Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt, seine Sehnen spannten sich gegen den harten Stahl der Handschellen, als er an die Scheiße dachte, die die CIA weggeschaufelt hatte. Colonel Gibson, General DiMarco, Major Parks und Lou Anderson, einfach weggeschippt um Platz zu machen für neue unverbrauchte Gesichter mit deren Leben man wieder spielen konnte und die austauschbar und entbehrlich waren, so wie er selbst und all seine Kameraden, die er in China zurück gelassen hatte.

Wie weit war es nur mit diesem Land gekommen?

Konnte es sein, dass er so viel versäumt hatte, als er in diesem feuchten Rattenloch im Dschungel ums Überleben gekämpft hatte?

Er hatte verstanden und er wusste, dass er hier nur rauskam, wenn er sich auf das Spiel einließ. Sein Blick wanderte zu dem Colonel, der ihn unverwandt fest ansah, dann wieder zurück zum CIA Mann, der immer noch lächelte.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte Crowe mühsam beherrscht.

Sie sagten es ihm.

 

 

New York

18. Juli 2016

 

Der Mann mit dem dunklen, fleckigen Ledermantel lehnte lässig an einem rostigen Laternenpfahl und beobachtete das alte Mietshaus. Er hielt sich geschickt im Schatten des großen Lagerhauses verborgen und war im schwachen Mondlicht der schwülen Sommernacht nur schwer zu erkennen. Dass die Straßenbeleuchtung direkt über ihm nicht funktionierte, gefiel ihm besonders. Hinter der blau getönten Sonnenbrille, die der Mann trotz der Dunkelheit trug, konnte man seine wachen Augen nicht sehen, sein Gesichtsausdruck war schon seit einer Stunde der gleiche. Als ein alter Buick die Straße herunterquietschte, drehte er sein Gesicht einige Zentimeter zur Seite. Der Wagen fuhr langsam an ihm vorbei, der Fahrer sah gelangweilt geradeaus. Ohne weiteres Interesse an dem Buick oder dem kleinen Mann am Steuer wandte sich der Mann wieder der schmalen Zufahrt zum Innenhof des Gebäudes zu. Kurz glimmte es in seinen verspiegelten Oakleys auf, als er sich eine Zigarette anzündete und sein Gewicht auf das Bein verlagerte, das nicht vor einigen Jahren durch Granatsplitter in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Bruce Dobbs, so hieß der Mann, verzog kurz das Gesicht, vielleicht für einen Sekundenbruchteil, dann setzte er wieder dieselbe, nichts sagende Miene auf, und beobachtete weiter. Der Platz war zwar nicht ideal, dachte er, aber er sollte für seine Zwecke reichen. Dobbs kannte sein Ziel, hatte es beobachtet und glaubte zu wissen, was ihn erwartete. Er fühlte sich nicht besonders aufgeregt, dafür war die Sache nicht ernst genug.

Oder doch?

Nein, entschied er, eigentlich nicht. Zumindest nicht an manchen Dingen gemessen, die Dobbs schon erlebt hatte, früher einmal, in einem anderen Leben.

Er lockerte sich ein wenig, indem er leicht auf seinen Fußballen vor und zurück wippte. Dann, ganz unerwartet, fuhr das schwarze Sportcoupé um die Ecke und bog auf die Straße ein. Dobbs sah auf das Nummernschild des Wagens, sog noch einmal an der Zigarette und ließ sie dann auf die staubige Straße fallen. Mit dem Absatz seiner schweren Bikerstiefel zertrat er die Glut. Das Coupé bremste und fuhr langsam durch das schmale Tor ins Innere des Hofes. Der Fahrer ging dabei ganz vorsichtig mit der Kupplung des Wagens um, damit die teuren Leichtmetallfelgen nicht durch die Schlaglöcher beschädigt wurden. Dobbs war das nur recht, als er die Straße mit großen Schritten überquerte, dabei kurz nach links und rechts sah, und schließlich zu dem Wagen aufschloss, der ganz langsam vorwärts kroch. Seine rechte Hand war irgendwo im Inneren seines Mantels verschwunden, als er durch den altmodischen Torbogen glitt und unmittelbar hinter dem Auto den Innenhof betrat.

Durch die getönten Heckscheiben konnte er nicht sehen, wie viele Männer im Wagen saßen, er schätzte aber, dass es vier sein würden. Mit weniger Begleitung rückte dieser beschissene kleine Sack nie aus, hatte ihm sein Auftraggeber erklärt. Dobbs hatte das bedacht, als er die Aktion geplant hatte. Er checkte kurz den Innenhof, indem er über das blank polierte Dach des Wagens spähte, dann fasste er sein Ziel endgültig ins Auge. Laute Rapmusik klang durch die geschlossenen Scheiben des Wagens dumpf nach draußen, der schwere Bass ließ die Luft vibrieren. Vermutlich beobachteten ihn die Männer im Wagen bereits. Dobbs hatte keine Lust, irgendetwas zu riskieren, deshalb zog er die Remington aus dem Futteral in seinem Mantel.

Der Motor des Coupes heulte auf, als der Fahrer das Gaspedal voll durchtrat, doch Dobbs war bereits auf Höhe des Tankdeckels gewesen. Der Rückschlag der Schrotflinte war trotz der Erfahrung, die Dobbs mit der Waffe hatte, immer noch erstaunlich. Die Ladung des groben Schrots ging ungebremst durch das Fenster der Fahrertür, traf den Körper dahinter mit voller Wucht und färbte die Windschutzscheibe rot. Dobbs repetierte, die qualmende Hülse flog rotierend durch die Luft und landete am dreckigen Lehmboden des Innenhofes. Wieder krachte die Remington, als Dobbs die hintere Seite des Wagens durchsiebte. Leicht gebückt und die schwere Waffe im Anschlag umrundete Dobbs das nur mehr langsam ausrollende Auto und behielt dabei die Umgebung im Auge. Noch bevor irgendjemand hätte reagieren könnte, krachte weiterer grober Schrot in die andere Seite des Wagens. Eine blutige Hand stemmte zaghaft die Beifahrertür auf und Dobbs konnte den kleinen Trommelrevolver sehen, den die krampfhaft verkrümmten, zitternden Finger umklammerten. Er zögerte nicht und pumpte eine weitere Ladung Schrot ins Innere des Wagens. Dobbs hörte ein animalisch klingendes Gurgeln, dann rutschte langsam ein Bein mit weißen, blutigen Turnschuhen aus der Türöffnung. Noch bevor das zuckende Bein den staubigen Boden berührt hatte, feuerte Dobbs erneut. Die Heckscheibe zersplitterte und krachte nach wenigen Augenblicken völlig in sich zusammen. Wieder lud Dobbs die Waffe durch und sah sich rasend schnell im Hof um. Als er niemand anderen entdecken konnte, wagte er sich einen Schritt nach vorne und spähte durch die zertrümmerte Scheibe ins Innere des Wagens. Der süßliche Geruch von Blut mischte sich unter den wabernden Pulverdampf, der den schwarzen Wagen umgab. Er sah den Fahrer, einen dicken Afroamerikaner, dessen nackter Oberkörper blutverschmiert war, über dem Lenkrad hängen. Das Gesicht des Fahrers war nicht mehr da, sondern hatte sich zusammen mit der halben Frontscheibe über die Kühlerhaube verteilt.

Doch der Kerl war es nicht, er war viel zu fett, dachte Dobbs.

Am Beifahrersitz hing kopfüber ein weiterer Mann, ebenfalls ein Schwarzer, den Dobbs nicht kannte und auch nicht mehr kennen lernen sollte. Dobbs verzog das Gesicht und sah sich die Rückbank des Wagens genauer an. Der einzig weitere Insasse – neben ihm auf der Rückbank befand sich ein Kasten deutsches Bier, oder die Reste davon – sah Dobbs mit großen Augen aus einem schmerzverzerrten und überraschten Gesicht an. Ein Gesicht, das Dobbs absolut nichts sagte. In der Mitte der Brust des Mannes klaffte ein riesiges Loch, durch das er Luft mit einem schmatzenden Geräusch einsog. Dobbs blickte in die Augen des sterbenden Mannes und schüttelte scheinbar bedauernd den Kopf. Dann roch er das Bier, das aus den zersplitterten Flaschen auf das schwarze Leder der Rückbank sickerte und bekam plötzlich Durst. Kurz lächelte er über die Ironie der Situation, in der er sich befand. Der Mann stöhnte kraftlos, sein Körper zitterte unkontrolliert. Dobbs hatte kein Mitleid mit ihm, als er ihn noch einmal betrachtete.

„Scheißtag, was?“, grinste er humorlos. Dann feuerte die Remington ein weiteres, letztes Mal.

 

Bruce Dobbs war nicht zufrieden, als er sich durch die schmalen Gassen der Bronx davonstahl. Er war sich sicher, dass ihn niemand erkannt hatte. Als überall Lichter aufgeflammt und die ersten Neugierigen aufgetaucht waren, hatte er die Remington unter dem Mantel verschwinden lassen und war abgehauen. Wahrscheinlich würde man sich nur an einen dunklen Schatten erinnern, der die Straßen von ein paar Crack-Junkies befreit hatte. Und niemand würde den Typen nachweinen, die er heute Nacht erledigt hatte. Da war sich Dobbs sicher. Wahrscheinlich würden die Cops, die irgendwann in den nächsten Minuten am Tatort eintreffen würden, ihm heimlich sogar dankbar sein für die Arbeit, die er den Gerichten erspart hatte. Doch Dobbs war das egal. Ihm wäre lieber gewesen, er hätte seinen Auftrag erfüllt. Nur darauf kam es schließlich an, wenn er Geld sehen wollte. Er war noch neu in diesem Geschäft und hatte sich noch keinen Namen gemacht. Und mit solchen Misserfolgen kam man nicht gerade weiter. Nur wer fehlerfrei und absolut eiskalt war, hatte eine Chance, an Geld zu kommen. Und Dobbs wollte, brauchte Geld. Unbedingt.

Es waren nur drei verdammte Nigger in dem Auto gewesen, für die er keinen Cent sehen würde. Sein eigentliches Ziel war irgendwo anders, wahrscheinlich zugedröhnt bis unters Dach und genoss einen weiteren Tag seines beschissenen Lebens. Eigentlich sollte es der letzte Tag in seinem Leben gewesen sein, wenn es nach Dobbs und seinem Auftraggeber gegangen wäre, aber das war ja nun anders.

Meine Güte, es war einfach nur Pech!

Dobbs fühlte sich jetzt eigentlich sicher. Er war schon zehn Minuten unterwegs und mittlerweile weit genug vom Tatort entfernt. Der Mantel und die Remington lagen im Kofferraum seines Chryslers, den er ein paar Blocks weiter geparkt hatte und den er jetzt durch die nächtlichen Straßen der Bronx lenkte. Außerdem kamen die Bullen in dieser Gegend wesentlich später, als bei einem Mord in Manhattan. Lag wahrscheinlich daran, grinste Dobbs und strich sich über seinen dunklen Kinnbart, dass in Manhattan ein oder zwei Morde weniger pro Tag passierten – ganz grob gerechnet.

