Garrett sah die Staubwolke, die der abhebende Hubschrauber aufwirbelte und entspannte sich ein wenig. Er glaubte nicht, dass Thomson ihn weiter behelligen würde, das hatte er in dessen Augen gesehen. Doch man konnte nie wissen, und deshalb beschloss er, noch am selben Tag General Grant in Washington anzurufen und Thomson damit einen ordentlichen Anschiss von oben zu bescheren. Als Garrett sich vom Fenster abwandte, bemerkte er Sergeant Dobbs, der aus dem hinteren Teil der Maschine zurückgekehrt war. Dobbs sah irgendwie unglücklich aus, wenn man denn seinen an sich nichts sagenden Gesichtsausdruck überhaupt deuten wollte.
„Wir haben da ein Problem, General“, erklärte Dobbs.
Sonorawüste, Arizona
08. Oktober 2016
Die Sonne brannte rücksichtslos auf Sergeant Dobbs’ breiten Rücken nieder. Der schwere Mann atmete heftig, als er den großen, rötlich staubigen Steinbrocken aus dem etwa einen Meter tiefen Loch wuchtete. Dobbs ließ den Felsbrocken los, dessen scharfe Kanten seinen Unterarm aufgeschürft hatten, und sah zu, wie er langsam bergab rollte und wenige Sekunden später gegen einen etwa drei Meter hohen Kaktus prallte, um schließlich liegen zu bleiben.
Die brütende Hitze, verstärkt durch die absolute Windstille, die zwischen den vereinzelten Gesteinsbrocken überall auf dem leicht abschüssigen Hang herrschte, war beinahe unerträglich.
Genau wie die Arbeit, die man Dobbs und Lavinski aufgehalst hatte. Lavinski, dessen durchgeschwitztes T-Shirt über einem kleinen, stachellosen Gewächs hing, blinzelte sich den Schweiß aus den Augen und richtete sich stöhnend auf. Sein drahtiger Oberkörper war etwa auf Höhe des trockenen Wüstenbodens, seine dreckigen Stiefel konnte man in der Grube nicht mehr sehen.
„Ist das nicht langsam tief genug, Sarge?“, fragte Lavinski, dessen Kreuz nach dem langen, ununterbrochnen Schaufeln heftig schmerzte. Der Boden an dieser Stelle der Wüste hatte sich als ausgezeichnet verdichtet und besonders schwer zu bewegen erwiesen.
Dobbs, der sich von dem Stein wieder abwandte, den er mühsam vom Grund der Grube gehoben hatte, sah Lavinski kurz an. Dann schüttelte er den Kopf und griff wieder nach der kleinen Schaufel.
„Wenn nur einer dieser verfluchten Kojoten die Leiche findet, dann kriegen wir verdammt großen Ärger, Lavinski.“
Kraftvoll rammte Dobbs die Schaufel in den harten Boden. „Denn dann wird der General uns umlegen.“
Etwa eine halbe Schaufel Erde landete auf dem ansehnlichen Haufen oberhalb der Grube. „Und das, Lavinski, würde dir doch sicher nicht gefallen, oder?“ Dobbs hielt inne und sah Lavinski einen Augenblick lang an.
„Also nimm die Scheißschaufel und grab weiter, kapiert!“, knurrte er und ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er es ernst meinte.
„Okay, okay, Mann. Alles, klar Sarge“, murmelte Lavinski und machte sich wieder ans Graben. Dobbs, der inzwischen eine weitere Schaufel Erde aus der Grube geworfen hatte, sah auf seine Uhr. Sie würden noch ungefähr drei Stunden Tageslicht haben, dann würde die rasch fortschreitende Dämmerung die weiten Ebenen der Sonorawüste verschlingen und die Temperatur rapide fallen. Bis dahin sollten sie die Leiche längst vergraben, die Stelle unauffällig getarnt und sich aus dem Staub gemacht haben. Das würde zu schaffen sein, locker sogar, meinte Dobbs.
Während Lavinski weiter schaufelte und dabei irgendetwas Unverständliches vor sich hin murmelte, betrachtete Dobbs den schwarzen Plastiksack mit Dr. Baxters Leiche, der ausgesprochen pietätlos gegen einen Kandelaber-Kaktus lehnte. Dobbs schüttelte den Kopf, als er daran dachte, wie der alte Mann gestern im Flugzeug plötzlich kreidebleich geworden und danach lautlos von seinem Sessel gerutscht war. Sofort hatte sich Dobbs zu Baxters knochiger Gestalt hinunter gebeugt und in die abwesenden Augen geblickt. Doch in seiner langen Laufbahn als Soldat hatte er den Tod bereits mehrmals gesehen. Und in jenem Augenblick, als er sich über den alten Mann auf dem geschmacklosen Teppich des Gangs der 747 beugte, wusste er sofort, dass sich der Tod ein weiteres Opfer gekrallt hatte. Ein paar Augeblicke hatte Baxter Dobbs noch angesehen, bevor er seinen letzten Atemzug tat. Keine letzten Worte, theatralisch oder anklagend, nur ein wässriger Blick aus dunklen Augenhöhlen, dann war es vorbei.
Der Rest war dann militärisches Krisenmanagement in Reinkultur gewesen. General Garrett war der neuen Situation mit der für ihn so typischen Gemütskälte entgegen getreten. Der rothaarige Marine hatte sofort seine Schlüsse aus dem Ableben des Flugzeugingenieurs gezogen und die unmittelbaren Folgen abgeschätzt. Es hatte nur ein paar Augenblicke gedauert, bis er seine Befehle gegeben hatte. Noch am selben Nachmittag hatten die Marines ihre Zelte abgebrochen. Bis tief in die Nacht hinein wurden Spuren beseitigt und alles wieder so hergerichtet, wie es von den Marineinfanteristen vorgefunden worden war. Um halb zwei Uhr nachts hatte Garrett den Befehl zum Aufbruch gegeben und die Männer waren in ihre Hummer geklettert. Die schweren Geländewagen hatten den Flugzeugfriedhof verlassen, ohne näher auf die verwunderten Fragen der Torposten einzugehen. Die Wachsoldaten hatten sich mit einer kurzen Erklärung eines entschlossen wirkenden General Garretts zufrieden geben müssen.
Danach hatte man sich getrennt. Garrett und die drei Marines-Wachposten waren auf dem Highway 10 nach Norden in Richtung Phoenix davongebraust. In Phoenix hatte General Garrett am Sky Harbor International Airport den Jeep verlassen und hatte sich ein Ticket für die nächste Maschine nach Washington gekauft. Den drei Marines, die ihn begleiteten, hatte Garrett befohlen, auf den etwa vierhundert Kilometer westlich gelegenen Marine Corps Stützpunkt Twentynine Palms zurückzukehren. Die eindringlichen Worte General Garretts, als er den drei handverlesenen Männern noch einmal die absolute Geheimhaltungsstufe dieses Auftrages erläuterte, waren klar und präzise gewesen und hatten die Konsequenzen einer Nichteinhaltung der Verschwiegenheit klar gemacht. Die Männer würden mit Sicherheit den Mund halten.
Lavinski und Dobbs hingegen hatten zwar mit Garrett zusammen den Stützpunkt verlassen, doch danach waren die beiden Männer mit ihrem Hummer vom Highway abgebogen und drei oder vier Stunden Richtung Westen gefahren. Als die Sonne sich in ihrem Rücken über den Horizont geschoben hatte, waren Dobbs und Lavinski tief ins Herz des Tohono O’Odham Indianerreservats vorgedrungen. Dobbs hatte, als er der Meinung war, so weit von der Zivilisation entfernt wie nur irgendwie möglich zu sein, den Wagen im Schatten eines riesigen, rötlichen Granitbrockens geparkt. Für drei Stunden hatten die beiden Männer sich ausgeruht und Kraft getankt. Dann, als die Sonne schon hoch am vormittäglichen Himmel stand, waren die beiden Männer zu Fuß aufgebrochen. Lavinski trug Wasser, etwas Verpflegung und zwei Schaufeln, während Dobbs den schwarzen Plastiksack mit Baxters Leiche auf seine muskulösen Schultern gewuchtet hatte. Etwa eineinhalb Kilometer hatten sie sich von der schmalen Schotterstraße bergauf entfernt, bis Dobbs mit der Stelle zufrieden war. Dann hatten sie kurz gerastet, reichlich Wasser getrunken und zu graben begonnen.
Jetzt war das Loch etwa einsdreißig tief und lang genug für den schwarzen Plastiksack, um den schon die ersten Fliegen surrten. Die Sonne stand tief im Westen und die brütende Hitze ließ langsam nach. Ein schwacher Wind kam auf und kühlte die erhitzte Haut der beiden Marines. Oben, am tiefblauen Himmel drehten zwei kleine Greifvögel ausgedehnte Runden und kehrten dabei immer wieder an die Stelle zurück, an der das Grab lag. Dobbs beobachtete die Vögel argwöhnisch und fragte sich, ob das wohl Aasfresser waren und ob da noch mehr kommen würden. Zehn Minuten später, als plötzlich an die zehn Vögel über seinem Kopf kreisten, wurde Dobbs nervös.
„Die verdammten Geier verraten uns noch. Graben wir den Doc besser ein und dann nichts wie weg hier.“
„Das ist das Beste, was ich heute von dir gehört habe, Sarge“, grinste Lavinski und kletterte behände aus der tiefen Grube. Gemeinsam packten sie den Plastiksack, und hoben ihn hoch. Lavinski verzog angewidert das Gesicht, als eine bestialische Gestankswolke aus dem Sack ins Freie drang. Dann waren sie bei der Grube und streckten den Sack in die Länge, damit er hineinpasste. Auf eine Zeichen Dobbs hin ließen sie Baxters Leiche los und in die Grube fallen. Ein merkwürdiges Geräusch war zu hören, so als ob ein Sandsack umfiel, dann lag die Leiche still. Kurz sahen die beiden Marines hinunter auf den Sack, in dem der Mann lag, mit dem sie in den letzten Wochen die meiste Zeit des Tages verbracht hatten. Keiner der beiden empfand irgendetwas anderes als Müdigkeit, als sie nach ihren Schaufeln griffen.
Eine halbe Stunde später war das Loch aufgefüllt, die Oberfläche des kargen Wüstenbodens der Umgebung angepasst und alle Spuren ihrer Anwesenheit beseitigt. Dobbs prüfender Blick schweifte noch einmal über die Stelle, wo Dr. Clifford Baxter begraben lag. Dann nickte er Lavinski zu, schnappte sich die Schaufel und drehte sich um.
„Machs gut, Doc“, flüsterte er, als er mit sicheren Schritten bergab stieg und dabei darauf achtete, auf keine der zahlreichen Klapperschlangen zu treten, die es hier gab.
Pentagon, Washington
09. Oktober 2016
„Verdammt, wie konnte das passieren, Jim?“, polterte General John Grant, dessen tadellos gebügelte Uniform sich über seinen ausladenden Bauch spannte. Das Gesicht des Generals war rot, die dicken Finger seiner behaarten Hände hatte er zu Fäusten geballt. Nur mühsam konnte der neben ihm gehende und wesentlich größere Admiral Jim Franklin mit dem vor Wut geladenen Infanterieoffizier Schritt halten.
„Hat dieser verrückte Garrett jetzt komplett den Verstand verloren?“ Franklin war stocksauer über diese neue, sehr beunruhigende Entwicklung, die sich Tags zuvor im fernen Arizona ergeben hatte. Als Garrett sich bei ihm gemeldet und die Geschehnisse kurz zusammengefasst hatte, war Grant beinahe das Herz stehen geblieben. Er hatte sich schwer zusammenreißen müssen, um nicht ausfallend gegenüber Garrett zu werden, den er persönlich für das Fiasko mit dem Ingenieur verantwortlich machte.
„Beruhige dich, John“, bremste Franklin, der sich ein paar Mal umgesehen hatte, ob niemand zu sehr in ihre Nähe kam. Grant selbst hatte darauf bestanden, die sensiblen Details der Operation nicht in seinem Büro, sondern hier draußen im Park zu besprechen. Hier war er vor unerwarteten Wanzen und anderen Lauscheinrichtungen sicher. Das war etwas, was er von seinem großzügigen Büro im JFCTC nicht gerade behaupten konnte. Grant traute niemandem, und bei dem, was er zusammen mit den anderen drei Offizieren vorhatte, würde schon ein einziges abgehörtes Gespräch genügen, um sie alle bis zu ihrem Lebensende in Einzelhaft nach Leavenworth zu bringen. In der ausgedehnten Parkanlage hingegen waren nur einige wenige Offiziere und Zivilisten unterwegs, die aber völlig außer Hörweite waren. Das war wesentlich besser und erlaubte den beiden hohen Offizieren, das zu besprechen, was für keine anderen Ohren bestimmt war als die ihren.
Grant blieb auf dem breiten, gekiesten Spazierweg stehen und sah Franklin jetzt direkt an, als er weiter redete: „Ich soll mich beruhigen? Der Teufel soll mich holen, wenn ich mich beruhige!“
Franklin verzog das Gesicht. Er wurde langsam zornig wegen der Sturheit und der aufbrausenden Art, die der Armeegeneral an den Tag legte.
„Die wichtigste Person, die entscheidende Hinweise für die Ausführung des Plans geben soll, genau diese verdammt unersetzbare Person lässt Garrett verrecken. Und das unter den Augen seiner Männer. Das ist Fahrlässigkeit und, wenn du mich fragst, grenzt das schon an Hochverrat!“
„Verdammt, jetzt halt endlich mal die Klappe, John!“, schnauzte Franklin ihn böse an. Er hatte sich direkt vor dem kleineren General aufgebaut und sah ihn von oben herab mit großen Augen an.
„Du sprichst hier von Hochverrat? Was glaubst du denn, was das alles hier ist, unser Plan, all die Vorbereitungen und die Opfer, die bereits nötig waren? DAS ist Hochverrat an einer gewählten Regierung! Das, was General Garrett passiert ist, konnte er nicht verhindern. Wir beide haben selbst den strengeren Verhörmethoden zugestimmt, weißt du noch? Wir wussten, dass Baxter ein alter Mann mit angeknackster Gesundheit ist und wir wussten, wie wichtig er für uns ist. Doch die Informationen mussten wir aus ihm herausholen. Und freiwillig hat er nicht mitgespielt, also …“
„Also haben Garretts Vollidioten ihn einfach abkratzen lassen. Und das, bevor Phase Eins abgeschlossen war!“ Grant war immer noch außer sich vor Wut. Daran hatte auch Franklins Standpauke nichts ändern können – vorerst.
„Phase Eins ist abgeschlossen, John“, erwiderte Franklin. „Ich habe heute Morgen noch einmal persönlich mit Garrett gesprochen. Er hat mir versichert, dass seine Männer bereit sind und dass sie den Einsatz mit Baxter ausgiebig durchgeplant hätten.“
Grant sagte diesmal nichts, er sah Franklin nur mürrisch an. Dann nickte er und bedeutete mit dem Kopf, dass sie weitergehen sollten. Beide Männer schwiegen einige Augenblicke, in denen sie sich fragten, wie sie sich nur so hatten gehen lassen können, und ob wohl irgendjemand etwas von ihrer hitzigen Debatte mitgekriegt hatte. Schließlich war es Grant, der als Erster wieder sprach.
„Also gut, Jim. Garrett ist also bereit. Was macht ihn da so sicher?“
„Das Material, dass sich Garretts Männer aus der Zentrale in Seattle geholt haben, war schon ungeheuer hilfreich für die Planung. Als Baxter dann endlich kooperativ war, ist es Garretts Leuten gelungen, einen durchführbaren Plan zu erarbeiten. Den haben sie dann oben in Kanada wochenlang in der Theorie durchgespielt.“ Franklin verstummte und erwiderte den Gruß eines jungen Lieutenants, der ihnen begegnet war. Dann, als der Mann weit genug entfernt war, fuhr Franklin fort:
„Den Feinschliff haben sie sich dann unten in Arizona geholt. Dort haben sie das ganze theoretische Wissen in die Praxis umgesetzt und am realen Objekt mehrmals alle Vorgänge simuliert. Garrett ist sehr zufrieden mit den Fortschritten. Eigentlich wollte er noch drei oder vier weitere Tage dort unten bleiben, doch dann ist Baxter gestorben.“
Grant nickte nur und sagte vorerst nichts. Er ärgerte sich noch immer. Dabei war der Zorn über sein eigenes Ausrasten und seine nicht entschuldbare Unbeherrschtheit schon vielfach größer als der Unmut über Garrett und seine Männer. Franklin hatte recht mit dem, was er da sagte. Zumindest hatte Baxters vorzeitiges Ableben Grant und Franklin die Erteilung des bereits beschlossenen Exekutionsbefehls erspart. Einen unschuldigen Zivilisten durch Angehörige der Streitkräfte kaltblütig ermorden zu lassen, das hatte keinem der vier Offiziere gefallen, die damals in dem alten, weißen Haus an der Klippe zusammengetroffen waren. Doch es wäre im Sinne der Geheimhaltung des Projekts einfach unvermeidbar gewesen. Das Risiko, Baxter laufen zu lassen, wäre ganz einfach nicht annehmbar gewesen. Doch das war jetzt alles uninteressant, da Baxter irgendwo in der Wüste von Arizona unter eineinhalb Meter Dreck begraben lag.
„Na gut, Jim“, sagte Grant dann, „hoffen wir nur, dass Garrett seine Männer und deren Fähigkeiten richtig einschätzt. Es hängt einfach viel zu viel von ihnen ab.“
„Es hängt ganz einfach alles von ihnen ab“, korrigierte Franklin milde. „Sobald ich meine Daten bekommen und an Garrett weitergeleitet habe, liegt alles bei ihm.“
„Wann wird das soweit sein?“ fragte Grant.
„Ich treffe mich am Donnerstag mit meinem Informanten. Dann kann ich dir mehr berichten.“
Wieder nickte General Grant nur.
