Dann erschien eine dunkle Maske vor seinem Gesicht und er roch den Atem eines starken Rauchers. Die Augen starrten ihn einige Sekunden lang an, dann sah Bremner am Rand seines Blickfeldes etwas Helles aufblitzen.

„Du hast doch nicht etwa ernsthaft geglaubt, dass wir dich so einfach aussteigen lassen, oder?“, war das letzte, das er hörte, bevor der kalte Stahl eines Ka-Bar Kampfmessers durch den dünnen Stoff seiner Jacke in seinen Rücken eindrang, mit einem schmatzenden Geräusch Muskeln und Fleisch durchschnitt, schließlich sein Herz zielsicher traf und es beinahe perfekt in der Mitte durchtrennte.

Colonel Ed Bremner starb lautlos mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen.

 

 

Die Eishöhlen, Ötztal

10.Jänner 2017

06:30 Ortszeit

 

Er sah die beiden grünen Punkte in der Dunkelheit auf sich zu schweben. Sie bewegten sich rhythmisch von oben nach unten und von links nach rechts. Sie kamen immer näher doch er reagierte nicht. Jetzt erkannte er, dass es die reflektierenden Linsen eines Nachtsichtgerätes waren. Dann sah er noch ein grünes Augenpaar und noch eines. Eine ganze Schar, und alle bewegten sich schwebend, hüpfend auf ihn zu. Er konnte sich immer noch nicht rühren, er war wie gelähmt.

Dann sah er die Waffe im Dunkel aufblitzen. Mündungsfeuer direkt vor ihm, neben ihm, seitlich oben und dann von überall. Er wurde getroffen, einmal, dann noch einmal, dann immer und immer wieder. Sein Körper schüttelte sich durch und bäumte sich auf, als die Kugeln ihn trafen. Eine nach der anderen traf ihr Ziel, fetzte Haut und Fleisch aus den Wunden, Blut spritzte und besudelte sein Gesicht, das merkwürdigerweise unversehrt blieb.

Dann hörten die Schüsse auf und etwas anderes erschien vor seinem Gesicht. Er roch es schon, bevor er es sah. Eine kleine gelbliche Hand mit dreckigen schwarzen Fingernägeln schwebte durch das Dunkel, geheimnisvoll erleuchtet von einem sanften warmen Licht. Die Hand hielt ein Messer, ein großes Buschmesser, eine Machete. Dann erschien eine zweite Hand, bei der ein Finger fehlte. Diese Hand führte ein Skalpell, von dessen rasiermesserscharfer Klinge Blut tropfte. Er konnte das Blut riechen, ihm wurde übel.

Von hinten, aus dem Nebel dämmerte ein vager Umriss nach vorne. Es war ein Gesicht mit kleinen verengten Augen und schmutzigen Wangen. Die schmal zusammengepressten Lippen grinsten ihn an. Das Gesicht kam näher und er versuchte zurück zu weichen doch er war immer noch wie gelähmt und paralysiert. Er starrte in die hässliche Visage, sah das Grinsen und die Machete, als die Klinge des Skalpells auf ihn nieder raste, um ihn aufzuschlitzen. Er hörte das dreckige Lachen, als der brennend heiße Stahl seine Brust traf und warmes, dunkles Blut aus der Schnittwunde quoll. Er schrie vor Schmerzen auf, Sterne explodierten vor seinen Augen und alles verschwamm zu einem rötlichen Schimmern.

 

Steven Crowe schreckte schwer atmend hoch und weckte dabei Nina Williams, die in seinen Armen geschlafen hatte. Er schwitzte trotz der Kälte am ganzen Körper, sein Herz raste und seine Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an. Nina murmelte irgendwelche nicht zusammen passende Worte, als Crowe panisch seine Brust abtastete, um die Wunde zu finden und die Blutung zu stillen. Hektisch fuhren seine Hände über die Muskulatur seiner Brust, dann über Bauch und Hals.

Es gab keine Wunde, es gab keine Messer, keine Gesichter, die im Dunklen vor ihm schwebten. Es gab nur ihn, die Dunkelheit und seine tief verborgenen Ängste, die regelmäßig aus ihren Verließen ausbrachen, in die er sie weg gesperrt hatte.

“Was ist los?”, zischte General Arnold aus der kleinen Kaverne hinter Crowe, in der er sich zusammen mit dem Präsidenten befand. Crowes Schrei war wohl echt gewesen und hatte den General aufgeweckt

Verdammt, er war auf Wache eingeschlafen. Wie hatte das passieren können? Er hatte sich selber und alle, die ihm sein Leben anvertraut hatten, in Gefahr gebracht. Diese Tatsache, dass er schändlich versagt hatte, wurde ihm immer deutlicher klar, als er die letzten Schleier des Schlafes und des Alptraumes zu vertreiben versuchte.

“Alles in Ordnung, Sir”, murmelte er, dann wachte Nina wirklich auf.

Sie schreckte hoch, sah sich panisch nach allen Seiten hin um und entdeckte dann Bergers Gesicht im Schein der Taschenlampe, mit der der Präsident aus der kleinen Höhle den Gang hinunter leuchtete.

“Machen Sie das verdammte Licht aus, sie Volltrottel!“, zischte Crowe wütend. “Sofort!”

Es dauerte aber noch mindestens weitere fünf Sekunden, bis Marvin James den Schalter auf der Lampe fand und es wieder dunkel wurde. Crowe stand langsam auf und half Nina, ebenfalls auf die Beine zu kommen. Die verdammte Kette des verdammten Koffers rasselte, dann stand sie aufrecht. Ihr Kopf befand sich ganz nahe an seinem Gesicht, als sie an ihm vorbei huschte, zurück in die kleine Höhle.

“Danke”, flüsterte sie nur und ihre Hand berührte kurz die seine. Dann war sie weg von ihm und mit ihr war auch die Wärme verschwunden, die ihn die letzten Stunden umgeben hatte, als er hier mit ihr gesessen hatte. Stattdessen wirkte nun das dunkle Eis um ihn herum noch kälter, noch abstoßender, als zuvor.

Er blieb noch einen Moment stehen, dann bückte er sich schließlich und sammelte die MP, das Nachtsichtgerät und das Headset vom Boden auf. Er stöpselte sich die Kopfhörer ein und bog das Mikrophon zurecht. Das Nachtsichtgerät hielt er noch in seinen kalten Händen, als er die Stimmen im Kopfhörer hörte und erstarrte.

Es waren Befehle, im Flüsterton gesprochen. Die Green Berets waren aufgebrochen, waren auf der Jagd. Und sie klangen wütend, entschlossen, gnadenlos. Dann klickte es im Headset und es war plötzlich totenstill. Crowe tippte seine Kopfhörer an, einmal, zweimal, ein drittes Mal, doch es war immer noch still. Hastig riss er sich den Metallbügel vom Kopf und sah die kleine grüne Leuchtdiode hell strahlen. Die Batterien waren also noch in Ordnung, stellte er fest. Er stöpselte sich einen der Kopfhörer wieder ins Ohr, doch er konnte immer noch nichts hören. Totenstille ummantelte ihn und gab der aufkeimenden Angst in seinem Inneren neuen Nährboden.

Sie hatten die Kommunikation eingestellt. Er konnte nicht mehr mithören, was vor sich ging.

Sie kamen, um sie zu töten und Crowe war eingeschlafen.

Er fluchte und hastete zurück zur kleinen Höhle, in der die anderen auf ihn warteten.

“Sofort alles zusammenpacken”, befahl er barsch. “Wir müssen auf der Stelle aufbrechen.”

“Was ist los, Crowe?”, fragte General Arnold. “Was ist da draußen passiert, was war das für ein Schrei und warum haben wir solange geschlafen?” Sein Tonfall war kühl und ärgerlich, er wusste, dass Crowe eingeschlafen war.

“Die Special Forces sind bereits auf dem Weg zu uns, Sir. Keine Ahnung, wie viel Vorsprung wir noch haben, aber wir müssen so schnell wie möglich weg hier.”

Er sah nach oben, den Stollen entlang, der tiefer ins Eis führte. Er konnte noch kein Tageslicht erkennen, doch draußen dämmerte es vermutlich schon.

“Dann sollten wir gehen”, sagte General Arnold.

“Und zwar sofort.”

 

Crowe übernahm die Führung, suchte den Weg mit seinem Nachtsichtgerät und versuchte sich daran zu erinnern, wohin sie mussten. Er war nur ein einziges Mal hier drinnen gewesen. Der Bergführer, mit dem er hier die Führung gemacht hatte, hatte ihm ein zackiges Loch jenseits der Absperrungen gezeigt und seine Frage beantwortet, woher dieses Loch stammte. Jenseits des begehbaren Pfades, hinter Eisschollen, Spalten und Eiszapfen verborgen lag das alte Silberbergwerk, in dem im Mittelalter wenig erfolgreich eine Handvoll Silber und etwas Bergkristall abgebaut worden war. Beim Graben der Stollen waren die Bergmänner etwas zu tief in den Berg eingedrungen und hatten die Gletscherhöhlen erreicht. Dieses Loch, das er gesehen hatte, stellte die Verbindung zwischen Eishöhlen und Bergwerk dar.

Und genau dahin führte er die kleine Gruppe jetzt.

Er fluchte leise und verwünschte sich selber wegen seines schweren Fehlers. Hoffentlich würden sie nicht wegen seiner Dummheit dran glauben müssen. Das hätten der General und Nina nicht verdient. Bei sich selber und dem Präsidenten sah er die Sache anders.

Besonders beim Präsidenten war er ganz entschieden anderer Meinung.

 

Sölden, Tirol, Österreich

10.Jänner 2017

06:30 Ortszeit

 

Die Männer standen vor dem rot gestrichenen gemeinsamen Gebäude der Einsatzkräfte in Sölden und sahen mit zugekniffenen Augen in den dämmrigen Himmel. Dicke Schneeflocken fielen pausenlos und stellten die Räumungsmannschaften vor große Probleme. Überall lagen die Schneemassen, die sich während der Nacht angesammelt hatten und blockierten Ausfahrten, Gehsteige und Parkplätze. Ein stetig eisiger Wind wehte vom Gletscher herunter und trieb die dicken Flocken vor sich her.

Der Postenkommandant der Polizei, der Bürgermeister der Gemeinde Sölden, der Obmann der Bergrettung, der Chef der Bergbahnen und der Feuerwehrkommandant standen im Kreis und berieten  lautstark über die Situation. Der Landeshauptmann hatte sein Kommen für Vormittag angekündigt und aus Wien sollte auch jemand kommen, vermutlich gegen Mittag. Die ganze Pressemeute hatte sich bereits eingefunden und blockierte mit ihren Übertragungswägen zusätzlich die Räumungsarbeiten. Der Hilferuf aus den Bergen war also an das breite Licht der Öffentlichkeit gelangt.

Beamte der Polizei waren bereits dabei, die Vans der Fernsehteams auf einen abgesperrten Bereich des Parkplatzes der Seilbahn umzuleiten, während immer neue Fahrzeuge mit den verräterischen Antennen auf den Dächern eintrafen.

Die Lawinenkommission hatte die Warnstufe Fünf verhängt, die höchst mögliche. Die schweren Schneefälle hatten bereits zu mehreren kleinen Abgängen geführt und es würde wahrscheinlich nicht mehr lange dauern, bis größere Lawinen abgingen. Es war weiters nicht sicher, wie lange die Bundesstraße noch offen gehalten werden konnte, da es mehrere gefährliche Stellen im Tal gab, auf denen Lawinen die Straße erreichen konnten.

Der Wetterbericht für heute verhieß außerdem keine Besserung. Das mächtige Italientief hatte sich über dem Golf von Genua fest gesetzt und schaufelte massenweise feuchte Luft in die Alpen. Dort traf sie sich mit eisig kalten Luftmassen aus dem Osten Europas und die Folge war Schnee, Schnee und noch viel mehr Schnee. Das Zentrum der Niederschläge lag dabei über Osttirol und Kärnten, doch Nordtirol und Südtirol waren kaum begünstigt. Der Bürgermeister, ein knapp sechzigjähriger Einheimischer konnte sich an keine so starken Schneefälle erinnern, nicht in all den Jahren, die er bereits hier lebte.

Während immer mehr Menschen eintrafen, Journalisten, Rettungskräfte und Neugierige, trafen die Männer eine Entscheidung.

Es würde vorerst keinen Rettungseinsatz für den amerikanischen Präsidenten geben. Nicht mit den Möglichkeiten, die ihnen momentan zur Verfügung standen.  Über das weitere Vorgehen sollten sich höhere Stellen die Köpfe zerbrechen, vereinbarten sie.

Dann wurde telefoniert.

 

 

Die Eishöhlen, Ötztal

10.Jänner 2017

06:47 Ortszeit

 

Major Benjamin Hart wusste, dass sie auf der richtigen Spur waren, als er das verbogene Headset aufhob, das der Mann offensichtlich weggeworfen hatte, als sie den Funkverkehr eingestellt hatten.

Er führte sein Dreimannteam persönlich an, nur der Corporal mit seinem mit frischen Akkus versehenen Notebook war am Höhleneingang zurückgeblieben und blockierte diesen mit seinem M4. Der Corporal lag in guter Deckung und hatte freies Schussfeld auf den Eingang. Dort würde also mit Sicherheit keiner lebend rauskommen.

Der Hubschrauber und seine Crew befanden sich unter einer Tarnplane neben dem kleinen See und warteten geduldig auf Harts Rückkehr. Die beiden Piloten machten sich ungefähr alle zwei Stunden daran, den schweren Schnee von der Plane abzuschaufeln, da diese sonst zu zerreißen drohte. Neben der Stealth-Maschine, im kalten Schnee, mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, lagen die Leichen von Ken Wade, Sergeant Major Huff, Specialist Sevits, und, vor einer halben Stunde neu dazugekommen, der frisch verstorbene Sergeant Tellis, dessen Körper noch lauwarm war.

Der Pilot der Maschine, ein Chief Warrant Officer des 16th Special Operations Command der US Air Force, sah mies gelaunt auf die Toten hinüber, die er später in seinem Laderaum noch zu verstauen hatte. Er hatte gewusst, dass es Tote zu bergen geben würde, hätte aber nicht gedacht, dass dreiviertel davon Green Berets sein würden. Aber genauso sah es momentan aus. Er schnippte seine zu Ende gerauchte Zigarette in den Schnee und machte sich daran, einen mitgebrachten Mars-Riegel zu verspeisen. Der Copilot griff nach dem kleinen grünen Feldspaten und begann erneut, die Plane vom Schnee zu befreien.

 

Major Hart ließ das Headset in einer seiner Hosentaschen verschwinden und führte die Gruppe weiter. Es waren nun schon Geländekonturen innerhalb der dunklen Höhlen zu erkennen, auch ohne Nachtsichtgerät. Die Morgendämmerung schritt weiter vorwärts und in einer halben Stunde würde es im Freien taghell und hier in den Höhlen vermutlich hell genug sein. Vielleicht hatten sie bis dahin bereits Kontakt hergestellt, hoffte er.

Es war Zeit, diese Sache zu Ende zu bringen, und er würde es beenden. Lautlos schlichen die drei Männer weiter durchs kalte Eis des Gletschers.

 

07:05

 

Crowe hielt sich an dem für die Touristen ins Eis geschlagene Tau fest, als er Commander Nina Williams den großen Absatz hoch half, den es für die Gruppe zu überwinden gab. Das dicke Tau war für ihn Indiz dafür, dass er nach wie vor auf dem richtigen Weg war. Er konnte sich erinnern, dass die Stelle, an der man die Verbindung zum Bergwerk sehen konnte, ebenfalls mit solchen Tauen abgesichert gewesen war. Er war sich nicht sicher, doch er glaubte, dass sie es nicht mehr weit hatten. Es war wieder eine kleine Spur heller in den Höhlen geworden, was jedoch nicht bedeutete, dass man viel sehen konnte. Es war nur ein silberner Hauch eines Dämmerns, das von oben die Höhlen benetzte, nur sehr wenig Licht, doch besser als gar nichts.

Dann schlich Crowe um die Biegung des Stollens, dem sie gefolgt waren und befand sich plötzlich in einer großen Höhle. Er hörte Wasser fließen und dachte sofort an Trinkwasser, das sie alle dringend brauchten. Er sah sich um und entdeckte riesige Eiszapfen, die von der in der beginnenden Dämmerung bereits schwach leuchtenden Decke meterweit in die Tiefe hingen. Manche trafen sich unten schon wieder mit nach oben wachsenden Eisspeeren, die aus den Schmelzwassertropfen der hängenden Eiszapfen entstanden waren, und bildeten somit säulenartige Gebilde, die scheinbar die Decke stützten.

In dieser Höhle war es nun deutlich heller, als in den Stollen, die sie überwunden hatten, da durch eine Gletscherspalte Licht einfiel. Crowe entdeckte auch die Schneeflocken, die durch die Öffnung eindrangen und friedlich bis auf den gefrorenen Boden der Höhle nieder fielen. Die ganze Decke, so erkannte er jetzt, war zerklüftet und von Spalten durchzogen. Überall fiel Schnee in kleinen Mengen in den Hohlraum, aus manchen tropfte Wasser in die Tiefe.

 

Und dann sah er den befestigten Weg und die dicken Taue, die ihn links und rechts abgrenzten. Und am anderen Ende der Höhle konnte er ganz schwach das Trümmerfeld aus Eisschollen erkennen, von dem der Bergführer ihm im Sommer erzählt hatte. Der Eingang zum Bergwerk musste da hinten irgendwo sein, wusste er. Sie mussten ihn jetzt nur mehr finden und, das war der weit schwierigere Teil, in einem Stück das Eisfeld überwinden.

Er drehte sich zu den staunenden Menschen um, die hinter ihm standen und erklärte ihnen, was er vor hatte. Dann zog er sein Taschenmesser und sie machten sich an die Arbeit.

 

07:15

 

Steven Crowe balancierte über eine schräg im Trümmerfeld liegende Eisscholle, hatte dabei seine Arme stabilisierend ausgestreckt, und versuchte nicht auszurutschen. Um seine Taille war ein dickes Tau gewickelt, das er aus den Abgrenzungen und Steighilfen, die an den Wänden und Absturzkanten montiert gewesen waren, zusammengeknotet hatte. Das Seil, das er nun hinter sich herzog, war an einem der zahlreichen Eispfeiler befestigt, der zweite Aufhängpunkt des Taus lag noch vor ihm.

Crowe kam zum Rand der Scholle, blickte hinauf auf die Kante eines großen Eisblockes, der direkt vor ihm lag und schätzte die Höhe ab. Er hauchte sich in die Hände, ging in die Knie und federte ab. Er fand Halt und ließ sich kurz baumeln, testete die Sicherheit seines Haltes aus. Dann spannte er seine von einem täglichen Training mit weit über hundert Klimmzügen gestählten Oberarmmuskeln und zog sich mühelos in die Höhe. Er griff weiter nach vorne, belastete seine Bauchmuskeln und schwang ein Bein auf die Oberseite des Eisblockes. Er fand keinen Halt, rutschte ab und musste es ein zweites Mal versuchen. Dieses Mal verhakte sich sein zu kleiner, aus der mittlerweile zusammengebrochenen Schutzhütte entliehener Stiefel in einer kleinen Rille und er konnte sich ganz hoch ziehen.

Crowe stand auf und ging vier Schritte nach vorne. Er befand sich erneut an einer Kante und sah in eine Gletscherspalte, die etwa drei Meter breit und verdammt tief war. Crowe sah den Grund der Spalte nicht, also hielt er es für keine besonders gute Idee, hier jetzt abzustürzen. Deshalb überprüfte er, ob das Tau an seiner Hüfte genügend Spiel hatte, bevor er sprang.

Er trat zurück, atmete tief ein und aus und sprintete dann los. Crowe katapultierte sich kräftig in die Höhe und segelte mit rudernden Armen durch die kalte Luft. Dann berührten seine Fußsohlen die rutschige Oberfläche auf der gegenüber liegenden Seite, glitten unter ihm weg und er landete unsanft auf seinem Hintern. Crowe verzog das Gesicht und versuchte den stechenden Schmerz, der sich aus seinen Lendenwirbeln meldete, zu ignorieren. Stattdessen stand er auf und winkte hinüber zu den anderen, die seine Kletterpartie besorgt verfolgt hatten.

Crowe überwand einen weiteren niedrigen Eisblock, der anscheinend von der Decke herab gestürzt war, watete einige Schritte durch pulvrigen Schnee und räumte zerbrochene Eiszapfen zur Seite. Dann sah er die ausgefransten Ränder des großen Loches in der Wand und schlüpfte hindurch in die Dunkelheit.

Er befand sich nun im alten Bergwerk.

 

 

Delaware Water Gap, New York

10.Jänner 2017

01:20 Ortszeit

 

Das große Naherholungsgebiet nur wenige Kilometer westlich von New York City liegt direkt an der Interstate 80 und ist von der großen Metropole aus recht bequem und rasch zu erreichen. Der Water Gap, durch den der Delaware River fließt und dabei die Staaten Pennsylvania und New Jersey trennt, bis er schließlich in der Delaware Bay in den Atlantik mündet, dient den erholungssuchenden Großstädtern als Picknickplatz, Wandergebiet, Angelplatz und Campingziel.

Die Insassen des dunkelgrauen Vans mit Washingtoner Kennzeichen, der über einen Forstweg bis tief in den Gap vorgedrungen war, hatten ganz andere Pläne, als sich zu erholen. Der Wagen stoppte an einem kleinen, aber tiefen See und zwei dunkel gekleidete Männer stiegen aus. Die hinteren Klapptüren des Vans öffneten sich und die Männer holten zwei Sporttaschen heraus. Die Taschen waren schwer, sodass jeder der Männer nur eine Tasche trug. Einer der beiden Männer bleib am Ufer des Sees bei den beiden Taschen, während der zweite ein kleines Plastikpaket aus dem Van holte und es dem zweiten Mann übergab. Das Plastikpaket war ein komprimiertes Schlauchboot, welches durch Aktivierung eines Pressluftzylinders in Sekundenschnelle aufgeblasen werden konnte. Während das Boot sich zischend auseinander faltete, kehrte einer der Männer zum Van zurück und holte einige Metallscheiben, es waren alte Hantelgewichte, die er ebenfalls zum Ufer beförderte.

