
Wie man Dienstag schreibt
Bär marschierte durch Gestrüpp und Dickicht, über weite Hänge voller Stechginster und Heidekraut, durch Rußbetten voller Geröll, steile Sandsteinufer empor und wieder in die Heide hinein, bis er schließlich müde und ausgehungert am Hundert- Morgen-Wald ankam. Denn hier im Hundert-Morgen-Wald wohnte Eule.
„Und wenn irgendwer irgendwas über irgendwas weiß“, murmelte Bär vor sich hin, „dann ist es Eule, die etwas über etwas weiß“, fuhr er fort, „oder ich heiß' nicht mehr Puh der Bär.“ „Tu' ich aber“, fügte er noch hinzu. „So, da wären wir.“
Jetzt kommen wir also zu Eules Haus, wo manche von uns schon früher oft genug waren, auf der Suche nach Antwort auf diese oder jene Frage. Ob wir hier wohl die Antworten finden?
Bevor wir hineingehen und uns umsehen, scheint es doch angebracht, ein paar Bemerkungen darüber zu machen, was für ein Gelehrter Eule im Hinblick auf die Auffassungen und Grundsätze des Taoismus ist, mit denen wir uns hier befassen.
Zuerst einmal muß nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß Gelehrte in China ihrer Schulung und Richtung nach im allgemeinen Konfuzianer waren und deshalb oft eine andere Sprache sprachen als die Taoisten, die in den Konfuzianern meist geschäftige Ameisen sahen, emsig dabei, das vom Leben veranstaltete Picknick zu verderben, indem sie hin und her rannten und nach herunterfallenden Krümeln suchten. Im letzten Abschnitt des Tao Te King schreibt Lao-tse: „Die Weisen sind nicht gelehrt; die Gelehrten sind nicht weise“, eine Auffassung, die von zahllosen Taoisten vor und nach ihm geteilt wird.
Vom taoistischen Standpunkt aus ist der Gelehrtenverstand zwar gelegentlich für bestimmte Analysen brauchbar, aber tiefergehende und weiterreichende Dinge entziehen sich doch seinem engstirnigen Zugriff. Der Taoist Chuang-tse faßte das folgendermaßen in Worte:
Es kann sich ein Brunnenfrosch kein Bild vom Meer machen noch ein Sommerinsekt einen Begriff von Eis. Wie kann dann ein Gelehrter das Tao verstehen? Seine eigene Gelehrtheit hält ihn in Schranken.{1}
Es ist schon seltsam, daß der Taoismus, der Weg des „ganzen Menschen“, des „wahren Menschen“, des „Geistwesens“ (um ein paar taoistische Begriffe zu verwenden), hier im Westen seinen Interpreten vor allem in der gelehrten Eule hat — in der Gestalt des Denkers, des Akademikers, des staubtrockenen geistesabwesenden Professors. Dieses unvollkommene, unausgewogene Geschöpf ist weit davon entfernt, das taoistische Ideal der Ganzheit und Unabhängigkeit widerzuspiegeln, denn es teilt alles in kleine, abstrakte Grüppchen und Kategorien ein, ist jedoch in seinem Lebensalltag ziemlich hilflos und desorganisiert. Statt von taoistischen Meistern und durch unmittelbare Erfahrung zu lernen, lernt es mit dem Verstand, indirekt, aus Büchern. Und da es taoistische Grundsätze so gut wie nie im täglichen Lebenin die Tat umsetzt, fehlen seinen Erklärungen darüber oft recht wesentliche Details, zum Beispiel wie sie sich auswirken oder wo man sie anwenden kann.
Allerdings ist es sehr schwer, überhaupt etwas vom Geist des Taoismus in den leblosen Schriften der humorlosen akademischen Leichenbestatter zu finden, deren vergilbte gelehrte Abhandlungen nicht mehr von der charakteristischen taoistischen Weisheit enthalten als ein gutsortiertes Wachsfigurenkabinett.