„Ich habe gestern eine E-Mail von Bremner erhalten“, sagte Franklin und bezog sich damit auf die verschlüsselte elektronische Nachricht, die er von seinem Server heruntergeladen hatte. Bremner hatte dabei darauf geachtet, all seine Spuren penibel zu verwischen, sodass die Nachricht niemals zu ihm zurückverfolgt werden konnte. Außerdem war der Text nach einem speziellen Verfahren verschlüsselt, das nur die speziell auf dem Notebook Admiral Franklins installierte Software zu entschlüsseln verstand. Diese Art der Kommunikation war – nach dem persönlichen Gespräch an lauten oder abgelegenen Orten – die beste Möglichkeit, nichts nach draußen sickern zu lassen.
„Und, was sagt er?“, wollte Grant wissen.
„Er hat seine Tests abgeschlossen“, antwortete Franklin. „Scheint alles genauso zu funktionieren, wie wir uns das vorgestellt haben.“
„Absolut nicht aufspürbar?“, fragte Grant und bog dabei auf einen anderen Weg ab, der sie zurück ins Verteidigungsministerium führen würde.
Franklin lächelte, als er antwortete. „Hundertprozentig, John. Alle Versuche, das Zeug zu finden, waren erfolglos.“
Grant nickte und das erste Mal entspannte sich seine Miene etwas.
„Und die Zündungssequenz hat auch einwandfrei funktioniert“, ergänzte Franklin.
„Na, dann wollen wir mal hoffen, dass sich das im Einsatz auch so verhält.“
Diesmal war es Franklin, der zustimmend nickte. Den Rest des Weges zurück zum Pentagon legten die beiden Männer schweigend und in Gedanken versunken zurück.
Maryland, USA
06. November 2016
Admiral Jim Franklin hatte sich den Kragen seiner pelzgefütterten Jacke hoch bis unters Kinn gezogen, als er mit abwesendem Gesichtsausdruck hinaus aufs Meer blickte. Der kalte Wind, der von der kabbeligen Chesapeake Bay über die steilen Felsklippen landeinwärts wehte, verwirbelte die braunen Blätter, die die schmale Kiesauffahrt zentimeterhoch bedeckten. Die riesigen Eichen, die das alte Haus bewachten, waren beinahe völlig kahl, die dicken Äste ragten wie mahnende Zeigefinger in den dunklen, nebligen Nachmittagshimmel. Nur ein paar einzelne, besonders widerspenstige Blätter widerstanden dem böigen Wind nach wie vor. Franklin spürte die winzig kleinen Regentropfen, die aus dem leichten Nebel drangen, kaum. Sein wettergegerbtes Gesicht, gebräunt in zahllosen Sonnenstunden im arabischen Meer und arg in Mitleidenschaft gezogen damals während seiner Dienstjahre draußen im Nordatlantik, war Schlimmeres gewohnt. Franklin atmete tief die frische Meeresluft ein, die seine Gedanken stets in Bewegung brachte und seinen Geist beflügelte. Ein paar Minuten spähte er hinaus auf die Bucht, beobachtete die langsam landeinwärts ziehenden Nebelbänke und hörte auf die Signale der Schiffe, die in dieser gefährlichen Witterung vorsichtig manövrierten. Dann sah er auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass mittlerweile eigentlich die ersten Ergebnisse bekannt sein müssten. Ein letztes Mal sah er hinaus auf die Bay, dann wandte er sich langsam ab. Der Kies knirschte unter seinen schweren Stiefeln, die er immer trug, wenn er im Garten arbeitete. Das Laub würde er ein andermal zusammenkehren, dachte er, als er die Zufahrt überquerte und die drei Stufen zu seiner Veranda überwand.
Kurz darauf war er im behaglich geheizten Wohnzimmer des großen, weißen Hauses, und seine Jacke hing an der Garderobe. Franklin holte sich ein Glas mit altem, schottischem Whisky, füllte Eiswürfel dazu und setzte sich in einen der großen, schweren Samtmöbel. Er schaltete den breiten Plasmabildschirm an, der geschickt in die Wandvertäfelung eingelassen war. Während er mit der einen Hand auf die Tasten der Fernbedienung drückte und nach dem richtigen Kanal suchte, kramte er mit der anderen nach seinen Zigarren, die er dann auf einem Beistelltisch fand. Noch bevor er die ersten blaugrauen Rauchwolken zur hohen Decke des Raumes aufsteigen ließ, hatte er das richtige Programm gefunden. Er wählte CNN; NBC oder Fox News hätten aber natürlich auch live berichtet. Franklin nippte an seinem Glas, während er der hübschen Sprecherin zuhörte, die soeben die ersten Ergebnisse aus Texas verlas. Wie zu erwarten, fiel dieser Staat mit all seinen Wahlmännern den Republikanern und damit Robert S. Faulkner zu, der damit seinen Rückstand zu Präsident James auf neunundfünfzig Stimmen reduzieren konnte. Franklin sah der Berichterstattung mit wenig Aufregung zu, da er anhand der Trends, die nach Auswertung etwa eines Drittels aller Staaten klar zu erkennen waren, nur darin bestätigt wurde, dass es keine Überraschung bei dieser Präsidentenwahl geben würde. Sein Whiskyglas war halb leer, als die Demokraten Ohio gewannen, einen sehr wichtigen Staat, der in den letzten Umfragen noch relativ knapp umkämpft war. Jetzt lag Faulkner bereits über achtzig Stimmen zurück und hatte praktisch keine Chance mehr, James noch einzuholen. Wenn man berücksichtigte, dass Kalifornien noch nicht ausgezählt war und die Demokraten alle fünfundfünfzig Wahlmänner dieses Staates mit Sicherheit erobern würden, dann war die Sache so gut wie erledigt.
Zehn Minuten später fiel Florida an James und damit war er sozusagen der neue und alte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Erste Glückwünsche wurden an den Präsidenten und seine Partei gerichtet. Die Sender schalteten nacheinander zu allen wichtigen Versammlungen und Wahlpartys landesweit, um einerseits die überschäumende Freude der Demokraten und andererseits die Niedergeschlagenheit der sich ihres völligen Versagens bewussten republikanischen Herausforderer rund um Senator Faulkner einzufangen. Erste Interviews wurden gegeben, spontane Dankesreden geschwungen und bereits erste Analysen gewagt. Eine weitere halbe Stunde später wurde nach langen Ankündigungen endlich das Ergebnis aus Kalifornien veröffentlicht. Franklin hatte zum Zeitpunkt, als Marvin James zum eindeutigen Gewinner der US-Präsidentschaftswahlen 2012 erklärt wurde, den Fernseher bereits stumm geschaltet und sich aus seinem Sessel erhoben.
Mehrere Minuten lang hatte er gedankenverloren aus dem Fenster über die inzwischen in fortgeschrittener Dämmerung liegende Bucht geblickt. Der Nebel auf dem Meer hatte sich aufgelöst, doch das bedrückende Gefühl, das Franklin tief in seinem Inneren fühlte, tat dies nicht.
Als Admiral Franklin später, als es draußen bereits völlig dunkel war, das kleine Notebook auf seinem Schoß zuklappte, sah er noch einmal auf den breiten Bildschirm des Fernsehers. Er begegnete den Augen des Mannes, der gerade strahlend seinen Anhängern zujubelte. Franklin beobachtete die Lippen des Mannes, wie sie für ihn unhörbar zu tausenden Menschen sprachen, die live dabei waren. Weitere Millionen lauschten in diesem Moment zu Hause vor den Fernsehern den Worten ihres Präsidenten. Franklin interessierte es nicht, was dieser Mann zu sagen hatte, bei wem er sich bedankte, oder was auch immer er in diesem Moment versprach. Er wusste nur eines: Jetzt gerade eben, als er den „Senden“-Button in seinem E-Mail-Programm angeklickt und die Nachricht über Satellit an einen ganz bestimmten Empfänger geschickt hatte, in eben diesem Augenblick hatte er das Todesurteil des Mannes bestätigt, der gerade erste Tränen der Rührung über seinen angeblich überraschenden Wahlsieg vergoss. Ein Todesurteil, das vor vielen Wochen in genau diesem Raum hier beschlossen worden war und das sich dieser Mann selbst zuzuschreiben hatte. In diesem Moment wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der den Lauf der Geschichte nachhaltig ändern und wieder zum Besseren wenden sollte. Zu einem Besseren, wie es Franklin und noch ein paar andere Männer sahen.
Zweiter Teil - Ausführung
Sankt Petersberg, Silz, Tirol
23. Dezember 2016
02:07Uhr Ortszeit
Bis hierher zu gelangen, war ein Kinderspiel gewesen. Jetzt, als er die dunklen, verschneiten Gemäuer der alten Burg aus dem Schneegestöber der vorweihnachtlichen Nacht vor sich auftauchen sah, wurde es langsam interessanter. Durch das mattschwarze Nachtsichtgerät konnte er die Umrisse des alten Traktes deutlich erkennen. Er befand sich auf der dem Berghang zugewandten Seite der Burg, dort, wo es keine Wege und keinen Eingang gab.
Den kurzen Anstieg durch den lichten Wald hatte er in wenigen Minuten hinter sich gebracht, das Eindringen in die Burg würde nur unwesentlich länger dauern. Stefan Berger verharrte einige Minuten hinter dem dicken Stamm einer alten Eiche und lauschte in die kalte, bewölkte Nacht. Es war kurz nach zwei Uhr nachts und nicht das leiseste Geräusch war zu hören. Der Schneefall reduzierte die Sicht auf etwa dreißig bis vierzig Meter, ohne sein Nachtsichtgerät konnte Berger gerade mal ein paar Meter weit sehen.
Die hohe, aus rohem Stein gemauerte Außenwand der Petersburg, die vor Jahren umfangreich saniert und in Stand gesetzt worden war, erhob sich ruhig und gespenstisch in die Nacht, aus keinem der wenigen kleinen Fenster drang Licht. Berger löste sich schließlich aus dem Schatten des Baumes und näherte sich der Mauer. Der Innenhof der Burg war durch eine etwa vier Meter hohe massive Steinmauer geschützt, die sich nach etwa siebzig Schritten dem zugefrorenen Ufer des kleinen Sees bis auf einen halben Meter näherte, um danach in den massiven Wällen des hinteren, niedrigeren Wachturmes zu enden. Berger folgte der Mauer, hielt sich vom brüchigen Eis des Sees fern, und verschmolz im Schatten des Wachturmes. Dort hielt er inne und lauschte erneut. Aus der Deckung des Eckturmes konnte er den Parkplatz schemenhaft erkennen, auf dem mehrere Fahrzeuge geparkt waren. Ein dürrer Ast brach unter der Last des Schnees und landete krachend auf dem dünnen Eis des Sees. Blitzschnell lokalisierte Berger die Stelle des Aufpralls, sein Pulsschlag hatte sich nicht merklich gesteigert. Berger blickte auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass bisher erst zwölf Minuten vergangen waren, seit er seinen Wagen im Schatten eines Werbeplakates an der nahe gelegenen Bundesstraße geparkt hatte. Auch auf dieser Seite der Burg war alles dunkel.
Behutsam schlich er weiter, bis er einen schmalen, durch eine schmiedeeiserne Tür verschlossenen Durchgang in der dicken Steinmauer erreichte. Da er wusste, was ihn hinter diesem Durchgang erwartete, holte er ein kleines, dunkles Gerät aus seinem Rucksack. Vorsichtig spähte er um die bröckelige Kante der Mauer und hob das Gerät ans Auge. Er wusste, wonach er suchen musste und zielte mit dem kleinen Hochleistungslasergerät in die Dunkelheit. Nach nur wenigen Augenblicken entdeckte er sein Ziel, eine etwas klobige, aber durchaus leistungsstarke Überwachungskamera, die den jenseits des Durchgangs gelegenen Innenhof mit ihren elektronischen Augen abdeckte. Berger wartete, bis sich die automatische Schärferegelung des Gerätes justierte und manövrierte das rote Fadenkreuz mitten in die Linse der grünlich schimmernden Kamera. Beinahe glaubte er das leise Surren der Elektromotoren der Kamera zu hören, als diese sich langsam direkt in seine Richtung drehte. Um den größtmöglichen Effekt zu erzielen, wartete er noch einige Sekunden, bis er glaubte, die Kamera würde jetzt direkt in seine Richtung zielen. Dann drückte er den Knopf auf dem Laser und jagte einen einzelnen gebündelten, hochkonzentrierten Lichtstrahl in das Auge der Kamera.
Für einen zufälligen Beobachter des zugehörigen Überwachungsbildschirmes im Inneren des mittelalterlichen Gebäudes würde diese Attacke wie ein heller Blitz mit anschließender Dunkelheit erscheinen. Militärisch geschultes Personal würde mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einem Angriff rechnen und entsprechende Verteidigungsmaßnahmen ergreifen, doch Berger war sich sicher, dass die Besatzung dieser Burg, sollte sie überhaupt wach und außerdem wachsam sein, nichts weiter als einen lästigen, jedoch am nächsten Tag behebbaren Ausfall einer ihrer teuren Kameras in Erwägung zog.
Berger beobachtete noch kurz die Kamera an der Fassade des alten Gemäuers, die sich weiter im vorbestimmten Muster nach links drehte, deren geblendete Linsen jedoch nichts weiter als nächtliches Schwarz in den Überwachungsraum übertrugen. Dann verstaute er den Laser wieder in seinem Rucksack und machte sich am Schloss der Tür zu schaffen. Als er das beruhigende Knacken des Schlosses vernahm, drückte er vorsichtig die angerostete Klinke durch und schob die Tür auf. Das leise Quietschen der nicht geölten Scharniere wurde durch den Schneefall geschluckt, ebenso wie das leise Klicken, als die Verriegelung beim Schließen der Tür wieder einrastete.
Der Innenhof war bei Nacht noch schmaler und beengter, als Berger dies schon tagsüber vor etwa einer Woche empfunden hatte, als er den ahnungslosen Touristen gespielt und tatsächlich frech bis in diesen Innenhof gelangt war, bevor ihm ein grantiger Hauswart mit Händen so groß wie Teller unmissverständlich den Ausgang gezeigt hatte. Doch dieser kurze Erkundungsausflug hatte Berger genügt. Sein geschultes Auge hatte die Kameras ebenso registriert, wie die Sensoren an den ebenerdigen Fenstern und die Gitter, die davor angebracht waren.
Nun war er wieder hier und schlich vorwärts in die Dunkelheit. Kurz rief er sich den Grundriss der Burg ins Gedächtnis, den er sich vorab bei der Gemeinde besorgt und eingeprägt hatte. Er fand das Fenster im ersten Stock, das er suchte und machte sich an den kurzen, aber nicht ungefährlichen Aufstieg. Die Steine der Mauer waren kalt und teilweise rutschig, dafür war der Putz an vielen Stellen ausgebrochen und wies Spalten und Risse auf, in denen Berger Halt fand. Er dankte stumm jenem namenlosen Beamten des zuständigen Denkmalamtes, der wohl die Instandsetzung der Fassade untersagt und ihm damit einen unerwarteten Dienst erwiesen hatte. Kaum hatte er diesen Gedanken verworfen, bekam er auch schon das schmale Fensterbrett zu fassen und zog sich kraftvoll hoch. Er spähte durch das Fenster ins Innere und suchte nach weiteren Überwachungskameras. Im nur durch eine einzelne schwache Lampe erleuchteten Gang konnte er nichts Bedrohliches erkennen, weshalb er sich nun ganz hoch wuchtete und seitlich auf dem schmalen Fenstersims niederließ. Beinahe sofort hatte er ein weiteres kleines Werkzeug zur Hand, das er aus seinem Rucksack geholt hatte. Mit einem Saugnapf ausgestattet, haftete der Glasschneider auf der Fensterscheibe und schnitt ein etwa zwanzig Zentimeter großes, kreisrundes Loch in das Isolierglas. Berger entfernte das Glas, und setzte den Schneider auf der zweiten, inneren Scheibe an. Als auch dieses Glas mit einer etwas kleineren runden Öffnung versehen war, verstaute er den Glasschneider wieder in seinem Rucksack und öffnete das Fenster, indem er durch das entstandene Loch nach innen fasste und die Verriegelung öffnete. Nur Sekunden später war er im Inneren der Burg verschwunden.
Schwester Sofia war, wenn man ihr tagsüber irgendwo außerhalb der Burg begegnet wäre, wohl kaum als Mitglied eines religiösen Ordens erkannt worden. Sie trug niemals eines dieser dunklen, schweren Nonnengewändern mit den diversen, je nach Rang unterschiedlichen Kopfbedeckungen. Nein, darüber war sie schon lange hinaus. Die Anrede „Schwester“ vor ihrem Vornamen war außerdem nur mehr ein Relikt aus ihrer Vergangenheit oder auch Gewohnheit der Menschen, die sie um sich scharrte und die ihr widerstandslos untergeben waren.
Schwester Sofia, oder eigentlich Sofia Beckmann war eine modern und gepflegt aussehende Frau Mitte Fünfzig, die man auch ohne Weiteres für eine Anwältin, eine Betriebsmanagerin oder eine selbstbewusste Unternehmerin halten konnte. Nun, eigentlich war Letzteres ja auch die am Besten passende Beschreibung für jemanden, der Unmengen an Geld mit dem Glauben anderer Menschen verdiente. Und nichts anderes tat Sofia, die die örtliche Chefin der weltweit operierenden Sekte des Engelwerkes war, die hier in Silz einen ihrer Hauptsitze hatte. Heute war wieder ein ausgesprochen erfolgreicher Geschäftstag gewesen, war ihr es doch gelungen, ein riesiges, unbebautes Grundstück in der Nähe des Salzburger Flughafens zu „erwerben“. Das einzige, was sie dem dreiundsiebzig Jahre alten Bauern dafür versprechen hatte müssen, war die unendliche Liebe und Geborgenheit inmitten der göttlichen Gemeinschaft des Engelswerkes, in die er jedoch nur nach einer kleinen Gegenleistung aufgenommen werden würde, die der arme Mann dann auch durch diese kleine unbedeutende Immobilie geleistet hatte.