Schließlich wurde das Schlauchboot auf den See geschoben, der teilweise zugefroren war, dies aber nur an den Stellen, die tagsüber von der Sonne nicht erreicht werden konnten. An den Stellen, wo der kleine Bach in den See mündete und ihn schließlich wieder verließ, war ebenfalls kein Eis. Beide Taschen und die Eisengewichte wurden auf das Boot geladen, welches dann in der mondlosen Schwärze der Nacht über die spiegelglatte Oberfläche des klaren Seewassers glitt, angetrieben durch gleichmäßige Ruderschläge des größeren der beiden Männer. Nach wenigen Minuten war die Mitte des Sees erreicht und das Rudern wurde eingestellt. Die Männer öffneten die beiden Taschen, in denen sich weitere dicht verschlossene Plastiksäcke mit den sterblichen Überresten Colonel Ed Bremners befanden, und luden die schweren Hantelscheiben ins Innere der robusten Nylontaschen. Beide Männer ignorierten das eklige Geräusch, verursacht durch den schweren Stahl, als dieser auf den rot verschmierten Plastikbeuteln zu liegen kam. Beide Männer hatten so viel Blut und Tod in ihrem Leben gesehen, dass sie diese weitere, wenn auch zugegebenermaßen nicht besonders appetitlich zugerichtete Leiche nicht weiter aufregte.

Die erste Tasche wurde wieder verschlossen und verschwand mit einem leisen Plumpsen im schwarzen Spiegel der Wasseroberfläche, wo sie dann rasch in die Tiefe sank. Es folgte die zweite Tasche, um sich ebenfalls auf diese ungefähr fünfzig Meter tiefe letzte Reise zu machen, bevor sie auf dem schlammigen Untergrund aufschlagen sollte.

„Ruhe in Frieden, du verräterischer Drecksack“, brummte Major General Cliff Garrett oben im Boot. Vice Admiral Jim Franklin sagte nichts, als er die Ruder packte und das Boot zurück zum Ufer dirigierte. Seine Gedanken waren bereits wieder tausende Meilen weiter östlich und betrafen einen weiteren Drecksack, den es erst noch umzubringen galt. Doch diesen Job durften andere Männer ausführen. Hoffentlich würden sie ihren Einsatz ebenso erfolgreich abschließen, wie es den beiden hohen Offizieren heute Nacht gelungen war, als sie sich der Schlange in ihrem Nest entledigt hatten.

Franklin war nicht ganz glücklich über die letzte Meldung, die er von General Grant erhalten hatte. Offensichtlich lief der Einsatz nicht ganz so rund, wie sich Grant das vorgestellt hatte. Aber der General hatte ihn beruhigt.

Der Junge macht das schon für uns Jim, hatte er gesagt. Er braucht nur noch ein bisschen Zeit. Geben wir sie ihm einfach und warten ab

Franklin wäre es lieber gewesen, die Sache hätte heute Nacht ein Ende gefunden, doch er konnte von hier aus ohnehin nichts mehr ändern. Also dachte er nicht mehr länger über den Einsatz in Österreich nach und passte auf, dass das kleine Boot mit den beiden schweren Männern nicht kenterte. Mit kräftigen Zügen schaufelte er das Paddel durch das kalte, schwarze Wasser und entfernte sich immer mehr von der letzten Ruhestätte des leider sehr unzuverlässigen Colonel Bremner. 

Sie erreichten das Ufer, hievten das Schlauchboot an Land und ließen die Luft entweichen. Danach packten sie es zusammen und verstauten es hinten im Wagen.

Der dunkle Van verließ den kleinen See und hinterließ dabei Autospuren, die jedoch als eine untere vielen, niemanden näher interessieren sollten. Keine halbe Stunde später waren auch die Koffer des Colonels entsorgt. Alle persönlichen Gegenstände Bremners hatte Franklin bereits zuvor an sich genommen. Diese Dinge zu verbrennen, hatte er sich persönlich vorgenommen.

Colonel Ed Bremner hatte aufgehört zu existieren.

 

Die Eishöhlen, Ötztal

10.Jänner 2017

07:23 Ortszeit

 

President Marvin James hatte schreckliche Angst, doch er dachte nicht daran, dies zu zeigen. Nicht vor dem General, nicht vor der Offizierin und erst recht nicht vor diesem arroganten Idioten, auf dessen Hilfe sie wohl angewiesen waren. Und außerdem war ihm kalt.

Er sah hoch zu dem Tau, das über das Eisfeld gespannt war, das dieser Typ durchklettert hatte. Das Seil war an der anderen Seite irgendwo im Inneren dieses dunklen Lochs befestigt worden, durch das sie von hier fliehen sollten. So war der tolle Plan dieses Mannes, ah ja, Crowe nannte er sich nun, und nun lag es an ihm selber, dieses dämliche Seil zu besteigen und sich ebenso über den Abgrund zu hangeln, wie es die Offizierin mit dem Koffer direkt vor seinen Augen vor kaum einer halben Minute vorgemacht hatte. Marvin James schämte sich nicht dafür, dass er sie vorgeschickt hatte. Sollte sie das Seil doch testen, nicht er.

Nun, da er gesehen hatte, das es hielt, fasste er nach oben und packte das feuchte, muffige Seil.

“Nur Mut, Sir, Sie schaffen das”, munterte ihn General Arnold auf. Marvin James würde aber nicht vergessen, wie der General heute mit ihm geredet hatte. Dieser Ton und die Dinge, die er zu James gesagt hatte, waren sein direkter Fahrschein in den Ruhestand, dachte der Präsident, der nun seine Beine ebenfalls über das Seil zu legen versuchte. Keiner redete in so einem Ton mit ihm. Das ließ er sich nicht gefallen.

Er zog sich hoch und hing wie ein alter Orang Utan am Seil. Er fühlte bereits, wie ihn die Kräfte verließen, bevor er nur einen einzigen Meter zurückgelegt hatte. Doch dann fielen ihm die Soldaten ein, die sie verfolgten und die es anscheinend auf ihn abgesehen hatten und er riss sich zusammen. Vorsichtig ließ er eine Hand los und fasste nach vorne. Er ergriff das Tau erneut und zog sich weiter. Er war überrascht, da es ihm einigermaßen leicht fiel, und so wuchs seine Zuversicht, doch noch das andere Ende zu erreichen. Wieder griff er nach vorne und zog sich weiter. Es klappte reibungslos und der Präsident vergaß für einen Moment die Gefahr, in der er sich befand. Er rutschte Meter für Meter weiter und näherte sich der anderen Seite, auf der Crowe und die hübsche Offizierin bereits auf ihn warteten. Nicht mehr weit, dachte Marvin James, dann bin ich in Sicherheit.

Er lächelte, stolz auf seine Kraft, als er die letzten Meter in Angriff nahm.

 

07:28

 

Major Benjamin Hart hob etwas vom Boden auf und betrachtete es von allen Seiten. Die Berets befanden sich in einem nach oben führenden schmalen Stollen, der teilweise recht hohe Sprünge im Boden aufwies, die es zu überwinden galt. Weiter oben schien es etwas heller zu sein, dachte der Major, der dämmriges Licht vom Ende des Stollens einfallen sah.

Er betrachtete den Gegenstand und stellte fest, dass es sich um einen Knoten eines dicken Seils handelte, den man offenbar vom Seil selber abgetrennt hatte. Er besah sich die Schnittstelle und entdeckte, dass sie frisch war. Ein helles Grau im sonst modrigen Dunkelgrün des Knotens.

Dann sah er die leeren Halterungen an der Wand des Ganges und dachte nach. Das in diesen Halterungen führende Seil war nicht mehr da und dem Knoten in seiner Hand zu urteilen, war es gerade erst entfernt worden.

Was hatte diese Bande jetzt schon wieder vor? Er hatte eindeutig die Schnauze voll und keine Lust mehr auf weitere Spielchen.

Der Major hob seinen M4 Karabiner und packte den Hartplastikgriff fester, als er seinen Männer deutete, schneller vor zu rücken. Er warf den Knoten zur Seite und näherte sich der Biegung des Stollens.

Seine Beute war ganz in der Nähe, das spürte er.

Bald würde er zuschlagen.

 

Steven Crowe hätte am liebsten ein Lasso nach dem schlaffen Drecksack ausgeworfen und ihn selber rüber gezogen. Seit James sich ans Seil gehängt hatte, kroch er in einem Schneckentempo vorwärts und war dabei höchstens halb so schnell, wie Nina, die aber zusätzlich den Koffer hatte tragen müssen. Und warum grinste dieser Idiot, fragte er sich.

Dabei war es Crowe gelungen, in dem alten Bergwerksstollen einen hölzernen Stützpfeiler zu finden, an dem er das Tau befestigt hatte. Zusätzlich hatte er es geschafft, das Seil so zu spannen, das man von der Höhle leicht abwärts zum Eingang des Bergwerkes rutschen konnte. Es war also wirklich keine besondere Herausforderung, die knapp zwanzig Meter an diesem Seil hängend zu überwinden. Nina hatte es ja auch in einer akzeptablen Zeit geschafft, doch dieser Marvin James raubte ihm seine Geduld.

Dann war der Politiker endlich in Reichweite und Crowe packte ihn grob am Oberarm, um ihn auf den festen Boden zu ziehen. James protestierte kurz, dann landeten seine Schuhe auf dem Eis und er konnte das Seil loslassen. Crowe ignorierte den zornigen Blick, mit dem der Präsident ihn bedachte und sah stattdessen hinüber zu General Arnold, der bereits am Seil hing und sich nach vorne zog.

Hinter sich hörte Crowe ein Fluchen und als er sich umdrehte, sah er teilnahmslos zu, wie sich President James auf dem Bauch liegend wiederfand, nachdem er offenbar gestürzt oder ausgerutscht war.

Vielleicht hatte er sich ja die Nase gebrochen oder zumindest ein paar Zähne ausgeschlagen, dachte Crowe. Als er sah, wie der Präsident wieder aufstand, die Hand vor dem Gesicht und Blut am Kinn, lächelte er.

Na also.

Dann sah er wieder hinüber zum General, der bereits den Großteil der Wegstrecke hinter sich gebracht hatte und sein Lächeln erstarb augenblicklich.

Drüben, am Eingang der Höhle sah er die Green Berets.

Dann brach die Hölle über sie herein.

 

07:30

 

Major Hart betrat als erster die große, hellere Höhle, dicht gefolgt von Staff Sergeant Joseph Stark. Als letzter erschien Master Sergeant Clifford Osborne, wütend, mordgierig und mit pochenden Schmerzen in seiner verbrannten Brust.

Major Hart war auch der erste, der die Flüchtigen entdeckte. Ein kurzes Handzeichen von ihm, und auch die beiden Sergeants wussten, wo sich die Ziele befanden. Hart hob seinen M4-Karabiner, presste den Kolben gegen die Schulter und sah durch das kreisrunde Okular des optischen Visiers.

Der kleine rote Punkt wanderte ruhig auf sein Ziel zu. Benjamin Hart ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen und atmete dann nicht mehr ein. So hatte er es gelernt und so lag die Waffe ruhig in seinen Armen. Der rote Punkt wanderte ins Zentrum seines Ziels und verharrte. Hart krümmte den Zeigefinger der rechten Hand am Abzug. Er spürte den leichten Widerstand, kurz bevor der Schuss sich löste. Ein letzter Blick durch das Visier, dann krümmte er den Finger noch einen Millimeter weiter.

Er spürte den Rückstoß der eleganten Waffe an seiner Schulter, als das Projektil den gezogenen Lauf verließ, um Millisekunden später sein Ziel mit tödlicher Wucht zu treffen.

 

“Schneller, Mann, sie schießen auf uns!”, brüllte Steven Crowe und streckte dem General seinen Arm entgegen.

“Los, Sie schaffen das!”. Crowe konnte ihn beinahe erreichen, keine eineinhalb Meter mehr. General Will Arnold wuchtete sich erneut kräftig vorwärts und packte in einer tollkühnen Bewegung seines Körpers die ausgestreckte Hand Crowes. Dieser zog mit aller Kraft und riss den General förmlich vom Seil zu sich herunter. Er fing den älteren Mann auf und drehte sich zur Seite, um zum Durchgang zu laufen.

Ein Ruck durchfuhr den General und er knallte gegen Crowe, wodurch sie beide zu Boden gingen und auf dem harten Eis landeten. Crowe hörte den General aufstöhnen, als dieser auf ihm landete. Rasch packte er Arnold und wälzte ihn von sich herunter. Er rollte sich zur Seite und sah in das Gesicht des alten Soldaten, das gleichermaßen überrascht und von unsagbarem Schmerz gepeinigt schien.

Um Crowe herum schlugen Kugeln in das Eis und den Fels ein. Eisbrocken und Gesteinssplitter fetzten durch die Luft und regneten auf die beiden liegenden Männer nieder, die sich durch den Sturz nicht mehr in direkter Schusslinie der Green Berets befanden. Doch das würde nicht mehr lange so bleiben, wusste Crowe. Ihm blieben höchstens ein paar Sekunden, um hier weg zu kommen und den Bergwerksstollen zu erreichen, bis die Special Forces einen besseren Schusswinkel erreicht hatten und sie aufs Korn nehmen konnten.

Crowe wusste natürlich, dass es General Will Arnold erwischt hatte. Er konnte nur nicht sagen, wie schwer die Verwundung war. Das musste er hinten im Bergwerk herausfinden. Nun galt es als erstes, sich in vorübergehende Sicherheit zu bringen.

Crowe packte den General unter den Armen und zog ihn nach hinten. Steven blieb dabei ebenfalls liegen, was ihn zwar weiterhin aus der Schusslinie hielt, wodurch er aber auch langsamer vorankam. Er ging den Kompromiss ein, da er wusste, welch gut ausgebildete Schützen die Green Berets waren. Er würde ihnen nur ungern eine Zielscheibe bieten wollen. Mühsam kämpfte er sich vorwärts, verlor immer wieder den Halt, als seine Sohlen keinen Widerstand fanden, und abrutschten. Er sah nach hinten, konnte bereits den Durchgang sehen, als direkt neben ihm eine Kugel ins Eis einschlug. Sein Blick fuhr wieder nach vorne und er wusste, dass er es nicht schaffen würde, als er die Berets oben am befestigten Touristenweg auftauchen sah.

Da packte ihn jemand an den Schultern und zog ihn nach hinten. Crowe stieß sich unterstützend ab und fiel nach hinten in die Dunkelheit. Weitere Projektile schlugen durch den Durchgang fliegend in die harten Granitwände ein und surrten als wütende Querschläger weiter. Crowe wand sich unter dem General heraus und sah nach hinten. Was er sah, erstaunte ihn, wunderte ihn aber nicht besonders.

Lieutenant Commander Nina Williams hatte ihm gerade das Leben gerettet.

Er sagte nichts, beließ es bei einem kurzen Blickkontakt, den sie aber problemlos verstand. Crowe sprang auf, schrie ihr “ziehen Sie ihn ein Stück weiter den Gang runter” zu, wobei er auf den General zeigte, und hastete hinüber zu dem angefaulten Deckenstützbalken, an dem das dicke Tau befestigt war. Während weitere Kugeln um ihn herum einschlugen und Steinsplitter in die staubige Luft wirbelten, zückte er das Taschenmesser und klappte das große Messer heraus. Wuchtig bearbeitete er das Tau, bis es schließlich riss und durch das Loch in der Wand nach draußen verschwand.

Er duckte sich erneut und hechtete am Durchgang vorbei, wobei erneut Kugeln die Felswände trafen. Crowe stolperte über ein verfaultes, altes Holzbrett und stürzte beinahe hin, fing sich aber im letzten Moment. Dann holte er Nina ein, die den stöhnenden General den Stollen entlang zog. Er bedeutete ihr, Arnold zu Boden zu lassen, dann glitt er zu dem alten Soldaten hinunter.

Arnolds Miene war schmerzverzerrt, sein bleiches Gesicht schwitzte und er atmete schwer. Crowe hatte ein beschissenes Gefühl, als er Arnolds Oberkörper anhob und nach der Schusswunde suchte. Er fand sie fast sofort, mitten im Rücken, vielleicht dreißig Zentimeter unterhalb der Schultern. Crowe ließ ihn vorsichtig wieder in eine liegende Position gleiten und verbiss sich den Fluch, den er auf den Lippen trug. Stattdessen lächelte er den General an.

“Halb so schlimm, Sir”, sagte er, als Arnold plötzlich und mit unerwarteter Kraft seine Hand ergriff.

“Red keinen Scheiß, Crowe”, hustete Arnold, “die Drecksäcke haben mich erledigt.”

“Nein, Sir”, entgegnete Nina, die neben Crowe in die Hocke gegangen war. “Niemanden haben Sie erledigt, das wird alles wieder...”

“Seien Sie still!”, befahl Arnold barsch.

“Die Kugel hat mein Rückgrat getroffen, ich kann meine Beine nicht mehr spüren.”

Nina sog erschrocken die Luft ein und schüttelte den Kopf, während Crowe so was bereits vermutet hatte, als er die Wunde am Rücken gesehen hatte.

“Geben Sie mir die verdammte Waffe, Crowe, und bringen Sie mich hier in Stellung”, brummte Arnold, dann hustete er. Ein dünnes Rinnsal aus Blut und Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel.

“Vergessen Sie’s!”, konterte Crowe. “Ich marschiere hier nicht ohne Sie raus, Sir!”

General Arnold drückte Crowes Hand noch fester zusammen und sah ihn böse an.

“Sie haben gegen die da draußen keine Chance, Junge! Wie viel Schuss sind noch in dem Magazin? Zwanzig vielleicht?”

Crowe dachte kurz nach und kam zur Überzeugung, dass Arnold recht hatte. Er hatte wirklich keine Chance. Nicht alleine gegen drei, mit so wenig Munition. Doch das würde er niemals zugeben. Er nickte.

“So in etwa, ja.”

“Geben Sie mir die MP und legen Sie mich hier auf die Lauer. Wird bestimmt ein paar Minuten dauern, bis die das Eisfeld ohne das Seil überquert haben. Ich werde auf die Typen warten und einen, vielleicht zwei mitnehmen, bevor sie mich endgültig erledigen können.”

Die Art und Weise, in der Arnold sprach, wie er von seinem eigenen Tod als Nebensächlichkeit redete, sagten Crowe, dass Arnold mit diesem Leben bereits abgeschlossen hatte. Er sah die Schmerzen in seinem Gesicht, vermutete, dass er schwerste innere Blutungen haben musste und glaubte ebenfalls an diese schwere Verletzung der Wirbelsäule. Es konnte noch Stunden dauern, bis Hilfe eintraf und dann noch mal einige Zeit bis er in ein Krankenhaus gebracht werden konnte. Die Chancen, dass General Arnold mit dem Leben hier davonkommen würde waren gleich Null. Vom logischen Standpunkt musste er dem General daher recht geben. Von der menschlichen Seite her betrachtet allerdings...

“Machen Sie schon, Crowe!”, forderte Arnold ihn auf. Jedes Wort schien ihm dabei schwer zu fallen.

“Ich verschaffe Ihnen etwas Zeit und gleiche die zahlenmäßige Ungerechtigkeit etwas aus. Und Sie bringen den Präsidenten und den Lieutenant Commander hier raus.”

Crowe sah ihn wortlos an, kämpfte mit den Stimmen in seinem Inneren.

“Das ist ein Befehl, First Sergeant Crowe. Geben Sie mir die Waffe und verschwinden Sie endlich!”, fauchte Arnold.

“Sie können mir nichts befehlen, Sir”, antwortete Crowe und griff nach der MP5. “Ich bin kein Soldat mehr.”

“Doch, Crowe, das sind sie”, antwortete Arnold. “ Männer wie Sie werden immer Soldat sein. Und das wissen Sie verdammt noch mal auch selber. Nun geben Sie mir das Scheißding.”

Crowe starrte den alten General aus wütenden Augen lange an. Dann knurrte er irgendeinen Fluch auf tirolerisch, den niemand verstand und streckte seine Hand aus.

Er gab ihm die MP5.

 

Zusammen mit Nina bettete er den General hinter einem herab gefallenen Holzbalken, von wo aus er ein gutes Schussfeld hatte und selber nur sehr schwer zu sehen und zu treffen sein würde. Sie hüllten ihn in die letzte Decke ein, die sie noch hatten. So würde er nicht frieren und auch seine Wärmeabstrahlung wäre geringer. Unsichtbar wäre er nicht, doch das war ohne weitere Vorbereitungszeit einfach nicht machbar.

Der Präsident beobachtete das ganze Treiben wortlos von weiter hinten im Gang. Seine Nase blutete noch immer und sein Kreuz tat ihm höllisch weh. Außerdem konnte er seine Arme kaum mehr anheben, ein brutaler Muskelkater machte sie bereits bei ihm bemerkbar. Was redeten die da hinten eigentlich, fragte er sich. Sah so aus, als ob General Arnold verwundet war. Das wäre verdammtes Pech, dachte der Präsident. Aber besser es erwischte einen anderen, als ihn selber. Er war sich schließlich selbst am nächsten und wenn das Schicksal ihn verschonen und den alten General niederstrecken wollte, dann würde James sich nicht dagegen wehren. Er wartete ungeduldig in der kalten, muffigen Steinhöhle und betastete vorsichtig seine Nase.

 

Crowe bückte sich ein letztes Mal und ergriff die ihm entgegen gestreckte Hand des Generals. Nina tat es ihm gleich und ignorierte die Tränen, die ihr über die Wange liefen.

“Viel Glück, Sir!”, wünschte ihm Crowe mit belegter Stimme. “Und danke!”, ergänzte Nina, “für alles.”

“Los, verschwindet”, keuchte der General, dem die Schmerzen und der Blutverlust zu schaffen machten. Sie hatten außerdem keinen Platz für diese Sentimentalitäten. Die Zeit war verdammt knapp.

“Geht jetzt und bringt den Präsidenten in Sicherheit”, befahl er, dann hustete er kraftlos. Crowe, der lieber den Präsidenten hier zurück gelassen hätte, statt den General, erhob sich, da er wusste, dass die Berets vermutlich nicht mehr lange auf sich warten ließen.

“Machen Sie sie fertig, Sir!”, flüsterte Crowe und ließ die Hand des Generals los.

“Worauf ihr euch verlassen könnt!”

Dann wandten sie sich ab, marschierten zum Präsidenten und ließen den General alleine zurück.

“Los, James!”, befahl Crowe, der aus lauter Zorn darüber, dass ein weiterer guter Mann für diesen Präsidenten sterben würde, James am liebsten alle Zähne ausgeschlagen hätte. Stattdessen packte er ihn grob am Oberarm und stieß ihn vorwärts, sodass er sein blutiges Taschentuch fallen ließ.

“Und halten Sie bloß Ihr verdammtes Maul, sonst schlag ich Ihnen den Schädel ein”, erstickte er den Protest, der James auf der Zunge zu liegen schien.

Crowe war wütend, doch er war sich seiner Verantwortung durchaus bewusst. Er würde die beiden Menschen, die hinter ihm hergingen und ihm folgten, hier raus bringen. Lebend, unverletzt. Und diejenigen, die das zu verhindern gedachten, sollten ihn mal kennen lernen.