 

Weitere zwanzig Minuten später hatte Dobbs seinen Wagen in der stockdunklen Tiefgarage eines schäbigen Wohnblocks geparkt und befand sich im Lift nach oben. Er verließ die stickige Kabine und überwand die kurze Distanz durch den dreckigen Flur. Als er den Schlüssel ins Türschloss steckte, hörte er das metallische Klingeln des alten Telefons. Dobbs Herzschlag erhöhte sich, sein Mund fühlte sich trocken an. Wer wusste von dieser Nummer und wer rief ihn um diese Uhrzeit an? Es war mitten in der Nacht und er erwartete keinen Anruf. Das Telefon klingelte unbeeindruckt weiter, ein terrorisierend lautes Geräusch inmitten der totenstillen Wohnung. Dobbs schwitzte, als er nach dem Hörer griff.

„Hallo!“ sagte er vorsichtig.

„Dobbs?“ vernahm er die Stimme am anderen Ende der Leitung. Eine irgendwie sehr bekannte Stimme, dachte Dobbs, der sich unbewusste versteift hatte.

„Ja, ich bin dran. Wer zum Henker …“

„Sehr gut“, unterbrach ihn die Stimme barsch.

Dobbs hielt die Luft an, er fühlte sich ertappt, überführt,… Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, deswegen hörte er weiter zu.

„Sergeant, ich habe wieder Verwendung für Sie.“

Dobbs erstarrte, als er die Stimme erkannte. Sein Mund fühlte sich trocken an und sein Herz raste. Es war nicht die Polizei, es war auch nicht sein Auftraggeber, der von dem Fiasko vielleicht bereits erfahren hatte. Es war …

„Sind Ihre Sachen gepackt?“ hörte Dobbs den Mann am anderen Ende der Leitung fragen.

Dobbs schluckte und schloss die Augen. Es war verdammt lange her, seit er zuletzt diese Stimme gehört hatte – beinahe eine Ewigkeit.

„Selbstverständlich, Sir.“

 

 

Lake Skegemog, Michigan, USA

20.Juli 2016

 

Das kleine Motorboot glitt langsam über die spiegelglatte Oberfläche des Lake Skegemog, der vom etwas größeren Elk Lake abzweigte und im Nordosten des riesigen Binnenmeeres Lake Michigan an der Grenze zu Kanada lag. Die Sonne stand noch sehr tief im Osten und warf lange Schatten der abgestorbenen Baumstümpfe, die mitten aus dem See ragten, über das tiefblaue seichte Wasser. Einzelne Seemöwen und ein Kormoran glitten lautlos durch die warme Morgenluft, immer Ausschau nach einem lohnenden Fang unterhalb der Wasseroberfläche haltend.

Joseph Theodor Gibson hatte seinen Fang für heute schon gemacht. Zufrieden betrachtete er die beiden Regenbogenforellen in dem Kübel mit Seewasser, die er draußen auf den ruhigen Gewässern des Sees geangelt hatte. Er hätte auch Gelbbarsche oder einen Hecht aus dem Wasser ziehen können, wenn er sich nur ein bisschen mehr in Geduld geübt hätte, doch irgendwie verspürte er heute eine unerklärliche Unruhe, die ihn seinen morgendlichen Angelausflug nicht richtig genießen ließ und die ihn nun nach Hause trieb. Und Joe Gibson war ein Mann, der auf seine Intuition hörte. Sie hatte ihm schon mehrmals ausgezeichnete Dienste erwiesen und mehr als einmal das Leben gerettet – früher, in einem anderen, aufregenderen Dasein als jenes, das er jetzt fristete.

Er manövrierte das kleine Boot durch die unzähligen abgestorbenen Baumstümpfe, wich Sandbänken und Untiefen, sowie den gefährlichen Felsbrocken aus, die auf seiner Karte eingezeichnet waren und näherte sich schließlich dem östlichen Ufer des Sees. Durch vereinzelte Nebelschwaden, die sich im Laufe des Vormittages noch auflösen würden, konnte er nun bereits den Waldrand und sein direkt davor geparktes Wohnmobil erkennen, das er sich vor zwei Jahren, ein paar Monate nach seinem unschönen Abschied von den Special Forces gekauft hatte. Und seine nach wie vor scharfen Augen erkannten auch den dunklen Wagen, der direkt daneben parkte.

Gibsons Laune verschlechterte sich. Wenn man hier draußen Besuch bekam, dann hieß das im Allgemeinen, dass man irgendein Problem hatte. Er spähte gegen das wärmer werdende Sonnenlicht und versuchte zu erkennen, wer da auf ihn wartete. Der Außenborder tuckerte eintönig und trieb das kleine Boot weiter auf das Ufer zu. Gibson spähte hinüber zu dem Wagen und erkannte, dass eine Person ausstieg, die Tür zuwarf und sich dem Ufer näherte.

Sein Gefühl der Unruhe hatte sich hiermit bestätigt, dachte Gibson, der dummerweise keine Waffe dabei hatte und nur hoffen konnte, dass der Mann, wie er nun beim Näherkommen erkannte, nichts von ihm wollte. Und sollte er doch irgendetwas im Schilde führen, dann wäre es für den Mann besser, er wäre schwer bewaffnet, den Gibson hatte schon mehrere Menschen getötet – und das ohne Waffen und nur mit seinen bloßen Händen.

Der Mann, erkannte Gibson nun, hatte seine Hände in den Taschen einer schwarzen Jacke stecken und trug eine Baseballmütze, sodass er das Gesicht nicht erkennen konnte. Gibson verlangsamte die Fahrt des Bootes, klappte den Außenbordmotor hoch und schlitterte langsam gegen die kiesige Böschung des Ufers. Ohne den anderen Mann aus den Augen zu lassen, der unbeweglich dastand und ihn beobachtete, sprang Gibson aus dem Boot, landete im knietiefen Wasser und watete ans Ufer. Mit einem einzigen kraftvollen Ruck zog er das Boot so weit aus dem Wasser, dass es nicht mehr von alleine abtreiben konnte. Den Eimer mit den beiden Forellen vergaß er vorerst und näherte sich stattdessen dem Mann.

„Morgen, Mister!“, begrüßte er den anderen Mann vorsichtig, der etwa zehn Meter entfernt war.

„Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?“

Der andere Mann nahm seine Hände aus den Jackentaschen und griff nach seiner Baseballmütze. Er nahm sie ab, fuhr sich durch sein dunkles, langes Haar und lächelte.

„Ich glaube, das kannst du in jedem Fall, Colonel“, antwortete Steven Crowe.

„Mein Gott!“, keuchte Colonel a.D. Joseph T. Gibson von der 1st Special Forces Operational Detachment Delta.

„Das kann nicht sein“, flüsterte er und trat näher an die Gestalt heran, die aus dem Nebel aufgetaucht war und die eigentlich nicht hier sein dürfte.

Dieser Mann war tot. Gibson hatte damals seine Schreie über Funk selber gehört. Damals in der Einsatzzentrale, als Gibson sich völlig hilflos und überflüssig gefühlt hatte, mit keiner Möglichkeit, seinem Freund und all den anderen Deltas zu helfen. Er würde nie die Gefühle der unbändigen Wut und der Enttäuschung vergessen, die er damals empfunden hatte.

Doch das Gefühl, das in ihm hochstieg, als er weiter auf diesen Geist zuging und ihn schließlich umarmte, war ein völlig anderes, aber in seiner Stärke nur unwesentlich schwächer.

„Stevie Crowe!“, lachte er nun auf und klopfte ihm herzhaft auf Schultern und Rücken, so als wollte er überprüfen, ob er wirklich lebendig war. Er spürte Tränen der Freude, die ihm über die stoppeligen Wangen liefen.

„Ich fass es nicht! Ich dachte wirklich, dich hätt´s erwischt, mein Freund.“

Crowe lachte ebenfalls, als er sich mühsam aus der herzlichen Umarmung seines Freundes befreite. Es tat verdammt gut, diesen alten Delta Operator wieder zu sehen.

„Ja, ich bin immer noch da, Joe. Aber wenn du nicht aufhörst, mich dermaßen zu herzen, dann bringst du das zu Ende, was die Chinesen angefangen haben.“

Beide Männer lachten, klopften sich gegenseitig auf die Schulter und schlenderten schließlich hinüber zum Wohnmobil.

„Unglaublich, der alte Stevie Crowe“, lachte Joe Gibson und hieb seinem Freund ein weiteres Mal seine rechte Pranke auf die linke Schulter. Mit der linken Hand wischte er sich die Feuchtigkeit aus seinen Augen.

„Komm mit, du hast mir einiges zu erzählen, Mann.“

 

Crowe nippte an dem heißen Kaffee, den er mit beiden Händen hielt und beobachtete seinen alten Kameraden und ehemaligen Vorgesetzten, der ihm gegenüber auf einem klapprigen Campingstuhl Platz genommen hatte. Joe Gibson hatte sich kaum merklich verändert, dachte Crowe, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Das wiederum war nun schon eine Ewigkeit her, schien es ihm und außerdem hatte der Colonel damals in seinem Nachtkampfanzug und dem tief geschwärztem Gesicht völlig anders ausgesehen.

Nun, da er ihn nach Jahren wieder sah, bemerkte Crowe die grauen Haare, die von der feuchten Morgenluft leicht zusammenklebend unter der blauen Yankees-Mütze hervor lugten, viel länger, als er sie jemals zu seiner aktiven Zeit getragen hatte. Und die leicht gekrümmte Marlboro, an der er genüsslich saugte und den bläulichen Dunst nach einem tiefen Lungenzug langsam ausblies, die musste auch zu Colonel Joes neuesten Lastern gehören.

Ansonsten sah der ehemalige Delta Force Offizier so aus, als ob er nach einem Haarschnitt und einer Rasur ohne Probleme in seine alte Uniform passen würde. Crowe sah die kräftigen Unterarmmuskeln und das breite Kreuz, zweifellos gestählt durch ein regelmäßiges Training, das vermutlich reduziert worden war, aber immer noch alles überstieg, was die meisten anderen Menschen jemals zu leisten im Stande wären.

Und er sah noch etwas.

Es war Verärgerung, vielleicht sogar Zorn.

Und er sah es in den wässrig blauen Augen des ehemaligen Offiziers, mit denen er Crowe nachdenklich musterte.

„Ich hätte nie geglaubt, dich jemals wieder zu sehen, Hawk“, sagte Gibson und benutzte damit unbewusst Crowes alten Spitznamen, den nur die engsten Mitglieder seines Teams kannten. Er selbst wusste nicht mehr genau, warum man ihn nach einem Habicht benannt hatte, vermutete aber, dass es mit seiner unglaublichen Schnelligkeit und seinen Reflexen zu tun haben musste. Die Geschichte, wie Crowe als junger Sergeant bei einer Nachtübung in der Wüste Nevadas auf dem Bauch robbend auf eine schlecht gelaunte Klapperschlange getroffen war, war mit den Jahren immer spektakulärer geworden, obwohl die Originalstory ohne hinzugedichtete Elemente auch schon aufregend genug gewesen wäre.