Aber genau das haben wir von der theoretisierenden Eule zu erwarten, diesem vertrockneten westlichen Nachfahren aller konfuzianischen Gelehrten, der jedoch im Unterschied zu seinem erhabenen, wenn auch recht einfallslosen Vorläufer glaubt, er habe eine Art Monopol auf—
„Was ist denn das?“ unterbrach Puh.
„Was ist was??“ fragte ich.
„Was du gerade gesagt hast — ein konfusianischer Gelehrter.“
„Mal sehen — ein konfusianischer Gelehrter ist jemand, der Wissen um des Wissens willen anhäuft und das, was er ansammelt, für sich behält oder nur im engsten Kreis von sich gibt und der aufgeblasene, hochgestochene Werke verfaßt, die niemand versteht, statt anderen zum rechten Verständnis zu verhelfen. Wie findest du das?“
„Viel besser“, meinte Puh.
„Eule steht im Begriff, uns den Konfusionismus zu veranschaulichen“, erklärte ich ihm.
„Ach so“, sagte Puh.
Was uns zu Eule zurückbringt. Mal sehen — wie hat Kaninchen sein Verhältnis zu Eule beschrieben? Ah, hier ist es ja:
... man muß einfach Hochachtung haben vor jemandem, der DIENSTAG schreiben kann, selbst wenn er es nicht richtig buchstabiert; aber Buchstabieren ist nicht das Allerwichtigste. Es gibt Tage, da zählt Dienstag-Buchstabieren überhaupt nicht.
„Ach übrigens, Puh, wie schreibst du denn Dienstag?“
„Schreib’ ich was?“ fragte Puh zurück.
„Dienstag. Du weißt schon — Montag, Dienstag ...“
„Mein lieber Puh“, schaltete sich jetzt Eule ein, „jedes Kind weiß, daß es mit Dienst geschrieben wird.“
„Tatsächlich?“ staunte Puh.
„Natürlich“, erklärte Eule, „schließlich ist es ein Werktag.“ „Ach, so geht das?“ wunderte sich Puh. „Was kommt denn nach Diensttag?“
„Freitag“, erwiderte Eule.
„Eule, du bringst alles durcheinander“, warf ich ein, „wir haben doch gerade den Tag nach Dienstag, und das ist kein freier – also es ist kein Freitag.“
„Was dann?“ erkundigte sich Eule.
„Heute!“ quiekte Ferkel.
„Mein Lieblingstag“, sagte Puh.
Auch unserer. Wir wundern uns nur, daß die Gelehrten nicht viel davon halten. Vielleicht sind sie zu konfuz, weil sie soviel über andere Tage nachdenken.
Ein ziemliches Ärgernis mit den Gelehrten ist auch, daß sie immer große Worte verwenden, die manche von uns gar nicht verstehen können...
„Nun denn“, sprach Eule, „die gebräuchliche Verfahrensweise in solchen Fällen ist folgende.“
„Was bedeutet geräucherte Vorfahrenspeise?“ fragte Puh. „Ich bin nämlich ein Bär mit sehr wenig Verstand, und lange Wörter sind mir zu schwer.“
„Es bedeutet das, was zu tun ist.“
„Wenn es das bedeutet, habe ich nichts dagegen einzuwenden“,
sagte Puh bescheiden.
. . .und manchmal hat man den Eindruck, als wären diese einschüchternden Worte dazu da, uns vom Verstehen abzuhalten. Auf diese Weise können die Gelehrten den Anschein von Überlegenheit erwecken und geraten nicht so leicht in den Verdacht, etwas nicht zu wissen. Schließlich ist es ja aus gelehrter Sicht ein regelrechtes Vergehen, nicht alles zu wissen.
Manchmal ist Gelehrtenwissen auch so schwer zu verstehen, weil es nichts mit unserer eigenen Erlebniswelt zu tun hat. Mit ändern Worten: Wissen und Erleben sprechen nicht unbedingt dieselbe Sprache. Aber ist nicht das vom Erleben herrührende Wissen kostbarer als das andere Wissen? Für manche von uns steht doch eigentlich fest, daß eine Menge Gelehrter nach draußen gehen und herumschnuppern müßten — durchs Gras laufen und mit den Tieren reden sollten, oder so etwas.