Sofia war selten gut gelaunt und hatte jetzt, nachdem sie ausreichend Wein getrunken und ein köstliches, wenn auch leicht verspätetes Mitternachtsmahl genossen hatte, Lust auf richtig guten Sex. Nur mit einem leichten Nachtmantel verhüllte sie die schwarzen Dessous und schwebte erwartungsfroh durch die angenehm warmen Gänge der riesigen Burg. Sie fühlte das Verlangen als wohlige Wärme zwischen ihren Schenkeln und spürte voll Vorfreude auf diesen neuen jungen Berliner, der im Westtrakt erst vorige Woche eingezogen war, die bereits steifen Warzen ihrer kleinen, festen Brüste am angenehm kühlen Stoff ihres BHs. Ein wohliger Schauder durchzuckte sie mit beinahe elektrischer Intensität, als sie an den jungen, unerfahrenen Körper des hoffnungslos dem irrigen Wahn der Sekte verfallenen blutjungen Deutschen dachte, den sie sich heute Nacht das erste Mal, und wenn er gut war, sicher nicht das letzte Mal gönnen würde. Von ihrer eigenen beschwipsten Geilheit fast rasend, schwebte sie über den dicken Teppichboden des Ganges und gelangte schließlich in den Westtrakt der Burg. Sie sah die schwere Holztür der Kammer des Jungen vor sich und hielt bereits den großen Eisenschlüssel in der Hand. Als sie ihn erst beim fünften oder sechsten Versuch erfolgreich in das Schlüsselloch schob, konnte sie es kaum mehr erwarten, das kleine Zimmer zu betreten und sich um den darin befindlichen Gast ausgiebig zu kümmern.
Stefan Berger, der die schwankende und leicht angegraute Amazone aus seinem Versteck hinter einem schweren Vorhang heraus beim Betreten des Zimmers beobachtet hatte, kramte in seinem Gedächtnis nach Bildern, die er sich während der Recherche für diese Operation eingeprägt hatte. Natürlich war diese Person nicht schwer zu erkennen gewesen, handelte es sich doch um die hiesige Chefin des ganzen perversen Vereins. Berger konnte sich trotz der Anspannung, die er bei jeder Operation verspürte, ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, als er aus seiner Deckung huschte und sich nun ebenfalls der Tür näherte. So wie es aussah, schien sich sein Einsatz durch diese ungeplante Begegnung sogar zu vereinfachen.
Sofia, deren schlanker Körper durch den geöffneten Seidenmantel für den jungen Mann nun beinahe vollständig sichtbar war, hatte ein Bein aufreizend auf die Bettkante gestellt und machte sich daran, die dunklen Seidenstrümpfe herunter zu rollen. Der aus leichtem Halbschlaf erwachte Mann wusste nicht, wie ihm geschah und was er von diesem nächtlichen Überfall halten sollte. Diese Unwissenheit wurde ihm genommen, als Sofia sich über ihn beugte und ihm mit warmer, feuchter Zunge die bartlosen Wangen leckte. Der Seidenmantel war lautlos zu Boden geglitten, der linke Seidenstrumpf halb nach unten gezogen, als Sofia mit langjährig erprobter Sicherheit unter die Bettdecke fasste und das fand, wonach sie gesucht hatte. Ein triumphierendes Lächeln umspielte ihre grellroten Lippen, ihr warmer Atem roch nach Alkohol und Zigarettenrauch. Gierig schnappte sie nach seinen Lippen, ihre Finger bearbeiteten ungeduldig das immer noch schlaffe Glied des sie entsetzt anstarrenden jungen Mannes. Ihr anfänglich erregter Blick aus den fast wahnsinnig starren Augen wurde zunehmend ärgerlich, als ihre Bewegungen und das Spiel ihrer Finger nicht den gewünschten Erfolg erbrachten.
„Was ist los mit dir? Komm schon, komm schon, na wird’s bald?“, keuchte sie. Der Junge stöhnte vor Schmerzen, als ihre Finger seine Hoden grob drückten. Dann glitt sein gequälter Blick zur Seite und erstarrte an einem Punkt im Rücken der gierigen Sektenchefin, die einem geilen Raubvogel gleich über ihm kauerte.
Sofia Beckmann wurde grob an ihren pechschwarzen Haaren gepackt und brutal nach hinten gerissen. Sie keuchte erschrocken auf, die Welt drehte sich und die Luft entwich aus Ihren Lungen, als sie krachend an der gelblich getünchten Wand des kleinen Zimmers landete. Ein schwarzer Schatten tauchte vor ihrem verschwommenen Blick auf und drückte sie noch fester an die Wand. Dann war ein reißendes Geräusch zu hören, sie spürte die brutalen Finger des schwarzen Mannes an ihrem Hals und fühlte eiskalte Panik in sich hochsteigen. Doch bevor der grelle Schrei sich aus ihrem Inneren den Weg ins Freie bahnen konnte, presste ihr der dunkle Höllengesandte einen Streifen Klebeband auf ihren Mund, und der Schrei erstarb zu einem kläglichen Grunzen. Der Griff des Todesengels war unbarmherzig hart und gewalttätig. Festgedrückt an die kalte Wand des kleinen Zimmers, ihre Nacktheit nur durch dünnen schwarzen Stoff an wenigen Stellen ihres zitternden Körpers vor dem Eindringlich verdeckt, schwebten ihre bebenden Füße einige Zentimeter in der Luft
„Klappe halten Junge, dir passiert nichts!“, bellte die dunkle Stimme des Mannes, dessen Augen durch ein merkwürdiges Fernglas verdeckt waren, welches irgendwie auf seinen Kopf geschnallt schien. Der junge Mann im Bett rührte sich nicht. Sofia glaubte ein leises Schluchzen zu hören, das vom Bett her drang, war sich aber nicht sicher.
„Mitkommen, Schlampe.“
Sofia wurde grob nach vorne gerissen, ihre Arme nach hinten gedrückt und ebenfalls mit Klebeband fixiert. Dann drehte der Mann sie wieder um und hielt ihr etwas vor die Nase. Sofia zwinkerte ein paar Mal, dann erkannte sie ein Foto, auf dem eine junge Frau abgebildet war.
„Wo ist sie?“, knurrte der Mann in Schwarz vor ihr. Sofia betrachtete das junge Mädchen auf dem Foto, sah das Lächeln in ihrem Gesicht und die blonden, lockigen Haare, die ihr spielerisch auf die Schultern fielen.
Der Mann schob das komische Fernglas von seinem Gesicht. Sofia sah seine Augen, nur seine Augen, denn der Rest des Gesichtes war unter einer schwarzen Stoffhaube verborgen, und erschauerte.
„Ich frag dich noch einmal: Wo ist das Mädchen?“
Sein Gesicht näherte sich dem ihrigen bis auf wenige Zentimeter, sie konnte seinen Atem auf ihrem nackten Hals spüren. Dann sah sie noch einmal in seine Augen und wusste im selben Augenblick, dass dieser Mann eine Antwort erwartete und sich mit etwas anderem als der Wahrheit nicht zufrieden geben würde. Also nickte sie nur und wurde daraufhin grob auf den Gang geschoben.
Stefan Berger ließ das Zimmer mit dem geschockten jungen Mann hinter sich und hastete den Gang entlang. Die halbnackte Sofia halb vor sich her schiebend, halb mit sich mitschleifend passierte er ein Zimmer aus dem ihn ein erschrockener Mann mittleren Alters ansah. Durch den Krach im nahen Zimmer aufgeweckt und von ungesunder Neugier getrieben, hatte dieser Mann, er hieß Bruder Tobias, seine knollige Nase aus der Tür gestreckt und mit erstauntem Gesicht das seltsame Paar durch den Gang schweben sehen. Noch bevor er irgendeinen Ton von sich geben hätte können, hatte der schwarze Mann abgebremst, war direkt auf ihn zugekommen und die Tür aufgestoßen. Die halbnackte Sektenchefin vor sich her stoßend betrat er schwungvoll den Raum und näherte sich bedrohlich dem neugierigen Bruder. Bruder Tobias stammelte irgendwelche unverständlichen Worte des Protestes, dann landete die schwarz behandschuhte Faust des Mannes in seinem Gesicht und ließ ihn lautlos zusammenbrechen. Noch bevor Tobias völlig zusammengesackt auf seinem Bett lag waren sein Mund, seine Hand- und seine Fußgelenke mit demselben Klebeband versorgt worden, das auch Schwester Sofia zum Schweigen verbannt hatte.
Berger verließ zusammen mit seiner Gefangenen das Zimmer des bewusstlosen Bruders und schob Sofia nun noch energischer und ungeduldiger vor sich her. Obwohl er mit weiteren Problemen gerechnet hatte, gelangten sie unbemerkt in den Osttrakt der Burg, überwanden zwei schmale Wendeltreppen nach unten, um schließlich im Untergeschoß der Burg vor wirklich ernsthafte Probleme gestellt zu werden.
Sofia wurde rüde zur Seite geschubst und landete unbequem auf ihrem nackten Hintern, als sich der Mann mit einem wirklich ernst zu nehmenden Gegner befassen musste. Sie hatte auf das Knurren oder das Bellen des Hundes gehofft und hatte erleichtert aufgestöhnt, als sie die gedrungene Silhouette des großen Rottweilers im matten Licht der Kellerbeleuchtung auf sich zurasen sah. Unvermittelt hatte sich der Mann ihrer entledigt und sie zur Seite gestoßen. Als sie sich wieder aufrappelte und zur Seite in Richtung des Hundes sah, konnte sie nur noch das Aufblitzen der schwarzen Klinge erkennen, bevor die Hand des Mannes mit dem großen Messer rasend schnell durch die Luft peitschte und den im Angriff befindlichen Hund direkt unterhalb des bereits weit geöffneten Rachens traf. Der Hund, Sofia konnte sich an dessen Namen beim besten Willen nicht erinnern, jaulte kurz und durchdringend auf, dann prallte er mit dem schwarzen Mann zusammen.
Sofia rappelte sich hoch und blickte auf den sich windenden Mann unterhalb des schweren, leblosen Kadavers des Hundes. Sie sah ihre Chance und rannte los, so schnell sie konnte. Hinter sich hörte sie ein Stöhnen und Fluchen, dann schnelle Schritte auf den Granitplatten des Bodens. Noch bevor sie die untersten Stufen der Treppe erklimmen konnte, wurde ihr Haar erneut gepackt und ihre Flucht war beendet. Wirbelnd wurde sie herumgerissen und sah in die von der direkt über ihr befindlichen Neonleuchte erhellte, vom dunklen Blut des Hundes verschmierte Maske des Mannes, den sie nicht kannte und dessen Identität sie niemals herausfinden würde.
Eine krachende Ohrfeige holte sie auf den Boden der Realität zurück. Dann ging es weiter den Gang entlang, vorbei an dem toten Hund, der in einer sich ausbreitenden Blutlache verendet war. Ihre nackten Fußsohlen rutschten auf dem dunklen Blut aus, der Mann hielt sie auf den Beinen und schob sie unnachgiebig vorwärts. Eine weitere Biegung, eine schmale Treppe in die Tiefe, dann war es vorbei – vorerst. Der schwarze Mann mit dem Blut im Gesicht deutete auf eine Tür und sah Sofia ungeduldig fordernd an. Sofia dachte kurz nach, schüttelte den Kopf und zeigte auf eine Tür, die an der gegenüberliegenden Wandseite des Ganges lag. Der dunkle Mann nickte, schob Sofia vor sich her und schubste sie dann zur Seite. Sie sah, wie er sich an dem Schloss zugange machte und bevor sie sich fragen konnte, wie er es wohl öffnen mochte, hörte sie das Klacken der Verriegelung. Die Tür schwang auf und der Mann sah sie böse an.
„Bete, dass sie da drin ist und dass es ihr gut geht. Falls nicht,…“, er ließ das Ende des Satzes unausgesprochen. In seinem Blick konnte sie jedoch erahnen, dass es besser für sie wäre, wenn er das finden würde, wonach er suchte. Während er im Inneren der Zelle verschwand, sackte sie langsam schluchzend auf den kalten Boden. Sie wollte nicht mehr fliehen, sie konnte es nicht. Wozu auch? Wenn sie für alle Sünden und Verfehlungen, die sie in ihrem Leben begangen hatte bezahlen müsste, und wenn dieser schwarze Todesengel ihr Gericht halten würde, dann ist dies hier erst der Anfang, dachte sie verbittert und weinte nun hemmungslos.
Das erste was ihm auffiel, als er das Dunkel des Raumes betrat und den Lichtschalter betätigte, war der Gestank. Es roch nach Chemie und Kräutern, nach abgestandener, künstlicher Luft und nach Feuchtigkeit und Schimmel. Das schmale Bett, das in der Mitte des Raumes stand, war leer, unberührt, beinahe wie frisch bezogen. Fenster hatte der Raum keine, auch keine weiteren Möbel, abgesehen von einem einzigen schmalen Schrank, dessen weiße Farbe bereits an mehreren Stellen abbröckelte. Der Boden bestand aus denselben groben Granitfliesen wie der Gang draußen, ein einziger dunkelbrauner Läufer lag quer im Raum. Ein riesiges Jesuskreuz hing über dem Bett, ein einzelner, ebenfalls übergroßer Rosenkranz war um die Schultern des hölzernen Christus gehängt worden. Auf dem klapprigen Nachttisch stand eine weiße Kerze, daneben lag ein Exemplar der Bibel.
Dann sah er die Düsen an der Decke und erschauerte. Mehrere, auf den ersten Blick nicht auffällige Metalldüsen ragten von der etwa dreieinhalb Meter hohen, gewölbten Decke in die Tiefe. Berger glaubte einen hauchdünnen Nebel aus diesen Düsen austreten zu sehen, welcher sich im gesamten Zimmer verteilte. Das erklärte zumindest den Geruch nach Chemie und Kräutern, dachte Berger. Wahrscheinlich Beruhigungsmittel oder sonstige, womöglich schlimmere Drogen. Draußen im Gang war es ruhig, vom Schluchzen der nackten Sektenführerin mal abgesehen, aber auch das Zimmer war leer. Berger begann wirklich wütend zu werden und war im Begriff das Zimmer wieder zu verlassen, als er, einem Impuls folgend, den Raum durchquerte und den Schrank öffnete.
Ein erschrockenes Stöhnen fauchte ihm aus weit aufgerissenen, verwässerten Augen entgegen. Das Mädchen auf dem Foto, er erkannte es trotz des wirren Haars, der blutgeränderten Augen und dem glasigen, abwesenden Blick, versuchte sich noch tiefer im Schrank zu verkriechen. Berger näherte sich ihr und nahm seine blutgetränkte schwarze Maske ab. Sein dunkles Haar hing ihm in Strähnen ins Gesicht, seine graugrünen Augen sahen direkt in die ihren. Er lächelte, als er sie vorsichtig berührte. „Komm, es ist vorbei. Ich bring dich nach Hause.“
Dulles International Airport, Washington
24. Dezember 2016
20:12 Ortszeit
Das Schlimmste an Weihnachten waren die Erinnerungen, die sie damit verband.
Kurz nickte sie dem Barkeeper zu, erhielt einen leicht unglücklichen, skeptischen Gesichtsausdruck des Mannes retour, der schon zu viele Drinks an zu viele Menschen ausgeschenkt hatte, die genauso dasaßen wie sie und ins Leere blickten. Sie hielt seinem Blick stand, sah ihn dann zunehmend verärgert an, weil er sie nicht zu verstehen schien. Er verstand sie gut, wusste, was sie von ihm wollte, doch es schien ihm nicht richtig, ihr noch einen weiteren Drink zu geben. Nicht heute, nicht jetzt.
„Noch einmal das Gleiche“, sagte sie mit schwerer Zunge und schob das Glas mit den nur mehr winzig kleinen Eiswürfeln ein paar Zentimeter über die blanke Oberfläche des Tresens. Der goldene Knopf am Revers ihres dunkelblauen Oberteils schabte dabei über das schwere, dunkle Holz. Sie blickte auf ihre Hände, sah das leere Glas und die drei goldenen Streifen auf ihrem Ärmel. Der mittlere, schmale Streifen war bereits mit etwas Wimperntusche befleckt, doch das registrierte sie nicht. Alles schien gedämpft, die Geräusche der Musik, das Klirren der Gläser, die ein Kellner auf einem Servierwagen an ihr vorbeifuhr. Nur der Schmerz in ihrem Inneren pochte stetig und unnachgiebig. Sie versuchte die Erinnerungen, die wieder emporstiegen, zu verdrängen und sah auf. Ein paar Sekunden trafen sich ihre Augen mit denen des Barkeepers, dann wandte sich der Mann ab und griff nach der Flasche Jack Daniels.
„Wie Sie wollen“, murmelte er dabei und schüttelte bedauernd den Kopf. Während er die Eiswürfel in das Glas gleiten ließ und es mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit füllte, sah er zu ihr hinüber. Da saß sie nun schon seit beinahe drei Stunden auf demselben Barhocker und bestellte ihren vierten oder fünften Drink, ertränkte damit das, was sie in ihrem Inneren quälte oder versuchte es zumindest. Ihre dunkelbraunen, fast schwarzen Augen blickten ihn aus tiefen Höhlen an, das Make-up war leicht verschmiert, der strenge Haarknoten hatte sich teilweise gelöst, sodass ihr einzelne Strähnen des dunkelbraunen Haars ins Gesicht fielen und ihr ein tief verletzliches Aussehen verliehen.
Als er mit dem Glas in der Hand auf sie zukam, sah er die Tränen, die aus ihren Augenwinkeln sickerten und bereits nassen Bahnen auf ihren Wangen folgten. Er zögerte, stellte das Glas nicht vor ihr auf den Tresen, sondern hatte plötzlich ein Papiertaschentuch in der Hand, das er ihr dann vorsichtig hinhielt.
Sie blickte auf, sah die Besorgnis in seinen Augen und fühlte sich plötzlich noch furchtbarer als zuvor. Sie schniefte leise und griff dankbar nach dem Taschentuch. Kein Lächeln, nur ein dankbares Nicken schenkte sie dem Mann. Während sie sich das Gesicht trocknete, beobachtete er sie aufmerksam. Er konnte die langen, schmalen Finger nicht übersehen, die das Taschentuch vorsichtig über ihre Augen führten, die perfekt manikürten, weiß lackierten Fingernägel, die dezent gebräunte Haut ihrer zarten, feingliedrigen Hände. Auch die vollen, dunklen Lippen hatte er schon länger bemerkt, und jetzt, da er vor ihr stand und sie so ansah, fühlte er sich magisch zu ihr hingezogen. Sie war mit Sicherheit eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte. Und in diesem Moment wirkte sie so unglaublich verletzlich. Kurz spielte er mit dem Gedanken, über den Tresen zu klettern und sie zu umarmen. Doch nur kurz, vielleicht für ein paar Augenblicke, dann erinnerte er sich an den schlichten Ehering an seinem Finger und das Gefühl verging wieder. Schließlich stellte er ihr das Glas doch hin.