Crowe war es damals gelungen, die giftige Schlange, die gerade nach vorne peitschte, um ihre Giftzähne in sein Gesicht zu stoßen mit seiner linken Hand an der Kehle zu packen und sie so an ihrem tödlichen Angriff zu hindern. Es war nur ein Reflex gewesen, ein unglaublich schnelle Bewegung seines Armes und seiner Hand, schneller wie die Bewegungen der Schlange. Dieser Reflex hatte ihn damals gerettet – und ihm einen Spitznahmen verliehen, der an die Schnelligkeit des Habichts erinnern sollte.

„Nicht nachdem der verdammte Hubschrauber umgekehrt ist und euch da draußen allein gelassen hat“, ergänzte der ehemalige Offizier.

Gibson hob die Dose Bier an seine Lippen und nahm einen tiefen Schluck.

„Verdammte Sache, was Hawk?“, murmelte er und nahm einen weiteren Schluck.

Crowe nippte an seinem Kaffee - es war ihm noch zu früh für Alkohol - und versuchte die schrecklichen Bilder, die wieder in ihm hochstiegen, zu verdrängen. Das Bild des Blackhawks, der mitten in diesem schweren Feuergefecht mit den Chinesen abgedreht und verschwunden war, würde er niemals aus seinem Gedächtnis streichen können.

„Was ist damals passiert, Joe?“, fragte Crowe.

Gibson sah ihn über den Rand der Bierdose an und schüttelte den Kopf.

„Wenn  ich dir das sage, dann müsste ich dich nachher erschießen, Stevie.“

„Macht nichts, Joe. Ich bin ja schon tot, wie ich erst vor ein paar Tagen aus hoch offizieller Stelle erfahren habe“, ätzte Crowe.

„Im Ernst, ich darf über alles, was damals passiert ist, nichts erzählen, sonst krieg ich massenhaft Probleme.“ Gibson wand sich, er war nicht glücklich mit dem, was er zu seinem alten Freund sagen musste.

„Probleme kriegst du erst, wenn du mir nicht erzählst, was damals für eine Sauerei gelaufen ist, Colonel“, sagte Crowe emotionslos. „Dann werd ich nämlich zurück nach Bragg spazieren und Colonel Arschgesicht zusammen mit seinem schwulen CIA-Waschlappen filetieren und dir die Schuld daran geben, dass du mich nicht daran gehindert hast“, ergänzte er trocken.

Joe Gibson ließ sein Bier sinken und sah säuerlich in die kalten, ernsten Augen seines ehemaligen Kameraden, seines Freundes und wusste nicht, was er denken und was er tun sollte. Er wusste, wozu Crowe fähig war, hatte er ihn doch auf einige spezielle Einsätze geschickt, die sonst niemand durchführen hätte können. Er wusste, dass es Crowe zweifellos gelingen würde, zurück nach Fort Bragg zu gelangen und sowohl einen Colonel, als auch einen CIA-Mann, von denen es dort mehrere gab, zu töten. Wenn Crowe wollte, würde er dann lautlos und unerkannt verschwinden, doch Gibson war sich alles andere als sicher, dass er das auch wollte.

Dann sah er das Grinsen auf Crowes Gesicht und entspannte sich.

„Scheiße, Crowe. Ich hab dir die Geschichte um ein Haar abgekauft.“

„Und jetzt spuck´s schon aus, Joe“, beharrte Crowe. „Erzähl mir, was damals wirklich passiert ist. Und wenn du schon mal dabei bist, dann sag mir auch, warum der beste Offizier der gesamten Delta Force seine Karriere an den Nagel gehängt hat, bevor er seinen ersten Generalsstern am Hemdkragen hatte. Warum hast du´s hingeschmissen, Joe?“

Joe Gibson nahm einen tiefen Schluck aus der Dose, schluckte das kalte prickelnde Bier hinunter und genoss das beruhigende Gefühl der goldenen Flüssigkeit in seinem Magen. Dann kippte er den Rest des Bieres hinterher und rülpste lautstark.

„Ach was soll´s“, sagte er, zerquetschte die leere Dose und warf sie durch die offene Tür ins Wohnmobil.

Und dann begann er zu erzählen.

 

 

Bowen Island, Kanada

4.August 2016

 

Dr. Clifford Baxter schwitzte stark, als er den imposanten Lachs endlich vom Haken gelöst und in die knallrote Plastikbox gewuchtet hatte, die er am Kiel des schlingernden Motorbootes verstaut hatte. Der Fisch zappelte unaufhörlich weiter und drohte wieder aus der Box und hinein in die eiskalten Gewässer des Howe Sund zu springen, wo er bis jetzt in Ruhe und Frieden gelebt hatte. Doch Baxter hatte da eindeutig etwas dagegen, drückte den passenden Deckel fest auf die Box und verschloss sie. Dann atmete er erleichtert auf und setzte sich auf die ungepolsterte Holzbank des kleinen Bootes. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn, dann blickte er entspannt auf den spätnachmittäglichen Horizont hinaus. Er nahm die rote Baseballkappe ab, und fuhr sich mit den Fingern durch sein silbergraues Haar, das an einigen Stellen bereits bedenklich dünn war. Der frische Meereswind, der salzige Luft vom Pazifik heranwehte, kühlte seine erhitzte Haut und erfrischte ihn. Baxter schloss die Augen und atmete tief ein. Dann setzte er seine Mütze wieder auf. Er spürte die untergehende Sonne in seinem Rücken und genoss die Wärme. Wieder betrachtete er gedankenverloren den Horizont.

Im Osten konnte er den Leuchtturm von Point Atkinson erkennen, dessen leistungsstarkes Signallicht in der roten Turmspitze die anlaufenden Schiffe sicher in die Horseshoe Bay und danach nach Vancouver hinein leitete. Der ansonsten weiß lackierte Turm thronte weithin sichtbar auf blankem Fels, flankiert von zwei nur mehr schwach erkennbaren weißen Häusern mit roten Dächern. Dahinter erstreckte sich dichter Nadelwald, so wie fast überall hier in British Columbia. Die kanadische Flagge, die einige Meter entfernt des Turmes im böigen Wind flatterte, konnte Baxter hingegen nicht erkennen. Dazu waren seine Augen nicht mehr stark genug.

Dr. Baxter blieb noch einige Minuten stumm sitzen und ließ seine Blicke über die ruhige See gleiten, beobachtete die kurzen, gedrungenen Fischerboote, die mit vollen Laderäumen tief im Wasser lagen und zurück in ihre kleinen Häfen tuckerten. Baxter sah auf seine Armbanduhr und entschied, dass es eigentlich höchste Zeit war, zurückzufahren. Zufrieden über seinen erfolgreichen Angelausflug, zog er zweimal stark an der Reißleine des betagten Yamaha-Außenborders, bis dieser dann schließlich protestierend ansprang. Baxter drehte am Gasgriff des Motors und dirigierte sein Boot in langsamer Fahrt auf die Küste von Bowen Island zu. Der Rumpf des leichten Aluminiumbootes schnitt sicher durch die etwa einen halben Meter hohen Wellen. Nach zehn Minuten fuhr er um eine Biegung der Küste und lief in einen kleinen, geschützt liegenden Fjord ein. Die Ufer des Meeresarmes, der sich ein Stückchen ins Innere der Insel hinein schlängelte, stiegen steil zu dichten Nadelwäldern an. Schmale Streifen saftig grünen Grases waren von knallroten Sommerblumen gesprenkelt. Das kalte Wasser des Fjordes klatschte rhythmisch gegen die blanken Felsen, auf denen Möwen saßen und sich das Gefieder putzten.

Baxter tuckerte weitere zehn Minuten ins Landesinnere, bis links ein alter, verwitterter Steg auftauchte. Er machte das Boot fest und betrat die dicken Planken. Er schnappte sich sein Angelzeug und die rote Box mit dem schweren Lachs, entschied, dass er nicht alles auf einmal würde tragen können, und ließ die Angelruten schließlich im Boot zurück. Er würde seine Ausrüstung später abholen, entschied er, als er auf die Blockhütte zu marschierte, aus deren Kamin gleichmäßig Rauch aufstieg und über die Baumkronen des dichten Nadelwaldes davonzog. Das Blockhaus lag verborgen unter mehreren hohen Bäumen und bot einen idyllischen Blick über die schmale Bucht.

Baxter marschierte die Auffahrt hoch und betrat die kleine Veranda der Hütte, deren schwere Holzbohlen mit einem dunkelblauen Läufer belegt waren. Mehrere Angelruten standen in einem Gestell neben der Eingangstür, ein Käscher lehnte gegen die dicken Holzwände. Baxter setzte die Box mit dem dicken Lachs ab und kramte nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Er fand ihn, schloss die Tür auf, hob die Box mit dem Lachs wieder hoch und trat ein.

Er ging ein paar Schritte auf die Küche des Blockhauses zu. Der Fisch wog schwer in seinen Armen, zappelte jedoch nicht mehr. Instinktiv hielt Baxter inne und horchte. War da nicht irgendein Geräusch gewesen, dachte er und sah zur Seite. Alles in dem großen Wohnraum der Hütte war tadellos aufgeräumt und in Ordnung, alle Dinge waren genau da, wo sie sein sollten. Baxter sah sich noch einmal genauer um, doch er konnte nichts entdecken. Der alte Mann war sich aber sicher, irgendetwas gehört zu haben, deshalb hielt er die Luft an und lauschte aufmerksam. In den letzten Wochen war in einige der anderen Hütten hier auf Bowen Island eingebrochen worden. Meistens waren es nur kleinere Vandalenakte von randalierenden Teenagern gewesen, doch man konnte nie wissen. Baxter war ein vorsichtiger Mensch, war dies immer schon gewesen, auch früher, als er noch in Seattle gearbeitet hatte. Nur deshalb, weil er so besonnen und vorsichtig war, hatte er es überhaupt bis zum Chefkonstrukteur bringen können, da war er sich sicher. Doch das alles lag lange zurück und war vorbei.

Es war totenstill, Baxter hörte nur seinen eigenen, ruhigen Atem. Er hielt noch ein paar Sekunden inne, dann schüttelte er lächelnd den Kopf und tadelte sich für seine Ängstlichkeit.

Du bist hier auf Urlaub, Cliff, sagte er sich. Entspanne dich und schalt mal ab. Du hast es verdient. Baxter stellte die Box mit dem toten Fisch auf die Arbeitsplatte der kleinen Küche. Er würde den Lachs filetieren und danach zubereiten. Als er an den Geschmack des weißen, festen Fleisches dachte, bekam er Hunger. Dann fiel ihm das Angelzeug ein, das noch unten am Steg war und er entschied, es gleich zu holen, bevor er es vergaß. So wie er viele Dinge in letzter Zeit einfach vergessen hatte, dachte Baxter trübsinnig. Zu viele Dinge …

Seine Anglerstiefel knirschten im groben Kies der Zufahrt, als er hinunter zum Wasser ging. Er fand seine Ausrüstung und kehrte zum Haus zurück. Als er wieder die kleine Veranda betrat, kontrollierte er die Angel und stellte sie dann zu den anderen in das Gestell. Er ging in die Küche zurück und öffnete die Box mit dem Lachs. Die dunklen Fußabdrücke auf dem Läufer im Wohnraum fielen ihm nicht auf. Auch die dunkle Gestalt, die sich hinter der Eingangstür verbarg, sah er nicht.