Crowe dachte an den General, der allein, tödlich verwundet und mit starken Schmerzen auf die Berets wartete, und sein Leben für sie geben würde. Er sah sich noch mal um, erblickte die zusammengesunkene Gestalt, die auf ihre Verfolger wartete. Er musste ihn hier allein lassen, ohne Verstärkung und ohne Aussicht auf den Sieg und das Leben.

Und das machte ihn wütend. Verdammt wütend.

Und wenn First Sergeant Steven Crowe wütend war, dann war er gefährlich.

 

07:37

 

Major Benjamin Hart erreichte die Stelle, an der der Präsident und seine Fluchthelfer verschwunden waren. Sein Puls war ruhig, das Adrenalin, das in seinem Körper zirkulierte, schärfte Augen und Gehör. Er hielt seine Waffe fest umklammert und visierte das Loch im Eis an, durch das die anderen vor ein paar Minuten verschwunden waren. Alle fünf bis sieben Sekunden feuerte nun einer der beiden anderen Berets, die sich ein paar Meter weiter entfernt befanden, einzelne Schüsse auf den Durchgang ab, um eventuell auf der Lauer liegende Angreifer in Deckung zu halten.

Alle drei Berets hatten das Eisfeld so rasch als möglich überquert und sich dabei gegenseitig Feuerschutz gegeben. Nun, da sie nur mehr wenige Meter von dem Durchgang entfernt waren, mussten sie sich quälend langsam vorwärts bewegen, um zu vermeiden, in eine Falle zu tappen. Dieser Crowe, von dem der Secret Service Mann gesprochen hatte, hatte sich als ausgewiesener Plagegeist erwiesen, der sie gleich zweimal auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Ein drittes Mal durfte es einfach nicht geben.

Während nun nur mehr Master Sergeant Osborne die Öffnung mit einzelnen Schüssen aufs Korn nahm, gab Hart dem anderen Beret, Staff Sergeant Stark ein Zeichen, und sie schlichen gemeinsam auf die Öffnung zu. Der Major erreichte den blanken Fels als erster und presste sich mit dem Rücken gegen das Gestein, direkt neben dem Loch. Stark ging auf der anderen Seite in Stellung, dann verharrten sie kurz auf ihren Positionen.

Im Inneren des Felsstollens war es wieder dunkel, sah Hart. Nur der Bereich unmittelbar hinter dem Eingang war von der Eishöhle aus erhellt. Nun stellte sich dem Major aber ein Problem. Wenn er ohne das Nachtsichtgerät um die Ecke spähte, würde er wahrscheinlich in der Dunkelheit nichts erkennen. Setzte er sich das Nachtsichtgerät hier im Hellen auf, würde die Anpassung des Gerätes an die Dunkelheit im Stollen wahrscheinlich zu lange dauern und er konnte eventuelle Schützen erst mit einer gefährlichen Verzögerung entdecken. Er entschied sich daher für eine dritte Variante, die er Stark mittels Zeichensprache mitteilte. Er hatte vor, den Gegner, sollte er noch da sein, zu überraschen, zu irritieren und diese Überraschung dann seinerseits auszunützen. Er tippte auf sein Nachtsichtgerät und klappte es herunter. Der Sergeant verstand, nickte und löste eine Blendgranate von seinem Gürtel. Dann schob er ebenfalls sein Nachtsichtgerät wieder in Position und wartete. Die teuren Geräte schraubten die Empfindlichkeit ihrer Linsen herunter und passten sich somit an die relative Helligkeit in der Eishöhle an. Es würde ein paar Sekunden dauern, bis sie im Dunkel des Stollens etwas sehen würden, doch auch der Gegner würde ein paar Sekunden orientierungslos sein. Die Chancen standen also nicht schlecht, entschied Hart.

Er erhob die Hand und streckte fünf Finger aus. Stark sah den lautlosen Countdown und machte sich bereit. Er zog den Sicherungsbolzen und wartete, während Hart herunterzählte. Dann war der letzte Finger verschwunden und Stark warf die Granate ins Dunkel. Beide Männer wussten, was nun passieren würde und stellten sich sprungbereit neben dem Durchgang auf. Osborne war nun ebenfalls bei den beiden angelangt, setzte sein Nachtsichtgerät auf und schickte sich an, ihnen in das Dunkel zu folgen. Als sie dann den lauten Knall hörten, sprinteten sie los.

 

General Will Arnold hatte an drei Kriegen und mehreren militärischen Einsätzen teilgenommen, von denen manche nur sehr wenigen Personen und der Weltöffentlichkeit überhaupt nicht bekannt waren. Er war im ersten Golfkrieg gegen die Republikanischen Garden Saddam Husseins angetreten, hatte diese Erfahrung dann viele Jahre später, jedoch bereits mit Sternen am Hemdkragen wiederholt und hatte den militärischen Oberbefehl der Alliierten zu Beginn des Iranfeldzuges inne gehabt. Er hatte viel erlebt und gesehen in seinem vom Dienst am Vaterland gezeichneten Leben, in dem die meisten anderen Dinge, darunter alles Private und Persönliche, stets zurück gestellt werden mussten.

Er hatte mit eigener Hand Menschen getötet, hatte seine Waffe auf Soldaten und Terroristen abgefeuert, hatte aber auch Zivilisten unter seinem Feuer sterben sehen. Er war nicht auf alles stolz, was er getan hatte. Er hatte Fehler begangen und falsche Entscheidungen getroffen. Doch die Entscheidung, die er vor wenigen Minuten getroffen hatte, und die sein Leben in ein paar Minuten mit großer Sicherheit beenden würde, war ihm überraschend leicht gefallen.

Weil sie die einzig richtige Entscheidung gewesen war.

Der Viersternegeneral wusste, dass er sterben würde. Er wusste, dass es schon bald so weit sein würde, auch ohne weitere Kugeln, die ihn trafen. Die eine, die ihn erwischt hatte, würde genügen. Es war für ihn deshalb selbstverständlich, dass er zurückblieb.

Er lag seltsam friedlich hinter diesem Holzbalken, eingehüllt in eine der muffigen, feuchten Decken und beobachtete die Steinsplitter, die die Kugeln aus der Wand schlugen, die draußen das Vorrücken der Special Forces sichern sollten. Er kannte das Vorgehen dieser Einheiten und hatte sich auf das Prozedere vorbereitet. Er wusste auch, was in wenigen Sekunden passieren würde, als er die kleine Granate durch die Öffnung fliegen sah. General Arnold dachte an seine Frau, die er nie wieder sehen würde und schloss die Augen, um nicht geblendet zu werden. Er spürte die Kälte, die von seinem Rückgrat ausgehend seinen Körper einhüllte und hoffte, betete, dass ihm noch ein oder zwei Minuten Kraft blieben.

Das musste reichen.

 

Die Green Berets hielten Abstand von den kalten Wänden des Stollens, und hasteten wenige Meter vorwärts. Dabei suchten sie unentwegt nach verräterischen Zeichen für einen Hinterhalt, fanden jedoch nichts. Die Geräte hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit angepasst und zeigten ein klares Bild, ohne erkennbare Zielpersonen. Auch das Infrarotspektrum blieb unauffällig.

Der Boden war mit Gesteinsbrocken und verfaultem Holz übersäht, an einigen Stellen waren Teile der Decke heruntergebrochen. Hart sah eine alte Schaufel, die keinen Stiel mehr hatte und verlangsamte sein Tempo nun etwas. Nur mehr langsam schlichen sie weiter, als er einigermaßen sicher war, dass niemand auf sie lauerte. Voll angespannt und bereit, auf jedes auftauchende Ziel innerhalb von Sekundenbruchteile das Feuer zu eröffnen, schlich er weiter.

 

Jetzt konnte er sie sehen. General Arnold zählte zwei, nein drei Männer, die den Stollen herunterkamen und dabei die Schutthäufen und die herunter gefallenen Balken geschickt als Deckung benutzten. Er sah die grün schimmernden Linsen ihrer Nachtsichtgeräte und wusste, dass er nur mehr wenige Sekunden dauern konnte, bis sie ihn auch sahen. Er hob die MP5 und legte auf sein Ziel an.

Nur noch ein paar Meter, dachte er.

Los, kommt näher.

 

Benjamin Hart sah, dass Osborne direkt neben ihm war. Er blickte kurz über seine Schulter und entdeckte Stark, der seitlich hinter ihm war. Dann sah er wieder nach vorne, um plötzlich stehen zu bleiben. Irgendwas sah er dort vorne an der linken Seite des Stollens.

Dann, er ging noch einen Meter weiter, erkannte er den Umriss eines Kopfes, der halb von einem Holzbalken verborgen war.

“Kontakt”, brüllte er, dann sah er Mündungsfeuer und erste Kugeln flogen ihm entgegen. Beinahe gleichzeitig feuerte er zurück.

 

07:43

 

Steven Crowe hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befanden und wohin ihn der Weg führen würde, den er eingeschlagen hatte. Er wusste nur eines: Dass sie sich aus dem Staub machen mussten, wenn sie eine reelle Chance haben wollten, lebend aus dieser Sache aussteigen zu können.

Im Schein seiner Taschenlampe, die leider erste Anzeichen von zur Neige gehender Batterieladung zeigte, sah der Stollen gespenstisch, kalt und unheimlich aus. Überall tropfte Wasser von den gewölbten, aus dem Granit gehauenen und gesprengten Decken, um dann am Boden zu tückischen Eisflächen zu gefrieren, auf denen man leicht den Halt verlieren konnte. Reste von morschem Holz alter Deckenstützbalken fanden sich alle paar Meter und Schutthäufen aus wertlosem Gesteinsmaterial behinderten ihr Vorwärtskommen. Es war feucht, kalt und muffig.

Nina und der Präsident husteten bereits ab und zu und auch Crowe spürte ein leichtes Kratzen im Rachen, ein untrügliches Zeichen dafür, das eine Erkältung im Anmarsch war. Doch Crowe glaubte nicht, das ihn eine eventuelle Krankheit behindern würde. Dieser Kampf wäre lange entschieden, bevor sich die Bakterien in seinem Körper durchsetzen konnten. Und das, so hoffte Crowe, zu ihren Gunsten.

Er führte die Gruppe instinktiv und folgte dabei der einzigen Orientierung, über die er hier im Dunkel des Bergwerks verfügte: Er folgte dem Luftzug, den er bereits oben beim Durchgang in die Eishöhle gespürt hatte und der nun, alle paar Minuten etwas zulegte und dann wieder abklang. Sein Weg führte ihn nach unten und er hoffte, dass er ihn aus diesem Labyrinth ins Freie führen würde.

Da hörte er die Schüsse ein gutes Stück hinter ihnen und blieb wie angewurzelt stehen. Er lauschte dem Echo, das das kurze Feuergefecht in den dutzenden Stollen verursachte und sah zu den anderen beiden, die direkt hinter ihm standen.

“Jetzt sind wir ganz alleine”, sagte Crowe.

 

Major Benjamin Hart betastete seine linke Gesichtshälfte, die sich taub anfühlte. Doch die Taubheit legte sich bereits langsam und er spürte die ersten Vorboten der Schmerzen, die ihm noch bevorstanden. Er fluchte, als er seine blutverschmierte Hand im Licht der Taschenlampe Staff Sergeant Starks betrachtete. Er fuhr sich wieder an die Schläfe und tastete sich weiter nach hinten, dann nach unten. Und dann wusste er, wo es ihn erwischt hatte.

Sein linkes Ohr, war nicht mehr da. Nur ein blutiger Fleischfetzen hing noch da, wo vorher sein ohnehin bereits durch Schrapnelle beleidigtes Ohr gewesen war. Stark besah sich die Wunde kurz, entdeckte außerdem einen zerfransten Schnitt in der Wange des Majors, dort wie ihn die Kugel gestreift hatte um dann beinahe das ganze Ohr zu zerfetzen und irgendwo hinter dem Offizier in den Fels einzuschlagen.

Dann sah Stark nach Osborne, der reglos am Boden lag, während der Major die Leiche vor seinen Füßen genauer untersuchte.

Der verdammte Mistkerl hätte ihn beinahe erwischt, dachte Hart. Ein paar Zentimeter weiter rechts, und sein Gehirn befände sich jetzt ein Stück weiter hinten, verteilt auf den nassen, modrigen Felswänden. Er beleuchtete das blutverschmierte Gesicht des Mannes, der sie aus dem Hinterhalt angegriffen hatte und den erst Harts zweite Feuersalve erledigt hatte. Verdammter Mist, fluchte Hart, der beim ersten Mal zu tief geschossen und nur den Holzbalken zerfetzt hatte. Sein zweiter Feuerstoß hatte dann den Mann in Schulter und Gesicht getroffen, sah er jetzt, und ihn wohl augenblicklich getötet. Er erkannte die Uniform der US Army trotz all dem Blut, das auf dem Stoff klebte und konnte die vier silbernen Sterne am Kragen des Generals sehen. Verdammt, er hatte General Will Arnold erschossen. Er kannte ihn, hatte ihn gekannt. Er hatte ihn mal auf einem Ball der Army getroffen und vielleicht zwei, drei Worte mit ihm gewechselt. Das war keine zwei Jahre hergewesen. Und jetzt hatte er ihm sein halbes Gesicht weg geschossen.

Verdammtes Pech, flüsterte er leise. Doch dann erinnerte er sich wieder an seinen Auftrag, den er noch zu erledigen hatte. Und der General zu seinen Füßen wurde wieder der Feind, den er im Gefecht getötet hatte und für den er kein Mitleid empfand.

Er hatte ihn töten müssen, und das so schnell wie möglich. Denn dieser Mistkerl hatte die Sekundenbruchteile zwischen Harts beiden Salven genutzt und einen zweiten Feuerstoß abgeben können. Hart hatte nicht mitbekommen, das er Osborne damit getroffen hatte, doch er hatte ihn erwischt.

Stark erschien wieder neben ihm und schüttelte den Kopf.

“Zwei Kugeln im rechten Oberschenkel, Sir, eine dritte hat seinen rechten Unterarm durchschlagen.”

Verflucht”, brummte Hart.

Scheiße”, stimmte Stark zu. “Er kann auf keinen Fall weiter, Sir. Ich muss ihn verbinden und die Blutungen stoppen, sonst verblutet er.”

Hart dachte nach, blickte auf die MP5 in den verkrümmten Fingern des Generals und traf seine Entscheidung.

“Stark, sie bleiben hier und kümmern sich um Osborne. Wir werden ihn dann gemeinsam bergen, wenn ich zurückkomme.”

Major Hart blickte zornig den dunklen Stollen entlang, der vor ihm lag und in den sich die übrigen Zielpersonen geflüchtet hatten.

“Wenn Sie Osborne stabilisiert haben, packen Sie den General in einen Leichensack und richten ihn für den Abtransport her. Uns beiden steht dann noch ein hübscher Kraftakt bevor”, knurrte Hart, der an den Abtransport der ganzen Leichen bis zum Hubschrauber dachte. Doch es half nichts, sie durften keine Spuren zurück lassen. Und Leichen, waren verdammt unübersehbare Spuren.

“Geben Sie mir Ihre vollen Magazine, Stark”, befahl er. “Und kleben Sie mir irgendwas auf mein Scheißohr. Das Nachtsichtgerät rutscht bei dem Blut auf meinem Kopf rum und ich hab kein ruhiges Bild.”

Stark musste aufgrund des offensichtlichen Fehlvermögens seines Offiziers, Schmerzen empfinden zu können, bewundernd grinsen. Was für ein eiskalter, harter Brocken. Er packte Verbandsmaterial aus und versorgte den Major, so dass dieser das Nachtsichtgerät aufsetzen konnte. Dann ging er hinüber zu Master Sergeant Clifford Osborne, der weit mehr Verbandsmaterial nötig hatte und ließ sich bei ihm nieder.

“Nicht dein Tag heute, was?”, grinste er, und erntete einen derben Fluch Osbornes, der nun schon zum zweiten Mal verwundet worden war.

Hinter den beiden verschwand Major Benjamin Hart im dunklen Stollen und nahm nun allein die Verfolgung auf. Da er wusste, dass sein Gegner nun außer einer Signalpistole keinerlei Waffen mehr besaß, umrundete er die Schutthäufen im Laufschritt und sprang über die morschen Holzbretter. Er musste Zeit gutmachen, er musste seine Beute einholen.

Er folgte dabei der Luftströmung, die sehr wahrscheinlich von einem weiteren Ausgang des Bergwerks hier herauf wehte. So wie er diesen Crowe einschätzte, hatte er genau dasselbe getan.

 

08:05

 

Der Luftzug wurde immer stärker, sodass Commander Williams Haare beinahe waagrecht nach hinten flatterten. Die eisig kalte Luft verkühlte ihren nackten Hals, ihre Stirn und ihren gesamten, bereits unterkühlten Körper, der nur von ein paar dünnen Baumwollsachen und dem Anorak Crowes geschützt wurde. Ihre Füße waren kalt und durch die dünne Ledersohle schmerzte sie jeder Stein, auf den sie trat. Sie konnte den Koffer kaum mehr tragen und war froh und dankbar, als Steven in ihr abnahm und sie nur mehr das Gewicht der Kette spürte. Sie hasste diesen verdammten Koffer und würde in ihrem ganzen Leben keinen Koffer mehr tragen, schwor sie sich. Dann hustete sie heftig.

Seit ein paar Minuten hatte sie Kopfschmerzen, vermutlich durch den kalten Wind ausgelöst. Sie fühlte sich schwach und krank, doch sie folgte Crowe beinahe schon mechanisch. Ein Schritt vor den anderen, dann wieder und wieder. Der Stollen zog sich endlos dahin, während das Licht der Taschenlampe immer schwächer wurde und schließlich nur mehr ein Glimmen in der Stärke einer Tafelkerze war. Sie konnten fast nichts mehr sehen und sie sah Steven, wie dieser sein Nachtsichtgerät bereit machte.

Eine weitere heftige Bö schüttelte sie durch und ließ sie bis ins Mark frösteln. Sie stemmte sich gegen den starken Luftzug und kämpfte sich weiter voran. Sie blickte wieder zu Steven hinüber, der das Nachtsichtgerät nun wieder abgenommen hatte und angestrengt nach vorne spähte. Sie kniff die Augen zusammen und sah ebenfalls den Stollen entlang.

Weiter vorne war es heller, sah sie.

Ein Ausgang! Vielleicht.

Sie hustete erneut und folgte Crowe, der nun wieder etwas schneller ging. Es wurde immer heller, erkannte sie mit klopfendem Herzen.

Hatten sie es geschafft?

 

08:07

 

Da!

Nur kurz hatte er es gesehen.

Ein Aufblitzen, ein kurzer Lichtstrahl direkt vor ihm. Vielleicht fünfzig Meter voraus. Er war sich sicher, dass er sie nun endlich eingeholt hatte und verlangsamte sein Tempo. Major Hart atmete kaum schneller, als sonst, als er vom Laufschritt in ein vorsichtiges, leicht geducktes Schleichen überging. Sein tägliches Training machte sich bezahlt.

Er hörte jemanden husten. Sein Herz klopfte nun etwas schneller, als das Jagdfieber ihn packte.

Hörte sich nach einer Frau an.

Sollte ihm auch egal sein. Er machte da keinen Unterschied.

Er würde alle töten und dann zum Hubschrauber zurück kehren.

Bald hatte er es geschafft.

 

Crowe führte die Gruppe in einen großen, breiten Raum, der an den Seiten etwa drei Meter hoch war und damit fast einen Meter höher als die Gänge, denen sie im Verlauf der letzten Minuten gefolgt waren. Die Decke spannte sich gewölbeartig über ihren Köpfen, wobei der höchste Punkt, so vermutete Crowe, an die sieben Meter über ihnen lag. Diese raumartige Höhle war etwa vierzig Meter lang und vielleicht dreißig Meter breit, schätzte Crowe. Überall standen Holzpfosten und stützten ebenfalls hölzerne Deckenbalken, die wiederum die Felsdecke abstützten. Viele der Stützen waren umgefallen und verfault, auch manche Deckenbalken lagen schräg herabgestürzt in diesem Raum. Der Wind wehte jetzt wieder ein wenig schwächer, da er sich weiter verteilen konnte, als in den schmalen Gängen. Crowe entdeckte weitere Stollen, die von dieser zentralen Höhle in den Berg gehauen worden waren. Zwei davon, sah er aus dem Augenwinkel, waren zusammengebrochen. Schutt versperrte ihre Eingänge und herunter gebrochenes Holz verfaulte vor den ehemaligen Stollenzugängen.

Dann sah Crowe, woher das Licht kam.

Aus einem rechteckigen Loch auf der gegenüberliegenden Seite  des Raumes strahlte hellgraues Licht ins Innere, begleitet von dicken Schneeflocken, die einige Meter weit ins Innere wehten und dort auf einem bereits halben Meter hohen Schneehaufen landeten. Crowes Herzschlag beschleunigte sich, als er sich mit großen Schritten der Öffnung näherte. Nina und der Präsident folgten ihm schweigend. Er umkurvte einige am Boden liegende Balken und schlüpfte an den noch stehenden Stützen vorbei. Dann stapfte er durch den Schnee und spähte ins Freie.

Hastig wich er wieder einen Schritt zurück.

Vor dem Loch ging es mehrere hundert Meter steil bergab. Er sah eine helle Bergflanke, die ideal zum Tiefschneefahren geeignet war, nicht jedoch zum Abstieg zu Fuß. Crowe fluchte und sah erneut ins Freie, diesmal nach rechts. Dort erkannte er einen tief verschneiten, völlig unpassierbaren Klettersteig, der früher die Bergleute wohl hier herauf geführt haben musste. Er sah nach links und sah nur blanken Fels, auf dem sich mancherorts Schnee festgesetzt hatte.

Verdammt!”, fluchte er und sah in die erschrockenen Augen  Nina Williams, die nicht wusste, was los war.

Sie befanden sich in einer Art Eingangshalle des Bergwerkes, von wo aus die Bergleute ihre Stollen in den Berg getrieben hatten, das stand jetzt wohl fest. Doch der einzige Weg nach draußen und hinunter ins Tal war unpassierbar. Zumindest jetzt im Winter und besonders bei diesem Wetter.

“Das ist eine Sackgasse”, sagte Crowe.

“Hier kommen wir nicht weiter. Wir müssen umkehren.”, ergänzte er niedergeschlagen.

“Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?”, jammerte Präsident Marvin James. Er sah alt und krank aus. Und er hustete.

“Dann laufen wir ja direkt in die Hände unserer Verfolger”, krächzte der Präsident. Seine Stimme überschlug sich dabei, er hatte sich eine anständige Erkältung eingefangen.

“Und hier sitzen wir wie die Maus in der Falle”, stellte Nina nüchtern fest.