„Eine Menge Leute reden mit Tieren“, bemerkte Puh.
„Mag sein, aber...“
„Aber nur wenige hören zu“, fuhr er fort.
„Und das ist das Problem“, schloß er.
Man könnte also sagen, daß zum Wissen mehr gehört als bloßes Rechthaben. Der Mystiker und Dichter Han-shan schreibt:
Ein Gelehrter mit Namen Wang
belachte meine Gedichte.
Falsche Betonungen,
sagte er,
zu viele Takte;
das Versmaß sei schlecht,
die Wortwahl willkürlich.
Ich belache seine Gedichte,
wie er die meinen belacht,
klingen sie doch,
als würde ein Blinder
die Sonne besingen.
Wie oft kommt man immer mehr durcheinander, weil man sich wie ein Gelehrter mit relativ unwichtigen Sachen abmüht. Puh hat den konfusianischen Geisteszustand recht genau beschrieben:
Am Montag, wenn die Sonne scheint,
frag' ich mich oft, wie was gemeint:
Wie finde ich in Wahrheit das,
was welches ist und welches was?
Am Dienstag Schnee- und Hagelschauer,
da weiß ich dann schon eins genauer:
Nur sehr, sehr wenige verstehn es,
ob jenes dies und dieses jenes.
Am Mittwoch, wenn der Himmel blaut,
leg' ich mich auf die faule Haut
und wundere mich still fürbaß,
daß was ist wer und wer ist was.
Am Donnerstag ist's wieder kalt,
und Rauhreif schimmert auf dem Wald:
Jetzt kann man endlich klar ermessen,
wes was ist - doch was ist dann wessen?
Am Freitag -
Ja, wessen ist hier überhaupt was? Den vertrockneten Gelehrten ist das allerwichtigste auf dieser Welt, Dinge zu benennen: Baum, Blume, Hund. Aber verlang nur nicht, daß sie den Baum beschneiden, die Blume pflanzen oder für den Hund sorgen, es sei denn, du machst dich auf unliebsame Überraschungen gefaßt. Was lebendig ist und wächst, wächst ihnen anscheinend über den Kopf.
Immerhin sind Gelehrte in ihrer stumpfsinnigen, unergötzlichen Art gelegentlich doch auch nützlich und notwendig. Sie liefern jede Menge Informationen. Nur fehlt meist das gewisse Etwas, und dieses gewisse Etwas ist genau das, worauf es im Leben wirklich ankommt.
Puhh. „Sag mal, Puh, hast du meinen andern Bleistift gesehen?“
,,Eule hat ihn vor kurzem benutzt“, gab Puh zur Antwort.
„Ach ja, hier ist er. Was ist denn das? ,Knustwerke und ihre Verfremdungen'.“
„Wie bitte?“ sagte Puh.
„,Knustwerke und ihre Verfremdungen’ — worüber Eule gerade geschrieben hat.“
„Oh, darüber also?“ bemerkte Puh.
„Na so was, dieser Bleistift ist ganz zerkaut.“
Noch eine komische Sache mit dem Wissen des Gelehrten, des Wissenschaftlers und so weiter ist die: Dauernd will er das Wesen vom unbehauenen Klotz — das, was er Unwissenheit nennt — für Schwierigkeiten verantwortlich machen, die er selbst direkt oder indirekt durch seine eigene Beschränktheit, Kurzsichtigkeit oder Saumseligkeit verursacht hat. Wenn du zum Beispiel dein Haus dahin baust, wo es der Wind umblasen kann, und es dann auseinanderfällt, während du dir gerade Sorgen machst, wie wohl Pflaumenmus geschrieben wird, was passiert dann höchstwahrscheinlich? Genau. Das weiß jedes Kind. Aber wenn Eules Haus zusammenfällt, was sagt die dazu?