Baxter hatte nur Augen für sein Abendessen, das in der roten Box in der Küche auf ihn wartete.

Als er das Knarren der Dielen direkt hinter sich hörte und erschrocken herumwirbelte, war es bereits zu spät. Baxters Augen weiteten sich aus Angst vor dem großen Mann, der keine drei Meter vor ihm stand. Baxter konnte das Gesicht des Mannes gegen die untergehende Sonne, die durch die offen stehende Holztür am Eingang schien, nicht erkennen. Er war unfähig, irgendetwas zu sagen oder sich zu bewegen. Sein verkrampfter Körper war erstarrt, seine Blicke wanderten ungläubig vom dunkel verschwommenen Gesicht des Mannes zu dessen behandschuhten Fäusten, die sich langsam erhoben.

„Was …, Wer …,“ stammelte Baxter und wich instinktiv zurück, bis er mit dem Rücken an der Arbeitsplatte anstieß. Der Mann kam weiter auf Baxter zu, und hielt sich dabei angriffslustig mit leicht vorgebeugtem Oberkörper.

„Mach keinen Scheiß Opa, dann wird dir nichts passieren …“ knurrte er, sein breiter Brustkorb war nur mehr knapp eineinhalb Meter von Baxter entfernt. Panik stieg in dem alten Mann auf, dann preschte er urplötzlich vor. Baxter zielte auf die kleine Nische zwischen dem Mann und der Arbeitsbank der Küche. Dort wollte er durchschlüpfen und dann entkommen. Er schoss vorwärts und erahnte die Bewegung neben ihm nicht einmal, als der andere Mann seinen Arm hob.

Die Faust landete knackend an Baxters Schläfe und schickte ihn polternd zu Boden. Baxters Welt drehte sich, dann krachte sein Gesicht auf die dunklen Bretter des Wohnraums. Sämtliche Luft entwich aus seinen Lungen, er konnte nicht mehr atmen. Als er sich keuchend und nach Luft ringend mühsam auf den Rücken drehte, tanzten schwarze Punkte vor seinen Augen. Ihm war schwindlig und sein Kopf dröhnte. Ein stechender Schmerz schoss von seinem rechten Auge direkt in sein Gehirn und trübte seinen Blick. Tränen sickerte aus seinen Augen und brannten in der klaffende Platzwunde, die vom Aufprall auf den harten Boden herrührte. Der Mann beugte sich über ihn und füllte nun sein gesamtes, sehr eingeschränktes Blickfeld aus. Baxter weinte, er wollte nicht sterben.

„Ich hab dir doch gesagt, dass es eine beschissene Idee ist, du verdammter Idiot!“ fauchte der Mann, dessen Gesicht Baxter nun das erste Mal sah. Nie würde er das breite Grinsen vergessen, mit dem der Mann ihn ansah.

Niemals.

 

 

 

Marine Corps Stützpunkt, Quantico, Virginia

7. August 2016

 

Der groß gewachsene Marine in der gesprenkelten Tarnuniform betrachtete einige Sekunden lang den Ausweis, den er in Händen hielt. Einige Sekunden zu lange, fand Bruce Dobbs, der hinter dem Steuer des dunkelblauen Chrysler saß und den Torposten angespannt beobachtete. Dann dachte er daran, dass diesmal alles rechtens und der Ausweis keine Fälschung war, und er versuchte sich zu entspannen. Schließlich reichte der Marine den Ausweis durch das offene Fenster zurück in den Wagen.

„Willkommen in Quantico, Sergeant“, brummte der dunkelhäutige Wachposten. Dann trat er zur Seite und betätigte den Knopf für die elektrische Schranke am Haupteinfahrtstor des Stützpunktes. Dobbs nickte dem Mann zu und gab Gas.

Ein paar Minuten später lenkte er seinen Wagen an der FBI-Akademie vorbei um danach auf den großzügigen Besucherparkplatz einzubiegen. Dobbs parkte den Wagen und der Motor erstarb. Bevor er ausstieg, fiel sein Blick in den kleinen Spiegel der Sonnenblende, die er gegen das grelle Licht heruntergeklappt hatte. Was er sah, gefiel ihm nicht schlecht. Die Schiffchenmütze, passend zum khakifarbenen Hemd, das er trug, saß leicht schief auf seinen kurz geschorenen Haaren. Den Kinnbart hatte er sich abrasiert, er war nur mehr eine Erinnerung an die schlechte Zeit, die hinter ihm lag. Jetzt war er wieder im Corps, dachte er stolz. Und die Befehle, die er bis jetzt ausgeführt hatte, waren ganz nach seinem Geschmack gewesen. Recht unkonventionelle Befehle zwar in jeder Hinsicht, doch Dobbs war nicht zimperlich und hatte deshalb nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als er sie ausgeführt hatte. Er war schon gespannt, wie seine neuen Aufgaben wohl aussehen würden.

Sergeant Bruce Dobbs ließ den Wagen auf dem Parkplatz zurück und marschierte über den sirrend heißen Asphalt auf das Kommandogebäude zu. Das große, graue Gebäude vermittelte einen kraftvollen, beinahe unzerstörbaren Eindruck – ganz so, wie es der Architekt und der damalige kommandierende General des Corps wahrscheinlich geplant hatten.

Dobbs salutierte dem Posten am Eingang und betrat das Gebäude. Wenige Minuten später stand er im Vorzimmer des Stützpunktkommandanten und meldete sich bei einem Corporal an, der hinter einem kleinen Schreibtisch saß und schwitzte. Der Corporal betätigte die Gegensprechanlage und bedeutete kurz darauf Dobbs, dass er zum Kommandanten eintreten dürfe.

Als Dobbs schließlich vor dem Schreibtisch des Mannes stillstand, der ihn reaktiviert hatte, klopfte sein Herz und er war aufgeregt.

„General, Sergeant Dobbs meldet sich wie befohlen, Sir!“

Dobbs Blicke waren geradeaus gerichtet, seine breiten Schultern spannten sich unter dem frisch gebügelten Hemd. Er wagte es nicht, dem Offizier ins Gesicht zu blicken, bevor dieser ihn angesprochen hatte.

„Rühren, Sergeant“, sagte General Cliff Garrett ruhig. Der rothaarige Zweisternegeneral betrachtete den Mann, der vor seinem Eichenholzschreibtisch stand, aufmerksam. Dobbs entspannte sich ein wenig, sofern man von einem entspannten Marine überhaupt jemals sprechen konnte. Der groß gewachsene Mann sah noch eindrucksvoller aus, als Garrett  ihn in Erinnerung hatte. Dobbs schien noch an Gewicht zugelegt haben, was jedoch nicht von übermäßigem Biergenuss herzurühren schien. Die kraftvollen Oberarme schienen das kurzärmelige Hemd beinahe zu zerreißen, die ausgeprägte Brustmuskulatur war nicht zu übersehen. Garrett sah den Mann zufrieden an und deutete auf einen Stuhl, der gegenüber dem überdimensionalen Schreibtisch stand.

„Sergeant, setzen Sie sich und berichten Sie mir von Kanada“, begann er.

Dobbs kam der Einladung unverzüglich nach und nahm auf dem für ihn zerbrechlich aussehenden Stuhl Platz. Dann erzählte er Garrett, wie er dessen Befehl ausgeführt hatte.

Der General lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und hörte ihm aufmerksam zu.

„Ist der Mann – kooperativ?“, fragte Garrett, als Dobbs fertig war.

Der breitschultrige Marine schüttelte bedauernd den Kopf.

„Nein, Sir. Er schweigt beharrlich. Stufe Eins unseres Verhörs war nicht erfolgreich.“

Garrett verzog missmutig das Gesicht.

„Stufe Zwei wird der alte Mann wahrscheinlich nicht durchstehen, Sergeant. Wir werden uns was anderes überlegen müssen, um ihn zum Sprechen zu bringen.“

„Das glaube ich auch, Sir“, stimmte Dobbs zu.

Garrett trommelte mit den Fingern auf dem polierten Holz seines Schreibtisches und dachte nach. Dann fiel sein Blick auf mehrere Bilderrahmen, die auf dem linken Ende seines Tisches standen. Garrett hielt inne, und betrachtete die vertrauten Gesichter auf den Fotos. Sein Blick wurde weich, dann plötzlich unbeschreiblich hart. Einige Sekunden schien er mit irgendetwas in seinem Inneren zu ringen. Dobbs rutschte unbehaglich auf dem kleinen Stuhl herum und beobachtete den Offizier. Als Garretts kalte Augen ihn danach ansahen, erstarrte er augenblicklich.

„Ich glaube, wir werden zu etwas drastischeren Maßnahmen greifen müssen, Sergeant“, brummte Garrett.

Dobbs nickte und wusste, was er zu tun hatte.

 

 

 

British Columbia, Kanada

13. August 2016

 

Der schwarze Jeep Cherokee preschte über die Schotterstraße und zog eine beachtliche Staubwolke hinter sich her. Der schwere Wagen schluckte die Schlaglöcher des Waldweges mühelos und fuhr sich einfach großartig. Bruce Dobbs genoss die Wärme der Sonne, die durch das Dachfenster ins Innere des Wagens schien. Er hatte die Klimaanlage nur auf kleinster Stufe laufen, das Radio war ausgeschaltet.

Dobbs kannte den Weg, er war ihn zuvor schon einmal abgefahren. Damals war er nicht allein im Wagen gewesen, doch unterhalten hatte er sich auch nicht mehr als jetzt. Dazu war sein damaliger Fahrgast eindeutig nicht in Stimmung gewesen, dachte Dobbs.

Er fuhr um eine Biegung des Waldweges und bremste scharf ab, als er einen umgestürzten Baum entdeckte, der halb in die Fahrbahn ragte. Dobbs fuhr langsam um das Hindernis herum, verließ dabei mit zwei Reifen die Straße, doch kehrte danach unversehrt wieder auf den Weg zurück. Der Allradantrieb funktionierte einwandfrei, stellte Dobbs zufrieden fest. Zwanzig Minuten später bog er vom relativ breiten Waldweg in einen kleinen, fast unsichtbaren Holzfällerweg ein, der verborgen hinter einem großen Busch abzweigte. Dobbs musste nun das Fenster schließen, da Zweige und tief hängende Äste gegen den Jeep schlugen. Er machte sich keine Sorgen wegen Kratzer im Lack. Schließlich gehörte ihm das Auto nicht und die Verleihfirma war versichert. Er kam nun wesentlich langsamer voran, da der Weg wesentlich schmaler und ungleich holpriger war, und viele enge Kurven aufwies. Schließlich tauchte die Lichtung nach weiteren fünfzehn Minuten vor ihm auf.

Dobbs drosselte die Geschwindigkeit und bremste vor der kleinen Jagdhütte, die am Rand der Lichtung stand. Die Hütte war eigentlich ein Blockhaus kanadischen Stils, mit dicken Holzwänden, doppelten Isolierfenstern und starken, belastbaren Dachbalken. Die dicke Holzschindeldeckung war absolut wasserdicht und widerstand der menschenfeindlichen Witterung, die hier oben in den Wintermonaten herrschte. Dobbs schlug die Fahrertür zu und ging auf die Hütte zu. Der Motor des schweren Wagens tickte, die Klimaanlage surrte auch noch nach, ansonsten war es still. Dobbs roch die frische Waldluft, die mit ihren tausenden Duftnuancen nur von den unbedeutenden Rauchschwaden durchmischt wurde, die aus dem kleinen, aus roten Klinkerziegeln gemauerten Kamin aufstiegen.