Aus den Lautsprechern in der Lounge drang leise „Last Christmas“, alles war weihnachtlich geschmückt, rote Kugeln, silbernes Lametta und Glühbirnen, die wie Kerzen aussahen. Auf der Bar standen kleine Körbe mit Weihnachtskeksen, einer davon direkt vor ihr, doch sie hatte ihn nicht angerührt. Nur mehr eine Handvoll anderer Gäste befand sich in der weiträumigen Lounge, alle anderen saßen wahrscheinlich längst zu Hause vor ihrem Christbaum und freuten sich auf den Weihnachtsmorgen. Sie sah das Glas mit dem Whiskey und griff danach. Sie hob es hoch und führte es an ihre Lippen. Dann stockte sie und setzte es wieder ab. Als es wieder vor ihr auf der Bar stand, fragte sie sich, ob das wirklich die Lösung ihrer Probleme war. Ob es wirklich keine anderen Möglichkeiten gab, mit ihrem Schmerz fertig zu werden.
Sie kannte die Antwort. Sie hatte alles versucht, und dabei nicht den geringsten Erfolg erzielt. Dies hier würde alles zumindest abschwächen, dämpfen, verdrängen. Wieder griff sie nach dem Glas, als sie hörte, dass der Barhocker direkt neben ihrem verrückt wurde. Sie drehte sich langsam zur Seite.
„Glauben Sie wirklich, dass es davon besser wird, Commander?“, hörte sie jemanden ruhig und freundlich fragen. Sie sah den Mann, der neben ihr stand und sie lächelnd anblickte. Einige Augenblicke reagierte sie nicht, dann bemerkte sie die Uniform des groß gewachsenen Mannes, die vier Streifen an seinen Ärmeln und fing sich wieder.
„Entschuldigung, Sir?“, murmelte sie und richtete sich auf. Relativ ungeschickt versuchte sie ihre Frisur in Ordnung zu bringen, dann drehte sich plötzlich alles und sie schloss die Augen.
„Geht es Ihnen gut, Commander?“ fragte der Mann besorgt und stützte sie sanft an der Schulter.
„Natürlich, Captain“ antwortete sie und öffnete die Augen. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich ohne die Hilfe des hohen Offiziers nach hinten vom Hocker gestürzt wäre und unliebsame Bekanntschaft mit den dunklen, harten Fliesen der Lounge gemacht hätte. Der Schwindel verging wieder und sie hoffte, dass er nicht zurückkehren würde.
„Natürlich“ sagte er mit einem wissenden Lächeln, als er sich setzte und dabei seinen weißen Offiziershut und eine schwarze Aktentasche auf die Bar legte. Sein Blick streifte unauffällig das volle Glas Whiskey, doch sein Gesichtsausdruck änderte sich dabei nicht.
„Sind Sie noch dienstlich hier?“, begann er und sah dabei aus dem großen Panoramafenster hinter der Bar auf die vereinzelt fallenden Schneeflocken auf dem Flugfeld, „oder wollen Sie Weihnachten hier in dieser langweiligen Bar verbringen?“
Der Captain lächelte auch diesmal und entschärfte damit die doch etwas persönliche Frage. Eigentlich war die Frage sehr persönlich, dachte sie, da sie diesen Mann überhaupt nicht kannte. Sie betrachtete ihn näher, während sie sich überlegte, was sie antworten sollte.
Der Captain war mit seinen einsfünfundneunzig eine beeindruckende Erscheinung, die breiten Schultern und das vereinnahmende Lächeln ließen ihn attraktiv erscheinen. Das teilweise bereits bedenklich lichte Haar hatte er sehr kurz geschnitten. Über einer umfangreichen Ordensspange, auf der sie auf die Schnelle zwei Fliegerkreuze sowie einen Silverstar erkennen konnte, trug er das goldene Abzeichen der Marineflieger. Ein kurzer Blick auf seine gepflegten Hände ließ sie einen schlichten, silbernen Ehering erkennen. Der Captain hatte ihren Blick bemerkt und reagierte mit einem warmen Lächeln.
„Es ist tatsächlich dienstlich, Sir“, sagte sie und streckte dem Captain die Hand hin.
„Lieutenant Commander Nina Williams, Sir“, stellte sie sich vor.
„Freut mich, Commander“, sagte er freundlich. „Ich bin Captain Peters.“
Während sie ihm die Hand schüttelte, bemerkte sie das Abzeichen, das er über seinen Streifen am Ärmel trug.
„Ich bin Anwalt des Judge Advocate General Corps“ kam er ihrer Frage zuvor. „Aber heute Abend bin ich privat hier“, ergänzte er rasch.
„Warten Sie auf jemanden?“, fragte sie.
„Ja“, seine Augen begannen zu leuchten, als er weiter redete. „Meine Frau kehrt aus dem Iran zurück.“
Sie nickte nur, das dumpfe Pochen in ihren Gedanken machte sich wieder bemerkbar, ihr Lächeln verschwand. Er schien das nicht zu bemerken, da er an ihr vorbei auf einen der vielen Bildschirme sah, die die Start- und Landezeiten der Maschinen anzeigten. Als er sie wieder ansah, hatte sie sich wieder im Griff.
„Das freut mich, Sir“, sagte sie und versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen.
„Von den kämpfenden Truppen?“, hakte sie nach.
„Nein, nein“, sagte er. „Sarah ist Militärrichterin.“
„Die Tribunale, Sir?“, fragte sie und bezog sich damit auf die von den internationalen Menschenrechtsorganisationen mit Argusaugen beobachteten Kriegsverbrechertribunale, mit denen auch gefangen genommenen Terroristen von den US-Amerikanern und ihren Verbündeten der Prozess gemacht wurde. Meistens handelte es sich dabei um einen sprichwörtlich kurzen Prozess mit durchwegs schlechtem Ausgang für den Angeklagten.
„Das darf ich Ihnen nicht sagen, Commander.“
„Ich verstehe. Tut mir leid, Sir.“ Bingo!, dachte sie, aber es war ihr im Grunde genommen völlig egal, was die Frau tat oder getan hatte.
„Schon in Ordnung. Sie sagten, Sie seien dienstlich hier.“
„Ja, ich fliege heute noch nach Italien.“ Sie war froh über den Themenwechsel weg vom dünnen Eis des Privatlebens. „Mein Flug wurde nur um ein paar Stunden verschoben. Deshalb sitze ich hier.“
„Neapel?“, fragte er interessiert.
„Ja, die USS George H. W. Bush liegt dort vor Anker. Ich bin die Nachrichtenoffizierin des Trägerverbandes.“
„Und am vierundzwanzigsten Dezember werden Sie nach Europa verlegt?“ Peters sah sie entrüstet an.
„Ja, Sir. Die Befehle sind klar und eindeutig.“
Der Captain schüttelte den Kopf ob dieser hochgradig unsensiblen Kommandierung.
„Wo geht es hin, in den Golf?“, fragte er interessiert.
„Nein, Sir, Manöver mit der israelischen Marine.“
Er nickte und sah wieder auf den Bildschirm hinter ihr. Er schien nicht zufrieden, als er sie wieder ansah.
„Verspätung, Sir?“ fragte sie.
„Ja, verdammt. Schon über eine halbe Stunde. Ich hoffe nur, dass alles in Ordnung ist.“
Wieder ein Stich, schmerzhaft und völlig unerwartet, er traf sie hart, doch sie unterdrückte jede Reaktion. Das hatte sie mittlerweile bis zur Perfektion gebracht. Ihre Gefühle zu unterdrücken, wenn sie im Dienst war, war so etwas wie ihr neuestes Hobby, ihre einzige, nicht gerade erfreuliche Nebenbeschäftigung seit jenen Tagen damals, als ihre Welt zusammen gebrochen war. Hoffentlich ist alles in Ordnung! Das hatte sie damals erst auch gedacht, doch dann …
„… Commander?“ hörte sie noch, dann sah sie das besorgte Gesicht Captain Peters.
„Entschuldigung, Sir. Was sagten Sie?“
Er sah sie einige Augenblicke lang an.
„Hören Sie“, begann er dann, „wenn Sie irgendwas quält, dann sollten Sie das Problem nicht damit lösen.“ Ein Kopfnicken auf das Glas mit dem Whiskey bedeutete ihr eindeutig, was er meinte.
„Ich kenne da jemanden, der Ihnen vielleicht helfen …“
„Bitte, Sir“, unterbrach sie ihn, „es ist alles in Ordnung. Es gibt keinen Grund zur Sorge.“
Sein Blick sagte ihr, dass er ihr keinesfalls glaubte.
„Commander, Sie sollten trotzdem ein Gespräch in Erwägung ziehen.“
„Ich kann nicht, Sir“, sagte sie leise und wich dabei seinem Blick aus. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, doch sie unterdrückte erfolgreich, dass es eskalierte. Nur etwas feuchte Augen, das war dann schon wieder alles – Verdrängung in Perfektion.
Dann sah sie ihn wieder an. Sein Blick war eine Mischung aus Mitleid, Bedauern und vielleicht etwas Verärgerung. Ein paar Augenblicke hielt sie seinem Blick stand, dann nickte er und lockerte mit einem Lächeln die Situation auf.
„Na gut, Commander. Das ist Ihre Angelegenheit.“
Sie nickte nur, dankbar, dass er aufgegeben und nicht noch weiter gebohrt hatte. Dann sah sie wieder dieses Aufleuchten in seinen Augen, als er über ihre Schulter blickte. Auf den Anzeigemonitoren tat sich offenbar etwas.
Er erhob sich ruckartig und griff nach seiner Tasche. Plötzlich hatte er ein kleines Kärtchen in der Hand, das er ihr hinhielt.
„Wenn Sie irgendwann mal irgendwelche Probleme haben sollten, Commander, dann rufen Sie mich an.“
Sie ergriff die Karte und betrachtete sie kurz. „Danke, Sir, das werde ich.“
„Ich muss jetzt meine Frau abholen“, sagte er lächelnd und deutete in Richtung der Gateways.
Sie nickte, stand ebenfalls auf und ergriff die ausgestreckte Hand des Captains. Sie war wunderbar warm und kräftig.
„Machen Sie’s gut, Commander“, sagte er, „und Fröhliche Weihnachten!“
Sie hielt sich tapfer und erwiderte sein freundliches Lächeln. Ihr Mund fühlte sich trocken an, als sie sagte:
„Das wünsche ich Ihnen und Ihrer Frau auch, Sir.“
Dann lächelte er noch einmal, schnappte sich seinen Hut und ging. Sie sah ihm nach, folgte seinen Schritten durch die leere Lounge, bis er durch die Glasdrehtür verschwunden war. Sie setzte sich wieder, sah dabei jedoch durch die Glasscheiben der Lounge hinaus auf die Wartezone vor den Gateways. Captain Peters blieb bei den leeren Reihen der billigen Plastikstühle stehen, die für die Wartenden da waren, die nicht in der Lounge die Zeit totschlugen. Dann kam der Bereich draußen vor den Fenstern der Lounge plötzlich in Bewegung. Mehrere Menschen, voll bepackt mit schweren Gepäckstücken, tauchten aus einem der breiten Gänge auf, die zu den gelandeten Maschinen führten. Sie beobachtete den Captain, wie er sich langsam der Menschenmenge näherte und dabei nach seiner Frau Ausschau hielt. Mehrere Minuten vergingen, in denen die Passagiere aus dem Gang an Captain Peters vorbeiströmten, ohne dass seine Frau dabei zu sein schien.
Sie stand auf und ging hinüber ans Fenster der Lounge. Warum, wusste sie nicht, doch sie wollte die Frau aus der Nähe sehen.
Dann entdeckte sie sie.
Sie musste es einfach sein, weil sie den Captain so ansah, als wäre er der einzige andere Mensch in diesem Universum, der für sie Bedeutung hatte.
Dann ging alles ganz schnell. Peters warf seine Aktentasche und seinen Hut auf einen der Plastikstühle und setzte sich in Bewegung. Er überwand die kurze Distanz, die ihn von seiner Frau trennte, und dann, als er bei ihr angekommen war, blieb er wie angewurzelt stehen. Einen kurzen Augenblick lang sah er seine Frau nur an. Das gab Commander Williams die Gelegenheit, sie ebenfalls genauer zu betrachten.
Sie war groß für eine Frau, vielleicht knapp einsachtzig und damit ein paar Zentimeter größer als Williams selbst. Der olivfarbene Uniformmantel des US Marine Corps, den sie wegen der Kälte trug, wurde an den beiden Schulterklappen von genau demselben goldenen Stern geziert, der auch vorne auf ihrer Schiffchenmütze zu sehen war. Ein weiterer Marine, ein Unteroffizier, stand diskret im Hintergrund und trug die Tasche des Brigadier Generals. Dann konnte Williams nur einen kurzen Blick in das Gesicht der Frau werfen, bevor Captain Peters sie in die Arme nahm und an sich zog.
Sie war sehr schön, erkannte Nina. Ein eher südländischer Typ mit dunklen Haaren und Augen, gebräunter Haut und temperamentvollem Auftreten. Für einen Einsternegeneral des US Marine Corps zumindest hatte sie ihren Captain sehr enthusiastisch umarmt.
Nina Williams erkannte gewisse Ähnlichkeiten zwischen sich und Peters Frau, die aber nur typmäßig waren. Das glückliche Strahlen ihrer Augen, als sie sich nach einem langen Kuss von ihrem Mann löste unterschied sie von ihr. Nina spürte die Tränen nicht, die ihr über die Wangen rannen und im Kragen ihrer Uniformbluse versickerten. Sie bemerkte auch nicht die Blicke des Barkeepers, der sie beobachtete, genauso wie alle anderen drei verbliebenen Gäste, die noch in der Lounge waren. Sie sah nur das unbeschreibliche Glück zweier Menschen und wusste, dass sie selber so etwas nie wieder erleben würde.
Parkplatz A12-Inntalautobahn bei Innsbruck, Tirol
24. Dezember 2016
17:20 Uhr Ortszeit
Um zwanzig nach Fünf war der kleine Parkplatz praktisch menschenleer. An einem 24.Dezember um diese Uhrzeit war das an sich auch nicht weiter verwunderlich. Nur ein silberner Mercedes mit einem Stuttgarter Kennzeichen stand mit laufendem Motor auf dem Seitenstreifen, der für die LKWs reserviert war. Am Steuer des Wagens sowie auf dem Beifahrersitz befanden sich Eduard und Monique von Hartung, ihres Zeichens Schwerindustrielle und ebenso Schwerreiche mit einem Hang zum Sommererholungsurlaub in Tirol, dem ihrer Meinung nach schönsten Flecken auf der Erde.
Diese Vorliebe für Tirol im Sommer war es aber auch, die das Paar nun am vierundzwanzigsten Dezember zur Bescherungszeit hier an diesem kargen und einsamen Parkplatz Hände haltend und mit klopfendem Herzen ausharren ließ. Denn vor mittlerweile eineinhalb Jahren war ihre Tochter Janina in eben einem dieser geliebten Sommerurlaube über Nacht spurlos verschwunden. Anfängliche Verdachtsmomente erhärteten sich nicht, die Ermittlungen verliefen sich ins Nebelhafte, der Fall konnte nicht geklärt werden. Der Vater, Eduard von Hartung, hatte eigentlich von Anfang an die verdammte Sektenburg bei Silz, St. Petersberg in Verdacht gehabt, doch die Behörden glaubten ihm nicht, bzw. war die Beweislage für eine Hausdurchsuchung nicht ausreichend. Das Mädchen, Janina, hatte sich in ihrer spätpubertären Auflehnung und auch aus Neugier für die Vorkommnisse in St. Petersberg interessiert. Sie war gegen die Erlaubnis ihrer Eltern mehrmals in der Burg gewesen und schien mit der Zeit regelrecht besessen von der Idee des Engelswerks zu sein. Natürlich hatte sie keine Ahnung gehabt, mit welchen Teufeleien sie sich da einließ.
Nachdem Janina dann also spurlos verschwunden war und auf öffentlichem Wege keine Erfolge zu verbuchen waren, war der reiche Mann mittels eigenen Recherchen immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass seine Tochter tatsächlich in diesem alten Gemäuer in Tirol einsitzt und wahrscheinlich gegen ihren Willen festgehalten wird. Dann, vor etwa drei Monaten, war er auf die Website eines jungen Mannes gestoßen, der „unkonventionelle Hilfe bei ungewöhnlichen Problemen“ versprach. Von Hartung war mit diesem Mann per E-Mail in Kontakt getreten und ohne größere Umschweife zur Sache gekommen. Der Mann, er kannte ihn nur unter dem Vornamen Stefan, war einverstanden gewesen, gegen entsprechende Vorauszahlung mit eigenen Recherchen zu beginnen. Von Hartung hatte von Beginn an Vertrauen zu diesem ruhigen und gelassenen Mann verspürt und nun nach diesem SMS, das er vor wenigen Stunden erhalten hatte, schien sich sein Vertrauen zu bestätigen.
…ICH HABE SIE. 2412 1730 PARKPLATZ A12 INNSBRUCK WEST. ALLEINE...
So hatte das SMS gelautet, das ihm fast sein Herz aussetzen ließ. Nun saßen sie hier und warteten auf ihre geliebte Tochter.
Von Hartung reichte seiner Frau ein Taschentuch, damit sie eine einzelne Träne trocknen konnte, als er die Scheinwerfer auf sich zukommen sah. Der Wagen dessen Marke und Kennzeichen durch das Gegenlicht der Scheinwerfer und der fortgeschrittenen Dämmerung nicht erkennbar waren, stoppte etwa fünfzig Meter entfernt. Das Licht und der Motor des Wagens erstarben nicht, doch die Fahrertür öffnete sich. Der dunkle Schatten trennte sich vom Wagen, öffnete die Hintertür, dann waren zwei schemenhafte Gestalten zu sehen. Die Hintertür schloss sich wieder, die Schemen kamen auf den Mercedes der von Hartungs zu, die ihrerseits den Wagen nun nervös verließen.