„Puh“, sagte Eule streng, „hast du das getan?“
„Nein“, antwortete Puh schüchtern, „ich glaube nicht.“
„Wer war es dann?“
„Ich glaube, es war der Wind“, warf Ferkel ein, „ich glaube, dein Haus ist umgeblasen worden.“
„Ach, das ist es? Und ich dachte, es war Puh.“
„Nein“, sagte Puh.
Zum Abschluß dieses Kapitels vom Wissen um des Wissens willen wollen wir uns noch eine Begebenheit aus Puh baut ein Haus ins Gedächtnis rufen. I-Ah war gerade dabei, Ferkel mit etwas einzuschüchtern, was er aus drei Stöcken gemacht hatte . . .
„Weißt du, was A bedeutet, Ferkelchen?“
„Nein, I-Ah, ich weiß es nicht.“
„Es bedeutet Gelehrsamkeit, es bedeutet Bildung, es bedeutet alles das, was dir und Puh abgeht. Das bedeutet A.“
„Oh“, hub Ferkel wieder an. „Ich meine: wirklich?“ setzte es schnell fort.
„Ich kann's dir versichern. Hier in diesem Wald herrscht ein ständiges Kommen und Gehen von Leuten, und die sagen: ,Es ist nur I-Ah, der spielt weiter keine Rolle.' Sie gehen auf und ab und lachen: haha! Aber wissen sie irgendwas vom A? O nein. Für sie sind das nur drei Stöcke. Nur für den Gebildeten — merk dir das gut, Ferkelchen — nur für den Gebildeten, und damit sind keine Puhs und Ferkel gemeint, ist es ein großartiges, prächtiges A. Nicht einfach irgendwas“, fügte er noch hinzu, „auf dem jeder mir nichts, dir nichts herumtrampeln kann.“
Dann kommt Kaninchen des Weges . . .
„Ich wollte dich nur eines fragen, I-Ah. Was ist neuerdings morgens mit Christoph Robin los?“
„Was ist das, worauf ich hier gucke?“ sagte I-Ah und guckte weiter darauf.
„Drei Stöcke“, antwortete Kaninchen prompt.
„Siehst du?“ sagte I-Ah zu Ferkel. Dann wandte er sich an Kaninchen. „Jetzt will ich deine Frage beantworten“, sprach er feierlich.
„Danke sehr“, sagte Kaninchen.
„Was Christoph Robin morgens macht? Er lernt. Er bildet sich. Er pfundiert sein Wissen — ich glaube, das war das Wort, das er gebraucht hat, aber vielleicht denke ich da auch an etwas anderes —, er pfundiert sein Wissen. Ich auf meine bescheidene Art, wenn ich das Wort recht verstehe, ich — also, ich tue das auch. Das hier beispielsweise ist —“
„Ein A“, fiel Kaninchen ein, „aber kein sehr gutes. Na ja, ich muß zurück und den andern berichten.“
I-Ah blickte auf seine Stöcke und dann auf Ferkel. . .
„Es wußte das? Heißt das, diese Sache mit dem A ist eine Sache, die Kaninchen weiß?“
„Ja, I-Ah. Kaninchen ist schlau, wirklich.“
„Schlau!“ wiederholte I-Ah verächtlich und trat einmal kräftig mit dem Huf auf seine drei Stöcke. „Bildung“, führ er bitter fort und sprang auf seine sechs Stöcke. „Was ist denn Gelehrsamkeit?“ fragte er weiter und schleuderte seine zwölf Stöcke in die Luft. „Eine Sache, die Kaninchen weiß! Hoho!“
Da haben wir's.
„Ich weiß etwas, was Kaninchen nicht weiß“, sagte Ferkel. „Ach! Was ist denn das?“ erkundigte ich mich.
„Na ja, ich kann mich nicht erinnern, wie es heißt, aber —“ „Ach so. Das kommt als nächstes dran“, sagte ich.
„Ach, und wie heißt es?“ fragte Ferkel und trommelte mit der Pfote.
„Nun, das werden wir gleich sehen.