Als er etwa zehn Meter von der Hütte entfernt über den lehmigen Waldboden ging, sah er die Mündung der 9mm Beretta, die durch den Spalt eines leicht geöffneten Fensters direkt auf ihn zielte.

„Alles in Ordnung, Lavinski“, sagte er laut und deutlich, damit man ihn auch verstand. Augenblicklich hob sich der Lauf und verschwand im Inneren der Hütte. Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür und ein Mann, der wesentlich kleiner und um Welten schmäler war als Dobbs, trat heraus. Auch er hatte kurz geschnittene Haare, ansonsten unterschied er sich in allem von Dobbs. Marvin Lavinski war nur etwa einsfünfundsiebzig groß, hatte schmale Schultern und einen langen Hals. Eine hässliche Hakennase zog sofort sämtliche Blicke auf sich und lenkte automatisch von den dunkelblauen, intelligenten Augen ab, die die Umgebung unablässig beobachteten. Lavinski steckte die Beretta zurück in das Lederhalfter, das er über dem grauen Ripshirt links am Oberkörper trug.

„Wie geht es unserem Gast?“, wollte Dobbs wissen, als er neben Lavinski stehen blieb.

„Er schweigt beharrlich und ignoriert mich, Sarge“, antwortete Lavinski. „Wenigstens hat er was gegessen und sieht nicht mehr so aus, als ob er jeden Moment tot umfallen würde“ ergänzte er.

„Sehr gut, Corporal“, brummte Dobbs und betrat die Hütte. Der riesige Marine trug einen kleinen ledernen Aktenkoffer bei sich, den er auf den schmalen Tisch in der Kochnische der Hütte legte. Er öffnete den Kühlschrank und fischte sich eine Dose Budweiser heraus. Es zischte und Dobbs leerte die Dose in einem Zug. Danach zerdrückte er das Aluminium, als wäre es Seidenpapier und warf die Dose in den Abfalleimer.

„Gehen wir runter und reden wir mal mit unserem Freund“, sagte Dobbs und schnappte sich wieder seine Aktentasche.

„Er wird uns nichts sagen, Sergeant“ erwiderte Corporal Lavinski, der die letzten neun Tage mit dem Doktor verbracht hatte.

„Wir werden sehen“, grunzte Dobbs, als er die schwere Falltür anhob, die in den gemauerten Keller der Hütte führte.

Eine knarrende Holzleiter, die unter dem Gewicht von Bruce Dobbs bedrohlich ächzte, führte in die Tiefe. Dobbs kletterte hinunter und fand sich in einem kleinen, von einer einzigen Neonröhre schwach erhellten Raum wieder. Die feuchten Steinwände des Kellers sorgten für den leichten Modergestank, der in der Luft lag. Ein einziges kleines Fenster, durch das man die nach innen gedrückten Wände eines verwitterten Lichtschachtes erkennen konnte, sorgte für Belüftung. Ganz hinten in dem kleinen Raum, zwischen mehreren Holzkisten mit Vorräten lag Dr. Clifford Baxter auf einem schmalen Metallbett. Seine Arme und Beine waren gefesselt, doch er konnte sich etwas bewegen. Seine Augen waren nicht verbunden, er konnte alles sehen, was vor sich ging. Also sah er auch Dobbs, als dieser auf ihn zukam und er verkrampfte sich. Sofort stieg wieder diese alles beherrschende Angst in Baxter hoch, dieselbe Angst, die er damals in seiner eigenen Blockhütte empfunden hatte, als man ihn entführt hatte. Als dieser Mann ihn entführt hatte, der sich gerade einen Stuhl schnappte und ihn verkehrt herum vor dem Bett hinstellte. Baxter beobachtete mit weit aufgerissenen Augen, wie Dobbs sich hinsetzte und ihn anstarrte. Einige Sekunden lang sagte Dobbs nichts, dann atmete er hörbar aus.

„Wir kennen uns bereits, Dr. Baxter“, sagte Dobbs emotionslos, „und Corporal Lavinski haben Sie auch schon kennen gelernt.“ Dobbs deutete auf den gegen die Leiter lehnenden Lavinski, dessen Beretta gut sichtbar im Halfter baumelte.

Baxter traute seinen Ohren nicht, als er den riesigen Kerl so ruhig und kultiviert reden hörte. War das der gleiche Mann, der ihn brutal niedergemäht und anschließend hierher verschleppt hatte?

„Wie mir der Corporal berichtet hat, sind Sie bis jetzt nicht gerade … entgegenkommend gewesen, Doc.“ Dobbs sah Baxter einige Sekunden an, doch dieser sagte kein Wort.

„Tja, das ist nicht gut, Doc, gar nicht gut.“ Dobbs erhob sich und stellte den Aktenkoffer demonstrativ und für Baxter gut sichtbar auf den Stuhl nieder.

„Das, was Sie in der letzten Woche hier genossen haben, Doc“ sagte Dobbs und sah Baxter dabei aufmerksam  in die Augen, „nennen wir ein Verhör der Stufe eins.“

Baxter fröstelte, als er an die Qualen dachte, die das Verhör ihm verursacht hatte. Er spürte noch immer die harten Schläge des kleineren Mannes, des Corporals, wenn der große Mann die Wahrheit gesagt hatte, und wollte so etwas nie wieder erleben.

„Zur Stufe eins des Verhörs eines Kriegsgefangenen gehören unter anderem Einschüchterung, Schlafentzug, Drohung und leichte körperliche Gewalt. Nichts Weltbewegendes also“, schloss Dobbs und sah dabei immer noch Baxter an.

„Jetzt möchte ich Ihnen kurz erklären, wie die Stufe zwei bei Verhören aussieht, Doc.“

Baxter schluckte und sah das Blitzen in Dobbs Augen, als dieser weiterredete.

„Zuerst werden wir Sie mit den Nahkampftechniken des Corporals näher vertraut machen. Er wird an Ihnen demonstrieren, was er so kann.“ Dobbs wartete einige Sekunden, um das Gesagte wirken zu lassen, dann fuhr er fort.

„Danach werden wir das Dieselaggregat anzapfen und Ihren Körper mit ein paar heftigen Stromstößen angrillen, bis es hier unten riecht, wie bei einem Barbecue. Und zu guter Letzt, falls Sie das überstanden haben, werde ich Ihnen persönlich die Eier abschneiden und sie zum Abendessen auffressen.“

Den letzten Satz hatte Dobbs bedrohlich leise und nur wenige Zentimeter von Baxters angstverzerrtem Gesicht ausgespieen. Und dabei hatte er jedes Wort so platziert, dass es wie ein brennend heißer Pfeil direkt in das Gehirn seines Gefangenen vorgestoßen war. Es hatte seine Wirkung nicht verfehlt.

„Sie…, Sie sind ja verrückt“, murmelte Baxter kraftlos. Sein Herz raste, er hatte schreckliche Angst und er glaubte dem riesigen Kerl, der ihn aus eiskalten Augen anstierte, absolut jedes Wort. Dobbs hatte sich auf dem Metallbett aufgestützt und beobachtete Baxter wie ein Raubtier seine Beute.

„Doch wie ich Sie kenne, Baxter, werden Sie das alles wegstecken. Sie sind ja ein harter Bursche, nicht?“ Dobbs grinste und Baxter wurde noch weißer, als er dies ohnehin schon war.

„Und Ihre Eier brauchen Sie doch sowieso nicht mehr, oder? In Ihrem Alter sollten Sie an was ganz anderes denken. Corporal Lavinski hier ist ausgebildeter Sanitäter. Er wird schon aufpassen, dass Sie mir hier nicht verrecken. Ich hab nämlich noch einiges mit Ihnen vor, Doktor.“

„Meinetwegen bringen Sie mich um“, flüsterte Baxter, „doch ich werde Ihnen nichts sagen.“

Dobbs entblößte eine Reihe schiefer Zähne, als sein Grinsen noch breiter wurde.

„Das weiß ich doch, Doktor. Sie sind ein ganz zäher Bursche. Deshalb werde ich Ihnen jetzt noch kurz erzählen, was Sie in Stufe Drei des Verhörs erwartet. Ich persönlich liebe Stufe Drei und der Corporal tut das auch. Wir beide haben dabei immer am meisten Spaß.“

Baxter sah das irre Grinsen vor sich und zweifelte ernsthaft daran, ob der große Mann noch alle Tassen im Schrank hatte. Doch er glaubte ihm, und das Wissen, welche Schmerzen jetzt vor ihm lagen, ließ ihn schwach werden. Noch schwächer, als er es bereits war.

Dobbs entfernte sich wieder von Baxter und griff nach der Aktentasche, die auf dem Stuhl stand. Er öffnete sie und holte ein paar Blätter Papier heraus. Dobbs betrachtete die Blätter und nickte dabei anerkennend.

„Mein Kompliment, Doktor. Da haben Sie aber wirklich was Hübsches zu Stande gebracht. Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.“

Baxters Herz sackte ihm noch ein Stück tiefer, er fühlte ganz instinktiv, dass alles noch schlimmer kommen würde, als er es je befürchtet hatte.

Dobbs betrachtete noch kurz die Blätter, dann warf er sie aus dem Handgelenk auf das schmale Bett. Er zwinkerte Baxter zu und griff nach der Aktentasche.

„Das hier ist Stufe Drei. Denken Sie dran, Doc. Wir haben noch Platz hier unten in diesem kleinen Keller. Und hier oben kommt nie jemand vorbei. Wir können uns also noch lange amüsieren. Sie, ich, der Corporal und …“ Dobbs beendete den Satz nicht, grinste nur wissend und ging. Corporal Lavinski kletterte zuerst die schmale Leiter hinauf, danach folgte ihm Dobbs. Noch einmal drehte sich Dobbs um.

„Wir kommen wieder, Doc. Und dann werden wir uns unterhalten, glauben Sie mir.“

Dann war der große Mann verschwunden und die schwere Falltür krachte ins Schloss. Das Licht blieb an und Baxter sah die Staubflocken, die langsam durch die Luft schwebten. Sein Verstand drohte zu versagen, als er die Blätter sah. Er konnte erkennen, dass es sich um Fotos handelte. Mühsam stemmte er sich hoch und beugte sich nach vorne. Die Fesseln an seinen Händen gaben ihm genug Spiel, dass er sich aufrecht hinsetzen konnte. Die Blätter lagen unmittelbar vor ihm auf der zerwühlten, stinkenden Bettdecke. Baxters Herz raste, als er sich noch weiter nach vorne beugte und eines der Blätter mit den Zähnen hochhob. Er drehte das Blatt um und ließ es wieder fallen. Das Bild, das er sah, bevor ihm Tränen den Blick verwässerten, zeigte eine junge Frau mit langen, blonden Haaren. Die Frau hob ein kleines Kind hoch und lächelte es liebevoll an. Das kleine Kind schien vor Freude zu kreischen, seine Augen waren weit aufgerissen uns strahlten. Unter dem Bild stand das Datum des 3. August 2016, daneben stand in klarer Blockschrift, wo das Foto aufgenommen worden war. Baxter kannte die Adresse. Er selbst hatte das Grundstück gekauft und es danach seiner Tochter geschenkt.