“Was tun wir also?”, fragte sie.

Die Entscheidung wurde ihr abgenommen, als eine schwarz vermummte Gestalt mit einem blutigen Verband am Kopf wie aus dem Nichts zwischen den Balken auftauchte und das Feuer eröffnete.

Nina schrie, sah wie Steven direkt neben ihr getroffen und nach hinten geschleudert wurde, sah den roten Sprühnebel im dämmrigen Licht der Höhle und spürte das Blut auf ihrem Gesicht. Dann drehte sie sich um und lief los. Den Koffer musste sie nun wieder selber tragen.

 

Major Hart hatte das Licht gesehen und die Stimmen gehört, als er sich dem Ende des Stollens genähert hatte. Er war mit der Waffe schussbereit im Anschlag um die Ecke geschlichen und hatte sich in einem weit größeren, weiteren Raum wieder gefunden. Ein Wald aus Holzstämmen und Balken, die teilweise noch standen, teilweise aber bereits halb verfault am Boden lagen, hatte ihm die Sicht auf sein Ziel versperrt. Schritt für Schritt war er weiter vorgerückt, bis er freies Schussfeld vorgefunden hatte. Dann hatte er den Mann gesehen, es musste Crowe sein, und sofort das Feuer eröffnet. Er hatte die Kugeln ihr Ziel treffen sehen und zufrieden beobachtet, wie der Mann nach hinten über einen Holzbalken gestürzt war. Die Frau war dann abgehauen, bevor er nochmals gefeuert hatte, doch hier konnte sie ihm nicht mehr entwischen. Und auch der Präsident musste hier irgendwo noch sein, wusste er. Er würde sie jetzt alle der Reihe nach erledigen und beginnen würde er mit dem gefährlichsten von allen. Diesem Crowe.

Er schlich sich langsam vorwärts, hörte die Schritte der Frau und noch einer weiteren Person irgendwo links von ihm zwischen den Holzstehern, konzentrierte sich aber auf den umgestürzten Holzbalken direkt vor sich, hinter dem sich der getroffene Crowe befinden musste. Zeit für den Fangschuss, dachte er und spähte hinter den Balken. Sein Finger ruhte am Abzugsbügel, bereit für den tödlichen Schuss.

Der Boden war leer, nur ein Blutfleck und Spuren von Stiefeln im Dreck.

Major Hart fluchte lauthals: “Wo bist du, du verdammte Mistratte!“, brüllte er zornig. Dann sprang er über den Balken und begann mit der Suche. Er schlich dabei nach links. Dahin, wo er die beiden anderen zuvor gehört hatte.

Einen nach dem andern, dachte der große Green Beret.

Und den Präsidenten heb ich mir bis zum Schluss auf.

 

Präsident Marvin James Zähne klapperten vor Kälte und Angst, als er durch die Reihen aus Holzstützen lief, stolperte und der Länge nach hinfiel. Er fiel wieder auf sein lädiertes Kinn, hörte seine Zähne klappern und fühlte frisches, warmes Blut in seinem Mund. Er stöhnte vor Schmerzen laut auf, hatte er sich doch gerade zwei Zähne ausgeschlagen und ein daumennagelgroßes Stück der Zunge abgebissen. Er würgte, als sich das Zungenstück und einer der Zähne nach hinten vor seine Luftröhre schoben und spuckte beides angewidert aus. Kopfschüttelnd betrachtete er das blutige Stück Fleisch, das eben noch zu seinem Körper gehört hatte und den blendend weißen Schneidezahn, dann erahnte er eine Bewegung neben sich. Er drehte den Kopf zur Seite und erkannte Commander Williams, die an ihm vorbei sprintete. Doch sie lief nicht weiter, sondern blieb stehen, sah er, als der Lederkoffer direkt vor ihm auf den dreckigen Boden krachte. James spuckte den zweiten Zahn und einen Schwall Blut aus, dann stand er mühsam und mit Williams Unterstützung auf. Die Frau packte ihn grob und zog ihn vorwärts.

“Kommen Sie, Sir, wir müssen hier raus!”

Er verstand sie, doch er fühlte sich, wie in Trance.

Das Blut in seinem Mund, die Schmerzen, die Kälte.

Waren das seine Zähne gewesen?

Irgendwas stimmte nicht in seinem Mund. Da fehlte was. Seine Zunge war nicht in Ordnung.

Und wo war dieser Crowe? Warum half er ihm nicht, wo er sich doch so in Szene gesetzt und sich als ihr Retter aufgespielt hatte? Wo war er nun, warum ließ er ihn jetzt im Stich?

Er war der Präsident! Niemand ließ ihn im Stich. Sie konnten ihn doch nicht so einfach alleine lassen! Wo war die Hilfe?

Wo blieben die Rettungskräfte?

Wo waren die verdammte US Army, die Navy-SEALs, die Delta Force, die Marines mit ihren milliardenteuren Ausrüstungsgegenständen?

Wann kam die Air Force und flog ihn hier raus?

Wo waren Sie alle?

Warum war der mächtigste Mann der Welt jetzt völlig alleine?

Er wollte nicht mehr weiter, er war müde, er konnte nicht mehr.

Sie hatten ihn im Stich gelassen. Sie hatten ihn verraten.

Er blieb stehen.

 

Nina wurde zurück gerissen, als der Präsident zuerst langsamer wurde, und dann ganz stehen blieb. Wütend und ungläubig sah sie ihn an.

“Kommen Sie, Sir. Worauf warten Sie? Er ist gleich da und wird uns beide...”

Da erschien der schwarze Beret einige Meter hinter dem Präsidenten und Nina verstummte. Ein letztes Mal sah sie in die teilnahmslosen, abwesenden Augen des Präsidenten, dann hechtete sie zur Seite, um sich aus der Schusslinie zu bringen. Sie landete hart auf den Ellbogen und ihre Gedanken überschlugen sich, hoffnungslos auf der Suche nach einem Ausweg.

Dann hörte sie zwei Schüsse und das Fallen eines Körpers.

 

Er zielte tief und betätigte den Abzug zweimal, sah das Blut spritzen und den Präsidenten nach vorne umfallen. Zwei Treffer in die Beine, das würde ihn festnageln, dachte Major Hart, der über den am Boden liegenden und wimmernden Staatsmann sprang und knirschend hinter ihm im feuchten Geröll landete.

Die Frau war nach links gesprungen, genau hier. Hart sah die Spuren am Boden, da wo sie gelandet war und sprintete weiter. Sie konnte nicht weit sein, irgendwo hier musste sie...

Irgendetwas Hartes traf ihn am Kinn und schickte ihn rasant zu Boden. Er krümmte den Finger am Abzug und zerfetzte den Kopf eines Holzstehers mit einer letzten Salve, dann klapperte das M4 über den Fels und verschwand unter einem großen Steinbrocken, der aus der Decke herausgebrochen und heruntergefallen war.

Der Schlag war unerwartet und kräftig gewesen, doch er hatte in nicht KO gesetzt. Der Major war groß, kräftig und durchtrainiert, also war er schon wieder auf den Knien und sah sich nach dem Angreifer und seinem M4 um. Er fluchte, da er beides nicht entdecken konnte. Aber er hatte ja noch andere Möglichkeiten. Seine Hand fuhr zum Holster am Oberschenkel, in dem er die Beretta trug. Er klappte den Verschluss des Holsters um und sah nach hinten.

Die Frau lief keine fünf Meter hinter ihm und trug einen verdammten Koffer. Konnte es sein, dass sie ihn mit diesem Koffer erwischt hatte, dachte er.

Wie auch immer, jetzt würde sie sterben.

Die Beretta fühlte sich gut in seiner Hand an, als er sie in einer einzigen flüssigen Bewegung aus dem Halfter zog und auf sein Ziel anlegte.

Den Schatten, der links von ihm auftauchte und der sich rasend schnell auf ihn zu bewegte, bemerkte er nicht.

 

Steven Crowe konnte seinen rechten Arm nicht spüren. Die Kugel saß irgendwo in seiner Schulter, er blutete stark und war nahe dran, das Bewusstsein zu verlieren.

Und dieser verzweifelte Schlag, als er gerade eben den vorwärts stürmenden Beret mit seinem linken Ellbogen gefällt hatte, hatte ihm beinahe die letzten Reserven geraubt. Nun musste er mit ansehen, wie sich der große, schwere Mann im schwarzen Kampfanzug scheinbar unbeeindruckt wieder aufrichtete und nach seiner Waffe griff. Auch Crowe hörte Ninas Schritte, das Knirschen ihrer Sohlen am steinigen Boden, und deshalb wusste er, worauf der Mann zielte.

Nicht in diesem Leben du verdammter Killer, dachte er, dann warf er sich gegen den Schützen. Er hörte den Schuss krachen und spürte dann nichts weiter, als Schmerzen, die in seiner Schulter explodierten.

 

Nina hörte den Schuss und wartete auf den Treffer, die Schmerzen, das Blut, den Tod. Als nichts dergleichen geschah, sah sie über die Schulter nach hinten und erstarrte.

Sie bremste, blieb augenblicklich stehen, als sie Steven sah, wie er mit dem Beret zusammen über den Boden rollte und dann hinter einem Holzbalken verschwand. Sie zögerte vielleicht eine, oder zwei Sekunden, dann ging sie los.

Zurück dahin, von wo sie eben geflohen war.

Er lebte noch, es bestand noch Hoffnung.

 

Ben Hart fluchte, sein Schuss war wohl daneben gegangen. Er rappelte sich wieder hoch und suchte die Beretta. Neben sich lag der andere Mann, offensichtlich unfähig, den Kampf fortzusetzen. Er hielt sich die Schulter, da wo Hart im die Kugeln verpasst hatte.

Sein Blick glitt am dunklen Boden umher, nach links, dann nach rechts, doch das verdammte Schießeisen war nicht da. Musste wohl irgendwo im Geröll hinter ihm liegen.

Er würde die Waffe gleich suchen, entschied er, aber vorher würde er diesen verdammten Hurensohn aufschlitzen, der ihn jetzt lange genug geärgert hatte. Seine große, mit Blut verschmierte Hand packte den Griff des schwarzen Ka Bar- Kampfmessers, das an seinem Gürtel hing, löste die kleine Verriegelung und zog es langsam heraus. Die Klinge war geschwärzt, nur die scharfe Schneid glänzte silbern. Er kroch auf den Knien vorwärts und näherte sich dem Mann, der ihn offensichtlich gesehen hatte und sich zurück zu ziehen versuchte.

Doch das sollte ihm nicht gelingen. Hart hob das Messer und spannte seine Muskeln zum entscheidenden Hieb.

 

Crowe wusste, dass er jetzt sterben würde, wenn ihm nicht innerhalb der nächsten halben Sekunde irgendwas einfallen würde. Um diese Zeitspanne etwas zu verlängern, packte er mit der unverletzten linken Hand in den feuchten Boden und schleuderte Sand und Kies ins Gesicht des Berets. Dieser reagierte zu spät und fluchte derb in einem Dialekt, den Crowe nicht einzuordnen wusste. Der große, schwarz gekleidete Mann mit dem blutigen Wattebausch, der wie ein Krebsgeschwür seitlich an seinem kahlen Schädel hing, fuhr sich mit der Hand ins Gesicht, um die Augen wieder klar zu bekommen. Für einen kurzen Augenblick war der Angreifer unaufmerksam.

Und das genügte Crowe, der alle seine verbliebenen Kräfte bündelte und in diesen einen Tritt legte, den er verzweifelt ausführte.

 

Nina wusste nicht, was sie tun sollte, als sie mit dem Koffer in der Hand und klopfendem Herzen auf die beiden Männer zu schlich. Sie war unbewaffnet und konnte sich nicht rational erklären, warum sie das tat, was sie in diesem Moment tat und wie sie auf die Idee gekommen war, dass sie irgendetwas entscheidendes tun konnte, um sie alle zu retten.

Dann sah sie das Messer in der erhobenen Hand des großen, schwarzen Mannes mit der Glatze und musste handeln. Während sie den Koffer nach vorne streckte und die blanke Edelstahlkette mit der anderen Hand ergriff, sah sie, wie Steven dem anderen Mann das Messer aus der Hand trat. Doch es landete nur einen knappen Meter weit entfernt, der Tritt war nicht stark genug gewesen. Wenn sie handeln wollte, dann musste sie das jetzt tun. Sonst war es zu spät. Während sie sah, wie sich Steven aufzurichten versuchte und der schwarze Mann gleichzeitig nach dem Messer griff, hob sie die Kette.

Dann warf sie die Kette nach vorne, legte sie um den großen unförmigen Schädel des Mannes uns zog so kräftig zu, wie sie konnte. Sie überkreuzte die Kette und stemmte ihr Knie unterstützend in den Nacken des Mannes. Sie brüllte vor Anstrengung, als sich der kalte Stahl der Kette in die vor Schweiß glänzende Haut des Mannes grub.

 

Crowe sah Nina kommen, als er sich darüber klar wurde, dass der Beret das Messer in kürzester Zeit wieder aufheben und ihn dann filettieren würde. Er musste also hoch kommen und selber die Initiative ergreifen, sonst war er geliefert.

Dann sah er die Kette in Ninas Händen und er verstand augenblicklich. Die Hand des Berets war nur mehr wenige Zentimeter vom Griff des Messers entfernt, als Nina die Kette um seinen Hals schlang und zuzog. Der Beret zog die Finger hastig vom Messer zurück und fasste nach der Kette, die sich um seinen Hals gelegt hatte und die ihm nun die Luft abschnürte. Crowe sah die dicken Oberarme des Mannes, die Muskeln, die wie Stahlsehnen unter der Haut hervortraten und dann Nina, wie sie sich mit geschlossenen Augen und verzerrtem Gesicht gegen den Rücken des Mannes stemmte, um ihre gesamte Kraft in ihre mutige Aktion zu legen.

Crowe wusste, dass diese Kraft nicht ausreichen würde.

Also musste er das verdammte Messer zu fassen kriegen.

Er stemmte sich weiter nach oben und versuchte, die Schmerzen aus seiner Schulter zu ignorieren, was ihm nur unzureichend gelang. Er stöhnte lautstark und ihm wurde schwindelig, als er sich auf den Knien aufrichtete. Er sah, dass der Beret bereits eine Hand zwischen die Kette und seinem Hals geschoben hatte und dass dieser Kampf zwischen ihm und Nina in höchstens zehn Sekunden entschieden sein würde.

Also setzte er sich tranceartig in Bewegung, versuchte die Schmerzen auszublenden, so wie er das damals in China auch gemacht hatte. Er konzentrierte sich und fühlte, wie die wellenartigen Stiche aus seiner Schulter abebbten, sodass er sich auf das Messer werfen konnte. Seine Finger umschlossen den gummierten Griff des schlanken Messers, dann hob er es auf. Er sah, wie der Beret, die Umklammerung der Kette soweit gelockert hatte, dass er mit beiden Händen zupacken konnte.

“Das wirst du bitter bereuen, du verdammte kleine Fotze”, brüllte der große Mann zornig. Er zog bereits die Kette über sein Kinn hoch.

Steven richtete sich zitternd auf, sein Gesichtsfeld war bereits eingeengt. Doch er konzentrierte sich nur auf das Zentrum. Den schwarzen Beret direkt vor sich.

“Ich schlitz dich auf. Ich werde deine Eingeweide...”, drohte Hart.

Dann verstummte der Beret abrupt.

Überraschung machte sich auf seinem wutverzerrtem Gesicht breit, als er den blutverschmierten, von Schmerzen geplagten Steven Crowe keinen halben Meter vor seinem Gesicht auftauchen sah. Und dann erkannte Major Hart den Ausdruck in den Augen des Mannes direkt vor ihm und er erschauerte.

Eisige Kälte blickte ihn aus diesen graugrünen Augen entgegen. Wut war das zweite, das er erkennen konnte.

Und es war auch das letzte, was Major Benjamin Hart in seinem Leben sah.

“Das wirst du nicht, du dreckiger Bastard”, flüsterte Crowe, dann rammte er die Klinge durch den Kehlkopf in den Hals des Berets.

“Du wirst nie wieder irgendjemanden aufschlitzen. Du hast ausgeschlitzt”, knurrte Crowe, der das Zappeln des großen Mannes und das gurgelnde Geräusch ignorierte, das er von sich gab. Crowe hielt den Griff des Messers eisern fest, bis das Zappeln aufhörte und der Kopf des Berets nach vorne sackte. Crowe blickte über seine vor Blut nasse Hand in das verzerrte Gesicht des Mannes, der sie alle töten hatte wollen. Er hörte ein letztes leises Gurgeln, dann sah er die Augen des Berets erlöschen. Mit einem letzten Ruck zog er das Ka Bar aus dem Hals des Soldaten.

Crowe sank gegen die blutige Brust des großen Mannes, das rötlich nass glänzende Messer glitt aus seinen kraftlosen Händen und fiel in den groben, kalten Kies.

 

 

 

Standschützen-Kaserne, Innsbruck

10.Jänner 2017

08:21 Ortszeit

             

Die vier Sikorsky SIH-60 “Black Hawk” des österreichischen Bundesheers landeten beinahe gleichzeitig auf dem Sportplatz der Kaserne. Die Schiebetüren glitten auf und die Rotoren verlangsamten sich, als die Leistung der Turbinen zurück genommen wurde. Draußen, vom kalten Regen beinahe völlig durchnässt, warteten bereits mehrere Unteroffiziere, die vier schwere Maschinengewehre und Kisten mit passender Munition vor sich liegen hatten. Zwei speziell dafür ausgebildete Waffenmeister montierten die Maschinengewehre an den dafür vorgesehenen Halterungen, was cirka zehn Minuten in Anspruch nahm. Dann wanderten die Kisten mit der Munition in die Hubschrauber und das Kaderpersonal zog sich wieder zurück.

Nun fuhren drei VW-Transporter, silber-blau lackiert auf den vereisten Rasen des Sportplatzes. Die drei Polizeieinsatzfahrzeuge bremsten auf dem rutschigen Boden vorsichtig ab und kamen zum Stillstand. Die Schiebetüren glitten auf und aus jedem Fahrzeug kletterten sechs schwarz gekleidete Männer. Sie trugen schwarze Kampfanzüge und farblich passende Kampfstiefel. Die ebenfalls schwarzen Sturmhauben waren noch nicht herunter gerollt worden, sondern dienten derzeit nur als Kälteschutz.

Die Heckklappen wurden geöffnet und drei deutsche Schäferhunde sprangen aufgeregt ins Freie. Jeder Hund fand sofort seine Bezugsperson und wich ihr nicht mehr von der Seite. Es folgte das Entladen von mehreren Kisten mit Ausrüstung und Waffen, die rasch durch den prasselnden Regen in die wartenden Hubschrauber gebracht und dort verstaut wurden. Schließlich kletterten die Beamten des mobilen Einsatzkommandos der Polizei in die Hubschrauber und die Türen schlossen sich.

Der Staffelkommandant des aus vier Hubschraubern bestehenden Geschwaders, ein Berufsoffizier im Range eines Majors, erhöhte die Leistung der Turbinen, und zog dann den Joystick behutsam zu sich. Die drei anderen Hubschrauber folgten seinem Beispiel. Die hornissenartigen Maschinen hoben langsam ab, beschleunigten nun rasant, um dann in den Nebel am Rande der Landeshauptstadt einzutauchen. Erste Schneeflocken mischten sich unter die Regentropfen, die gegen die gepanzerten Cockpitscheiben prasselten.

Vor einer halben Stunde hatte man an gleich mehreren relevanten Notdienststellen ein brisantes SMS empfangen.

Und nun war die Cobra, so war der nicht ganz offizielle Kurzname des Einsatzkommandos, unterwegs, um Hilfe zu leisten. Und die Black Hawks, die für diesen Einsatz vom Bundesheer abkommandiert worden waren, sollten sie so weit wie möglich dahin bringen, wo sie gebraucht wurden.

Wie weit das war, konnte man erst vor Ort und unter genauer Abwägung der Wetterbedingungen sagen.

Die Männer der Cobra würden sich überraschen lassen.

 

 

Im alten Bergwerk, Ötztal

10.Jänner 2017

08:22 Ortszeit

 

 

Er fühlte, wie die erlösende Schwärze der Bewusstlosigkeit nach ihm griff, wie sie ihn mit ihrer Sanftheit und Ruhe lockte und er war bereit, sich ihr hinzugeben. Mehr als bereit. Seine Augen schlossen sich langsam und er dämmerte...

“Steven, nicht einschlafen!”, sagte jemand laut direkt neben seinem Ohr und er erschrak. Doch nur kurz, seine Augen schlossen sich bereits wieder.

“Wach auf, Steven, du darfst jetzt nicht ohnmächtig werden!” hörte er Ninas Stimme. Dann wurde er sanft gerüttelt und schließlich von der Brust des toten Berets herunter gezogen. Wenig später fand er sich in einer sitzenden Position wieder, mit dem Rücken an einen modrigen Holzsteher gestützt.

Das Gesicht Ninas, das vor seinen Augen erschien, war unscharf und farblos. Doch er erkannte ihr Lächeln, das aber nur kurz ihren weichen Mund umspielte. Dann sah sie ihn wieder besorgt an, und ängstlich. Ihm hatte das Lächeln besser gefallen, er mochte ihr Lächeln.

“Steven, du musst mir jetzt sagen, was ich machen muss, damit du nicht verblutest”, hörte er sie sagen.

“Ich kenn mich mit so was nicht aus, verdammt”, sagte sie aufgebracht.

Crowe sah ihr Gesicht und hörte ihre Stimme. Und dann grinste er unbeholfen, was er sofort wieder ließ, als eine erneute Schmerzwelle aus seiner Schulter in seinem Gehirn eintraf und ihn so eindrucksvoll ins Hier und Jetzt zurückbeförderte. Der friedliche Dämmerzustand, in dem er sich befunden hatte, war vorerst vergessen. Nun galt es dafür zu sorgen, dass dies auch so blieb. Er wusste, was zu tun war und verstand auch zu improvisieren.

Er sah sich um, überblickte ihr kärgliches Hab und Gut und erklärte dann Nina, was sie zu tun hatte.

 

 

Die Eishöhlen, Ötztal

10.Jänner 2017

08:25 Ortszeit

 

 

Corporal Willy Jones starrte fassungslos auf die Anzeigen auf seinem Notebook. Das Bild, das von Major Harts Nachtsichtgerät übertragen wurde, war tot. Und dasselbe galt auch für die Anzeigen der Medicsensoren des Majors. Keine Anzeigen, kein Kontakt.