Nun stoppten die beiden Schatten kurz, nur einer – der kleinere - ging weiter, bis er im Licht des Mercedes erkennbar war. Monique von Hartung stieß einen Schrei aus, der Eduard eine Ohnmacht befürchten ließ. Und nun erkannte auch er die Person, die vor ihnen stand. Er konnte die Tränen nun nicht mehr zurückhalten und stürzte förmlich auf seine Tochter zu. Wenige Augenblicke später hatte er sie erreicht und schloss sie zusammen mit seiner Frau, die erst später ohnmächtig werden sollte, in die Arme. Tränen der Erleichterung ergossen sich über seine Wangen, er konnte sie fühlen, er konnte ihren Atem und ihr Herz schlagen hören. Sie war da, sie lebte, sie hatten sie wieder.
Mehrere Minuten später, Eduard von Hartung glaubte zumindest, dass es nur einige wenige Minuten gewesen sein mochten, konnte aber nicht ausschließen, dass es etwas länger gedauert hatte, ließen sie voneinander ab. Seine Frau hielt ihre Tochter eng umschlossen und führte das verwirrte und verstörte Mädchen zum warmen Wagen zurück. Von Hartung trocknete seine Tränen mit einem Stofftaschentuch und sah den beiden nach. Dann atmete er tief die kalte Luft ein und ließ sie in einer Wolke kondensierenden Atems wieder frei. Er fühlte den Umschlag mit dem Geld in seiner Brusttasche und war noch nie in seinem gesamten Leben so froh und unbekümmert gewesen, Geld für eine Dienstleistung auszugeben, wie heute. Mit einem erleichterten Lächeln und einem unbändigen Gefühl der Dankbarkeit näherte er sich dem Mann, der geduldig abseits im Dunkeln gewartet hatte.
„Danke!“, sagte er nur, als er dem Mann die Hand reichte. „Danke, dass Sie mir meine Tochter zurück gegeben haben. Das werde ich Ihnen nie vergessen, Herr…“, sagte von Hartung, der den Nachnamen dieses geheimnisvollen Mannes nach wie vor nicht wusste.
„Mein Vorname muss reichen“, antwortete Stefan Berger, der sich an seinen neuen Namen immer noch nicht gewöhnt hatte. Schließlich hieß er bis vor ein paar Monaten noch Steven Crowe. Doch in seinem neuen Leben hatte er sich von fast allem verabschiedet, was ihn an seine Vergangenheit erinnerte. Dem war auch sein Name zum Opfer gefallen. Und wie hatte schon der namenlose CIA-Mann in Fort Bragg so treffend festgestellt:
Steven Crowe war tot.
Arlington Nationalfriedhof, Washington
26. Dezember 2016
16:02 Uhr Ortszeit
Das Wetter hätte besser nicht sein können. In den dichten Nebel, durch den man keine zwanzig Meter weit sehen konnte, mischten sich jetzt auch noch schwere Schneeflocken, die zuerst nur vereinzelt, dann aber immer dichter zu fallen begannen. Die schlichten, weißen Kreuze, die die endlosen Grabreihen der in verschiedensten Kriegen gestorbenen Soldaten zierten, waren bald von einer zentimeterdicken, frischen Schneeschicht überzogen. Vom dichten Feierabendverkehr, der die Stadt zurzeit heimsuchte, war in der gedämpften Winterstimmung kein Laut zu hören.
Vice Admiral Jim Franklin sah auf seine Armbanduhr, während er langsam den breiten, vereisten Weg zwischen den Grabreihen entlang ging. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und wurde vom Schneefall und dem dichten Nebel noch verstärkt, sodass es bereits jetzt, um kurz nach sechzehn Uhr nachmittags ziemlich dunkel war. Franklin ging noch für weitere drei Minuten an den Grabreihen entlang, bis er schließlich die Parkbank vor sich aus den Nebelschlieren auftauchen sah. Als er sich auf etwa zwanzig Schritte der Bank genähert hatte, sah er eine dunkle Gestalt, die sich von der Bank erhob und in seine Richtung blickte. Franklin blieb nicht stehen, sondern hustete dreimal verhalten, nach einer kurzen Pause schickte er noch zwei weitere Huster hinterher, ganz so wie vereinbart. Die Gestalt drehte sich daraufhin um und verschwand. Während Franklin seine Schritte verlangsamte, als er sich der Parkbank näherte, warf er einen Blick über die Schultern. Der Weg verschwand nach ein paar Metern im Nebel und es war nichts zu hören. Dann sah er wieder nach vorne und überzeugte sich, dass ihm niemand begegnete. Schließlich, nachdem er einen Teil des frisch gefallenen Schnees von den Holzbohlen gewischt hatte, ließ er sich seufzend auf der Parkbank nieder, so wie jemand, der von einem ausgedehnten Spaziergang müde war. Franklins Wagen stand keine achthundert Meter entfernt und er war körperlich in einer ausgezeichneten Verfassung. Trotzdem rastete er drei oder vier Minuten auf der Bank und beobachtete dabei die Schneeflocken, die vor ihm aus dem Nebel auftauchten. Dann, nachdem er unter den Holzbohlen der Bank das gefunden hatte, weswegen er hier war, erhob er sich wieder und schüttelte sich den schweren Schnee von den Schultern. Unauffällig verschwand Franklins rechte Hand in seinem Mantel und verstaute das Kuvert sicher in einer der Innentaschen. Er widerstand dem Drang, den Umschlag auf der Stelle zu öffnen und den Inhalt zu lesen. Dazu war später noch genügend Zeit.
Franklin stülpte den Kragen seines Mantels hoch und zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht. Der Schneefall war noch stärker geworden und versprach ein ausgewachsenes Verkehrschaos. Es war höchste Zeit, die Stadt zu verlassen, bevor alle Straßen verstopft und die Nerven der meisten Autofahrer blank lagen. Mit raschen Schritten entfernte er sich vom Übergabeort und wenige Augenblicke später war er im Nebel verschwunden.
Vier Stunden später bestiegen Sergeant Bruce Dobbs und Corporal Marvin Lavinski eine C-130 Herkules Transportmaschine auf der Andrews Air Force Base. Das Gepäck der beiden Marines war schwer und wurde vom hünenhaften Dobbs keine Sekunde aus den Augen gelassen. Zusammen mit Lavinski überwachte er die Verladung der vier Aluminiumkisten, die mit einem digitalen Schloss gegen unbefugten Zugriff geschützt waren. Überdies waren die Gepäckstücke als Diplomatenpost deklariert und somit nochmals besonders gesichert. Nachdem vom Tower die Startfreigabe erfolgt war, gingen die vier Turboproptriebwerke der betagten Herkules auf Vollschub. Die große Transportmaschine fegte über die frisch vom Schnee befreite Startbahn und hob schließlich schwerfällig in den dunklen Abendhimmel über Maryland ab. Der Pilot flog eine weite Schleife über den Patuxent River und dann über die Chesapeake Bay. Die Maschine passierte Philadelphia, etwas später New York und erreichte schließlich bei Boston den Atlantik. Eine Stunde später überflog die Herkules wieder Festland, das tief verschneite kanadische Halifax, um weitere eineinhalb Stunden später das Festland bei Saint John’s in Neufundland endgültig zu verlassen, und sich über den eisigen Gewässern des Nordatlantiks auf eine weitere zehnstündige Etappe in Richtung Europa zu machen.
Ötztal, Tirol, Österreich
31. Dezember 2016
23:32 Uhr Ortszeit
Das grelle Licht der Zenonscheinwerfer verlieh dem tief verschneiten Wald eine märchenhafte Aura. Langsam, aber sicher kletterte der allradgetriebene BMW den schmalen Forstweg entlang und ließ das schwache Leuchten der letzten Häuser im Tal bald hinter sich. Tief hängende, schwer mit Schnee beladene Äste versperrten dem Fahrer teilweise die Sicht. Doch der Mann kannte die Straße und umfuhr die Hindernisse, ohne die Geschwindigkeit merkbar zu verringern. Die Frontschürze des Wagens schabte nur knapp über die etwa 15cm dicke Schneedecke, die im Lauf des Silvestertages das kleine Dorf und die Bergflanken, die es umgaben, eingehüllt hatte. Der Wagen bremste ab, folgte dem Lauf der Straße um eine enge Kehre und beschleunigte dann wieder. Schließlich verringerte sich die Steigung des Weges, bis im Lichtkegel der Scheinwerfer ein rot-weiß gestreifter Lawinenschranken auftauchte, der rechts des Weges wie ein mahnender Zeigefinger in den sternenklaren Nachthimmel zeigte. Hinter dem Schranken breitete sich ein etwa fünfzig mal dreißig Meter großer, ebener Lagerplatz aus, der ungefähr zu einem Drittel mit im Herbst geschlagenem Frischholz belegt war. Die Holzstämme waren von einer dicken Schneeschicht bedeckt, die Schnittflächen waren von den jeweiligen Besitzern mit ihren Initialen versehen worden.
Der BMW passierte den Schranken und hielt nach etwa vierzig Metern am Rande der noch freien Fläche des Lagerplatzes. Der Motor erstarb, die Lichter erloschen und die Fahrertür öffnete sich. Ein mittelgroßer Mann, dunkel gekleidet mit hochgestelltem Mantelkragen verließ das Fahrzeug und entfernte sich in Richtung des Waldes, nachdem er sich kurz vom einwandfreien Sitz der Schneeketten an den beiden Vorderrädern des Wagens überzeugt hatte. Sein Schritt war sicher und rasch, als er im Dunkel des Lärchenwaldes verschwand.
Zehn Minuten später stand der Mann mit angespanntem Gesichtsausdruck am Rande einer Felswand und starrte hinunter ins Tal. Leichter Wind blies von hinten und wehte ihm einzelne Strähnen des dunklen Haars ins Gesicht. Die kalten Hände, im Inneren seines dicken, schwarzen Mantels verborgen, hatte er zu Fäusten geballt. Sein Atem ging ruhig, die Augen verloren sich in den von gedämpften Explosionen begleiteten Lichterspielen des Silvesterfeuerwerks. Goldene Schauer ergossen sich zusammen mit grünen und roten Leuchtkugelfeuern über das kleine Dorf. Kanonenschläge krachten, Raketen pfiffen und jaulten den glitzernden Sternen entgegen, um schließlich in bunten Lichthöfen zu vergehen.
Ein Bild wie aus längst vergangenen Tagen stieg in dem Mann empor, tief vergraben in seinem Bewusstsein, fest verankert in seiner Seele und ein fixer Bestandteil seines Wesens. Er sah wieder die Blitze, hörte das Krachen, das Kreischen, die Schreie. Das Bild des Feuerwerks auf seinem Höhepunkt verschwamm vor seinen Augen und wich etwas anderem, dunklem. Bilder tanzten vor seinen starren Augen, von denen er wusste, dass sie ihn bis an sein Lebensende verfolgen würden. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, was ihn hier herauf getrieben hatte, allein, gerade in der Silvesternacht. Doch er spürte, dass dies ein Ort war, an dem es nicht ganz so schlimm sein würde.
Es war dreizehn Minuten nach Mitternacht und Stefan Berger spürte weder die Kälte des Windes auf seinem ungeschützten Gesicht, noch die einzelne Träne, die ihm langsam über die Wange lief.
Rom, Italien
07. Jänner 2017
11:30 Uhr Ortszeit
Die riesige, blau-weiß lackierte VC-25A des 89sten Airlift Wing der Air Force, eine Boeing 747, an der mehr technische Modifikationen durchgeführt worden waren als an irgendeinem anderen ursprünglich für Zivilzwecke gedachten Großraumflugzeug, setzte mit quietschenden Reifen auf der neu asphaltierten Landebahn des Fiumicino International Airport auf. Für den italienischen Fluglotsen, der gerade im Tower Dienst tat, war es nicht das erste Mal, dass er der Air Force One mit dem amerikanischen Präsidenten an Bord einen Parkplatz an einer besonders abgeschirmten Stelle des Terminals zuwies. Er hatte das bereits letztes Jahr gemacht, als der Präsident zum Staatsbesuch erschienen war. Nichtsdestotrotz war die Landung dieses Flugzeugs etwas ganz Besonderes. Nicht nur deshalb, weil praktisch der gesamte Flugverkehr im Umkreis der italienischen Hauptstadt neu geordnet werden musste. Sondern auch weil die Sicherheitsstufe des Flugplatzes automatisch auf die allerhöchste Ebene gesetzt wurde. Bewaffnete Streifen der Carabinieri patrouillierten überall auf dem Gelände und hielten nach möglichen Attentätern mit Stinger-Luftabwehrraketen Ausschau. Starts und Landungen dieser Maschine waren zwar im Allgemeinen geheim und nur einer geringen Anzahl von Menschen bekannt, doch absolute Sicherheit gab es nicht und würde es wohl auch nie geben können.
Die 747 bremste mithilfe des Umkehrschubes ihrer vier gigantischen Triebwerke und der ausgefahrenen Landeklappen, bis sie nur mehr etwa fünfzig Stundenkilometer schnell war. Ein Lotsenfahrzeug setzte sich vor die Boeing und führte sie an ihren reservierten Stellplatz, der so abgeschirmt lag, dass er von außerhalb des Flughafens nicht einsehbar war. Die Maschine passierte die Terminals A, B und C und hielt auf das neue Satellitenterminal West zu, an dem nur internationale Flüge abgefertigt wurden und dessen Sicherheitseinrichtungen sich auf dem neuesten Stand befanden. Dieses Terminal lag etwas entfernt von den anderen drei Terminals und war mit ihnen durch einen langen Gang verbunden.
Noch bevor die Maschine ausgerollt war, brausten fünf schwarze Staatslimousinen, allesamt Audi S8 der neuesten Baureihe mit Panzerglasscheiben und Kevlarverstärkungen an der Karosserie über das Flugfeld und parkten hintereinander aufgereiht neben der Air Force One. Obwohl die Maschine des Präsidenten über eigene Einstiegstreppen verfügte, um auch auf exotischen Landeplätzen operieren zu können, schob sich eine externe Gangway an die vordere Luke der Maschine. Mehrere Minuten vergingen, während die italienischen und amerikanischen Fahnen an den Rückspiegeln der Audis im leichten, böigen Wind flatterten. Dutzende Männer der italienischen Polizei bezogen unter Anleitung eines Vorauskommandos des Secret Service um die Maschine herum Stellung und sicherten nach allen Richtungen. Der dienstführende Agent des Secret Service außerhalb der Maschine wartete auf das OK seiner Kollegen, um danach mit seinem Verbindungsmann im Innern der Maschine Kontakt aufzunehmen. Als die Situation für sicher befunden wurde, öffnete sich die Luke der Maschine und mehrere Kameralinsen begannen aufzuzeichnen, während Dutzende speziell ausgewählte und mehrfach auf ihre Sicherheitsunbedenklichkeit hin überprüfte Fotografen sich bereit machten. Zuerst erschien ein Secret Service Mann mit dunkler Sonnenbrille und sah sich aufmerksam um. Eisiger Wind kam auf und fuhr gnadenlos durch die vom langen Warten ohnehin schon durchgefrorenen Journalisten. Der Secret Service Agent oben an der Luke verzog hingegen keine Miene. Nur das dünne, schwarze Kabel seines Ohrhörers, das seinen muskulösen Hals hinunter folgte und schließlich im Kragen seines weißen Hemdes verschwand, baumelte heftig in der steifen Brise. Dann, als er langsam die Gangway herunter schritt, sich nach allen Seiten umdrehend und auf Warnungen in seinem Kopfhörer wartend, erschien ein zweiter Agent, der links neben der Luke Aufstellung nahm. Wieder vergingen einige Augenblicke mit letzten Funksprüchen und dann erschien der Präsident.
Noch bevor er das Flugzeug ganz verlassen hatte, begann der Präsident, den man schon von weitem an seinem silbernen Haupt mit perfekt sitzender Frisur erkannte, den wartenden Journalisten und Medienvertretern zuzuwinken. Bei jedem anderen Präsidenten wäre jetzt die First Lady erschienen, um Hand in Hand mit ihrem Gatten, dem wichtigsten Mann der Welt, die Gangway hinunterzugehen, pausenlos zu lächeln und zu winken.
Doch Präsident Marvin James hatte seine Frau vor mittlerweile drei Jahren an den Krebs verloren und sich seitdem erfolgreich gegen alle Versuche gewehrt, ihn wieder zu verheiraten. Also ging er alleine die Treppe runter, lächelte, kämpfte tapfer gegen die vereinzelt aus der niedrigen Wolkendecke fallenden eisigen Regentropfen an, die ihn fast waagrecht wie kleine Geschoße auf die Wangen trafen, versuchte den böigen Wind zu ignorieren, der seine Frisur langsam aber sicher zerstörte und winkte einem ihm offenbar gut bekannten Fotografen freundlich zu, den er willkürlich ausgewählt hatte und den er in Wirklichkeit noch nie zuvor gesehen hatte. Dann war er unten auf dem Asphalt des Flugfeldes, sofort eingerahmt von zwei Agenten des Secret Service. Die Offizierin der US Navy, die nur ein paar Schritte hinter dem Präsidenten ging, wurde von dem einen oder anderen wartenden italienischen Fotografen wegen ihres ansprechenden Äußeren auch fotografiert, ansonsten aber für nicht sonderlich wichtig befunden. Einer der Secret Service Agenten, der gerade eben den Präsidenten in eines der wartenden Autos bugsiert hatte, hielt noch die Tür auf. Er bedeutete der Offizierin, die einen schwarzen, mit einer Handschelle an ihrem Handgelenk befestigten Lederkoffer trug, ebenfalls einzusteigen. Als die Frau im Auto verschwunden war, blickte der Agent noch einmal über das Dach des schwarzen Audis, dann stieg er selber auch ein. Neuerlich erfolgte über Funk eine ausgiebige Rücksprache der Einsatzleitung, ob alle Straßen frei und keine Gefahren für Leib und Leben des Präsidenten erkennbar waren. Dann, als alles Menschenmögliche getan war, um eventuelle Anschläge zu verhindern, setzte sich die Kolonne in Bewegung.