Weinend sackte Baxter zusammen. Sein Körper bebte, als er hemmungslos schluchzte. Seine Finger verkrampften sich um das Stück Papier, seine Tränen verwischten die Tinte des Ausdrucks.

Er würde alles sagen, schwor er sich unter heftigen Weinkrämpfen. Alles, was diese Männer von ihm wissen wollten. Wenn sie nur seine Mädchen in Ruhe ließen. Das war alles, was er wollte. Dass er sterben würde, war ihm egal.

 

Lavinski hörte das Schluchzen des alten Mannes im Keller nur gedämpft, als er Dobbs ansah.

„Da hast du ja das volle Programm vom Stapel gelassen, Sarge!“, grinste er.

„Für einen Moment dachte ich wirklich, dass du dem armen Kerl die Eier ausreißen würdest.“

Dobbs lächelte nicht, als er Lavinskis amüsierten Blick erwiderte. Er kannte General Garretts Befehle, Lavinski nicht. Das war der Unterschied und erklärte, warum Lavinski grinste und Dobbs dies nicht fertig brachte.

Lavinski merkte, dass sein Sergeant nicht zu Späßen aufgelegt war, und wurde wieder ernst.

„Werden wir die Frau auch holen müssen?“ fragte er vorsichtig. Er hatte die Fotos gesehen, die Dobbs geschossen hatte, und verspürte keine Lust, sich an der Frau und ihrer Tochter vergreifen zu müssen.

Dobbs warf die Aktentasche auf das schmale Feldbett, das im Erdgeschoß der Hütte stand. Dann sah er unbewusst auf die dicke Falltür, durch die sie ihren Gefangenen in sein Verlies gebracht hatten.

„Das wird nicht nötig sein, Corporal“, antwortete er ruhig, als sich seine Augen wieder von der Falltür losgerissen hatten.

Lavinski nickte und glaubte, eine Spur von Unbehagen in Dobbs Augen entdeckt zu haben. Doch nur ganz kurz und auch nicht wirklich überzeugend, fand er.

 

 

Clarksville, Virginia, USA

28. August 2016

 

Die kleine Stadt Clarksville liegt malerisch am Rande des Kerr Lake nahe der südlichen Staatsgrenze von Virginia. Die zweitausend Einwohner blicken auf eine eher unspektakuläre Entwicklung ihrer Stadt zurück, die zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ihren Anfang nahm. Im Kern des kleinen Städtchens finden sich einige sehr gut erhaltene oder zum Teil fachmännisch restaurierte Gebäude aus diesem Anfangsstadium der Besiedlung, deren ansehnliches Äußeres ihre jeweiligen Besitzer mit Stolz erfüllt.

Ein in der Stadt besonders angesehener Besitzer eines Hauses aus dem Jahre 1839 war Lieutenant General Malcolm P. Maddox. Der hohe Offizier der US Army, dessen Uniform mit dem Zeichen der Special Forces geschmückt war, verbrachte zwar den Großteil der Woche im Pentagon in Washington, doch an den Wochenenden und im Urlaub, fand man ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Clarksville.

General Maddox, ein achtundfünfzigjähriger Offizier mit einwandfreier Dienstakte, breitem Kreuz, hoher Stirn und fülligen Hüften liebte die Ruhe und Abgeschiedenheit in diesem kleinen Nest, das so viel anders war, als das hektische Washington, das er mit zunehmendem Alter immer mehr verabscheute. Maddox war ein leidenschaftlicher, wenn auch wenig erfolgreicher Jäger und er hatte ein ausreichend großes Jagdgebiet auf zehn Jahre gepachtet, wo er außerdem ein gemütliches Blockhaus besaß. Dort hin verzog er sich manchmal, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und seinen anderen, ganz speziellen Neigungen nach zu gehen. Zu diesem Zweck hatte die nach außen hin unscheinbare Jagdhütte in ihrem Inneren mit einigen angenehmen Einrichtungen aufzuwarten. Unter anderem waren dies eine Zentralölheizung, ein kuschliger offener Kamin, beheizbares Wasserbett und Jacuzzi, ein kleiner ausklappbarer, in einem Wandschrank versenkter Edelstahlkäfig mit einer schwarzen Schaukel, sowie ein Repertoire an diversen Spielzeugen, das der General ganz besonders liebte. Ein mit einer riesigen Satellitenschüssel verbundener 3D-LED-Flachbildschirm füllte beinahe die gesamte dem riesigen Bett gegenüberliegende Wand aus, darunter standen ein Blue-Ray-Player und eine gewaltige Soundanlage. Auf den warmen, rustikalen Bodenbrettern lagen ein großes Grizzlybärenfell und zwei weiße, weiche Schaffelle. Durch eine Tür vom großzügigen Wohn/Schlafbereich getrennt gelangte man in eine kleine Küche mit Edelstahlarbeitsplatte und riesigem zweitürigen Kühlschrank. Nochmal abzweigend davon gelangte man in ein kleines feines Bad mit Dusche und WC. Toilettenartikel standen dort fein säuberlich aufgereiht auf Glasregalen, es duftete nach Parfum und Rasierwasser.

Diese kleinen Nebenräume hatte der Mann in dem schwarzen Trainingsanzug und der Kapuze bereits gewissenhaft durchsucht. Er hatte nichts Brauchbares finden können, hatte daraufhin die Küche durchforstet und dabei darauf geachtet, dass alles auf seinem Platz blieb. Der Mann trug Latexhandschuhe und eine Gesichtsmaske, um keine verräterischen DNA-Spuren zu hinterlassen. Er war ein Profi und hasste Fehler, deshalb ging er kein Risiko ein.

Zurück im großen Wohnbereich der Hütte setzte er seine akribische Arbeit fort. Er durchsuchte methodisch alle Schränke und Regale, sah hinter Bildern und unter Blumentöpfen nach, kontrollierte die Bodenbretter nach geheimen Verstecken und spähte unter das schwere Wasserbett. Er betrachtete die DVD- und Blue Ray-Sammlung des Generals und stellte fest, dass der alte Mann keinerlei verräterische Kopien in dieser Hütte lagern hatte. Der Schrank mit dem Käfig, den Handschellen, Peitschen, Knebeln und Ledersachen war zwar ein Beginn, doch viel zu wenig. Trotzdem fotografierte er die Sachen mit einer winzigen mattschwarzen Kamera, die er dann wieder in einer seiner Brusttaschen verschwinden ließ.

Schließlich, es waren mittlerweile drei Stunden vergangen, seit er das schwere Schloss der Eingangstüre mühelos geöffnet hatte, sah er ein, dass das, was er suchte wohl eher im Stadthaus zu finden war, und nicht hier oben in der abgeschiedenen Hütte.

Mit einem letzten Blick überzeugte sich Steven Crowe, dass nichts an sein ungerechtfertigtes Eindringen in diesen Privatbereich des Generals erinnerte, dann verließ er die Hütte, versperrte das Schloss und verschwand im nahe gelegenen Wald.

 

 

Seattle, USA

1. September 2016

 

Bruce Dobbs parkte den dunkelblauen Lieferwagen drei Blocks entfernt in einer dunklen Seitenstraße und wartete. Ein Blick auf seine schwarze Armbanduhr verriet ihm, dass er genau im Zeitplan lag. Dobbs wartete fünf Minuten, bis er die dunkle Gestalt um die Ecke des Blocks biegen sah. Mit gleichmäßigen Schritten kam der Mann auf Dobbs Wagen zu und blieb schließlich vor der Beifahrertür stehen. Noch einmal sah sich der Mann kurz um, dann stieg er in den Wagen.

„Alles klar, Sergeant“, sagte Marvin Lavinski.

„Vor zehn Minuten hab ich einen Streifenwagen direkt vor dem Gelände gesehen. Da dürfte jetzt in nächster Zeit keiner mehr auftauchen.“

Dobbs nickte und drehte den Zündschlüssel um. Der große Benzinmotor sprang an und Dobbs gab Gas. Er fuhr die Seitenstraße hinunter und bog dann in die Richtung ab, aus der er gekommen war. Zwei Obdachlose beobachteten den Wagen mit wenig Interesse und fielen dann zurück in ihren von Alkoholdunst benebelten Halbschlaf. Dobbs fuhr langsam und hielt sich dabei immer rechts. Wenig später konnte er das Gebäude sehen. Er blinkte nicht, sondern bog einfach nach rechts ab. Eine weitere schmale Seitenstraße verlief parallel zur Rückseite eines alten Mietshausblocks. Der Wagen bremste ab und blieb schließlich zwischen zwei großen Mülltonnen stehen. Dobbs und Lavinski stiegen aus und sahen sich um. Aus den Mülltonnen stank es schwach nach altem Fisch und der Geruch von ranzigem Fett drang aus der Lüftung des Schnellimbissladens an der Rückseite des Mietshauses.