Jones hatte nun nur mehr die beiden Anzeigen von Osborne, dem es den Sensoren nach beschissen ging, und Stark auf seinem Display. Stark war gestresst und müde, aber unverletzt, erkannte Jones. Er überlegte kurz und kam zu der Entscheidung, auf den Befehl des Majors betreffend der einzuhaltenden Funkstille zu pfeifen. Er aktivierte die Headsets der Einheit.

“Fox One, hier Fox Base, over!” funkte er die vereinbarten Codes.

“Fox One, bitte kommen, over!”, wiederholte er.

Es meldete sich niemand und Jones wurde nervös.

“Major, hier Fox Base. Bitte kommen, Sir. Wo sind Sie, over!” Er hörte immer noch nichts, und fluchte laut.

Dann hörte er plötzlich Rauschen und dann eine Stimme, die er noch nie gehört hatte, die ihn aber erschauern ließ.

“Der Major ist tot, du Pfeife”, sagte die Stimme ruhig und eiskalt, “und du bist mit Sicherheit der nächste, den ich kalt mache.”

Dann klickte es und die Leitung war tot.

“Fuck!”, schimpfte Jones und wich überrascht und erschrocken von seinem Notebook zurück. “Fuck, Fuck, Fuck!”

Dann kletterte er aus seiner Deckung und begann hektisch, seine Ausrüstung zusammen zu packen.

Er fluchte noch immer, als sich eine weitere Stimme in seinem Kopfhörer meldete.

“Jones, wer zur Hölle war das?”, wollte Staff Sergeant Joseph Stark aufgebracht wissen.

“Der Major ist tot?”, fragte er ungläubig, dann redete Stark weiter.

“Der kann den Major nicht gekillt haben, Mann. Niemand killt den Major, das gibt‘s nicht. Ich meine...”

“Halt die Klappe Stark!”, brüllte Jones.

“Sieh lieber zu, dass du Osborne und dich da raus schaffst. Und zwar sofort, verstanden?”

“He was soll das Corporal?”, schnauzte der ranghöhere Stark. “Was glaubst du, wer hier das Sagen hat?”

“Hör zu, du Klugscheißer”, knurrte Jones, der bereits den Großteil seiner Ausrüstung zusammengepackt hatte, “da drinnen läuft ein verkackter John Rambo Typ rum und er hat den Major kalt gemacht. Erst hat er die halbe Einheit gekillt und jetzt hat er auch noch den Major kalt gemacht. Den Major!”, schrie er aufgeregt.

Stark schwieg und Jones schimpfte weiter.

“Von mir aus bleib da und warte, bis er dich auch noch erledigt, aber ich hau hier ab, okay?”

“Corporal Jones”, hörte er jetzt die Stimme Starks in seinem Headset”, du wirst gar nichts tun, außer deinen feigen Arsch hierher in Bewegung zu setzen.”

Jones erstarrte und fluchte lautlos, formte das Wort “Fuck” mit seinen Lippen und schloss die Augen.

“Ich kann Osborne alleine nicht tragen. Der Typ ist einfach zu schwer. Du musst mir helfen.”

Jones dachte nach, sah hinüber in Richtung Hubschrauber, dann zum Eingang der Eishöhlen.

“Okay, Stark. Ich komme”, sagte er müde. Dann schnappte er sich seinen M4 Karabiner und sein Nachtsichtgerät und ging zum Eingang der Eishöhlen hinüber.

“Fuck!”, schrie er wütend, dann verschwand er im Dunklen.

 

 

Im alten Bergwerk, Ötztal

10.Jänner 2017

08:31 Ortszeit

 

Crowe warf das Headset des Majors achtlos zur Seite, nachdem er sich so nett mit dem Corporal unterhalten hatte. Sollten Sie nur abhauen, dachte er, das wäre ihm nur recht. Sie würden niemals ungeschoren mit dieser Aktion davon kommen, wusste Crowe. Man würde die Überlebenden dieser fehlgeschlagenen Exkursion schon der Gerechtigkeit überantworten. Aber das war nicht sein Problem, nicht mehr. Er hatte seinen Teil erledigt und um den Rest sollten sich andere kümmern. Zumindest waren sie jetzt wohl in Sicherheit, dachte Crowe. Er rechnete nicht mit weiteren Angriffen. Aber zur Sicherheit behielt er das Headset in seiner Nähe. Man konnte nie wissen.

Der provisorische Verband, den Nina ihm aus Teilen seines Anoraks und mithilfe einiger Ausrüstungsteile des toten Berets gebastelt hatte, stoppte die Blutung und würde fürs erste reichen, dachte Crowe. Er beobachtete ihre braunen, ruhigen Augen, die nur wenige Zentimeter vor ihm waren und fragte sich, wie es ihr wohl ging. Sie hatte ein Stück Stoff in kaltes Quellwasser getaucht, das irgendwo hinter ihm aus dem blanken Fels sickerte und wusch damit das Blut aus seinem Gesicht.

Vorsichtig reinigte sie seine Wangen, die Stirn, die aufgeplatzten Lippen, den Hals. Er saß nur da und beobachtete sie stumm und mit einem Gefühl tiefer Zuneigung und unerklärbarer Vertrautheit. Es schien ihm, als kenne er diese schöne Frau schon seit einer Ewigkeit, dachte er und musste lächeln. Dabei hatte er sie erst vor einige Stunden das erste Mal gesehen.

Neben ihm, ebenfalls frisch verbunden und notdürftig verarztet, lehnte Präsident Marvin James. Er war seltsam ruhig und vermied den direkten Blickkontakt mit Crowe, dessen Zorn auf den Präsident allerdings größtenteils verflogen war. Er hatte die längste Zeit seines Lebens mit Gefühlen des Hasses und der Rache gelebt, es wurde Zeit, dies hinter sich zu lassen und anderen Gefühlen den Vortritt zu lassen.

Schöneren, wärmeren Gefühlen, dachte er.

Und beobachtete weiter Nina.

Es war kalt im alten Bergwerk. Sie lagen nun zwar in einem relativ windgeschützten Bereich und es war trocken, doch die Kälte nagte an ihnen, zehrte sie aus, raubte ihnen Energie.

Sie hatten seit vielen Stunden nichts gegessen und auch kaum getrunken.

Nina hustete wieder stärker. Und sie fror.

Crowe machte sich Sorgen. Sie mussten hier raus, doch er hatte keine Ahnung, wie sie das schaffen sollten.

Also dachte er nach.

Und beobachtete weiter die wunderschöne Frau, die sich mit fabelhaft zerzausten Haaren und schmutzig verschmiertem Gesicht über ihn beugte.

“Komm her”, flüsterte er. “Es ist kalt.”

Sie hörte auf, sein Gesicht mit dem Tuch zu reinigen und wischte stattdessen eine verklebte dunkle Haarsträhne aus seinem Gesicht. Dabei berührten ihre zitternden Hände seine Wangen und seine Stirn. Er genoss die Berührung und streckte seinen unverletzten Arm nach ihr aus um seine Worte zu unterstreichen.

„Komm“, flüsterte er.

Und sie schmiegte sich an ihn, wärmte sich an ihm und schloss die Augen.

„Du hast mich mit deinem Körper warm gehalten, als ich fast erfroren wäre“, flüsterte sie leise. Jetzt, da sie wieder an seiner Brust lag und seine Wärme und das dumpfe Pochen dieses starken Herzens spürte, erinnerte sie sich an die in ihrem Unterbewusstsein gespeicherten Gefühle und Empfindungen, die sie im Dämmerzustand ihres unterkühlten Körpers regelrecht aufgesogen hatte.

„Das war schön“, hauchte er entspannt.

Nein, das hier war schön, dachte sie.

Dann dämmerte sie in einen leichten Schlaf der Erschöpfung.

 

 

Sölden, Ötztal

10.Jänner 2017

08:45 Ortszeit

 

 

Zuerst hörte man nur das Vibrieren der Rotoren. Dann wurde das Geräusch lauter und schließlich tauchten vier dunkle Umrisse mit roten Blinklichtern im dichten Schneefall auf, schwebten langsam näher und senkten sich vorsichtig.

Man hatte einen weiteren Teil des Bergbahnenparkplatzes abgesperrt, auf dem nun die vier Black Hawks aufsetzten. Die Turbinen wurden wieder herunter gefahren und die Schiebetüren glitten auf. Polizisten der Ortsstellen Sölden und Längenfeld, sowie Männer der Bergrettung und der Feuerwehr begannen sofort, die Kisten auszuladen, während die Männer der Cobra aus den Hubschraubern kletterten und das Entladen überwachten und selber mithalfen. Die Kisten wurden ins Trockene gebracht und die Männer der Eingreiftruppe öffneten sie.

Der Kommandant der Cobra, Oberleutnant Herbert Wohlfarter ging mit großen Schritten durch die dichten Schneeflocken und näherte sich einer Gruppe von Männern, die schon auf ihn warteten. Wohlfarter hatte sich bereits über Funk mit dem Einsatzleiter vor Ort unterhalten und genauere Daten über das Wetter und die allgemeine Situation erhalten. Einen Überblick über die taktische Lage hatte er bereits, da ihm alle Fakten bekannt waren, und er wusste, worum es im Kern ging.

Zu ihrem großen Pech war unter der Nummer, die die SMS geschickt hatte, niemand zu erreichen. Entweder hatte das Mobiltelefon nur für kurze Zeit über Netzempfang verfügt und die SMS geschickt, oder der Akku des Telefons war nun leer. Die dritte Möglichkeit, dass es sich um den Telefonscherz des Jahrhunderts handeln könnte, wollte der Kommandant nicht weiter andenken.

Er erreichte die Gruppe und schüttelte den Männern die Hände. Dann verlangte er einen ortskundigen Führer, der ihn und seine Männer bis dahin eskortieren sollte, wo sie die Vermissten vermuteten. Laut den Angaben im SMS hatten sie eine ganz gute Vorstellung, wo sie sich zum Zeitpunkt des Schreibens des SMS befunden hatten. Dort würden sie ihre Suche beginnen, gefasst auf alle Eventualitäten und deshalb auch besonders schwer bewaffnet. Der Verfasser der SMS hatte von militärischen Einheiten berichtet, und der Kommandant nahm besonders diesen Hinweis sehr ernst.

Schließlich wurde ein erfahrener Bergführer und Tourenguide an ihn weiter verwiesen, der sich freiwillig gemeldet hatte. Wohlfarter begrüßte ihn per Handschlag und wies ihn an, im ersten Hubschrauber Platz zu nehmen. Dann verabschiedete er sich von den Einsatzleitern, mit denen er gesprochen hatte und ging hinüber zu seinen Männern, um sich für den Einsatz fertig zu machen.

Ihm wurde noch hastig ein Mobiltelefon gereicht, an dem sich der Landeshauptmann von Tirol befand, so berichtete der aufgebrachte Überbringer des Handys. Irgendwas musste da wohl falsch verstanden worden sein, denn als er sich mit seinem Rang und seinem Namen meldete, hatte er niemand geringeren, als den Bundeskanzler am Apparat.

Wohlfarter blieb erstaunt stehen, hörte dem Kanzler drei Minuten lang zu, nickte immer wieder und sagte jawohl. Dann legte der Kanzler auf und Wohlfarter gab das Telefon wieder zurück. Er schüttelte den Kopf, als er zu seinen bereits in voller Montur vor ihm stehenden Kollegen trat. Als ob er nicht auch so schon wüsste, wie brisant seine Aufgabe war. Da konnte er gut und gerne auf diese ihm wertvolle Zeit raubenden Ratschläge des Kanzlers verzichten, der von der Arbeit, die Wohlfarter erledigte, nicht den Schimmer einer Ahnung hatte. Typisch Politiker eben, dachte er.

Immer noch kopfschüttelnd schlüpfte er in die Schutzweste, montierte das Funkgerät an der Weste und befestigte die Sprechgarnitur. Dann griff er nach dem Einsatzhelm und seinem Sturmgewehr. Seine geladene und gesicherte Glock 17 befand sich bereits in dem schwarzen Halfter an seinem rechten Oberschenkel. Das Steyr STG 77 mit kurzem Lauf, ganz in Schwarz gehalten, verfügte über fünf volle Magazine zu je dreißig Schuss. Wohlfarter hoffte, dass er diese nicht brauchen würde, als er die Männer antreten lies, um ihnen den Einsatz nochmals kurz zu erklären. Er wies erneut auf die Gefährlichkeit ihres Gegners hin und warnte vor den Eventualitäten, die sie erwarten konnten. Dann hatte er alles gesagt und sie brachen auf.

 

Zehn Minuten später waren die Black Hawks mit den Männern der Cobra und ihren drei Hunden, einem Rettungsteam mit zwei Notärzten und mehreren Sanitätern, sechs Männern der Bergrettung mit ihren Lawinenhunden und dem freiwilligen Bergführer beladen, der die Cobra führen würde. Turbinen schwollen an und die vier Hubschrauber erhoben sich gleichzeitig in die Luft. Sie drehten ab und stiegen höher, verschwanden im dichten Schneefall, beobachtet von einer Hundertschaft vor Ort und Live übertragen von einem guten Dutzend Fernsehteams. Die Piloten flogen langsam und besonders aufmerksam, vertrauten auf das millionenteure Gerät aus amerikanischer Produktion, das das österreichische Bundesherr nach der schweren Lawinenkatastrophe in Galtür 1999 angeschafft hatte, um nicht wieder auf ausländische Hilfe bei der Versorgung der eingeschneiten Bevölkerung angewiesen zu sein, so wie man das damals gewesen war, als amerikanische Hubschrauber aus Garmisch eingeflogen waren, um den Österreichern zu helfen. Das war damals ziemlich peinlich gewesen und die Politik hatte auf diesen Missstand zur Abwechslung mal richtig reagiert und unverzüglich gehandelt.

Die Black Hawks wirbelten die Schneeflocken zur Seite und bahnten sich ihren Weg über Schnee und Eis, quer über gesperrte Schipisten und tief verschneite Häuser und Straßen, dann über tief winterliche Wälder, hinauf zu der Stelle, die als Landeplatz und Basis für die Such- und Rettungsoperation als am geeignetsten ausgewählt worden war: Das kleine Hochkar in dessen Zentrum der See lag.

 

 

Die Eishöhlen, Ötztal

10.Jänner 2017

09:03 Ortszeit

 

 

Corporal Willy Jones war gut und schnell vorangekommen und hatte den Irrweg durch das Eislabyrinth mit Hilfe von Positions- und Richtungsangaben seines Kameraden Stark beinahe hinter sich gebracht. Er befand sich mit leicht erhöhter Herzfrequenz in der großen Eishöhle, deren Decke nun in einem leichten Azurblau gedämpft leuchtete. Auf der anderen Seite der riesigen Höhle hatte er bereits Staff Sergeant Joseph Stark entdeckt, der ihm zugewinkt hatte. Direkt hinter Stark lehnte Master Sergeant Clifford Osborne als schwarzer Schatten an der kalten Felswand und hustete. Stark hatte ihn also bereits aus dem Bergwerk hierher in die Eishöhle gebracht und jetzt galt es, den verwundeten Beret irgendwie über diesen verdammten Abgrund zu befördern, erkannte Jones. Aber zuerst musste er rüber auf die andere Seite klettern. Und darauf hatte er wenig Lust.

“Mach schon, Jones!”, bellte Stark gereizt. “Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.” Er winkte mit seinem Arm und forderte Jones auf, endlich los zu klettern.

“Ach halt doch dein beschissenes Maul, du Trottel”, murmelte Jones für den ranghöheren Stark unhörbar. Dann spuckte er aus, packte das dicke Tau, das vor ihm in die Tiefe hing und ließ sich daran zwei Meter nach unten gleiten. Er landete auf einer beinahe waagrechten Eisscholle und sah nach vorne.

“Beeil dich, Jones!”, befahl Stark von drüben.

“Fuck”, schimpfte Jones, dann begann er zu klettern und zog dabei das Seil hinter sich her.

 

 

Der kleine See im Hochkar, Ötztal

10.Jänner 2017

09:05 Ortszeit

 

 

Oberleutnant Herbert Wohlfarter traute seinen Augen nicht. Direkt vor ihm, verhüllt von einer dünnen, weißen Plane und teilweise zugeschneit, stand ein amerikanischer Hubschrauber, so wie er noch nie einen gesehen hatte. Die Maschine war groß und schwarz, sah unförmig und utopisch, fast futuristisch aus. Mit all seiner Asymmetrie, den vielen scharfen Kanten und ebenen Flächen, sowie den spitzwinkeligen Fensterflächen sah der Helikopter angriffslustig und gefährlich aus. Der Oberleutnant hatte jedoch wenig Zeit für eine nähere Besichtigungstour und wandte sich von dem High-Tech-Fluggerät ab. Er ging an den Leichen vorbei, die sie direkt neben der Maschine gefunden hatten und um die sich bereits die Notfallteams versammelt hatten. Die Ärzte und Sanitäter, die nur mehr den ohnehin glasklaren Tod der noch unbekannten Personen feststellen konnten, standen nun untätig herum und warteten, wie es weiter gehen würde. Wohlfarter, der das selber noch nicht so genau wusste, ließ die Sanitäter hinter sich und näherte sich dem Ufer des zugefrorenen Sees. Es schneite nach wie vor, nur der Wind hatte sich gelegt, sodass die dicken Flocken langsam zu Boden fielen. Er hatte das Visier seines Schutzhelms hochgeklappt, sah über die glatte Fläche des Sees und dachte nach.

Er hörte das Bellen der Hunde und drehte sich abrupt um. Ein weiterer Cobra-Beamter winkte ihm zu und deutete bergwärts. Wohlfarter sah in die angegebene Richtung und versuchte, irgendetwas zu erkennen. Dann hörte er Halterufe seiner Beamten und anschließend aufgeregte Stimmen in einer anderen Sprache. Wohlfarter setzte sich in Bewegung und hastete durch den hohen Schnee auf den Tumult zu. Dann verstand er die Stimmen und die Sprache.

Es war Englisch. Welch Überraschung.

Wohlfarter erreichte schließlich die Beamten mit den Diensthunden, die offenbar jemanden gefunden hatten. Er sah zwei Beamte, die mit ihren Stg77 die Verdächtigen in Schach hielten und zwei Hunde, die von ihren Führern gebändigt worden waren, bevor sie die Männer, die sie aufgespürt hatten, zerfleischen konnten. Der Oberleutnant sah die beiden Männer, amerikanische Piloten, wie er an ihren Abzeichen und den Stars n‘Stripes-Stickers an ihren Oberarmen erkannte, und fragte sich, wen er hier oben wohl noch alles hinter Schneewächten aufstöbern würde. Beide Männer waren über und über mit Schnee bedeckt und hielten die Arme ergeben in die Höhe gestreckt. Sie sahen müde und geschafft aus. Wohlfarter sah die beiden Faustfeuerwaffen, die man den Piloten bereits abgenommen hatte und nickte den Beamten mit den Sturmgewehren zu, die sich daraufhin ein paar Meter zurückzogen. Dann winkte er einen Notarzt zu sich, der die Männer untersuchen sollte. In der Zwischenzeit würde er sich ein bisschen mit ihnen unterhalten, entschied er.

„Mein Name ist Lieutenant Herbert Wohlfarter“, sagte er auf Englisch. „Und nun sagen Sie mir bitte kurz und prägnant, wer Sie sind, was Sie hier tun und nennen mir die weiteren Personen, die sich hier noch unerlaubt auf österreichischem Staatsgebiet aufhalten.“

Wohlfarter blieb ruhig und sachlich, sein Blick deutete jedoch auf seine steigende Verärgerung über diese freche und skandalöse Verletzung der Neutralität und Souveränität des Staates Österreich durch die Vereinigten Staaten hin. Er beugte sich nach vorne, um seinen nächsten Worten Nachdruck zu verleihen.

„Packen Sie aus, Gentlemen, und zwar schnell.“

Und das taten sie dann auch.

 

Im alten Bergwerk, Ötztal

10.Jänner 2017

09:12 Ortszeit

 

Nina, die inzwischen wieder wach war und sich nur ungern von Steven gelöste hatte, untersuchte den Verband, den sie um den Oberschenkel des Präsidenten gelegt hatte und hustete. Ihr war schwindlig, sie hatte Kopfschmerzen und ihre Nase lief beinahe durchgehend. Zusätzlich kratzte ihr Hals und das Schlucken tat weh. Sie war krank und doch musste sie jetzt diejenige sein, die die Initiative ergriff.

President James war blass und zitterte ebenfalls. Sie hatte ihn halbwegs bequem gebettet, mit dem Rücken gegen einen Holzsteher, direkt gegenüber lehnte Steven Crowe mit halb geschlossenen Augen. Nina sah, dass die Blutungen des Präsidenten nur sehr schwach waren. Er hatte unglaubliches Glück gehabt, dass die Kugeln keine wichtigen Blutgefäße oder den Oberschenkelknochen getroffen hatten. Doch er war trotzdem schwer verletzt und bei dieser Kälte und der Odyssee, die sie hinter sich hatten, war er sehr geschwächt. Außerdem war er auch krank, wie sie an seinem häufigen Husten, beinahe schon ein Keuchen, erkannte.

Marvin James beobachtete sie, wie sie ihn versorgte und hob seine Hand, um die ihrige zu ergreifen. Es gelang ihm erst beim zweiten Mal, er zitterte zu stark.

„Danke, Commander“, flüsterte er aus trockenen, brüchigen Lippen. Nina sah überrascht auf und blickte in die trüben, müden Augen, die sie seltsam friedlich ansahen.

„Sie helfen mir, obwohl ich mir mittlerweile nicht mehr sicher bin, ob ich Ihre Hilfe auch verdient habe“, keuchte er mühsam, um danach ausgiebig zu husten.

Nina dachte über die Worte nach, die der Präsident eben gesagt hatte und die für sie so überraschend gekommen waren wie der plötzliche Absturz der Air Force One.

Was war denn jetzt los?

Was trieb James nur zu diesen Worten?

Sie war beinahe sprachlos und beobachtete den zusammengefallenen, um Jahre gealterten Mann mit den grauen Bartstoppeln im schmutzigen Gesicht, den wirren Haaren und den zitternden, fleckigen Händen, die ihre Hand fest umklammert hielten. Doch die Art und Weise, wie er sie festhielt, war nicht Besitz ergreifend, sondern eindeutig Hilfe suchend. Das spürte sie deutlich und im gleichen Moment spürte sie, wie ihre Abneigung gegen diesen arroganten und herzlosen Mann langsam verebbte und einem Gefühl des Mitleides wich.

„Was immer Sie getan haben, Sir“, antwortete sie nachdem er ausgehustet hatte, „Sie müssen alleine damit leben und damit fertig werden.“

Er sah sie müde und traurig an, nickte langsam.

„Doch Hilfe steht jedem Menschen auf der Welt zu, auch Ihnen.“

Er sah sie an und sie merkte, spürte beinahe, wie er nachdachte.