Lieutenant Commander Nina Williams saß dem Präsidenten gegenüber, der sie aufmerksam beobachtete. Das dunkle Leder der weichen Sitze war durch die eingebaute Sitzheizung angenehm warm. Auf dem Schoß hielt sie den schwarzen Lederkoffer mit beiden Händen. Sie erwiderte den neugierigen Blick des Staatsmannes und fragte sich, was zum Henker dieser jetzt wohl dachte.
„Wie war noch mal Ihr Name, Commander?“ fragte er mit dunkler, redegewandter Stimme.
Nina räusperte sich, ihr bekam die nasskalte Luft nicht sonderlich gut. Außerdem pochte es im Inneren ihres Kopfes bei jeder Bodenwelle, die die Stoßdämpfer des deutschen Wagens nicht zu schlucken vermochten.
„Williams, Sir. Nina Williams.“
Der Präsident nickte, als wäre er mit der Antwort sehr zufrieden.
„Es freut mich sehr, dass ausgerechnet Sie unseren armen – wie war gleich noch mal der Name des Majors, Harry?“ fragte er den Agenten, der neben ihm saß.
„Major Tennent, Mr. President.“ Der Afroamerikaner hatte die Antwort wie aus der Kanone geschossen parat.
„Ah ja, Major Tennent. Na, auf jeden Fall haben Sie viel schönere Beine als der Major.“ Ein anzügliches Grinsen begleitete diesen Satz und Williams traute ihren Ohren nicht.
„Danke, Mr. President“, antwortete sie mit leicht zusammengebissenen Zähnen. Die Antwort, die er eigentlich verdient hätte, verkniff sie sich. Schließlich saß sie hier vor ihrem obersten Befehlshaber. Und der sollte eigentlich wissen, wie es sich mit dem Umgang von Männern und Frauen in den Streitkräften verhielt. Er war ihr Vorgesetzter, so wie der Oberbefehlshaber jeder anderen amerikanischen Frau in Uniform. Er sollte wissen, dass sie für ihn tabu war. Doch amerikanische Präsidenten hatten sich in Bezug auf die Damenwelt in der Vergangenheit als sehr einfallsreich erwiesen. Und dumm.
„Das erste Mal mit dem Football unterwegs?“, lächelte er und deutete dabei auf den schwarzen Koffer, den Williams etwas verkrampft festhielt.
„Ja, Sir“, gab sie pflichtbewusst zurück und wunderte sich über den Smalltalk, der sich hier abspielte. Gab es Nebensächlichkeiten auch in den höchsten Kreisen, fragte sie sich. Anscheinend. Irgendwie beruhigend, fand sie. Ganz im Unterschied zum Inhalt des Koffers mit dem leicht scherzhaften Spitznamen „The Football“. Was sich hier auf Nina Williams’ Schoß im Inneren des Koffers befand, schien ihr alles andere als beruhigend. Entgegen dem weit verbreiteten Glauben, dass es Zündschlüssel für die Nuklearraketen waren, hielt Williams die täglich von der National Security Agency aktualisierten Goldcodes in ihren Händen, mit denen sich der Präsident im Ernstfall gegenüber dem Kommando der Nuklearstreitkräfte identifizieren konnte. Weiters befand sich der so genannte SIOP-Plan im Koffer. Darunter versteht man eine immer topaktuelle Auflistung von über eintausend militärischen Zielen, mit denen die Atomraketen programmiert sind. Zu guter Letzt gab es noch ein Handbuch für den Präsidenten, in dem die nötigen Schritte im Ernstfall und die Konsequenzen eines nuklearen Schlages mit Hilfe von Comics beschrieben waren. Letzteres fand Williams besonders bemerkenswert. Es handelte sich bei den Comics um ausgesprochen schlecht verfasste Zeichnungen, die der Präsident in einer kaum vorstellbar stressüberladenen Situation betrachten sollte und die ihm als Entscheidungshilfe dienen sollten. Sehr bedenklich eigentlich.
„Keine Bange, ist nur ein Routinejob, Commander. Etwas Entspannung für Ihr hübsches Köpfchen“, grinste der Präsident und sah Williams dabei lange an. Etwas zu lange, für ihren Geschmack.
Sie verzichtete darauf, irgendetwas zu sagen, da sich ihre durch Medienberichte gebildete Meinung, es handle sich bei dem Präsidenten um ein chauvinistisches Arschloch, durch seinen Blick auf ihre Beine noch bestärkte. Im Gegensatz zu vielen anderen Frauen fühlte sie sich durch absolute Macht nicht magisch angezogen. Ganz im Gegenteil: Je mächtiger ein Mann war, desto vorsichtiger war Williams.
Sie zupfte an ihrem Mantel und verdeckte ihre Beine, dann wich sie dem Blick des mächtigsten Mannes der Welt aus und sah aus dem Fenster auf die ewige Stadt, die im Smog vor ihr lag. Das Telefon läutete und einer der Agenten reichte Marvin James den Hörer. Als er mit tiefer Stimme mit dem Außenminister, der sich gerade auf einer heiklen Mission im Iran befand, zu sprechen begann, verzichtete er darauf, Williams weiterhin zu betrachten. Für den Moment war er abgelenkt.
Wie war es nur zu dieser Situation gekommen?, fragte sich Nina Williams nicht zum ersten Mal. Warum zum Teufel hatte man sie kurz vor dem Auslaufen der USS George H. W. Bush vom Träger geholt und direkt zum Flughafen von Neapel gebracht, wo die Air Force One und der verdammte Football bereits auf sie gewartet hatten? Warum war es ausgerechnet sie gewesen, die den mit Blinddarmdurchbruch ausgefallenen Schreibtischhengst aus Washington ersetzen musste, der planmäßig den Koffer wie ein bescheuerter Page hinter dem Präsidenten herzutragen hatte und dabei zunehmend verdummen musste? War sie wirklich der einzige verfügbare Offizier mit „Yankee White“-Sicherheitseinstufung gewesen, also der einzig verfügbare Offizier, der befähigt war, den obersten Gepäckträger der Nation zu spielen? Sie gehörte an Bord ihres Schiffes, musste die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse des Verbandes auswerten und für den Captain des Trägers als Entscheidungsgrundlage aufbereiten. Der kommandierende Admiral des Verbandes würde dann mit ihrem Captain gemeinsam Entscheidungen aufgrund ihrer Aufklärungsdaten und den daraus gezogenen Schlüssen treffen. Sieg und Niederlage hingen maßgeblich davon ab, ob sie ihre Arbeit richtig machte. Und das tat sie. Sie war die beste Nachrichtenoffizierin in der gesamten Sechsten Flotte und sollte bei diesem wichtigen Manöver mit den Israelis unbedingt dabei sein. Stattdessen saß sie hier in diesem protzigen deutschen Wagen und wurde von einem alten, lüsternen Kotzbrocken mit Blicken ausgezogen. Das hatte sie nicht verdient und würde sie sich auch nicht lange gefallen lassen. Eine Zurechtweisung für den Präsidenten war doch auch mal was Neues, zumal sie sie auf jeden Fall geschickt verpacken musste, um ihn nicht zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Welcher verdammte Idiot auch immer für ihre Versetzung hierher verantwortlich war, konnte sich auf was gefasst machen, wenn sie wieder auf dem Träger war.
Damit waren ihre Gedanken wieder bei ihrer Einheit. Sie konnte nur hoffen, dass Lieutenant Harrison, ihr Stellvertreter, keinen Mist baute. Der Junge war gut, aber noch verdammt grün hinter den Ohren. Und Erfahrung war das A und O in der Nachrichten- und Aufklärungsaufbereitung.
Sie hoffte wirklich, dass Harrison ohne sie zu Recht kommen würde, als die Wagenkolonne in die Smogglocke der Hauptstadt eintauchte und Kurs auf den Regierungssitz des italienischen Premiers nahm.
23:46 Uhr
Der dunkle Chrysler Voyager mit dem Diplomatenkennzeichen verließ die US-Botschaft in der Via Vittorio Veneto und wandte sich dann zuerst nach Süden. Als das Fahrzeug auf die A12 auffuhr, bewegte es sich in westlicher Richtung, direkt auf das dunkle, kalte tyrrhenische Meer zu. Der Chrysler fuhr auf der breiten Autobahn am Tiber entlang, bevor er sie nach etwa zwanzig Kilometern verließ.
Sergeant Dobbs, der am Steuer des Wagens saß, hielt sich peinlich genau an alle Verkehrsregeln und versuchte, nicht aufzufallen. Er fand die schmale, schlecht beleuchtete Straße, die ihn wieder nach Norden, in Richtung des kleinen Ortes Focene führte. Die schlecht asphaltierte Straße führte in einem Abstand von etwa dreihundert Metern am Maschendrahtzaun des Leonardo-da-Vinci-Flughafens entlang. Nach zweiminütiger Fahrt waren sie an ihrem Ziel angelangt: Ein einsamer Schuppen, zu dem ein holpriger Feldweg führte, stand ein paar Meter abseits der Straße. Hinter dem Schuppen gab es – von der Straße aus nicht einsehbar – eine ebene Fläche, die ausreichend Platz für den Chrysler bot. Der Schuppen war leer, nur ein paar alte Bretter lagen unordentlich hinter dem baufälligen Gebäude. Das alles wussten die beiden Marines, hatten sie doch den Platz sorgfältig ausgewählt und mehrere Tage lang observiert. Nichts hatte sich je dort gerührt. Kein Mensch hatte den Schuppen besucht, irgendetwas hingebracht oder abgeholt. Kurz gesagt: Die Stelle war optimal geeignet, um den Chrysler dort für die Nacht abzustellen.
Der Motor erstarb, als Dobbs den Wagen geparkt hatte. Zusammen verließen die beiden Männer das Auto. Dobbs stellte sich neben die verwitterten Bretter der Schuppenrückwand und beobachtete die Straße, während Lavinski die Heckklappe des Chryslers öffnete. Der Corporal klappte eine graue Wolldecke zur Seite und enthüllte zwei schwarze Rucksäcke. Er lud die Rucksäcke aus dem Wagen, wobei sich seine sehnigen Unterarme unter dem Gewicht des zweiten Rucksacks besonders anspannten. Dann förderte er zwei schwarze Westen mit verschieden großen Taschen zu Tage, von denen eine wesentlich größer war als die andere. Lavinski schlüpfte in die kleinere Weste und schloss den Reißverschluss. Schließlich öffnete er einen silbernen Metallkoffer und holte zwei Glock Faustfeuerwaffen heraus, auf denen bereits Schalldämpfer aufgeschraubt waren. Kurz überprüfte er die Magazine der beiden Waffen und stellte sicher, dass sie geladen und gesichert waren. Jeweils drei Ersatzmagazine befanden sich in den Taschen der Westen, doch Lavinski hoffte, dass sie keinen einzigen Schuss abfeuern müssten. Er verstaute die Glock in einem speziellen Halfter, das er an seinem Oberschenkel befestigt hatte, dann ging er rüber zu Dobbs, der mit der Silhouette des Schuppens verschmolzen war, und löste ihn ab.
Als Dobbs seine Ausrüstung ebenfalls komplettiert hatte, schwang er mühelos den schwereren der beiden Rucksäcke auf seinen breiten Rücken. Die Polsterung der Weste verteilte die vierzig Kilogramm ausgezeichnet, sodass die Last dem Marine nicht sonderlich schwer schien. Ein kurzes Pfeifen und Lavinski erschien aus der Dunkelheit. Die schwache Glühbirne der Kofferraumbeleuchtung erlosch, als Lavinski noch die beiden Nachtsichtgeräte aus einer schwarzen Box holte, eines davon Dobbs gab und schließlich die Klappe vorsichtig und leise schloss. Die Nachtsichtgeräte setzten sich die beiden Männer über die schwarzen Wollhauben auf, die sie gegen die Kälte trugen. Lavinski schloss den Chrysler ab und rollte sich die Wollmütze über das Gesicht, so wie es Dobbs ebenfalls getan hatte. Nur Mund und Augen waren noch als helle, kreisrunde Öffnungen in den schwarzen Masken der beiden Männer zu entdecken. Lavinski hielt dann eine kleine Tube mit schwarzer Spezialtarnfarbe in seinen Händen; eine Minute später waren auch Augen und Mundpartie der Männer geschwärzt.
Nachdem sich die beiden noch einmal überzeugt hatten, dass sich niemand auf der Straße oder in der Nähe befand, setzten sie sich langsam in Bewegung, auf den etwa zwei Meter hohen und knapp dreihundert Meter entfernten Maschendrahtzaun zu, hinter dem die roten und weißen Leuchtlampen der Landebahn bereits zu erkennen waren.
Hotel Grand Plaza, Rom
07. Jänner 2017
23:58 Uhr MEZ
Das heiße Wasser fühlte sich nach diesem langen, ärgerlichen Tag einfach großartig an. Lieutenant Commander Nina Williams hatte sich endlich des schweren Lederkoffers entledigt, war blitzschnell aus ihrer maßgeschneiderten Uniform geschlüpft und hatte sich ins Bad ihres Hotelzimmers zurückgezogen. Der Secret Service Agent draußen am Gang der reservierten und nur für ausgewählte Personen zugänglichen Etage bewachte sie und ihren wichtigen Koffer. Eigentlich bewachte der Mann mehr den Koffer. Aber das war Nina ziemlich egal. Immerhin hatte sie jetzt endlich ihre Ruhe und der Koffer war beim Secret Service bestens aufgehoben.
Zusammen mit dem Präsidenten und dem Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, einem Viersternegeneral der Army, der im Hotel zur US-Delegation gestoßen war, befanden sich noch an die siebzig andere Amerikaner – zum Großteil Journalisten – in der abgeschotteten Hoteletage. Dieser gesamte Tross hatte dem erst vor einer knappen Stunde offiziell für beendet erklärten Staatsbesuch bei Ministerpräsident Tornatore beigewohnt und war Zeuge einer Vertiefung der amerikanisch-italienischen Freundschaft geworden. Die beiden Länder standen sich seit dem zweiten Irakkrieg unter George W. Bush besonders nahe und Präsident James war stets als Erhalter und Verbesserer dieser Beziehungen aufgetreten. Selbst als vor Jahren, während des Irakfeldzuges ein italienischer Geheimdienstoffizier versehentlich bei einer Straßensperre in Bagdad von US-Marines erschossen worden war, hatte die enge Beziehung der beiden Staaten nur kurz gelitten. Die Sache war dann schnell wieder vom Tisch gewesen und das Leben ging weiter.
Jetzt, da er eine wegweisende Änderung der US-Außenpolitik im Iran im Schilde führte, war James massiv an einer Übernahme der Besatzungs- und Friedenssicherungstruppen durch die UNO interessiert. James hatte in den letzten beiden Amtsjahren seiner ersten Legislaturperiode viel Zeit und Mühe darauf verwendet, die arg verkümmerten Bande zwischen den USA und der UNO wieder neu zu knüpfen. Jetzt, da er vorhatte, seine Truppen völlig aus dem Iran zurückzuziehen, sollten sich diese Beziehungen wirklich bewähren. Dazu gehörten natürlich auch intensive Vorbereitungsgespräche mit den Staatschefs der wichtigsten Partnerländer. Im Hintergrund mussten Fäden gezogen werden und eigene Wünsche, die zukünftigen Entscheidungen der jeweiligen Gastländer betreffend, galt es gekonnt in Worte zu fassen, ohne die jeweiligen Gesprächspartner auf die typisch amerikanische Art vor den Kopf zu stoßen.
Und aus genau diesem Grund waren sie nun hier in Rom, der letzten Station ihrer Werbekampagne quer durch Europa, angelangt. Williams hatte zum Glück nur die letzte Station der Reise mitmachen müssen, nachdem ihr vom löchrigen Blinddarm gequälter Vorgänger das übrige Programm bis nach Neapel bestritten hatte. Nur dass sie morgen wieder mit zurück in die Staaten fliegen sollte, um dort den verdammten Koffer im Weißen Haus abzuladen und danach wieder über den Atlantik zurück zu ihrem Verband zu jetten, fand sie gelinde ausgedrückt einfach nur idiotisch. Die zuständigen Stellen, die die auserwählten Offiziere für den Dienst als Football-Träger einteilten, waren anscheinend durchwegs von Analphabeten und Schreibtischattentätern durchsetzt.
Nina Williams versuchte nun, diese ärgerlichen Gedanken für den Augenblick zu verbannen. Die ätherischen Öle, die sie dem Badewasser beigesetzt hatte, wirkten einschläfernd und beruhigend auf die groß gewachsene, dunkelhaarige Navy-Offizierin italienischer Abstammung. Williams Vater, ein bleicher, breitschultriger Seebär mit irischen Vorfahren hatte sich vor knapp vierzig Jahren in Neapel in eine kleine, wunderschöne Italienerin verliebt, die er dann einfach mit in die Staaten genommen und dort geheiratet hatte. Nina Maria, so war ihr vollständiger Name, war dann als jüngstes von drei Mädchen zur Welt gekommen. Schon sehr früh hatte sie sich für die Seefahrt interessiert und damit dem alten Master Chief einen Herzenswunsch erfüllt. Als sie dann, Jahre später, die Marineakademie in Annapolis mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, waren dem raubeinigen Seefahrer Tränen in den Augen gestanden. Seine fast gleichzeitige Pensionierung und die Wehmut des Abschiedes von seiner geliebten Navy, waren damals völlig vom uneingeschränkten Stolz eines glücklichen Vaters verdrängt worden.
Und jetzt, in der Blütezeit ihrer Karriere, in der sich alles entschied, ob sie befördert und eventuell ein eigenes Kommando auf See zugesprochen bekam, jetzt lag sie hier in dieser weißen, sündteuren Badewanne und ließ die kleinen Luftbläschen des Badesalzes ihre glatten Oberschenkel entlang und schließlich den Rücken empor kribbeln.
Es fühlte sich irgendwie wunderschön und gleichzeitig völlig falsch an. Sie sollte jetzt nicht hier sein und ein heißes Schaumbad genießen. Nein, sie sollte jetzt die kalten, winterlichen Gewässer des Mittelmeeres durchkreuzen und die israelische Manövertaktik studieren. Es war ganz einfach verkehrt, und damit hatte es sich auch schon.