Ohne ein Wort zu sagen, öffnete Dobbs die Schiebetür des Lieferwagens und fischte eine schwarze Sporttasche heraus. Er gab sie Lavinski und holte dann noch eine Tasche aus dem Wagen, die er sich selbst auf den Rücken schnallte. Dann schob er die Tür wieder zu und verschloss den Wagen. Mit den gummibeschichteten Sohlen ihrer Kampfstiefel verursachten sie auf dem dreckigen Asphalt der Straße keinen Laut. Nur das Ächzen der Feuerleiter war ein paar Meter weit zu hören, als Dobbs sie mit einer Hand mühelos herunterzog. Mit kleinen, jedoch raschen Schritten huschten die beiden Männer die rostigen Stufen hinauf, bis Dobbs als erster über die Attika am Dach spähte. Er blickte auf das bekieste Flachdach, aus dem Lichtkuppeln, Kamine und Lüftungsrohre wie Warzen hervorragten. Dobbs nickte Lavinski zu und dieser tauchte an ihm vorbei. Lavinski schlich über den schmalen Metallsteg, der etwa zwanzig Zentimeter über dem Kies montiert war. Dobbs wartete kurz und sah noch einmal hinunter auf die Straße. Alles war still, nur über den Kanaldeckeln bildeten sich kleine weiße Wolken, als die warme Luft aus den Abwasserleitungen in der kühlen Septembernacht kondensierte. Der Wagen stand verborgen hinter den Mülltonnen und war nur schwer zu entdecken. Dobbs war zufrieden und folgte Lavinski, der hinter den großen Lichtkuppeln verschwunden war. Der Metallsteg ächzte unter seinem Gewicht, doch er hielt stand. Eine halbe Minute später glitt Dobbs neben Lavinski in den Schatten eines großen Lüftungsbauwerks, knapp neben der etwa einen Meter hohen Brüstung des Gebäudes. Warme Luft entwich aus den verzinkten Blechrohren, ein undefinierbarer Gestank, zusammengesetzt aus hunderten einzelner Gerüche verbreitete sich über das Dach. Dobbs griff nach der Sporttasche auf seinem Rücken und legte sie vor sich auf den Kies. Er öffnete den Reißverschluss und holte zwei Nachtsichtgeräte heraus. Eines gab er Lavinski, das andere setzte er selber auf. Kurz überprüfte er die Funktionalität des teuren Gerätes aus dem Bestand des US Marine Corps, dann spähte er über den Rand der Brüstung. Das nagelneue Gerät funktionierte hervorragend. Im grünlichen Schein der Restlichtverstärkung lag das Zielgebäude gut sichtbar vor ihm. Die automatische Justierung surrte und das Bild stellte sich messerscharf ein. Dobbs ließ seine Blicke über das gesamte Gebäude schweifen und sondierte dabei besonders das Dach. Lavinski neben ihm schaute runter auf die Straße und beobachtete Eingang und Außenanlagen im Erdgeschoß. Nach etwa zwei Minuten, in denen sie nur beobachtet hatten, betätigte Dobbs einen kleinen Knopf seitlich an seinem Gerät und die Sicht veränderte sich schlagartig. Plötzlich sah er alles in einem hellen Grauton, durchzogen von einzelnen gelben, orangen und dunkelroten Flächen oder Punkten, genau an den Stellen, die wärmer als die Umgebung waren. Die Infrarotsicht des neuen Nachtsichtgeräts funktionierte ebenfalls einwandfrei und Dobbs beobachtete das Gebäude für weitere drei Minuten. Am Dach glimmte die Lüftungsöffnungen schwach orange, doch sonst war nichts zu entdecken. Als er sch sicher war, dass die Luft rein war, gab er Lavinski ein Zeichen und dieser griff in seine Sporttasche. Er beförderte eine futuristisch anmutende Armbrust zu Tage, die er mit einigen geübten Handgriffen zusammensetzte. Während der Corporal weiteres Zubehör aus der Tasche holte, beobachtete Dobbs das Gebäude. Immer tat sich noch nichts, auch als Lavinski mit der Armbrust vor dem Körper auf der Brüstung Stellung bezog, war es still und unauffällig. Als Lavinski den Haken in die Armbrust schob, und das Seil gleichmäßig aufgerollt auf der Brüstung lag, war es vier Minuten dach Drei Uhr morgens.

„Feuer!“, flüsterte Dobbs, der unablässig das Dach des gegenüberliegenden Gebäudes beobachtete. Dann hörte er das metallische Klicken, als der Abzug der Armbrust den Mechanismus freigab, der den Haken in einem ballistischen Bogen über die breite Straße schoss. Dobbs hörte das Surren des Seiles, das der Haken hinter sich her riss, bis er zwei Sekunden später in den Wänden des Stiegenhauses am Dach gegenüber einschlug.

Lavinski hatte die Armbrust zur Seite gelegt und das Ende des Seiles gesichert, als der Haken in der Wand eingeschlagen hatte. Das Signal des Bolzens, dass seine Widerhaken ausreichend Halt in der Betonwand gefunden hatten, piepste leise auf dem Empfänger an Lavinskis Handgelenk. Dobbs beobachtete fortwährend das gegenüberliegende Dach, während Lavinski das Seil sicherte und noch einmal den Halt überprüfte. Kurze Zeit später hatte Lavinski die Armbrust wieder auseinander genommen und in der Sporttasche verstaut. Stattdessen hatte er Gurtzeug und Karabiner herausgeholt und über seiner schwarze Jacke festgezurrt. Eine zweite Ausrüstung reichte er Dobbs, der nach weiterer Beobachtung Lavinski grünes Licht gab.

Der drahtige Marine schwang sich über die Brüstung, klinkte den Karabiner in das dünne, hochfeste Seil ein und stieß sich mit den Füßen ab. Leise surrend entfernte er sich rasch von der Brüstung, mit den Armen zog er sich geschickt vorwärts. Dobbs sah Lavinskis Zeichen, als dieser an der anderen Seite angelangt war und sich ausgeklinkt hatte. Der Corporal überprüfte sicherheitshalber noch einmal den Sitz des mit einer Spezialspitze ausgestatteten Hi-Tech-Ankers, um sicherzustellen, dass er das wesentlich höhere Gewicht des Sergeants auch wirklich tragen würde. Der Bolzen saß tief im Beton der Wand und schien einwandfrei zu halten. Lavinski sah hinüber zu Dobbs und gab ihm das vereinbarte Zeichen. Dann beobachtete er den schweren Mann, wie er sich anscheinend mühelos vorwärts wuchtete und nur unwesentlich länger als er selbst brauchte, um die Distanz zwischen den beiden Gebäuden zu überwinden. Mehrmals ächzte der Haken unter den knapp einhundertdreißig Kilos des Sergeants, doch er hielt. Dann setzte Dobbs seine Stiefel auf die bitumisierte Flachdachdeckung des Gebäudes und kauerte sich neben Lavinski nieder. Kurz rief er die Angaben, die Dr. Baxter letztendlich doch bereitwillig gemacht hatte, aus seinem Gedächtnis ab. Lavinski schnallte sich seine Sporttasche vom Rücken und holte einen kleinen, schwarzen Palmtop heraus, der im Stand-by-Modus geschlummert hatte. Innerhalb von Sekunden war das Gerät hochgefahren und einsatzbereit. Geduckt schlichen die beiden Männer um den viereckigen Betonklotz des Stiegenhauses herum, bis sie vor der alarmgesicherten Stahltür angekommen waren. Dobbs fand das Zahlenschloss dort, wo Baxter es angegeben hatte. Der großen Marine hatte plötzlich einen kleinen Akkuschrauber in der Hand, mit dem er sich an der Edelstahlabdeckplatte des Nummernblocks zu schaffen machte. Die kleine Maschine surrte die vier Schrauben aus ihrem Gewinde, während Lavinski seinen Palmtop mit einem dünnen Kabel verband. Nachdem Dobbs einen Teil der Elektronik freigelegt hatte, trat er zur Seite und ließ Lavinski die Arbeit beenden. Der kleinere der beiden Männer stöpselte das andere Ende des dünnen Kabels irgendwo in das Zahlenschloss und wartete, bis er ein leises elektronisches Zirpen seines Palmtop-Computers hörte. Das Gerät hatte eine Verbindung hergestellt und war bereit. Dann startete er ein Programm, das nur die Hälfte des Bildschirms ausfüllte und bestätigte ein Menüfeld. Dobbs beobachtete das Flachdach, spähte über den Rand der Brüstung hinaus und horchte in die Schwärze der kühlen Septembernacht, während Lavinski rasch Befehle eintippte. Die Festplatte des kleinen Geräts surrte, und das Programm lief auf Hochtouren. Milliarden von Zahlenkombinationen rasten durch den leistungsstarken Arbeitsspeicher des Mini-PCs, dessen Leistungsfähigkeit die der im Handel erhältlichen Geräte um mindestens das Dreifache überragte. Lavinski trommelte nervös mit seinen kurzen Fingernägeln auf  der Hülle des Palmtops und wartete. Dobbs kniete neben ihm nieder und sah ihn fragend an. Dann, nach drei oder vier Minuten, in denen Dobbs unentwegt zwischen der Brüstung und der Tür hin und hergeschlichen war, piepste der Palmtop. Lavinski las die sechsstellige Zahl vom Display ab und sah Dobbs grinsend an. Der Sergeant deutete auf das Zahlenschloss und nickte. Baxter hatte erklärt, dass die Firma in keiner sonderlich guten finanziellen Verfassung war und deshalb auf sündteure Überwachungstechnik verzichtete. Zumindest hatte sie nicht die neuesten computergesteuerten Gesamtlösungen installiert, die jedes Öffnen einer Tür registrierte und sofort Alarm geschlagen hätte. Die Konkurrenz aus Europa setzte dem Konzern schon seit Jahren zu und hatte ihn schon länger von der Position des Marktführers verdrängt. Das merkte man überall, auch hier oben am Dach des Firmengebäudes. Es wurde an allen Ecken und Enden gespart, und hier auch am falschen Ende – oder am richtigen, wenn es nach Dobbs und Lavinski ging.

Corporal Lavinski gab die Zahlen in der angegebenen Reihenfolge ein und betätigte die Entertaste. Das rote Licht unten am Nummernblock blinkte kurz und änderte sich dann in ein strahlendes Grün. Dobbs griff nach der Klinke, hielt die Luft an und drückte sie hinunter. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und nichts passierte. Beide Männer atmeten auf, obwohl sie wussten, dass ein blinder Alarm ohne weiters nicht zu bemerken gewesen wäre. Doch Baxter hatte ihnen versichert, dass es keinen solchen Alarm gab, nicht zumindest, seit er vor einem Jahr in Pension gegangen war. Und der alte Mann hatte nicht zu viel versprochen.

Unentdeckt stiegen die beiden Marines die kalten Stufen des grauen Stiegenhauses hinunter, bis sie in Ebene Fünf angelangt waren, das Ziel ihres nächtlichen Ausflugs. Die Nachtsichtgeräte hatten beide Männer hochgeklappt, die Notbeleuchtung war zu hell um die Geräte einsetzen zu können. Sie würden sie später wieder brauchen, auf dem Rückweg. Baxter hatte von den Überwachungskameras erzählt, hatte Lage und Anzahl der Geräte angegeben und sich bemerkenswert gut an alles erinnern können. Dobbs wusste, dass seine Blicke, mit denen er die Fotos von Baxters Tochter und seiner Enkelin betrachtet hatte, nicht ihre Wirkung verfehlt hatten. So fiel es den beiden Männern nicht sonderlich schwer, sich von den Überwachungswinkeln der Kameras so lange fernzuhalten, bis diese sich wieder weggedreht hatten. Es gab bemerkenswerterweise nur eine Kamera im gesamten Stiegenhaus oberhalb der fünften Ebene, und diese Kamera bot ein ausreichendes Fenster, in dem sie nicht die Stufen, sondern den weiterführenden Gang beobachtete. Das nützten die Marines und schlüpften unentdeckt durch die nicht versperrte Glastür. Die Gummisohlen quietschten auch auf den teuren Fliesen des matt erleuchteten Gangs kaum und nach wenigen Metern fanden sie den Raum, den sie gesucht hatten. Die Tür war verschlossen, doch Lavinski hatte schon einen Bund Dietriche zur Hand. In Zeiten, in denen sogar schon Kühlschranktüren elektronische Zahlenschlösser hatten, wirkte so ein altmodisches Schloss geradezu antiquiert. Lavinski war es nur recht, als er das Klicken hörte und er die Tür öffnete. Sekunden später verschwanden beide Schatten im Raum mit der Nummer 05-45 und im Gang war nichts mehr davon zu bemerken.