„Sie sind hier nicht allein, Mr. President. Wir bleiben bei Ihnen und wir werden Sie hier raus bringen.“

Und da verstand er, was er all den Männern angetan hatte, die er im Stich gelassen hatte, die er verraten und damit zum Tode verurteilt hatte. President Marvin James kannte nun das Gefühl, wie es ist, wenn man sich allein und verlassen fühlt, die dämmernde Gewissheit, dass man mit keiner Hilfe mehr rechnen darf, dass man allein dem Feind ausgesetzt ist, dass man zum Verlieren auserkoren worden ist, dass man sterben muss, und nichts dagegen unternehmen kann.

Und er kannte auch das Gefühl, wenn man in dieser Situation, in der alles verloren scheint, doch noch Hoffnung findet, so wie er jetzt Hoffnung empfand, wenn er in das Gesicht der jungen Frau sah, die sich um ihn kümmerte.

Und dieses wunderbare Gefühl hatte er all den Menschen verwehrt, die wegen ihm gestorben waren.

Ihm wurde schwindlig, als all die Verantwortung und die Schuldgefühle wie die tosende Brandung des Pazifik über ihn hereinbrachen. Er schloss die Augen und fühlte, wie sich die Tränen sammelten. Er zitterte nun heftig und seine Hand wurde kraftlos. Er ließ Nina los, dann weinte er.

 

Steven Crowe beobachtete den Staatsmann und Nina teilnahmslos und wie in Trance. Er konnte seine Schulter nicht spüren, sein Kreuz tat höllisch weh und seine Beine waren kalt und klamm. Es fiel ihm schwer, seine Augen offen zu halten, doch als James angefangen hatte zu reden, hatte sich Crowe gezwungen, zuzuhören.

Immer wieder schlossen sich seine Augen und er dämmerte für wenige Sekunden weg, doch er kam wieder zu sich und verfolgte das kurze Gespräch.

Erstaunlich, dachte er.

Doch wenn er erst wieder im Warmen und in Sicherheit sein würde, dann würde sich James an nichts erinnern, was er gerade eben gesagt hatte. Nichts würde für diesen Mann mehr Bedeutung haben, als er selbst. Momentan war er schwach und emotional angegriffen, konnte sich Sentimentalitäten leisten. Doch wenn er wieder in Höchstform war, würde all dies hier vergessen sein.

Genau wie die vielen Männer vergessen waren, die James auf seine Weise getötet hatte.

Steven Crowe glaubt nicht an die dauerhafte positive Veränderung eines Menschen, sah hinüber zu dem Präsidenten, der weinte und zitterte, dann fühlte er wieder die Schwärze, die nach ihm griff. Er spannte seine Muskeln und erzeugte so Schmerzen, die ihn wach rüttelten. Die Schwärze wich zurück, doch nicht sehr weit, blieb viel näher, als beim letzten Mal.

Nicht mehr lang, das wusste Crowe, dann würde sie ihn erwischen, sich ihn schnappen, vielleicht zum letzten Mal.

Dann war Nina wieder bei ihm, er konnte ihr Gesicht sehen, er konnte ihre Nähe spüren. Er fühlte ihre kühle Hand auf seiner Stirn, auf seinen Wangen, auf seinem Hals. Dann spürte er die Wärme ihres Körpers, als sie sich neben ihm niederließ.

„Nicht einschlafen, Steven“, sagte sie und drehte seinen Kopf zu ihr hin.

„Ich brauche dich“, flüsterte sie und wischte die dunklen Haare aus seinem Gesicht, befreite seine glanzlosen, müden Augen. Sie drückte ihn an sich und versuchte, das wenige am Wärme, das sich noch in ihrem Körper befand, mit ihm zu teilen. Sie hatten es bis hierher geschafft, sie würden es auch bis zum Schluss schaffen.

„Nicht einschlafen, Steven“, flehte sie.

„Bleib wach, bleib bei mir!“

Ihr warmer Atem benetzte sein Gesicht und holte ihn zurück aus der Dämmerung, zumindest kurz. Seine Augen suchten nach ihr, fanden schließlich die ihren und verharrten, bevor sein Blick wieder zu flackern begann, als die Schwärze erneut nach ihm griff. Tränen sickerten aus Ninas Augenwinkeln, tropften auf die schwarzen, kurzen Bartstoppeln auf seinen Wangen und blieben dort bewegungslos hängen. Sie hielt sein Gesicht mit beiden Händen und drückte ihre Stirn gegen die seine, als weitere Tränen sein Gesicht benetzten. Ihre Lippen öffneten sich und wanderten nach unten.

Dann küsste sie ihn.

 

Die Eishöhlen, Ötztal

10.Jänner 2017

09:33 Ortszeit

 

 

Verdammt, war dieser Osborne schwer, dachte Corporal Willy Jones, als er seinen verwundeten Kameraden langsam von seinen Schultern in den Schnee gleiten ließ. Osborne stöhnte, als er den kalten Boden berührte und Jones sah das Blut, das das frische Weiß in ein dunkles Rot färbte.

„Nur mehr da vorne runter, Corporal, dann müsste der Ausgang kommen“, sagte Sergeant Stark, der jetzt wieder mit dem Tragen an der Reihe war. Den größten Teil des Weges hatten die Männer ihren Kameraden gemeinsam getragen, doch dann hatten sie gemerkt, dass es in den engen Stollen sogar leichter war, wenn ein Mann den Weg beleuchtete und der zweite Mann den Verwundeten trug. Dies kostete zwar Kraft, doch daran fehlte es den Green Berets nicht.

Nun war es Stark, der sich den schweren Osborne mit Jones Hilfe auflud. Osborne stöhnte und murmelte irgendwas Unverständliches. Er befand sich bereits in einem deliriumsartigen Zustand, hatte viel Blut verloren und sah so aus, als ob er es nicht mehr lange schaffen würde. Das erkannte auch Jones.

„Los, Sergeant, sonst krepiert Osborne noch auf deinem Rücken.“

„Beleuchte mir lieber den Weg, Jones“, schnauzte Stark, „und halt deine verdammte Klappe.“

„Ach leck mich, Stark“, murrte Jones, ging an dem schwer beladenen Mann vorbei und achtete darauf, dass der Weg mit all seinen Stolperfallen und rutschigen Stellen ausreichend beleuchtet war. Nicht dass Stark noch stürzte und sich was brach, dachte Jones. Dann würde er nämlich alle beide hier allein rausschleppen müssen. Wenn sie erst beim Hubschrauber waren, dann würde er sich hinhauen und schlafen und in der Nacht würden sie dann…

Instinktiv hob Jones sein M4 und zielte in die Dunkelheit vor sich, in der er Bewegung erahnt hatte. Irgendwas war durch das matte Licht gehuscht, das von weiter vorne durch den Eingang zu den Höhlen einfiel, da war Jones sich sicher.

Vielleicht die Piloten?

Sehr unwahrscheinlich.

Der verkackte John Rambo, der den Major gekillt hatte? Schon eher.

„Verdammte Kacke“, flüsterte Jones und entsicherte sein M4.

„Fuck!“ ergänzte er ängstlich.

 

„Sie kommen raus, Herr Oberleutnant“, flüsterte ein Beamter, der neben Wohlfarter im Schnee lag, zu. Wohlfarter nickte und hob sein StG77.

„Dann wollen wir sie mal gebührend empfangen“, sagte er. Dann erteilte er ruhig seine Befehle über Funk und sie warteten auf die Green Berets.

 

Vorsichtig spähte Jones ins Freie. Er schwitzte stark, konnte aber im dichten Schneefall nichts erkennen. Alles war weiß und seine an die relative Dunkelheit der Höhle gewöhnten Augen schmerzten.

Er sah Fußspuren, die bereits wieder von einigen Flocken bedeckt waren, sodass er das Profil der Sohlen nicht mehr erkennen konnte. Die Spuren führten nach links entlang der Felswand durch den Schnee. Es war also tatsächlich jemand da gewesen, erkannte Jones. Der Schatten war real gewesen, er hatte sich nicht geirrt.

Wo konnte er ihnen auflauern? Jones überlegte, von wo die Gefahr über sie hereinbrechen konnte und stellte fest, dass es überall und nirgends Deckung gab. Angreifer konnten buchstäblich überall auf sie lauern, hatten dabei jedoch keine Deckung, die Kugeln abhalten konnte. Ein Angriff gegen zwei Berets musste also mutig und effektiv geführt werden, sonst musste man mit Gegenfeuer rechnen und das würde den Angreifer in seiner ungeschützten Position garantiert erwischen.

Außerdem war dieser Typ nur allein, dachte Jones. Und sie waren hier im Freien und zu zweit, wenn auch Stark durch Osbornes Gewicht auf seinem Rücken wesentlich eingeschränkt war. Sie hatten keine Wahl, entschied Jones, sie mussten raus aus der Höhle und rüber zum Helikopter.

„Los, Jones!“, befahl Stark hinter ihm.

Dann traten sie ins Freie.

 

„In Position bleiben, auf mein Kommando warten“, flüsterte Wohlfarter, der die drei Männer der Spezialeinheit entdeckt hatte. Er wollte warten, bis sie sich einige Meter von der Höhle und damit von einem möglichen Fluchtweg entfernt hatten. Er beobachtete sein Ziel weiter, wartete weitere angespannte Sekunden, dann betätigte er sein Funkgerät.

„Zugriff, Zugriff!, befahl er, dann schoss er in die Höhe.

 

Kurz dachte Jones daran, sofort das Feuer zu eröffnen. Doch nur kurz, dann sah er, dass er von mindestens einem Dutzend schwarz gekleideter Angreifer mit Sturmgewehren und Einsatzhelmen anvisiert wurde, die irgendwo vor und neben ihm aus dem Schnee aufgetaucht waren.  Er sah die rot-weiß-roten Aufnäher an den Oberärmeln der Jacken und hörte die Rufe der Männer, sofort seine Waffe fallen zu lassen und die Arme zu heben. Jones wusste, dass er erledigt war und gab auf. Er streckte den Arm aus und ließ den Griff des M4 los, das zu Boden fiel und lautlos im Schnee versank. Da hinter ihm auch noch keine Schüsse fielen, wusste er, dass Stark seinem Beispiel gefolgt war und sich ebenfalls ergeben hatte. Jones hob seine Hände hinter den Kopf und sah den Männern zu, die langsam auf sie zu schlichen und sie einkreisten.

POLIZEI, las er auf ihren schwarzen Schutzwesten.

Fuck, dachte er.

 

Im alten Bergwerk, Ötztal

10.Jänner 2017

10:04 Ortszeit

 

Steven Crowe sah Lichter. Helle Lichter, die nach ihm suchten und hörte Stimmen, die seinen Namen riefen. Er fühlte sich leicht, als schwebte er und warm, als läge er in seinem Bett. Bunte Lichterpunkte tanzten vor seinen Augen und er verfolgte amüsiert das Kreisen und Springen der Lichter, die dann aber wieder verblassten und tiefer, kalter Schwärze wichen.

Er hörte nun deutlich Stimmen und sah Lichterschein, nur sporadisch zuerst, dann immer deutlicher. Nina war aufgestanden und bewegte sich von ihm weg. Dann blieb sie wieder stehen und er hörte sie irgendetwas sagen. Er hörte weitere Stimmen, nun lauter und näher und da war mehr Licht, als zuerst. Dann schloss er die halb geöffneten Augen erschrocken, als grelles Licht ihn blendete. Er hörte einen Hund bellen, dann noch einen. Dann ergriff ihn eine weitere Schmerzwelle und er sackte zusammen, dämmerte kurz weg.

Er kam wieder zu sich und sah irgendetwas rotes, reflektierendes vor sich. Dann ein weiteres Licht, immer mehr Licht und dann laute Stimmen und wieder einen Hund. Dann wurde er plötzlich berührt. Er erschrak, als warme Hände sein Gesicht berührten und die Augenlider hochschoben. Grelles Licht leuchtete ihm entgegen und er versuchte, sich zurückzuziehen, die Augen zu schließen. Er konnte nicht, er war zu schwach.

„Herr Doktor“, hörte er auf Deutsch, „kommen Sie bitte schnell hierher.“

Crowe realisierte, dass sich das Licht wieder entfernte und versuchte die Augen zu öffnen, was ihm nicht gelang. Er fühlte, wie die Kraft ihn verließ und wie die restliche Wärme, die er noch in seinem geschundenen Körper trug, langsam in die kalte Luft der Höhle entwich. Die Schwärze war wieder da, so nahe wie nie zuvor und sie griff nach ihm, mit aller Macht. Er bäumte sich ein letztes Mal auf, doch es gelang ihm nicht, die Schwärze zurück zu drängen. Sie schwappte näher und hüllte ihn ein, erfasste ihn vollends und zog ihn mit sich.

Es war kalt, es war still, es war dunkel.

Er spürte nichts mehr.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Epilog

 

 

                           

Rom

10.Jänner 2017

Früher Nachmittag

 

Sergeant Bruce Dobbs stand gegen den dunklen Holzrahmen der schmalen Türe des kleinen Zimmers gelehnt und folgte gespannt der Berichterstattung auf dem Bildschirm des winzigen Fernsehers, der auf einer rostigen Wandhalterung an der fleckigen gelben Wand montiert war. Seine Tasche und die von Corporal Lavinski lagen gepackt auf dem Bett, sie waren aufbruchbereit. Sie warteten auf weitere Befehle.

Dobbs hatte eben geduscht, sich frisch rasiert und frische Unterwäsche angezogen. Das weiße Trägershirt, das er trug, verdeckte nur unzureichend seinen massiven Oberkörper. Den Schädel hatte er sich ebenfalls mit einer frischen Klinge kahl rasiert, nur ein schwarzer Kinnbart hatte die Rasur unbeschadet überstanden. Mit seiner linken Pranke drückte er mechanisch und unbewusst die Knöchel der rechten Faust bis sie knackten, einer nach dem anderen. Dann wiederholte er die Prozedur, wechselte dabei nur die Hände. Nun knackte die linke Faust.

Auf dem unscharfen und körnigen Bild des Fernsehers sah Dobbs, wie irgendwo im dichten Schneetreiben hunderte Blaulichter und dutzende Menschen aufgeregt durcheinander stoben und dabei die arme und leider mit viel zu dünnen Kleidern ausgestattete Korrespondentin anrempelten. Es war hinter der hübschen Dame mit der modernen Kurzhaarfrisur irgendetwas Wichtiges passiert, erkannte Dobbs. Dann schwenkte die Kamera und zoomte auf eine Gruppe Personen heran, die weiter entfernt war. Das Bild wackelte und man konnte kaum etwas erkennen. Anscheinend lief der Kameramann über die eisige Fläche eines Platzes, auf dem sich viele andere Menschen befanden. Manchmal konnte man kurz die Sprecherin mit ihrem Mäntelchen sehen, dann verschwand sie wieder. Schließlich tauchte ein Gitterzaun auf, hinter dem Dobbs uniformierte Gestalten erkennen konnte. Polizei, dachte er sich, als er die Aufschrift auf den dicken Jacken der Männer sah, die die aufgescheuchte Meute der Presse jäh stoppte.

Der Kameramann holte die Korrespondentin schließlich ein und schwenkte sein Objektiv in die Richtung, in die augenscheinlich alle anderen sahen. Die kleine Gruppe, die man vorhin gesehen hatte, war nun verschwunden, man konnte sie nirgends mehr entdecken. Offenbar waren diese Leute nicht weiter wichtig, da niemand nach ihrem Verbleib nachfragte. Kein Wunder dachte Dobbs, als er die schwarzen Umrisse der Hubschrauber entdeckte, die nun auf dem freien Platz jenseits der Absperrung landeten. Die Linse zoomte und wackelte, doch Dobbs erkannte, dass es sich um Black Hawks handelte, die den Hoheitszeichen auf ihren Schiebetüren nach zu urteilen jedoch keine amerikanischen Maschinen waren. Dobbs hatte den roten Kreis mit dem nach unten zeigenden weißen Dreieck noch nie zuvor gesehen, schätzte aber, dass es sich um österreichische oder schweizerische Maschinen handeln musste, da die Schrift auf den Polizeiwesten der Beamten eindeutig deutsch war. Und die deutschen Abzeichen kannte Dobbs von seiner NATO-Ausbildung her. Die waren es mit Sicherheit nicht.

Aha Österreich, dachte er, als er die neue Laufschrift las, die unten von rechts nach links über den Bildschirm raste.

+++ RETTUNGSOPERATION FÜR ÜBERLEBENDE DES AIR FORCE ONE CRASHES ÜBER ÖSTERREICH OFFENBAR IM GANGE +++

+++ MÖGLICHKEIT BESTEHT, DASS PRESIDENT JAMES UNTER DEN ÜBERLEBENDEN IST +++

+++ NOCH KEINE OFFIZIELLEN STELLUNGNAHMEN SEITENS DER BEHÖRDEN VOR ORT +++

Dobbs ließ ein Bier zischen, dass er sich aus dem schmuddeligen Eisschrank des kleinen Zimmers der Botschaft gefischt hatte und setzte die Dose an seine Lippen. Er leerte sie halb, dann sah er, dass sich etwas Neues auf dem Bildschirm tat. Während Corporal Marvin Lavinski im Bad die Dusche abdrehte und irgendein Liedchen summte, trat Dobbs näher an den Bildschirm heran, um mehr erkennen zu können. Die Kamera zoomte auf die gelandeten Helikopter und wackelte heftig, als sich die Türen öffneten.

Es war nur ein kurzer Moment, indem man einen freien Blick auf das Innere der Maschine erhaschen konnte, dann wurde die Sicht von heranbrausenden Krankenwagen und einem grimmigen bärtigen Polizisten verdeckt, der sich vor die Kameralinse geschoben hatte.

Doch Bruce Dobbs hatte genug gesehen, als er die halb leere Bierdose von einem lautlosen Fluch begleitet in den Mistkübel donnerte, sodass Bier auf den Tisch und auf die Wand spritzte und weitere Flecken verursachte.

Er hatte eben das blasse, mitgenommene doch eindeutig lebendige Gesicht des amerikanischen Präsidenten gesehen. Der Mistkerl hatte die Hand erhoben und sogar gewinkt, als ob er gespürt hätte, dass da Kameras waren.

Dobbs ballte die Hände zu Fäusten und sank auf das Bett, das unter seinem Gewicht protestierend knarrte und quietschte. Er massierte sich wütend und müde die Augen und vermied es, weiter auf den Bildschirm zu blicken, auf dem nun ohnehin nichts Neues zu sehen war. Nur eine völlig aufgeregte Moderatorin schien irgendwas gesehen zu haben, von dem sie glaubte, dass es sich möglicherweise um den geretteten Präsidenten handeln könnte. Sie versprach, rasch näheres herauszufinden, wurde doch in ihrem Enthusiasmus jäh unterbrochen, als Dobbs den roten Knopf auf der Fernbedienung drückte. Es zippte, der Bildschirm erlosch und die Fernbedienung landete beim Bier im Mistkübel.

Dobbs hatte wieder zu denken begonnen, nachdem die Welle des Misserfolges und der Enttäuschung über ihn hinweg geschwappt war. Doch sie hatte ihn nicht umgeworfen, er war bereits wieder im Spiel.

Und dieses Mal stand sein Leben auf dem Spiel, erkannte er glasklar, während sich die Badezimmertür öffnete und Marvin Lavinski den Raum betrat. Der dünne hässliche Mann, den Dobbs nun beobachtete, während er nachdachte, trug nur ein ebenfalls fleckiges Badetuch um die knochigen Hüften und ein paar orange Badeschlapper, die er irgendwo in dem geschmacklos dunkelbraun gefliesten Badezimmer gefunden haben musste.

Dobbs sah in das eingefallene Gesicht seines Corporals, betrachtete die Hakennase und den großen Kehlkopf, der sich bei jeder Schluckbewegung weit auf und ab bewegte und dachte weiter nach. Seine Gedanken kreisten um seine Situation und fanden sich in einer bemerkenswerten Klarheit zu einer einzigen Schlussfolgerung zusammen.

Es war eigentlich ganz einfach, resümierte Dobbs.

Er wusste genau, was er zu tun hatte.

Wir haben neue Befehle“, sagte er ruhig zu Lavinski, der sich überrascht umdrehte.

In Echt, Sarge?“, fragte er und Dobbs nickte milde.

Zieh dich an, dann verschwinden wir hier“, befahl Dobbs und stand auf.

Wo geht‘s hin, Sarge?“ fragte Lavinski und grinste schon wieder.

Lass dich überraschen, Corporal“, antwortete Dobbs und grinste böse.

Ein Einsatz? Werden wir die Sache zu Ende bringen?“ fragte Lavinski und entblößte seinen gelben Zähne.

Das werden wir, Lavinski“, brummte Dobbs und ging an seinem Kameraden vorbei.

Wir werden die verdammte Sache zu Ende bringen.“

Cool“, grinste Lavinski, ließ das Handtuch fallen und suchte nach seiner Unterwäsche.

Cool.“

 

Etwa eine Stunde später fuhren die beiden in einem Botschaftswagen die A91 nach Westen in Richtung Flughafen Fiumicino. Das Wetter war trüb und es regnete leicht. Der Verkehr auf der Autobahn war relativ dicht, sodass Dobbs, der das Fahrzeug fuhr, sich konzentrieren musste, um keinen Auffahrunfall zu verursachen.

Schließlich erreichten sie die Ausfahrt und verließen die Autobahn um auf das riesige Areal des Airports zu gelangen. Es war noch ein Stück auf der Zubringerstraße zum Flughafen, als Dobbs den Blinker betätigte und nach rechts von der Straße abbog. Er lenkte den Dienstwagen auf einen Parkplatz, der etwas abgelegen und zu drei Vierteln leer war. Er parkte den Wagen und der Motor erstarb. Dann sah Dobbs hinüber zu Lavinski, der ihn erwartungsvoll ansah.

„Was machen wir hier, Sarge? Ich meine, wenn wir zu unserem Terminal wollen, dann bist du wohl etwas zu früh abge…“

Bruce Dobbs schlug mit aller Kraft und Schnelligkeit zu, über die er verfügte und traf Lavinksi mit der Handkante ein paar Zentimeter unterhalb des Kinns. Dabei zerquetschte er zuerst den hüpfenden Kehlkopf und zertrümmerte anschließend die Halswirbelsäule, die mit einem lauten Knacken brach.

Kurz schien Lavinski Dobbs überrascht anzublicken, dann erloschen seine Augen und der Kopf klappte schlaf zur Seite. Lavinskis Zunge hing aus seinem Mund und Dobbs hörte ein seltsames Geräusch aus dem Rachen des Toten, das er nicht einzuordnen wusste.