Nina atmete gerade entspannt aus, als ihr aus heiterem Himmel wieder jene Szene vor ihrem Abflug am Weihnachtsabend am Dulles Airport in den Sinn kam. Sie ärgerte sich, dass ihr Captain Peters und seine Frau, General Sarah mit ihrem verdammten unbeschreiblichen Glück nicht aus dem Sinn gingen. Wieder sah sie das Lächeln der beiden Menschen, die sich nach langer Trennung endlich wieder begegnet waren. Und wieder war der Stich, der ihre entspannten Gefühle vertrieb, gemein und unerwartet. Wie konnte sie nach all der Zeit immer noch so unvorbereitet auf diese plötzlichen Gefühlsschwankungen reagieren, fragte sie sich nicht das erste Mal.
Sie verfluchte Captain Peters und seine schöne Frau. Wie konnten die beiden ihr das nur antun? Sie war ganz alleine, schon viel zu lange, hatte alles verloren, was ihr wichtig war. Und dann das! Alles Glück dieser Erde direkt vor ihren Augen. Es war wie eine Ohrfeige gewesen, ein schallender Schlag ins Gesicht, der sie umgehauen hatte und den sie immer noch siedend heiß spürte.
Wenn er doch bloß nicht den verdammten Hubschrauber genommen hätte. Dann wäre ihm nichts passiert. Vielleicht hätte er alles anders gemacht, wenn sie nicht auch an Bord gewesen wäre, vielleicht wäre gar nichts passiert, wenn sie nicht in seiner Nähe gewesen wäre. Sicherlich hatte sie seine Gedanken verwirrt, wahrscheinlich hätte er anders reagiert, wenn sie…
Tränen sickerten aus ihren Augen, als sie leise zu weinen begann. Die Erinnerungen türmten sich zusammen mit einem unbeschreiblichen Schuldgefühl wie bedrohlich hohe Wellen neben ihr auf und schlugen dann mit aller Macht wie eisige Brecher über ihr zusammen. Trotz der Wärme des Wassers, zitterte sie bald am ganzen Körper. Sie schüttelte sich heftig in einem unkontrollierten Weinkrampf, der ihr alle Energie, die ihr das warme Bad vielleicht verliehen hatte, grausam wieder entriss. Das Glas mit dem roten Wodka, das am Rand des Whirlpools stand, zersprang in tausend Scherben, als es ihre Hand hinwegfegte. Nur mühsam gelang es ihr, sich nach einer ihr unbekannten Zeitspanne wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Ob es nur einige Sekunden oder gar mehrere Minuten gewesen waren, die der Rückfall gedauert hatte, sie wusste es nicht. Das Schluchzen verging langsam wieder, doch das schwarze Loch, dort wo ihr Herz hätte sein müssen, das blieb.
Leonardo da Vinci Flughafen - Fiumicino, Rom
08. Jänner 2017
00:56 Uhr MEZ
Das erste Hindernis hatten sie relativ problemlos hinter sich gebracht. Der Maschendrahtzaun hatte sich als ausgesprochen stabil erwiesen und sogar Sergeant Dobbs mit seinem schweren Rucksack war ohne Probleme darüber geklettert. Ein Loch im Zaun hätte man womöglich entdeckt und anschließend wäre hier wohl die Hölle los gewesen. Deshalb hatten sich die beiden Männer dazu entschlossen, die paar Minuten länger zu investieren und den Zaun auf die herkömmliche Methode zu überwinden.
Jetzt befanden sie sich mehrere hundert Meter entfernt von der Stelle, wo sie in das Gelände eingedrungen waren und kauerten sich auf den kalten, beinahe gefrorenen Boden nieder. Das grelle Blinken der Positionsleuchten neben der Landebahn war sehr unangenehm und reduzierte die Leistungsfähigkeit der Nachtsichtgeräte erheblich. Dieses Problem hatten die beiden Marines bei ihrer Planung für den Einsatz offensichtlich nicht berücksichtigt. Das ärgerte Dobbs, doch er versuchte jetzt, das Beste daraus zu machen.
Die beiden schwarzen Gestalten lagen ausgestreckt zwischen zwei Stromtransformatoren, die die Landebahn mit Energie versorgten und beobachteten die großen Gebäude der Terminals, die sich grob geschätzt etwa einen knappen Kilometer entfernt befanden. Erste Nebelschwaden zogen vom Meer herauf und verhüllten teilweise den Blick auf die Reihe der geparkten Maschinen. Der leichte gefrierende Regen des Nachmittags hatte inzwischen aufgehört. Dobbs wusste nicht, was er vom Nebel halten sollte. Einerseits war er ein Segen, da sie sich so relativ sicher sehr nahe an ihr Ziel herantasten konnten. Andererseits war aber auch die Gefahr sehr groß, unerwartet mit Patrouillen zusammenzustoßen, da man sie einfach nicht früh genug sehen konnte. Positiv war wiederum, dass Geräusche durch die feuchte, neblige Luft besser gedämpft wurden. Doch bis heute Nacht war noch kein einziges Mal Nebel aufgezogen, deshalb hatte Dobbs ihn auch nicht in seine Planungen miteinbezogen. Abwarten, dachte er sich, abwarten und improvisieren. Bis jetzt hielt sich der Nebel jedoch in Grenzen.
„Die Beleuchtung ist genauso schlecht, wie sonst auch“ flüsterte Lavinski und sagte genau das, was Dobbs auch gerade gedacht hatte. Anscheinend sahen die Italiener keinen großen Sinn darin, das Flugfeld besser auszuleuchten, nur weil eine Boeing der Air Force hier parkte. Selbst wenn es sich dabei um das Flugzeug des US-Präsidenten handelte.
„O.K., los geht’s“ befahl Dobbs leise und richtete sich vorsichtig auf. Kniend warteten sie noch einige Augenblicke, dann liefen sie zusammen im Schutz der Dunkelheit los. Alle zwei oder drei Minuten mussten sie sich ins abgestorbene graue Gras werfen, da wieder ein Flugzeug landete und die Landebahnbeleuchtung auf volle Stärke geschaltet wurde. Auf diese Weise, immer zwei Minuten laufend, dann wieder zwei Minuten liegend, brauchten sie beinahe zwanzig Minuten, bis sie schließlich schwer atmend im Schatten eines der großen Hangars verschwanden. Dobbs spähte fast augenblicklich wieder um die Kante der Wellblechfassade und beobachtete das Flugfeld. Dann sah er zuerst die beiden Polizisten und fast gleichzeitig den deutschen Schäferhund, den sie an der Leine führten. Zu allem Überfluss bewegte sich die Streife auch noch genau auf Dobbs zu.
„Verflucht“, flüsterte er nur, um dann fieberhaft zu überlegen, was er jetzt tun sollte.
01:32 Uhr
Dobbs sah sich hektisch um. Sein Herz klopfte und er begann zu schwitzen. Mit dem Rücken lehnte er an einem der großen Hangars, in dem Wartungs- und Reparaturarbeiten an verschiedensten Linienmaschinen durchgeführt wurden. Vor sich, in der nebligen, feuchten Dunkelheit konnte er in ein paar hundert Metern Entfernung das schwache Glimmen einiger Laternen erkennen, die die Straße außerhalb des Zaunes erhellten. In dieser Richtung würden sie niemals entkommen können. Es blieb nur der Weg entlang des Hangars. Dann müssten er und Lavinski abwarten, wohin die Streife sich wandte.
Er tippte Lavinski auf die Schulter und bedeutete, ihm schnell zu folgen. Ihre Stiefel knirschten leise auf dem feuchten, teilweise trotz des Streusalzes eisigen Asphalt, als sie sich entlang der dunklen Blechfassade davon stahlen. Die Nachtsichtgeräte waren hier, im Schatten des Hangars voll funktionstüchtig und erhellten Dobbs Blickfeld in einem flimmernden Grünton. Warme Objekte, wie Menschen oder laufende Maschinen würden durch den zusätzlich aktivierten Infrarotscanner als gelbe, orange oder rote Flecken erscheinen, je nachdem, wie warm das Ziel war. Der schwere Rucksack auf Dobbs Schultern machte sich langsam bemerkbar, als er sich schwer atmend der Gebäudekante näherte. Mittlerweile mussten die beiden Polizisten eigentlich das andere Ende der Halle erreicht haben, schätzte Dobbs, als er sich umsah und angespannt in die Richtung spähte, aus der er gerade gekommen war. Doch er konnte das andere Ende des Hangars bereits nicht mehr erkennen, der Nebel war dichter geworden. Er hatte also keine Ahnung, wie nahe die Streife ihm schon war und ob der Hund bereits irgendetwas gewittert hatte. Hastig bremste er kurz vor dem Mauereck ab und schob den Kopf langsam um die Kante. Eine nur durch spärliches Restlicht der riesigen, jenseits der Halle stehenden und in die andere Richtung scheinenden Flutlichtanlagen erhellte Fläche, die teilweise mit recht hohem, abgestorbenen Gras bewachsen war, trennte einige dunkle, kleine Schuppen von dem etwa vier Meter breiten Asphaltstreifen, der entlang der Rückseite des Hangars verlief. Ein niedriger Zaun wirkte als zusätzliche Abgrenzung zu den Schuppen, deren Funktion Dobbs und Lavinski nicht kannten.
Als Dobbs die Schritte und das leise Gemurmel durch den Nebel hörte, war sein Entschluss bereits gefallen. Trotzdem schob er sich vorsichtig noch einmal um die Gebäudeecke. Jetzt erkannte er drei helle Umrisse im Visier seines Nachtsichtgerätes. Ein kleines, oranges, flankiert von zwei großen, dunkelgelben Umrissen – die Hundepatrouille. Langsam zog er sich zurück und deutete auf die Schuppen, die im grünlichen Zwielicht des Nachtsichtgeräts vor ihnen lagen. Er konnte bei den Schuppen keinerlei Lebenszeichen entdecken, also schwang er sich über den niedrigen Zaun. Lavinski folgte seinem Beispiel. Gerade, als die beiden Marines sich im Schatten eines der Schuppen duckten, tauchten aus dem Nebel die beiden Polizisten auf. Dobbs beobachtete sie aus seiner relativ sicheren Position und hoffte, während sein Herz heftig klopfte, dass sie weitergingen und hinter dem Hangar verschwanden. Die beiden Männer rauchten, was Dobbs als kleine, rote Punkte inmitten der dunkelgelben Silhouetten der Männer erkennen konnte. Er verstand nicht, was sie besprachen, doch es schien sich der Stimmlage und dem Ton nach nur um Nebensächlichkeiten zu handeln. Dann sah er die rötlichen Umrisse des Hundes, der sich dem Zaun näherte und dessen Kopf sich unruhig hin und her bewegte.
Er wittert uns, das verdammte Vieh hat irgendwas gerochen!, kam es Dobbs siedend heiß in den Sinn. Er verkrampfte sich und berührte Lavinski, der hinter ihm war und ihren Rücken deckte, an der Schulter. Der Corporal verstand die Berührung richtig und seine Muskeln spannten sich reflexartig, bereit zur Flucht oder zum Kampf, je nach dem, was ihm befohlen wurde.
Der Hund zerrte an der Leine, erkannte Dobbs mit einem zunehmenden Gefühl der Besorgnis. Einer der Männer sagte etwas zu dem Hund, nachdem er das erste Mal richtig heftig gezerrt hatte. Dann gab der Mann dem Drängen des Hundes nach und bewegte sich auf den Zaun zu. Der andere der beiden Polizisten blieb stehen und rührte sich nicht. Dann bellte der Hund laut und Dobbs wich in den Schatten des Schuppens zurück. Während er sich zusammen mit Lavinski so leise wie möglich zurückzog, hörte er das Knarren des Holzzaunes, dessen verwitterte Bretter unter dem Gewicht der Polizisten ächzten.
Verdammter Mist, dachte Dobbs, als er sich hektisch umsah. Seine Gedanken rasten, das Pochen seiner Halsschlagader drückte rhythmisch gegen den engen Kragen seines schwarzen Pullovers. Sie befanden sich inmitten mehrerer baugleicher Schuppen, deren Türen allesamt mit Vorhangschlössern gesichert waren. Das hatte Lavinski bereits überprüft. Ein Verstecken im Inneren der kleinen Gebäude war also von vornherein auszuschließen. Außerdem wollte sich Dobbs nicht in eine ausweglose Situation befördern aus der er sich nur mit Gewalt befreien konnte. Das hieß, die beiden Männer und den Hund zu töten und damit die gesamte Mission scheitern zu lassen. Es half nichts, sie mussten sich weiter zurückziehen und hoffen, dass der Hund ihre Spur verlieren würde. Dann, als er das Gebell des verdammten Köters und das verärgert klingende Rufen der Polizisten schon sehr nah hörte und er jeden Moment mit ihrer Entdeckung rechnete, fiel ihm eine Möglichkeit ein. Durch das Nachtsichtgerät sah er die Lichtstrahlen der Taschenlampen, die wie futuristische Laserwaffen durch den wieder etwas lichter gewordenen Nebel schnitten. Hastig öffnete er einen Reißverschluss vorne in seiner Weste und holte eine kleine, weiße Plastiktüte hervor. Er riss die Tüte auf und warf sie dann etwa zehn Meter in Richtung der verfolgenden Streife. Dann deutete er in seitlicher Richtung auf einen weiteren Schuppen und setzte sich in Bewegung. Das hohe Gras, das nicht gemäht worden war, bevor es teilweise gefroren und dann abgestorben war, behinderte die beiden Marines zusätzlich, da sie Bodenunebenheiten nicht erkennen konnten. Lavinski stürzte beinahe, doch Dobbs bekam ihn gerade noch rechtzeitig am Kragen zu fassen. Mehr stolpernd, als laufend verschwanden die beiden Eindringlinge hinter der angepeilten Baracke.
Washington, D.C.
08.Jänner 2017, 01:35 MEZ
07.Jänner 2017, 19:35 Ortszeit
Das kleine Cafe war gut gefüllt und die Geräuschkulisse dementsprechend. In der etwas stickigen Luft war jeder Tisch belegt und auch an der Bar tummelten sich einige Anwälte, Steuerspezialisten und diverse andere Vertreter der Hochfinanz, die in diesem Teil der Stadt arbeiteten und hier, kurz nach Feierabend noch etwas tranken und ihre Erfolge oder Misserfolge mit anderen, Gleichgesinnten austauschten.
Auch der kleine Tisch ganz hinten in einer gemütlichen, dunklen Ecke war von zwei Männern besetzt. Diese trugen jedoch keine maßgeschneiderten Anzüge, sondern die Uniformen der Navy und der Army. General John Grant tauchte seinen Löffel tief in den dampfenden Teller mit ungarischem Gulasch, während er mit der anderen Hand ein italienisches Weißbrot auf einen kleinen Teller zurücklegte.
„Und du willst nichts essen, Jim?“ fragte Grant den Mann der ihm gegenüber saß und an einem kleinen Bier nippte.
„Nein.“
Grants kurzes Schulterzucken war alles, was er als Reaktion auf Vice Admiral Jim Franklins kurz angebundene Antwort von sich gab.
„Und ich kann nicht verstehen, dass du etwas essen kannst. Wo sich doch genau jetzt, in diesen Minuten alles entscheidet…“ ergänzte Franklin leise.
Grant sah ihn daraufhin erheitert an. Ein kraftvoller Bissen vom wunderbar weichen Brot, das er vorher in die rotbraune Köstlichkeit in seinem Teller getunkt hatte, dann antwortete er seinem alten Freund.
„Ich verstehe dich nicht. Die Meldung heute Morgen, dass Arnold auch in der Maschine sein wird, wenn sie dann zurück fliegt, ist doch das Beste, was ich seit langem gehört habe.“
Franklin nippte an seinem Bier und konnte die gute Laune Grants nicht nachvollziehen. Ein kurzer Blick zur Seite, ob niemand in seine Richtung sah, dann beugte er sich nach vorne und sah Grant an.
„Dass wir den Vorsitzenden General der Vereinigten Stabschefs auch gleich mit aus dem Weg räumen und damit Platz für jemanden machen, der nicht zu einhundert Prozent auf der Linie der verdammten Pazifisten liegt, dass ist tatsächlich eine ausgezeichnete Nachricht. Das ist mir schon klar. Nur,…“ Er verstummte, als eine Kellnerin an ihrem Tisch vorbei ging.
„Nur macht das die Tatsache nicht ungeschehen“ fuhr er wenig später mit bedrohlich tiefer Stimme fort, „dass sich gerade jetzt, in diesen Augenblicken, General Garretts Männer da rum treiben, wo wahrscheinlich eine Million Polizisten auf diesen verdammten James aufpassen.“
Jetzt sah ihn Grant mit offenem Mund an und vergaß, von seinem Ciabatta abzubeißen. Als er sich nach ein paar Augenblicken wieder gefangen hatte, schüttelte er den Kopf.
„Was ist denn mit dir los, Jim? So kenne ich dich gar nicht. Beruhige dich doch um Himmels willen.“
General Grant wischte sich den Mund mit einer der großen, hellblauen Servietten ab, die er dann schwungvoll in den fast leeren Teller schnippte. Franklin sagte währenddessen kein Wort.
„Wir hatten doch von Anfang an geplant, den Zugriff außerhalb der Staaten zu versuchen. Du selber hast das vorgeschlagen. Wegen der erzwungenermaßen geringeren Sicherheitsmaßnahmen, als in Andrews oder auf sonst einem Stützpunkt hier. Und das stimmt auch. Nirgendwo sonst können Grants Männer leichter an die Maschine ran, als genau da, wo sie jetzt, in diesen Augenblicken steht.“
Franklin sah seinen alten Freund skeptisch an, als er ihm antwortete.
„Und wenn wir zuwenig Männer für die Operation vorgesehen haben? Es gibt tausend Dinge, die schief gehen können…“
„..es gehen immer mehrere Sachen schief, Jim. Das weißt du selber doch am besten. Also beruhige dich jetzt und vertrau auf die verdammten Marines.“
General Grant grinste, als er weiterredete.
„Und außerdem gibt es nicht eine Million italienische Polizisten. Ein Million Taschendiebe vielleicht schon eher…“
Jetzt musste auch Franklin lächeln.
„Da könntest du Recht haben, John.“
„Genau. Lass dir eines gesagt sein.“ Der General erhob seinen Finger und zielte damit irgendwo rechts auf die Ordensspange seines Freundes.