 

„Ich mach meine Runde, Joe!“, sagte Willy Corleone und klopfte beim Vorbeigehen seinem Freund, der auf einem billigen Drehsessel saß und gelangweilt mehrere Bildschirme beobachtete, kumpelhaft auf die Schulter. Der andere Wachmann brummte irgendetwas Unverständliches und nickte. Die Mütze des Mannes lag auf der schmalen Konsole vor ihm, seine Jacke hing schief über dem ächzenden Drehstuhl. Corleone schnappte sich eine der großen, chromfarbenen Stabtaschenlampen aus einem versperrbaren Metallschrank, prüfte kurz, ob sie funktionierte, und verließ den kleinen Raum, in dem die beiden Nachtwächter untergebracht waren. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wanderte seine Hand unwillkürlich an seine rechte Hüfte. Der altmodische Trommelrevolver saß in seinem Halfter, genau da, wo er hingehörte. Corleone arbeitete zwar schon lange nicht mehr draußen auf den Straßen, so wie er es den Großteil seines Lebens als Polizist getan hatte, doch die Smith&Wesson, deren polierten Holzgriff seine Fingerspitzen berührten, zog er nach wie vor allen automatischen Waffen vor. Er glaubte zwar nicht, dass er jemals wieder eine Waffe im Ernstfall würde ziehen müssen, aber im schlimmsten Fall wollte er nicht ein Stück italienisches Blech mit einem verdammten Plastikgriff in seinen Händen halten. Da war der pensionierte Sergeant des Seattle Police Departement sehr eigen.

Genauso, wie er in der Erfüllung seiner Pflicht als Nachtwächter absolut ernsthaft und genau war. Er sah auf seine Armbanduhr und überschlug kurz, wann er seine ausgedehnte Runde beendet und zurück im kleinen Büro an einer Tasse Kaffe schlürfen würde. Mit leisen Schritten durchquerte er die große Empfangshalle im Erdgeschoss des Gebäudes. Durch die gläserne Eingangstür konnte er nach draußen auf die hell beleuchtete Straße sehen. Es war nicht mehr Verkehr als üblich, dachte er und wunderte sich wieder einmal, dass um diese Uhrzeit überhaupt jemand unterwegs war. Mit einem allnächtlichen Ritual rüttelte er an den Türgriffen und kontrollierte, ob die große Glastür auch sicher verschlossen war. Kurz spähte er hinaus in die Außenanlagen rund um den ovalen, gepflasterten Eingangsbereich vor dem Gebäude. Alles war ruhig und nichts Auffälliges war zu entdecken. Corleone stellte zufrieden fest, dass auch keine Autos vor dem Gebäude parkten. Noch einmal sah er nach links und betrachtete die grellbunten Reklamen der Pubs entlang der Straße, dann drehte er sich wieder um.

Das straff gespannte Stahlseil fünfunddreißig Meter über der Straße sah er nicht.

Corleones Schritte hallten durch die gespenstisch stille Empfangshalle, er ging vorbei an den großen Modellen der neuen Serie, die die Firma entwickelt hatte. Er lächelte, als er an seinen Enkel dachte, den er vor ein paar Wochen an seinem freien Tag mit hierher genommen hatte. Der kleine Junge hatte große Augen bekommen, als er die Modelle gesehen hatte. Die neue Modellreihe, so hatte man Corleone erzählt, sollte voll einschlagen und die Firma zurück an die Marktführerposition katapultieren. Corleone verstand von diesen Dingen nichts. Aber es konnte ihm nur recht sein. Eine Firma, die Marktführer in ihrem Bereich war, war eine gute Firma. Und eine gute Firma bezahlte das Gehalt ihrer Angestellten pünktlich und verlässlich. Das war alles, was für Corleone zählte.

Als er das matt erleuchtete Stiegenhaus vor sich sah, verzog er den Mund. Das Einzige, was er an diesem Job nicht ausstehen konnte, war das ewige Stiegensteigen. Doch da kam er nicht drum herum und außerdem hielt es ihn wenigstens fit. Als er die ersten Stufen erklommen hatte, schätzte er, dass er heute nicht länger als sonst für seine Runde brauchen würde.

Er wusste nicht, dass er damit falsch lag.

 

Der Palmtop surrte leise, nachdem Lavinski die Enter-Taste gedrückt hatte. Vierzehn Sekunden später piepte das kleine Gerät und Lavinski grinste.

„Wir sind drin, Sergeant“, flüsterte er und hob dabei den Daumen seiner rechten Hand.

„Na dann los, Marv“, brummte Dobbs, der direkt hinter dem Corporal stand und angespannt auf den Miniaturbildschirm des Gerätes starrte. Lavinski nickte und wandte sich wieder der kleinen Tastatur zu. Seine Finger huschten über die Tasten, der Bildschirm veränderte sich fortwährend, als er das System untersuchte. Nachdem der Corporal alle Sicherheitsprogramme geschickt umgangen hatte, war er nun im Kern des firmeninternen Netzwerkes angelangt und hatte Zugang zu den sensiblen, mehrfach passwortgeschützten Bereichen. Für jeden anderen Hacker wäre hier Endstation gewesen, doch Corporal Lavinski hatte sich die Angaben, die Dr. Baxter mehr oder weniger freiwillig gemacht hatte, aufgeschrieben und auswendig gelernt. Der alte Mann erwies sich weiter als sehr zuverlässig, zwei Passwortsperren hatte Lavinski schon aus dem Weg geräumt. Bei einer dritten versagten Baxters Angaben, das Passwort war geändert worden. Das war absolut üblich und eigentlich nicht einmal besonders vorsichtig von den Netzwerktechnikern der Firma. In anderen Firmen oder beim Militär wurden Passworte täglich, manchmal sogar stündlich geändert. Doch diese Firma baute anscheinend auf seine von außen undurchdringliche Firewall. Ein Palmtop-Computer, der mitten in der Zentrale des Firmengebäudes mit einem der Großrechner direkt verbunden war, war den verantwortlichen Leuten anscheinend nicht als Bedrohungsszenario in den Sinn gekommen. Lavinski konnte über diese neuerliche ungeheure Sorglosigkeit nur den Kopf schütteln. Wenn er hier das Sagen gehabt hätte, dann …

„Wie sieht’s aus, Lavinski?“ wollte Dobbs ungeduldig wissen. Der große Mann hatte keine Ahnung, was zum Teufel Lavinski da so lange trieb. Ihm dauerte das alles schon viel zu lange.

„Moment, Sarge, Moment“, flüsterte Lavinski zurück. Er war hoch konzentriert und durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben, wenn er nicht einen Alarm auslösen wollte. Die Netzwerktechniker waren zwar nicht absolute Spitzensicherheitsfanatiker, doch Lavinski unterschätzte keinen Gegner mehr, seit ihn einmal ein weiblicher Marine aufs Kreuz gelegt und ihm die Schulter ausgerenkt hatte.

Der Corporal startete ein kleines Programm, das er selbst geschrieben hatte und auf das er besonders stolz war. Er setzte das Programm auf die Passwortsperre an und wartete. Der kleine Rechner surrte und die Sekunden verstrichen. Dann piepste das Gerät schließlich und die Passwortsperre war überwunden. Triumphierend drehte er sich um.

Sergeant Dobbs war nicht mehr da.

Hastig blickte sich Lavinski um und entdeckte den breitschultrigen Marine, der mit angespannter Miene bewegungslos an der Tür des Raumes lauschte. Dann sah Lavinski die hektischen Handzeichen seines Sergeants und erstarrte.

 

Willy Corleone drückte die Klinke der dunkelgrauen Tür hinunter und presste seine Schulter gegen das Türblatt. Es klackte, doch die Tür blieb geschlossen. In Ordnung. Dann pendelte er auf die andere Seite des Ganges und wiederholte die Prozedur.

In Ordnung.

Wieder schlurfte er auf die linke Gangseite und drückte gegen die Türklinke.

Er wäre fast in den Raum gestürzt, als die Tür sich widerstandslos öffnen ließ.

Corleone schnappte überrascht nach Luft und blieb nur mühsam auf den Beinen. Seine Taschenlampe fiel klappernd zu Boden und kullerte ein paar Meter in den Raum hinein. Das grelle Licht der Lampe fing von selber an zu leuchten und beschien die staublose Luft im Inneren des großen Raumes. Corleone ging ein paar Schritte, bückte sich und hob die Lampe auf. Der Schein des weißen Lichts beleuchtete die surrenden Großrechner des Netzwerkes. Die Luft fühlte sich elektrisch geladen und irgendwie klinisch an. Es roch nach Reinigungsmittel und Elektrosmog. Corleone hasste diesen Raum, war erst ein Mal hier drinnen gewesen, damals am Tag und nicht länger als ein paar Minuten. Und auch jetzt hatte er ein verdammt schlechtes Gefühl. Er konnte in der Dunkelheit des Raumes nichts sehen, was sich außerhalb des Lichtkegels seiner Taschenlampe befand. Sein Herz fing an zu pochen und sein langjährig geschulter Instinkt, der auf den Straßen Seattles einen Feinschliff besonderer Klasse erhalten hatte, sagte ihm, dass hier irgendetwas überhaupt nicht stimmte. Systematisch beleuchtete er den großen Raum, seine rechte Hand öffnete die Schlaufe am Halfter seines Revolvers. Corleone merkte, dass er langsam nervös wurde. Er fühlte die Gefahr, konnte sie aber nicht entdecken. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, während er langsam rückwärts ging. Schritt für Schritt tastete er sich zur Tür zurück. Mit seiner freien Hand suchte er den Lichtschalter, der irgendwo rechts auf Brusthöhe an der Wand montiert war. Der Schein der Taschenlampe zuckte hektisch durch den Raum, während Corleones Atem immer heftiger wurde. Dann huschte der Strahl der Lampe über etwas, dass nicht in den Raum gehörte und Corleone erschrak heftig. Er schwenkte die schwere Taschenlampe wieder zurück auf die Stelle, wo er die Bewegung erhascht hatte.

Er sah nichts.

Er wusste aber, dass da noch jemand in dem Raum war.

Sein Herz drohte ihm die Brust zu sprengen. Mit zitternden Fingern suchte er an der Wand nach dem erlösenden Lichtschalter, fand ihn aber nicht. Dann fuhren seine Finger über einen Plastikschalter und er hielt inne.

Wieder sah er die Bewegung im Licht seiner Lampe und diesmal erkannte er, was es war. Seine Finger umschlossen den schmalen Schalter an der Wand. Er schob den Schalter hoch. Die schwere Taschenlampe entwand sich seinen feuchte, zitternden Händen und fiel klappernd zu Boden. Das laute Geräusch des Aufpralls hallte nervzerreißend durch den großen Raum. Corleones Hand griff nach der Smith&Wesson, seine Finger schlossen sich um den Holzgriff. Doch statt des erlösenden Lichtscheines hörte er nur ein Klicken. Die Taschenlampe lag vor ihm auf dem Boden und erhellte den Raum bis auf Tischhöhe. Der Wachmann atmete heftig und schwitzte stark. Sein Revolver hakte im Halfter, er konnte ihn nicht herausziehen. Dann hörte er das anlaufende Luftreinigungsgebläse und wusste, welchen Schalter er betätigt hatte.

Der verdammte Revolver rührte sich nicht.

Dann sah Corleone die schwarzen Kampfstiefel, die langsam den Schein der Lampe durchquerten. Der alte Mann erstarrte augenblicklich. Das machte es für Bruce Dobbs, der einen Meter neben ihm stand und ihn durch seine Nachtsichtbrille beobachtete, wesentlich leichter.