Es war ihm aber auch egal, also schnallte er sich ab, öffnete die Tür und stieg aus. Er knallte die Tür zu und ging nach hinten, um den Kofferraum zu öffnen. Dort schnappte er sich seine Reisetasche und eine braune Plastiktüte, die er zuvor bei einer Drogerie mitsamt dem Inhalt erstanden hatte. Dobbs knallte den Kofferraum wieder zu und sah sich unauffällig um, ob ihn irgendwer beobachtete. Immer noch war niemand da, stellte Dobbs zufrieden fest. Er ging wieder nach vorne und klemmte sich hinters Steuer des Wagens, startete den Motor und fuhr los. Die Plastiktasche und die Reisetasche warf er auf den Rücksitz, er würde sie später brauchen. Er achtete nicht auf Lavinskis schlaff baumelnden Schädel, als dieser in der ersten Kurve, in die Dobbs fuhr, gegen das Seitenfenster klatschte. Keine halbe Minute, nachdem er Lavinski getötet hatte, war er wieder auf der Autobahn und fuhr zurück in Richtung der italienischen Hauptstadt.

 

 

Dobbs fand die Stelle passend, die er sich als Unfallort für seinen ehemaligen Partner ausgesucht hatte. Die schmale Straße war steil abfallend und führte in einer scharfen Kurve nach rechts, wo sie sich dann in weiteren engen Kurven die sanften Hügel hinunter schlängelte. Weiter westlich konnte man den Dunst der ewigen Stadt entdecken, das Meer sah man jedoch nicht. Eine verrostete Leitplanke sollte Fahrzeuge am Absturz hindern, sah aber eher so aus, als ob sie demnächst selber in die Tiefe stürzen würde. Und das von ganz alleine. Dobbs hatte den Wagen auf einem kleinen, leeren Aussichtsparkplatz abgestellt und Lavinski sah so aus, als ob er ruhig auf dem Beifahrersitz schliefe. Der große Marine kehrte schließlich zum Wagen zurück, nachdem er einen ausführlichen Blick über die wacklige Leitschiene und den steil abfallenden Abgrund dahinter geworfen hatte. Er startete den Motor, legte den Leerlauf ein und zog die Handbremse. Dann kletterte er wieder aus dem Wagen und umrundete ihn, um die Beifahrertür schwungvoll aufzureißen. Er fing Lavinski auf, der ihm schlaff entgegen rutschte und sah sich anschließend um.

Niemand war zu sehen, er war ganz alleine.

Schließlich umrundete er das Fahrzeug erneut und setzte Lavinski behutsam auf den Fahrersitz nieder. Er verstaute die starren Beine der Leiche unter dem Lenkrad und schnallte den Körper an. Dann schob er den Sitz so weit nach vorne, dass er für Lavinskis geringere Körpergröße passte und stand auf. Er knallte die Tür zu und sah sich wieder um. Er hörte Motorenlärm und duckte sich hinter den Wagen. Als das andere Auto vorbei gefahren war, stand er wieder auf und öffnete die Hintertür. Er schnappte sich die Plastiktasche und seine Reisetasche und schlug die Tür wieder zu. Aus der Plastiktüte holte er eine weiße Plastikflasche, deren Deckel er langsam abschraubte. Dobbs stellte seine Reisetasche am Rande des Parkplatz unter einen dürren Baum. Dann kehrte er zum Wagen zurück und ging neben der Fahrertür in Stellung. Mit einem wuchtigen Hieb seines Ellbogens zertrümmerte er die Seitenschiebe und dutzende Scherben regneten ins Innere auf den Schoß des toten Lavinski. Ein kurzer Rundumblick ließ ihn in seinen Bemühungen pausieren, dann fuhr Dobbs fort. Er spritzte den Spiritus ins Innere des Wagens, auf Lavinskis Kleider, sein Gesicht und auf die Rückbank. Er leerte die Flasche zu zwei Dritteln, dann hielt er inne. Er holte ein Shirt aus der Reisetasche seines toten Kameraden und tränkte es mit dem Rest des Alkohols. Schließlich schraubte er den Tankdeckel auf und stopfte das Shirt hinein, so dass nur mehr ein Zipfel des weißen Stoffes heraus hing. Als die Flasche schließlich leer war, warf er sie auch ins Innere des Wagens und ging ein paar Schritte zurück. Er holte ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sorgfältig seine Hände damit ab. Danach kontrollierte er, ob seine Kleidung irgendwo mit dem Spiritus in Kontakt gekommen war. Schließlich, als er keine Spur des Alkohols an sich entdecken konnte, holte er das kleine silberne Benzinfeuerzeug aus seiner Tasche und klappte den Deckel hoch. Ein letzter Blick überzeugte ihn, dass er alleine war. Dann langte er ins Innere des Wagens und schob den Hebel der Automatik auf Drive. Das Fahrzeug setzte sich langsam in Bewegung, sodass er neben her gehen konnte. Er würde das Fenster locker treffen, wusste er. Er wusste auch, dass das alte Feuerzeug nicht erlöschen würde, er hatte das früher schon mal ausprobiert, im Irak. Das Fahrzeug wurde jetzt immer schneller, sodass er jetzt handeln musste.

Und er wusste, dass er Lavinski nicht vermissen würde.

Er würde niemanden vermissen.

Und ihn würde auch niemand vermissen.

Die Flamme züngelte hoch, als er das Rad mit dem Daumen drehte und sie brannte ruhig, als er das Feuerzeug vor seine Augen hob. Die Straße war nach wie vor leer.

Dobbs sagte nichts, keinen Spruch, als er das Feuerzeug durch das Fenster warf. Lavinski war ihm egal, dachte er, als er sich von dem Bellen der Stichflamme abwandte, die das gesamte Fahrzeug ergriffen hatte. Stichflammen züngelten aus dem Fenster und schlugen vom Fahrtwind getrieben nach hinten. Es dauerte nur Sekunden, bis sich die Dämpfe des mit Spiritus getränkten Lappens im Tank entzündeten und eine zweite Stichflamme fauchte. Das Auto fuhr jetzt mit etwa dreißig Stundenkilometern und hielt zielstrebig auf die Leitschiene zu. Dobbs beobachtete den Wagen, wie er mittlerweile lichterloh brennend das Stück rostige Metall der Leitschiene mühelos durchschlug und schließlich im Abgrund verschwand. Er hatte sich bereits abgewandt und horchte dem Scheppern und Krachen des Unfallwagens, als dieser mitsamt seinem verunfallten Opfer den Abhang hinunterstürzte, um schließlich unten ankommend in einer filmreifen Explosion zu zerschellen.

Der große schwere Mann marschierte in aller Ruhe über den Parkplatz zurück zu der Serpentinenstraße. Er hatte vorhin beim Vorbeifahren eine Bushaltestelle entdeckt, vielleicht einen halben Kilometer bergwärts in einem kleinen Kaff.

Dobbs erreichte die Bushaltestelle nach wenigen Minuten  Fußmarsch und bestieg den nächsten Bus, der nach Rom fuhr. Niemand hatte den Unfall bemerkt, stellte er zufrieden fest und lehnte sich in dem für ihn viel zu kleinen Schalensitz zurück.

 

Eine halbe Stunde später befand er sich am Bahnhof Termini und löste eine Fahrkarte für den Da Vinci Express, der ihn zum Flughafen brachte. Er blieb die gesamte halbe Stunde über still, die er in dem Großraumwaggon saß und überlegte seine weiteren Schritte. Dann, als der Zug unterhalb des Flughafens einfuhr, wusste er, was er zu tun hatte.

Fünf Minuten später erreichte er seinen Terminal. Er marschierte an den Reihen der sündhaft teuren Geschäfte vorbei und verschwand in einem kleinen, feinen Laden für Herrenbekleidung. Er zahlte bar und verließ das Geschäft mit einer neuen Herrentasche und einer bunten Papiertüte in der Hand, die er in den nächst besten Mülleimer warf. Das, was er gekauft hatte, trug er am Körper, die alten Kleider in der Tüte brauchte er nicht mehr.

Dobbs ging zu einem der vielen Informationsschalter und erkundigte sich bei der aparten kleinen Italienerin nach den Möglichkeiten, hier einen Flug zu buchen. Er war charmant, lächelte gewinnend und trug einen teuren Anzug von Hugo Boss, der seinen bulligen Körper etwas verhüllte. Die Tasche, die er trug, war aus schwarzem Leder und der Silberring an seiner Hand glänzte im Licht der Neonröhre über dem Infoschalter. Die hübsche Italienerin lächelte zurück und beantwortete freundlich alle seine Fragen. Sie gab ihm gerne Auskunft über die Flüge, die ihn interessierten, und er bedankte sich freundlich. Er zwinkerte ihr zu, bevor er sich umdrehte und den Infostand verließ.

Dobbs spazierte in aller Ruhe durch die Hektik des Flughafenbetriebes, kaufte sich eine Zeitung und eine Sonnenbrille und erstand dann am Schalter der Air France ein Ticket erster Klasse nach Havanna, das er bar bezahlte. Anschließend zog er sich in die VIP-Lounge zurück und wartete auf seinen Abflug. Niemand, der ihn hier sitzen und in seiner Motorsportzeitung blättern sah wusste, dass er heute schon einen Menschen getötet hatte.

 

Um 19:40 bestieg er einen Airbus A320 der Air France, der ihn durch ein turbulentes Sturmtief nach Paris flog. Dort verbrachte Dobbs weitere Stunden mit Warten, bis er schließlich eine Boeing 747 bestieg, die ihn dann über den Atlantik nach Kuba flog. Als er dort durch den Zoll marschierte, benutzte er bereits einen anderen Pass.

Keine Stunde später war er untergetaucht.

 

 

Wien

13.Jänner 2017

Kurz vor Mittag

 

Bundeskanzler Walter Stein saß alleine in seinem großzügigen Büro und wartete, während er dem Freizeichen im Telefonhörer zuhörte. Es klickte mehrmals und dauerte weitere fünfzehn Sekunden, bis sich schließlich am anderen Ende der Leitung jemand meldete.

„Hallo? Herr Bundeskanzler?“, hörte Stein auf englisch. Er räusperte sich und antwortete, begrüßte sein Gegenüber und gab sich dem kurzen Spiel des gegenseitigen Zuwerfens von diplomatischen Floskeln hin, das er in seiner langjährigen Tätigkeit in Washington perfektioniert hatte. Schließlich, nach etwa drei oder vier Minuten der üblichen Begrüßungszeremonie, hatte er genug und kam direkt zum Kern seines Anliegens.

„Herr Vizepräsident“, begann er höflich, „mit allergrößtem Erstaunen und mit einem erheblichen Maß an Befremdung habe ich feststellen müssen, dass sich Angehörige der bewaffneten Streitkräfte Ihres Landes tief in unser Staatsgebiet vorgewagt haben.“ Stein machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion des Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten, die mangels genauer Kenntnis des Sachverhaltes jedoch ausblieb. Stein lächelte milde, als er fortfuhr.

„Im Sinne der langjährigen Freundschaft unserer beiden Länder, und davon ausgehend, dass es sich bei diesem Vorfall um ein unglückliches Missverständnis handeln muss, möchte ich gerne davon absehen, diesen Umstand zu Ihrem Nachteil der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ich könnte mir da durchaus vorstellen, dass wir uns in dieser Sache irgendwie arrangieren könnten.“

Wieder war es still in der Leitung und Stein dachte für einen Moment, sein Gegenüber könnte vom Schlag getroffen oder von einem Herzinfarkt nieder gestreckt worden sein. Doch dann antwortete der Vizepräsident.

„Ihr Angebot ist sehr großzügig, Herr Bundeskanzler. Und ich versichere Ihnen, dass es sich tatsächlich um ein Missverständnis von biblischem Ausmaß handelt. Ich möchte mich hiermit aus tiefstem Herzen für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, die Ihnen durch dieses Versehen entstanden sind.“

„Keine Ursache, Herr Vizepräsident“, gab Stein elegant zurück.

„Und danke für die Rettung des Präsidenten“, ergänzte der Amerikaner.

„Das war eine Selbstverständlichkeit, für die uns keinerlei Dank gebührt. Der Dank gehört vielmehr den mutigen Männern und Frauen der Rettungskräfte, die bei der gefährlichen Evakuierung vor Ort ihr Leben riskiert haben. Das sind die wahren Helden“, sagte Stein und er fühlte sich gut dabei.

„Da haben Sie recht, Herr Bundeskanzler. Wir werden das nie vergessen.“ Der Vizepräsident, dem das Gespräch unangenehm war, wollte zu einem Ende kommen. Doch Stein war noch nicht ganz fertig.

„Apropos Vergessen“, sagte er wie nebenbei. „Wohin sollen wir denn die Dinge schicken, die Ihre Landsleute bei uns in den Bergen vergessen haben?“

 

 

Maryland

13.Jänner 2017

nachmittags

 

General John Grant genoss den eisigen Wind auf seinem blassen Gesicht, der aus Osten wehte. Er konnte fast das Salz in der würzigen Seeluft riechen, die seit Stunden durch die heftigen Böen weit landeinwärts getrieben wurde. Obwohl der General kein Seemann war und auch nicht gern zur See fuhr, so liebte er jedoch die Küste und das Klima, das hier herrschte.

Grant saß alleine auf einem einsamen Hochsitz in einem verträumten Waldstück, etwa fünfzehn Meilen südlich der Hauptstadt. Er wischte mit einem öligen Lappen über den schwarzen Lauf seines alten Jagdgewehrs und paffte eine dicke Havanna, die er aus seinem umfangreichen Vorratslager mitgebracht hatte. Der blaue dicke Qualm, den er paffend ausstieß wurde sofort vom Wind über die graue Lichtung geweht, die sich vor dem General eröffnete. Eingebettet auf allen Seiten von dicken großen Laubbäumen war dies ein idyllisches Plätzchen, an dem sich Grant gerne, nur leider auch viel zu selten einfand.

Grant trug dunkelgraue Kleidung, Bundhose und Regenjacke, dazu schwarze Kampfstiefel der Army und eine Schirmkappe mit der Aufschrift: Operation Desert Storm ‘91. Die Hose hatte die obersten beiden Knöpfe geöffnet, da er wieder etwas zugenommen hatte. Auf seinem Schoß lag ein schwarzer Feldstecher von Zeiss, durch den er bis vor wenigen Minuten den Waldrand beobachtet hatte.

Bald würde die Dämmerung anbrechen und das Wild aus dem Schutz des dunklen Waldes und somit direkt vor seinen Lauf treiben. Vielleicht würde er einen Zehn- oder Zwölfender erlegen, dachte Grant. Vielleicht würde er aber auch ein wesentlich größeres Tier schießen. Das wusste er noch nicht genau.  Heute schien vieles möglich zu sein, das fühlte er unbewusst.

Seine Gedanken zogen ihre Bahnen und kreisten ruhig um die Ereignisse, die sich seit dem letzten Sommer unter seiner Regie abgespielt hatten. Er resümierte ihre ersten Gespräche, die drastischen Entscheidungen, die sie getroffen hatten und dachte über die umfangreichen Vorbereitungen nach, die sie so erfolgreich durchgeführt hatten. Er dachte an den Grund, warum er das alles getan hatte und wusste, dass es das Richtige gewesen war. Ja, sie hatten die richtige Entscheidung getroffen, die einzig richtige. Nichts war falsch an dem, was sie getan hatten, außer dem Ergebnis, das sie erzielt hatten.

Nein, so war das nun nicht geplant gewesen, dachte Grant mit mürrischem, verkniffenem Ausdruck seines schlaffen Gesichts. So war das ganz und gar nicht geplant gewesen. Und dabei hatte alles so reibungslos funktioniert, dachte er.

Die Vorbereitungen mit dem alten Baxter.

Die Operation in Italien, die verdammt schwierig und tödlich gefährlich gewesen war, bis hin zur Explosion der Air Force One.

Doch dann hatte der Zufall Regie geführt und unglaubliches Glück, oder Pech, je nachdem, auf welcher Seite man sich befand, hatte die Sache entschieden.

Punkt, aus, Pech, entschied er.

Dann hatten sie Bremner, diesen verdammten Verräter und Bastard erledigen müssen, und hatten gehofft, dass sie ihre zweite Chance nutzen würden und den Präsidenten am Boden festnageln konnten. Doch sein Protegé Ben Hart hatte kläglich versagt und war getötet worden.

Und er selbst, John Grant, war Schuld am Tod dieses Mannes, den er fast wie einen Sohn geliebt hatte und der sein Leben für ihn, den alten schwachen Hochverräter gegeben hatte.

Er erkannte auch die Konsequenzen, die aus ihrem Scheitern resultierten und er wusste, wohin letzten Endes alle Wege der Untersuchungskommission führen würden. Ja, wohin sie führen mussten. Er gab sich da keinerlei falschem Optimismus hin.

Da erschien ein kleines Reh am Rande der Lichtung und spähte vorsichtig aus dem Unterholz. Der zarte kleine Körper zitterte vor Anspannung und Kälte, mit Sicherheit hatte das Tier Hunger. Grant erspähte das Reh und hob sein Fernglas. Er beobachtete das Tier und stellte zufrieden fest, dass sich weiter hinten im Dickicht noch etwas bewegte. Vorsichtig ließ er das Fernglas wieder sinken und griff nach seinem Gewehr. Er überprüfte, ob sich die Patrone in der Kammer befand, dann hob er die lange Waffe. Er legte auf den Rand der Lichtung an, genau auf die Brust des Rehs und wartete. Durch das Zielfernrohr konnte er sogar die Zeichnung des Fells, den hellen Fleck auf der Brust des Tiers erkennen. Dort würde die Kugel einschlagen, dachte er, vielleicht ein bisschen weiter hinten, beim Gelenk der Vorderläufe, würde Knochen zersplittern und Gewebe und Muskeln zerfetzen.

Würde er einen Blattschuss landen?

Vermutlich, entschied er. Obwohl er schon lange nicht mehr geschossen hatte. Er beobachtete weiter das Reh und entdeckte nun weitere Tiere, die am Rand des Waldes auftauchten. Nun traute sich das mutige kleine Geschöpf und sprang leichtfüßig auf das trockene, graue Gras der Lichtung. Grant befeuchtete seine Lippen und presste den Kolben des Gewehrs gegen die Schulter. Sein Finger krümmte sich um den Bügel des Abzuges, sein Ziel befand sich direkt im Fadenkreuz. Er hatte einen großen Rehbock ausgesucht, keinen Hirsch, aber immerhin einen stattlichen Bock mit einem hübschen kleinen Geweih. Er senkte den Lauf und zielte genau auf die Brust des Wildes. Sein Finger krümmte sich weiter und er spürte den Widerstand des Abzugbügels.

Er wartete.

Er dachte nach.

Es ging alles sehr schnell.

Und es war dann sehr einfach.

General John Grant zog das Gewehr zurück, stellte den Kolben zwischen seinen Oberschenkel auf den Boden des Hochstandes und führte den Lauf zu seinem Mund. Er schloss die Augen und senkte die Hand, führte den Daumen in den Abzugsbügel und drückte durch.

Der Rehbock und seine Herde stoben auseinander, vertrieben von einem einzigen, lauten Knall, und verschwanden im Dunkel des dichten Waldes.

 

 

Arlington Nationalfriedhof

21.Jänner 2017

nachmittags

 

Helen Arnold weinte leise im kalten Nordwind. Sie stand einsam auf einem der vielen flachen Hügel des weitläufigen Friedhofgeländes und betrachtete tief in ihren traurigen Gedanken versunken den schlichten weißen Marmorgrabstein mit der schwarzen Aufschrift.

 

In Memory of

General William Jefferson Arnold

* 17.Mai 1961

T 11.Jänner 2017

 

Helen trug den schwarzen Mantel, den Will ihr erst kurz vor Weihnachten geschenkt und den sie sich so gewünscht hatte. Sie hatte es ihm nur einmal gesagt, dass er ihr gefiel, als sie ihn in dem kleinen Schaufenster gesehen hatte. Doch er hatte es sich gemerkt und als sie das geschmackvoll verpackte Paket dann unter dem Christbaum hervorgeholt und geöffnet hatte, war sie vor Freude über ihn hergefallen, hatte ihn umarmt und geküsst.

Nun war er tot und lag hier zwei Meter tief in der kalten feuchten Erde. Gestorben für sein Vaterland, so wie es für ihn anscheinend bestimmt war und wie sie es sich nicht in ihren schlimmsten Alpträumen hatte vorstellen können.

Helen schniefte und wischte sich die Tränen mit einem hellblauen Taschentuch ab und steckte es dann wieder in ihre schwarze Handtasche.

Warum, Will?

Das war die Frage, die sie sich seit dem Tag vor etwa eineinhalb Wochen beinahe andauernd gestellt hatte und die sie nachts nicht schlafen und am Tag nicht ruhen ließ.

Warum hast du mir das angetan?

Nach all den Kriegen und den gefährlichen Einsätzen musst du jetzt irgendwo in Europa sterben, meilenweit entfernt von jeder denkbaren Gefahr.

Sie fand das einfach unfair und gottlos.

Sie hatte das nicht verdient. Nicht nach all den Jahren, die sie meist einsam zu Hause zurück geblieben und auf seine Rückkehr gewartet hatte. Nicht nach all den Entbehrungen, die dieses Leben und die ständigen Wohnsitzwechsel mit sich gebracht hatten. Nicht jetzt, da sie sich auf ihren Ruhestand gefreut und die Last des Damoklesschwertes langsam von sich weichen gespürt hatte, da er jetzt nicht mehr ganz vorne stationiert war, sondern einen Schreibtischposten in Washington zugeteilt bekommen hatte.

Es war falsch, es war nicht fair, es war, es war…

Es war so unendlich traurig, dachte sie und weinte wieder. Eisiger Wind frischte auf und fuhr ihr durch Mark und Bein. Doch sie zitterte nicht, sie war viel zu müde dazu. Sie konnte auch bald nicht mehr weinen, das spürte sie. Dazu war sie auch zu müde.

Sie wollte nicht mehr, sie war alleine und niemand war da, um sie aufzumuntern oder einfach nur für sie da zu sein.

Immer noch weinend ging sie drei Schritte vorwärts und legte ein kleines dunkles Etui auf den weißen Marmor des Grabsteines. Sie berührte es noch kurz mit der Hand, dann zog sie sich wieder zurück.

Es war ihr kein Trost, doch sie wollte das Ding auch nicht zuhause haben. Es würde sie nur daran erinnern, wofür er sein Leben gegeben hatte. Und das war es nicht wert, fand sie. Das hatte dieser Mann, der jetzt wieder im weißen Haus saß und bei bester Pflege seine Genesung feierte, nicht verdient.

Er hatte es auch nicht verdient, dass ihr Mann für ihn gestorben war, und dafür hasste sie ihn.