„Die verdammten Italiener werden überhaupt nicht merken, was da unter ihrem Hintern abgelaufen ist. Morgen um diese Zeit ist alles erledigt. Aus und vorbei.“
Eine energische Handbewegung Grants verstärkte seine Meinung zu diesem Thema.
„Und unser geliebter General Arnold wird auch gleich miterledigt“ sagte Franklin leise, um danach seinem Freund tief in die Augen zu sehen. Er sagte nichts weiter, doch er wusste, dass Grant ihn verstanden hatte.
„Ja, und sein Posten wird dann frei werden…“
Beide Männer nickten gleichzeitig, bis ein von Vorfreude gezeichnetes Lächeln auf Grants Gesicht erschien.
Und jemand würde ihm dann auf seinem Posten nachfolgen. Jemand, der die Dinge in die Hand zu nehmen verstand und der wusste, worauf es in einer Krise ankam, wusste, was das Land brauchte, wenn es bedroht wurde. Grant war dieser Mann, daran konnte für ihn kein Zweifel bestehen. Und Franklin wusste dies auch.
Einem Stabschef, der deutlich klarmachte, dass es den verdammten Kameltreibern gelungen war, den mächtigsten Mann der Welt in seinem eigenen Flugzeug zehntausend Meter über dem Atlantik in die Luft zu sprengen, diesem Stabschef würde es auch mühelos gelingen, die idiotischen Abrüstungspläne der schon bald nicht mehr amtierenden Regierung in Vergessenheit geraten zu lassen. Dieser neue starke Mann im Hintergrund würde den nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten mühelos dazu bringen, wieder mehr Stärke zu zeigen.
Und Stärke zeigte man nun schon seit Jahrtausenden mithilfe seiner Streitkräfte.
Seiner gesamten Streitkräfte.
Seiner gesamten, voll besetzten und gut ausgestatteten Armee.
Grant würde der Mann sein, der die Army, die Navy, die Marines und die Air Force wieder zu alter Stärke und Leistungsfähigkeit verhelfen würde. Amerika würde wieder stark und unschlagbar werden.
Die Zeiten der Depression innerhalb der dienenden Männer und Frauen würden endgültig in Vergessenheit geraten und einer neuen, besseren Zukunft weichen.
Und Grant würde dafür sorgen, ansonsten sollte ihn der Teufel holen, das stand für ihn fest.
Leonardo da Vinci Flughafen - Fiumicino, Rom
08. Jänner 2017
01:38 MEZ
Luigi Bernasconi verstaute sein kleines Handfunkgerät wieder in seinem Anorak, nachdem er über das Ansprechen des Hundes an den Posten im Inneren des Terminals Meldung gemacht hatte. Er versprach seinem Vorgesetzten, sich gleich wieder zu melden, wenn er wusste, was der Hund da entdeckt hatte. Eine Verstärkung hielt er vorerst nicht für nötig, doch seine Dienstwaffe, eine Beretta, hatte er trotzdem gezogen.
Er folgte seinem Partner, der Pinto, so hieß der deutsche Schäferhund, an der Leine führte. Eigentlich führte in diesem Moment eher Pinto seinen Partner, so zerrte er ihn durch das hohe Gras.
„Soll ich ihn von der Leine lassen, Luigi?“ fragte Hilfsstreifenposten Renato Moreno.
Bernasconi überlegte kurz, bevor er antwortete. Dann nickte er.
„Lass ihn los. Aber pass auf, dass er sich nicht zu weit von uns entfernt.“
Als die Leine die unbändige Kraft des Hundes nicht mehr einschränkte, preschte Pinto wie aus der Pistole geschossen davon. Mit großen Sätzen hüpfte er durch das Gras und verschwand hinter der Ecke des Schuppens. Im grellen Schein seiner großen Taschenlampe konnte Bernasconi nichts Auffälliges entdecken, als er dem Hund einige Sekunden später folgte. Pinto preschte unsicher von einer Stelle zur anderen, dabei die empfindliche Nase immer am feuchtkalten Boden. Dann stockte er plötzlich, hob seine Nase in die Luft und schnupperte heftig. Wie ferngesteuert bewegte er sich durch das Gestrüpp, bis er schließlich abrupt stehen blieb und hastig ins tiefe Gras schnappte. Der Hund verharrte, seine Aufgeregtheit schien irgendwie unterbrochen. Bernasconi kam kurz nach Moreno bei Pinto an. Dieser hatte seinen Diensthund bereits wieder an die Leine gelegt, nachdem er gemerkt hatte, warum Pinto die Verfolgung abgebrochen hatte. Moreno drehte sich mit viel sagendem Gesichtsausdruck zu seinem Vorgesetzten um und hielt ihm ein weißes Stück Plastikfolie hin.
Bernasconi sah zuerst auf Pinto, der sich genüsslich das Maul schleckte, dann auf das Stück Folie, das Renato ihm gegeben hatte. Er las die Aufschrift und schüttelte den Kopf. Dann hob er sein Funkgerät.
„War wohl falscher Alarm. Wir setzen unsere Runde fort.“
Damit drehte er sich um und stapfte in Richtung Zaun davon. Renato Moreno tätschelte Pintos Kopf und lächelte milde. „Du bist mir aber einer, Pinto.“ Dann folgte er seinem Chef.
01:42
Corporal Lavinski war selten so erleichtert gewesen, wie jetzt, als er die Streifenpolizisten abdrehen sah. Offenbar hatte der Hund den Köder gefunden, den Dobbs ihm hingeworfen hatte. Als die Streife nicht mehr zu sehen war, verharrten die beiden Männer noch für weitere fünf Minuten und warteten ab. Dann, als Dobbs das Zeichen zum Aufbruch gab, fragte ihn Lavinski: „Mann, Sarge, was hast du dem Köter da zu fressen gegeben?“
Dobbs drehte sich zu Lavinski um, als er antwortete.
„Ticos Salsa-Salami-Häppchen. Der verdammte Köter wird heute nichts anderes mehr riechen, schätze ich.“ Das Grinsen Sergeant Dobbs konnte man wegen der schwarzen Kapuze nicht sehen. Wozu doch so ein Energiesnack alles gut sein konnte, dachte er kopfschüttelnd.
02:15
Jetzt sah er sie das erste Mal direkt vor sich, zumindest einen Teil. Sergeant Dobbs presste seinen riesigen Körper auf den kalten, harten Boden und lugte durch das Nachtsichtgerät. Vor sich konnte er von links nach rechts die Terminals A, B und C erkennen, die matt erleuchtet waren. Dann fiel sein Blick auf den gläsernen Verbindungsgang, der das Satellitenterminal West mit Terminal C verband. Und hinter diesem Satellitenterminal konnte er das riesige, weiß lackierte Leitwerk der Air Force One erkennen, das vorne einen hellblauen Streifen aufwies. Unter dem blau-weiß-roten Sternenbanner konnte er die Zahl 28000 lesen, die offizielle Kennnummer des Flugzeuges. Die zweite, baugleiche Maschine mit der Nummer 29000 stand wohl gerade in Andrews, doch diese Maschine interessierte Dobbs herzlich wenig.
„Sie steht genau da, wo sie sollte“ flüsterte er zufrieden und war froh, dass die Italiener das Flugzeug auf den vorgesehenen Stellplatz manövriert hatten.
Er sah sich um. Vor sich, etwa dreißig Meter entfernt querte einer der kreisförmig angeordneten Runways des Flughafens das gefrorene Gras. Nur etwa alle dreißig Meter befanden sich schwache Blinkleuchten, die den Jets die Begrenzung der asphaltierten Fläche markierten. Jetzt, kurz nach zwei Uhr morgens landeten fast keine Flugzeuge mehr, was das Überqueren des Runways zwar wesentlich einfacher, aber immer noch nicht wirklich einfach machte. Schließlich galt es mit schwerem Gepäck an die hundert Meter Asphalt zu übersprinten, ohne entdeckt zu werden. Zumindest mussten sie nicht die Landebahn überqueren, wo die Maschinen aus dem inzwischen wieder dichter gewordenen Nebel ohne Vorwarnung auftauchten.
„O.K. Lavinski, du zuerst“ befahl Dobbs. Lavinski nickte, erhob sich und sprintete los. Dobbs sah ihm nach, wie er rasch über den Runway sprintete und sich danach etwa dreißig Meter abseits des Asphalts wieder ins Gras warf. Dobbs konnte ihn nur mehr sehr schwach erkennen, trotz Nachtsicht und Infrarot. Dann atmete er noch einmal tief durch, bevor er seine Armmuskeln anspannte und sich hoch wuchtete. Das Gewicht auf seinen Schultern machte ihm jetzt schon einigermaßen zu schaffen. Doch lange würde er es nicht mehr tragen müssen. Hoffentlich. Noch einmal atmete er tief durch, dann marschierte er los. Laufen konnte er nicht, dazu war die Last zu schwer. Es kam ihm ewig vor, die andere Seite des Runways schien nicht näher zu kommen. Pausenlos hörte er irgendwelche Flugzeuge, die landeten und entlang des Runways auf ihn zukamen. Ein paar Mal sah er sich bereits entdeckt, überrollt, vom Jetblast weggefegt. Doch nichts geschah und er erreichte unversehrt die andere Seite. Als er sich neben Lavinski auf die Knie niederließ, hatte dieser bereits einen winzigen Palmtop-PC in seinen Händen, dessen bläuliches Display im Dunkel der Nacht schimmerte. Das Gerät war mit einem GPS-Empfänger ausgerüstet, der Positionsangaben auf einen halben Meter genau bestimmen konnte.
„Wir müssen da lang“ flüsterte Lavinski und deutete über Dobbs Schulter in Richtung Terminal B. „Etwa hundertfünfzig Meter. Dann müssten wir direkt auf dem Deckel stehen.“
Dobbs nickte und folgte dem Corporal schweigend.
Drei Minuten später hatte Lavinski den etwa achtzig mal achtzig Zentimeter großen Gusseisendeckel im kurz gemähten Gras zwischen den Runways entdeckt. Kniend untersuchte er kurz, ob sich Sicherungen oder ein Alarmsystem am Deckel befand, das ausschlagen würde, sobald man ihn hochhob. Dazu steckte er ein Glasfaserkabel mit einem an der Spitze montierten Kameraauge durch eine der etwa zwei Zentimeter breiten Lüftungslöcher, die rundherum am Deckelrand waren. Das andere Ende des Kabels hatte er bereits mit seinem Minicomputer verbunden. Während der Corporal langsam und gewissenhaft das Innere hinter dem Deckel nach Fallen und Alarmsystemen untersuchte, beobachtete Dobbs angespannt das riesige Flugfeld um sie herum. Er konnte nicht viel erkennen, da der Nebel wieder dichter geworden war, nachdem er im Laufe der Nacht bereits unzählige Male aufgezogen war, um sich dann wieder aufs Meer zurück zu ziehen. Momentan waren sie vor einer zufälligen Entdeckung relativ sicher, doch wohl fühlte sich Dobbs trotzdem nicht.
Der Flugverkehr war wegen des Nebels anscheinend eingestellt worden, denn schon seit einiger Zeit hatte sich nichts mehr am Himmel über Fiumicino getan. Dobbs war das nur recht, es bedeutete nämlich eine Sorge weniger.
„OK, Sarge, scheint kein Problem zu sein“, flüsterte Lavinski, verstaute die kleine Kamera und den Kabel und zauberte stattdessen einen eleganten, schwarzen Spitzhammer aus seiner Weste hervor. Er hakte die Spitze des Hammers in eine Lüftungsöffnung des Deckels und zog heftig daran. Der Deckel rührte sich nicht, auch als es Lavinski noch einmal versuchte. Schulterzuckend sah er den viel stärkeren Dobbs an.
„Ist bestimmt zugefroren. Klopf mal die Ränder ab“ befahl Dobbs. Lavinski nickte und machte sich daran, auf das kalte, rostige Eisen des Deckels zu hämmern. Jeder Hammerschlag erklang unglaublich laut durch die Nacht und Dobbs hatte das beklemmende Gefühl, als ob die Schläge bis zum Vatikan zu hören waren. Nachdem Lavinski ein paar Mal geklopft hatte, stoppte Dobbs ihn mit einer herrischen Geste und bedeutete ihm, noch einmal zu versuchen, den Deckel anzuheben.
Diesmal löste sich der Deckel knirschend, wobei einiger Schmutz und Humusteile in die Tiefe des Schachts fielen. Lavinski zerrte den Deckel zur Seite und spähte in die pechschwarze Finsternis hinunter. Er konnte nichts erkennen und sah deshalb Dobbs an.
„Na los, runter mit dir“, sagte dieser nur. Dann hörte er das Kreischen von großen Flugzeugturbinen ein paar hundert Meter entfernt und erstarrte augenblicklich. Der Flugbetrieb ging offenbar munter weiter, trotz des Nebels. Die Beleuchtung entlang des Runways flammte auf, sodass Dobbs, der kniete, einen langen Schatten auf den grauen Boden warf. Selten zuvor hatte er sich so schutzlos gefühlt, wie in diesem Augenblick. Er hämmerte Lavinski auf die Schulter und trieb ihn damit zum schnellen Abstieg durch die Öffnung an. Lavinski stöhnte unter dem Hieb seines Sergeants auf und schwang die Beine in den Schacht. Fast augenblicklich fanden seine Stiefel halt an feuchten, rutschigen Steigbügeln, und er verschwand in der Tiefe. Dobbs sah sich nervös um. Hinter sich, durch die Nebelschwaden konnte er bereits ganz schwach rote und weiße Lichter erkennen, die abwechselnd blinkten. Das Dröhnen der Triebwerke wurde langsam und gleichmäßig lauter, die Maschine kam direkt auf ihn zu. Hastig schnallte er seinen schweren Rucksack ab und wuchtete ihn über die Öffnung. Inzwischen war Lavinski unten angekommen und machte sich für das Auffangen des Rucksackes bereit. Er selber hatte mitsamt seinem eigenen Rucksack durch die Öffnung klettern können, da seine Schultern und sein Brustkorb im Vergleich zu Dobbs eher lächerlich wirkten. Hier hatte sich das aber nicht unbedingt als Nachteil erwiesen. Außerdem war Lavinskis Rucksack wesentlich leichter und vom Umfang her deshalb bei weitem nicht so aufgebläht. Oben sah Lavinski Dobbs Umrisse, dann schob sich der Rucksack über die Öffnung.
„Alles klar!“ rief Lavinski, dann raubte ihm der Aufprall des Rucksacks den Atem und er fiel nach hinten um, ins kalte, etwa zehn Zentimeter hoch stehende Wasser am Boden des Kanals. Während er sich fluchend wieder aufrichtete, hörte er Dobbs sich stöhnend durch die Öffnung zwängen. Lavinski sah nach oben und erkannte in den wenigen freien Stellen, die durch Dobbs massigen Körper nicht verdeckt wurden, dass es draußen ungewöhnlich hell war. Und das Kreischen der Turbinen konnte man auch hier unten nur schwer überhören. Nicht das erste Mal in dieser Nacht hatte er die Befürchtung, dass ihr Vorhaben irgendwie nicht klappen konnte.
02:29
Dobbs konnte nicht glauben, dass er festsaß. Vor sich, keine fünfzig Meter entfernt sah er bereits die Fahrgestellbeleuchtung und die riesigen Zwillingsreifen vorne am Bug des Flugzeuges. Die Positionsleuchten an den Flügeln blinkten grell und rhythmisch, die Landescheinwerfer erhellten sowohl den Runway, als auch weite Teile der bewachsenen Flächen zwischen den Asphaltkanten. Und damit auch Dobbs.
Er hatte sein Nachtsichtgerät bereits hochgeschoben, da es wegen der Scheinwerfer nicht mehr funktionierte und ihn nur blendete. Irgendwo hatte sich seine Weste an dem beschissenen Rahmen des Deckels verhakt. Er stemmte sich wieder hoch, doch seine Weste rührte sich nicht. Langsam empfand Dobbs so etwas wie beginnende Panik. Er fühlte sich wie auf dem Präsentierteller, und die verdammte Maschine war jetzt schon fast bei ihm. Das Dröhnen der Triebwerke war ohrenbetäubend. Wieder spannte Dobbs seine Muskeln an und stemmte sich nach oben. Da riss ein Teil seiner dreifach genähten Weste und er war frei. Fast augenblicklich ließ er sich in die Tiefe gleiten. Sekundenbruchteile später erfasste der linke Landescheinwerfer des Airbus den Deckel, der neben der Öffnung im Gras lag. Doch der Pilot konnte im ohnehin holprigen Gelände zwischen den Runways und im niedrigen Streiflicht, das alle Schatten vervielfachte und monströs aufblähte, nichts Verdächtiges entdecken. Außerdem rechnete er nicht mit einem zwei Meter großen US Marine, der sich unerlaubterweise in einen Kabelschacht zwängte.
Als das Flugzeug vorbeigerollt war, schob sich noch einmal ein dicker Unterarm aus der Tiefe, schnappte sich den Deckel und zog ihn in einem Ruck auf den Rahmen. Das schwere Gusseisen rastete in seiner Verankerung ein. Dobbs und Lavinski waren von der Oberfläche verschwunden und näherten sich ihrem Ziel nun unterirdisch.
02:37
„Alles klar, Sarge. Wir sind da!“ flüsterte Lavinski, als er mit seiner Taschenlampe die Wände des Kabelschachtes beleuchtete. Dann knipste er seine Lampe aus, sodass nur mehr das bläuliche Schimmern des Displays seines Palmtops die modrigen, schier endlosen Gänge unterhalb des Flughafens erhellte. Das kleine Gerät hatte die beiden Männer zielsicher bis hierher, nahe an das Satellitenterminal West gebracht. Sie befanden sich im verzweigten Kabelschachtnetz, dass die einzelnen Bereich des Flugplatzes mit Strom, Wasser und vielen, dicken Datenleitungen versorgte. Die Schächte waren etwa einen Meter Achtzig hoch und damit für Wartungsarbeiten ausgelegt. Wahrscheinlich für diese mickrigen Italiener, dachte Dobbs schlechtgelaunt, der die ganze Strecke im trüben, kalten Wasser fast kniend zurücklegen hatte müssen.