Sie war verbittert und traurig, als sie sich umdrehte und langsam davon ging. Sie drehte sich noch einmal um und sah zurück zu dem weißen Grabstein.

Die Medal of Honor, die General Will Arnold verliehen bekommen hatte, blieb zurück.

 

Iran

27.Jänner 2017

nachmittags

 

Außenminister Victor Morales hatte seinen Frieden mit sich und der Welt gemacht. Er starrte auf den staubigen Boden der kleinen Hütte, in die man ihn verfrachtet hatte und dachte nach. Warmer Wind wehte durch Ritzen und Spalten des Bretterverhaus, der ihn an der Flucht hinderte. Strahlen hellen Sonnenlichts drangen durch ein Loch im Dach der Hütte und erhellten einen winzigen Punkt der lehmigen Rückwand, an die sich Morales lehnte. Am Boden stand ein verbeulter Blechteller, in dem sich der Rest von dem befand, was man ihm als Mahlzeit vorgesetzt hatte. Er hatte es nicht fertig gebracht, diese Pampe zu essen und nun surrten dicke schwarze Fliegen um den Teller.

Morales war geschlagen, getreten und mit einem glühend heißen Metallstab misshandelt worden. Sie hatten ihn geohrfeigt bespuckt und ihn mit Hundekot beworfen. Sie hatten ihren Spaß mit ihm gehabt und nun, nachdem sie ihn bereits seit drei Tagen in Ruhe gelassen hatten, rechnete er mit seiner baldigen Liquidierung. So lief das nämlich immer, wusste Morales aus eigener Erfahrung als langjähriger Diplomat. Zuerst war man interessant und genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit der Entführer. Dann ebbte diese mit der Zeit ab und zu guter Letzt, wenn dann auch kein Lösegeld floss, brauchte man die Geisel nicht mehr und musste sie loswerden.

Aber er war der Außenminister der Vereinigten Staaten. Sie konnten ihn nicht einfach umbringen, dachte er. Das würden sie nicht wagen.

Dann hörte er die Schüsse und die Schreie. Sie waren ganz nah, das spürte er. Eine Detonation, ganz nah, dann weitere Schüsse und das Knattern von Rotorblättern, dann weitere Schüsse. Morales Herz klopfte heftig, als er sich mühsam aus dem Staub erhob und zum Bretterverhau schlich. Er presste das Gesicht gegen das trockene Holz und spähte durch ein Astloch ins Freie. Er sah Männer aufgeregt umherlaufen und ihre Maschinengewehre abfeuern. Dann sah er einen Mann, der einen grauen Turban trug. Der Mann blieb stehen und legte seine Waffe an, um zu feuern. Dann traf ihn etwas Gewaltiges und sein Kopf löste sich in einen roten Sprühnebel auf. Teile seines Schädels und das Gehirn landeten auf der Straße, als der Mann lautlos nach hinten umkippte. Morales erschrak heftig und hatte alle Mühe, den Brechreiz zu unterdrücken, der in seiner ausgedörrten Kehle unaufhaltsam empor stieg. Er ging in die Knie, würgte mehrmals, erbrach sich jedoch nicht - vorerst.

Dann waren die Stimmen direkt vor der Tür in der rückwärtigen gemauerten Wand. Morales schreckte hoch und schnappte kraftlos nach Luft. Er presste sich Schutz suchend in eine Ecke seines kleinen Verlieses, als die Holztür krachend aufschwang und einer seiner Wärter mit zornigem und gleichzeitig ängstlichem Gesicht hereinstürmte. Er hielt seine Waffe in den Händen und sah wütend zu Morales hinüber. Dann brüllte er etwas und legte die Waffe auf Morales an. Der Außenminister hob abwehrend seine zitternden Hände und wandte sich verzweifelt an den Iraner.

„Bitte nicht, Sir!“, flehte er, dann hörte er die Schüsse und wusste, dass er tot war.

Doch als das Echo der Schüsse verhallte, lebte er immer noch. Ganz im Gegensatz zu seinem Entführer, der zuckend in einer sich ausbreitenden Blutlache lag. Morales zitterte vor Angst, als er zur Tür hinüber sah. Dort entdeckte er einen Mann mit schwarzer Hautfarbe und sandfarbener Uniform. Der Mann trug einen schwarzen Plastikhelm, eine Kampfweste und eine schwarze Sandbrille. In seinen Händen hielt der Soldat ein großes schwarzes Gewehr, dessen Lauf rauchte. Der Soldat näherte sich vorsichtig dem toten Entführer und trat mit seinem Fuß nach ihm. Er rührte sich nicht mehr, er war tot. Dann sah Morales die Flagge auf dem Oberarm des Soldaten und entspannte sich.

„Bleiben Sie unten, Herr Minister“, befahl ihm der Mann.

Und Morales duckte sich und weinte, während weitere Delta Force Soldaten die kleine Hütte betraten und sich schützend um ihn gruppierten.

 

Weißes Haus

04.Februar 2017

vormittags

 

Es war sein erster Besuch in seiner neuen Funktion im Oval Office. Admiral James Franklin erreichte einen der unzähligen altmodischen Spiegel, die in den weit verzweigten, mit weichem Teppich ausgelegten Gängen des Weißen Hauses an den Wänden montiert waren. Er blieb stehen und musterte die Gestalt, die ihm emotionslos entgegenblickte. Der dritte goldene schmale Streifen auf dem Ärmel seiner dunkelblauen Uniformjacke, der die zwei schon vorhandenen ergänzte, und den er erst vor zwei Tagen erhalten hatte, gefiel ihm. Er sah gut aus, fand er. Er war groß, seine Haltung war kerzengerade und wirkte manchmal fast angriffslustig. Er hatte dichtes, graues Haar und ein markantes, ausdrucksstarkes Gesicht. Seine Schultern waren durch das tägliche Training muskulös und breit, sein Teint hatte die gesunde Farbe der Männer, die ihr Geld nicht an einem Schreibtisch verdienten. Das würde sich jetzt zwar ändern, doch das war ihm egal.

Er war Admiral James Connor Franklin und er war der neue Vorsitzende der Vereinigten Stabchefs, die sich aus den Kommandeuren der einzelnen Teilstreitkräfte zusammensetzte. Dieser Posten des höchsten Soldaten der gesamten Streitkräfte, den zuvor der leider kürzlich verstorbene General Arnold inne gehabt hatte, war nach dem ebenfalls überraschenden Tod des eigentlichen Favoriten General Grant nun ihm, Admiral Franklin, zuerkannt worden.

Es war dies nun eine dieser Situationen, in denen man nicht wusste, ob man einfach laut loslachen oder nur völlig baff mit dem Kopf schütteln sollte, dachte Franklin, als er das Büro der Chefsekretärin des Präsidenten betrat und sich anmeldete. Die Dame war etwa in seinem Alter und lächelte ihm freundlich zu, während sie die Sprechanlage betätigte und den Besuch ankündigte. Während sie kurz mit dem Präsidenten sprach, führte sich Franklin nochmals die Ironie seiner Situation vor Augen und unterdrückte den Impuls, zu lächeln. Wenn er sich nicht selten dämlich anstellte, dann würde er sich aus der brenzligen Situation, in der er sich als erfolgloser Hochverräter befand, schon irgendwie herausmanövrieren können. Jetzt, nach dieser völlig unerwarteten Ernennung zum Vorsitzenden hielt er alle notwendigen Fäden in der Hand. Sollten sie es mal versuchen, ihn irgendwie mit dem Anschlag in Verbindung zu bringen, dachte Franklin kampfbereit. Er hatte alle seine Spuren verwischt und die einzige Person, die seine Verwicklung in die Verschwörung aufdecken konnte war General Garrett von den Marines. Es war nun Franklins erste Aufgabe, Garrett aus allen möglichen Untersuchungen, die da mit Sicherheit kommen sollten, heraus zu halten. Damit würde es vermieden, dass Garrett sich in die Enge getrieben fühlte und vielleicht aus Verzweiflung einen Deal mit den Untersuchungsbehörden auszuhandeln versuchte. Es wäre zwar schwierig für einen potentiellen Hochverräter, sich aus der Galgenschlinge zu befreien. Aber das Motiv, jemand anderen ebenfalls mit zur Hölle zu nehmen, sei es nur aus Rache oder als späte Genugtuung, war nicht neu und nur allzu menschlich.

Er würde Garrett morgen oder übermorgen anrufen und ihm seine Sicht der Dinge klarlegen, dachte Franklin, als sich die Tür zum Oval Office öffnete und ein grinsender, auf einer Krücke humpelnder Präsident erschien, um ihn persönlich zu empfangen.

„Admiral Franklin!“, lächelte der Präsident freundlich und winkte einladend, „kommen Sie doch bitte herein.“ Er lispelte leicht, was wohl an der nagelneuen blendend weißen Zahnprothese liegen musste, die seine in den Bergen verloren gegangenen Schneidezähne ersetzt hatte.

„Sehr gerne, Mister President“, antwortete Franklin höflich und setzte sich in Bewegung. Er würde Garrett im Auge behalten, dachte er, als er die ihm entgegen gestreckte Hand schüttelte. Der Griff des Präsidenten war kräftig, stellte er fest, dann war er auch schon auf dem hellgrauen Teppichboden des Oval Office. Er beobachtete den rekonvaleszenten Politiker, der sich auf seine Krücke stützte und hinüber zu dem riesigen Holzschreibtisch schlurfte, der das Zentrum des ovalen Raumes bildete. James ließ sich stöhnend in seinen Sessel mit gepanzerter Rückenlehne fallen und bedeutete Franklin, ihm gegenüber Platz zu nehmen.

„Stören Sie sich bitte nicht am meinem vorübergehenden Sprachfehler, Admiral“, sagte President James und lächelte. Er öffnete den Mund und zeigte auf seine neuen Zähne.

„Hab drei Zähne und meine halbe Zunge bei diesem feigen Anschlag eingebüßt“, übertrieb er. „Aber mein Ärzteteam hat ganze Arbeit geleistet und wenn die Schwellung zurück gegangen ist, sollte alles wieder wie neu sein.“

„Natürlich, Mister President“, erwiderte Franklin unsicher.

„Kein Problem“, ergänzte der Admiral, der nichts von der Sache mit der Zunge gewusst hatte.

President James lächelte zufrieden und beobachtete für einige Augenblicke seinen neuen Vorsitzenden der Stabschefs. Dann lehnte er sich in seinem Sessel nach vorne und öffnete eine Schublade des alten, massiven Holzschreibtisches.

„Wir haben einiges zu besprechen, Admiral“, eröffnete der Präsident und holte einen dicke Mappe mit blauem Umschlag aus der Schublade, deren Inhalt Franklin bereits kannte.

„Und nicht alles, worüber wir sprechen, wird Ihnen gefallen.“ 

Der Präsident klopfte lächelnd mit dem Zeigefinger auf die Mappe, verzog dann kurz das Gesicht, als sein Oberschenkel einen Schmerzimpuls ins Gehirn sandte.

„Es geht um die Neustrukturierung der Streitkräfte und damit zusammenhängende Kostenersparnisse, Admiral.“

Franklin sah sein Gegenüber freundlich an und zeigte keine Reaktion.

„Ich bin mir sicher, wir werden meine Vorstellungen über die Zukunft der teuersten Armee der Welt gemeinsam umsetzen“, lächelte James und Franklin musste sich zusammenreißen, nicht über den Tisch zu fahren und dem Mistkerl den Hals umzudrehen. Oder ihm seine neuen schöne Zähne auszuschlagen.

„Natürlich, Mr. President“, sagte er nur.

„Sehr gut“, erwiderte James.

Dann öffnete er die Mappe und begann zu sprechen.

 

President James war wieder da, vielleicht noch nicht in Topverfassung, aber zumindest in ansteigender Form.

Er war gesund, er fühlte sich gut, er hatte seine Pläne und er hatte vor, sie allesamt umzusetzen.

Die Gedanken, die ihn kurz vor seiner Rettung in der einsamen Höhle in den Bergen durch den Kopf gegangen waren, hatte er längst vergessen.

 

 

CVN-77 USS George H.W. Bush

13.Februar 2017

Östliches Mittelmeer

 

Der graue Rumpf des riesigen Flugzeugträgers der Nimitz-Klasse pflügte durch die raue, kalte See. Das Deck stampfte und rollte, der Flugbetrieb war eingestellt worden. Der Wind wehte in orkanartigen Böen von Backbord und trieb Nebel und eisige Regentropfen vor sich her. Alles, was nicht von Deck in die Hangardecks gebracht worden war, war seemännisch festgezurrt und gesichert worden. Rings um das große Kriegsschiff, bei diesem schlechten Wetter natürlich nicht zu erkennen, befanden sich sechs weitere Schiffe, Lenkwaffenkreuzer, Kreuzer, Zerstörer und Fregatten, die zusammen mit zwei Atomunterseebooten der Los-Angeles-Klasse und dem Träger selbst die Kampfgruppe bildeten. Zusätzlich zu diesen eigentlichen Kampfschiffen gruppierte sich ein Gruppe von vier amphibischen Schiffen um den Träger, die eine gesamte Expeditionseinheit des US Marine Corps beförderte.

Die Kampfgruppe lief mit gedrosselter Geschwindigkeit durch das schwarze, kalte Levantische Meer, etwa dreihundertzwanzig Seemeilen südöstlich von Kreta. Das Sturmtief zwang die Einheiten zu vorübergehender Einstellung aller Übungseinheiten, die zusammen mit einem Kampfverband der israelischen Marine abgehalten wurde. Das Manöver sollte noch drei weitere Tage andauern, anschließend waren umfangreiche Analysen und Auswertungen geplant, um eventuelle Fehler aufzuzeigen und auszumerzen.

Das Heck der George H.W. Bush, ein überdachter Bereich in gesamter Schiffsbreite, war während des Flugbetriebes nicht zugänglich, da ein anfliegendes Flugzeug, dass zu tief war und am Heck zerschellte, Tonnen von brennendem Treibstoff und Trümmerteile über die Laufgänge verteilen würde. Solche Unfälle waren Gott sei Dank selten, doch sie passierten immer wieder. Jetzt, da kein Flugbetrieb herrschte und der sogenannte Fächerschwanz des Trägers freigegeben war, hielten sich einige wenige Menschen dort auf.

Auch Lieutenant Commander Nina Williams, die gerade eben Dienstschluss gehabt hatte, stand auf den feuchten Stahlplanken und starrte in den aufgewirbelten Ozean, der unter ihr vorbeirauschte. Die weißen Schaumkronen im schwarzen Wasser, aufgewirbelt durch die vier riesigen Schrauben des Trägers wirkten hypnotisierend und regten zum Nachdenken an, wenn man ihnen nur lange genug zusah. Der Wind war hier, in diesem geschützten Bereich kaum spürbar und der Regen gelangte durch die Überdachung nicht auf den breiten Laufgang. Es war dämmrig durch den Nebel und das schlechte Wetter.

Nina, die ihre langen Haare unter einer Schiffchenmütze verborgen hatte, lehnte an dem kalten Stahlgeländer und dachte nach. Der lange dunkelblaue Uniformmantel, den sie über der Khakiuniform trug, hielt sie halbwegs warm. Doch die Kälte hier auf dem dunklen, rauen Meer war nichts im Vergleich zu dem, was sie vor knapp einem Monat in den Bergen erlebt und mitgemacht hatte. Dort war es noch viel kälter gewesen, erinnerte sie sich schauernd.

Obwohl, wenn man das Erlebte genauer betrachtete, jetzt, da sie es gut und unverletzt überstanden hatte, war die Kälte des Eises und des Schnees nicht das Ausschlaggebende, was sich in ihr Gedächtnis eingeprägt hatte. Da war etwas anderes, jemand anderes, den sie in Erinnerung behielt und an den sie genau jetzt dachte. Sie dachte zurück an jene Momente der Wärme und der Geborgenheit, die sie an seiner Seite erfahren hatte. Es waren nur kurze Momente gewesen, nur wenige Stunden, die sie mit ihm zusammen gewesen war, doch sie wollte diese Zeit um nichts in der Welt missen. Sie lächelte, als sie ihr Mobiltelefon aufklappte und zum Menü für die Nachrichten klickte. Sie tippte die Mitteilung ein, die ihr auf dem Herzen lag und drückte auf Senden. Die Nachricht, würde von einer Antenne auf der Kommandoinsel des Schiffes aufgefangen, registriert und anschließend bei der nächsten Meldung an den Satelliten gesandt werden. Von dort würde die SMS dann an den Empfänger weiter geschickt werden.

Zehn Minuten später verließ Nina das Heck des Schiffes und zog sich in ihre Kabine zurück.

Es ging ihr gut und sie hatte seit einem Monat keinen Drink mehr angerührt.

 

 

Dominikanische Republik, Ostküste

14.Februar 2017

07:15 Uhr Ortszeit

 

Der rotglühende Ball stieg langsam aus dem kristallklaren Wasser am Horizont. Kurz zog ein schmales Wolkenband vorbei und verhüllte die Sonne, dann war sie wieder zu sehen. Das warme Licht des Sonnenaufgangs wanderte langsam über die Kokospalmen, deren Kronen im sanften Wind leicht wankten. Der weiße Sand war feucht und kühl, es roch nach Salz und Meer. Der leichte Wind, der vom ruhigen Meer landeinwärts wehte, fühlte sich großartig auf seiner schweißnassen Haut an. Seine Haare klebten, waren durchgeschwitzt und feucht. Er passierte einen Wachposten, der mit militärisch anmutender Uniform und gesichertem M16 ein paar Boote vor unliebsamem Besuch bewachte und winkte ihm freundlich zu. Leichtfüßig lief er durch die kaum wahrnehmbare Brandung des Atlantiks, die hier im weißen Sand verebbte.

Seine Oberschenkel schmerzten unter der ungewohnten Belastung nach der langen Zeit der Ruhe, zu der er verdonnert gewesen war. Seine Fußsohlen brannten, nicht gewöhnt an den scheuernden Korallensand. Seine Schulter tat ihm weh, dort wo ihn die Kugel getroffen und Gewebe zerfetzt, sowie Knochen abgesplittert hatte, doch er fühlte sich großartig. Das warme Wasser spritzte an seinen Beinen hoch, die warme Sonne blendete ihn und der Wind kühlte seine erhitzte Haut.

Steven Crowe lief nun seit einer knappen halben Stunde durch den Sand, war im Dunklen gestartet und hätte nicht erwartet, dass er es so lange durchhalten könnte. Nicht nach allem, was er im letzten Monat durchmachen hatte müssen. Er war aus dem Krankenhaus geflüchtet, sobald er sich aufrecht auf seinen Beinen halten konnte. Dem Medienrummel, der sich um seine Person nach der Rettung des Präsidenten aufgebaut hatte, war er ausgewichen, indem er sich mitten in der Nacht aus dem Staub gemacht und sich zu Hause verkrochen hatte. Doch auch dort hatte er nicht lange Ruhe gehabt. Die ersten Journalisten waren bereits am nächsten Tag aufgetaucht und hatten bei ihm geläutet. Da war ihm nicht viel mehr übrig geblieben, als sich endgültig zu verdrücken. Achttausend Kilometer weiter südwestlich befand er sich nun in seliger Ruhe

Nun, als er sein Tempo verlangsamte und der Musik in seinem Kopfhörer lauschte, es war ein alter Song von Creed mit starken, dunklen Gitarren und einer hypnotisierenden Melodie, fühlte er sich müde. Doch es war eine positive Müdigkeit. Es war das Gefühl, etwas geleistet, etwas geschaffen zu haben. Es war das Gefühl, etwas überstanden, an etwas Großem teilgenommen zu haben.

Your eyes stare at me in the dark, sang Scott Stapp in seinem Kopfhörer mit dunkler, rauer Stimme, begleitet von Mark Tremontis großartig kraftvollem Gitarrenspiel.

And I hope, those eyes don‘t steal my freedom.

Er war mittlerweile stehen geblieben und summte mit dem Sänger den Refrain. Seine Augen waren geschlossen und er dachte an das Gesicht einer Frau, die er vor einem Monat das erste und das letzte Mal gesehen hatte und von der er nur eine Telefonnummer hatte, die anscheinend nicht funktionierte.

Er sah ihr Gesicht, das Glitzern ihrer  dunklen Haare und die Tiefe ihrer braunen Augen, in die er im Dunkel der Höhlen geblickt hatte. Er fühlte die Wärme, die diese Gedanken in seinem Inneren bewirkten und er genoss das Gefühl, dass dieses Gesicht im Dunkeln in ihm auslöste.

Nein, diese Augen würden niemals seine Freiheit rauben, dachte er und lächelte zufrieden.

Diese Augen konnten höchstens seine Einsamkeit rauben.

Später einmal, vielleicht.

Da vibrierte sein Handy, das er in der Tasche seiner kurzen Laufhose mit sich trug. Es fiel ihm schwer, sich aus seinen Gedanken zu reißen, die ihn mit Zufriedenheit und Wärme erfüllten. Mühsam öffnete er die Augen und tastete nach seinem Telefon. Zwei Mal vibrieren bedeutete eine SMS wusste er, als er den Deckel aufklappte.

Etwa einen Kilometer weit draußen stürzten Wellen in weißen Brechern über das Korallenriff, das den Strand vor der Brandung des Atlantiks schützte. Zwei Pelikane flogen vorbei und einer von ihnen stürzte sich mutig in die leichten Wellen. Der Vogel verschwand kurz, dann tauchte er wieder auf und hob mühsam wieder ab, beladen mit einem Fisch, den er soeben erbeutet hatte.

Steven las die Mitteilung, die er erhalten hatte und hielt erstaunt inne. Dann las er sie ein zweites Mal. Schließlich lächelte er.

Then I could still hide down behind the wall, sang Scott Stapp.

Nein, er würde sich nicht verstecken, dachte Crowe, nicht mehr. Er hatte seinen Namen wieder angenommen und er war stolz auf ihn. Was in der Vergangenheit passiert war und was er in der Gefangenschaft erlebt hatte, war Teil seines Lebens und seiner Persönlichkeit. Er stand dazu und er wollte lernen, endgültig damit fertig zu werden. Damit umzugehen, es zu verarbeiten.

Die Gründung seiner kleinen Firma war erst der Anfang gewesen. Nun würde er sich den Dämonen in seinem Unterbewusstsein stellen. Er würde sie bekämpfen und er würde sie besiegen, das wusste er.

Er lächelte, als er die SMS beantwortete. Die Sonne schien nun bereits stärker und blendete ihn.

Er war am Leben.

Er hatte die Chance, alles zu bereinigen, völlig neu anzufangen.

Und wenn er sich ein bisschen Mühe gab und etwas Glück hatte, dann war er dabei nicht mehr allein.

 

ENDE