Filztun-Balzrück
Kaninchen eilte am Saum des Hundert-Morgen-Waldes entlang und kam sich mit jeder Minute wichtiger vor, und bald hatte es den Baum erreicht, wo Christoph Robin wohnte. Es klopfte an die Tür, rief ein-, zweimal laut, ging dann ein wenig zurück, beschattete mit der Pfote die Augen und rief zur Baumkrone hoch, und dann ging es ganz darumherum und schrie „Hallo!“ und „ich bin's, Kaninchen!“ — aber nichts rührte sich. Dann hielt es inne und lauschte, und alles hielt inne und lauschte mit ihm, und der Wald war sehr einsam und still und friedvoll im Sonnenschein, bis plötzlich hundert Meilen über ihm eine Lerche zu singen anfing.
„So was Dummes!“ sagte Kaninchen, „er ist ausgegangen.“
Es ging wieder zur Vordertür zurück, um sich noch einmal zu vergewissern, und wandte sich eben mit dem Gefühl, der ganze Morgen sei nun verdorben, zum Gehen, als es ein Stück Papier auf der Erde liegen sah. Und eine Nadel steckte darin, als sei es von der Tür herabgefallen.
„Ha!“ rief Kaninchen aus, und seine Stimmung besserte sich wieder, „eine Nachricht!“
Und das stand darin:
BINN AUS
BALZRÜCK
FILZTUN
BALZRÜCK
C.R.
Kaninchen wußte nicht, was ein Balzrück war — obwohl es ja selbst einer ist —, und so ging es Eule fragen. Eule wußte es auch nicht. Aber wir glauben es zu wissen, und unserer Ansicht nach wissen es auch eine Menge anderer Leute. Chuang-tse hat ihn ziemlich treffend beschrieben:
Es war einmal ein Mann, der seine Fußstapfen und seinen Schatten nicht sehen mochte. Er beschloß, ihnen davonzulaufen und fing an zu rennen. Aber wie er so dahinrannte, erschienen immer mehr Fußstapfen, und sein Schatten hielt mit Leichtigkeit Schritt mit ihm. Da glaubte er, noch zu langsam zu sein, und rannte schneller und schneller, ohne anzuhalten, bis er schließlich vor Erschöpfung umfiel und starb.
Wenn er stillgestanden hätte, wären keine Fußstapfen dagewesen. Wenn er im Schatten geruht hätte, wäre sein Schatten verschwunden.
Solche Leute trifft man offenbar auf Schritt und Tritt. Praktisch an jedem halbwegs sonnigen Tag kannst du die Balzrücks durch den Park joggen sehen und sie laut schnaufen hören. Vielleicht genießt du gerade ein Wiesenpicknick, und wie du eben mal aufblickst, sind dir schon ein, zwei von ihnen über dein Essen gerannt.
Im allgemeinen bist du jedoch inmitten von Wald und Wiesen sicher, da Balzrücks sie normalerweise meiden. Sie quälen sich lieber auf Asphalt und Zement ab, genau wie die kurzlebigen Transportmaschinen, für die diese harten Oberflächen erdacht wurden. Wenn sie schließlich genug giftige Abgase von Autos, die ihnen ständig ausweichen müssen, um sie nicht anzufahren, eingeatmet haben, können die Balzrücks sich gar nicht genug gegenseitig versichern, wieviel besser sie sich jetzt fühlen, nachdem sie endlich an der frischen Luft waren. „Natürlich leben“ nennen sie das.
Der Filztun-Balzrück ist aktiv fast bis zur Verzweiflung. Wenn du ihn nach seinen wichtigsten Interessen fragst, zählt er lauter Sportarten auf wie:
„Drachenfliegen, Tennis, Jogging, Squash, Skifahren, Schwimmen und Wasserski.“
„Ist das alles?“
„Nun, ich (keuch, japs, schnauf) — ich glaube ja“, erwidert Balzrück.
„Haben Sie es je mit Autojagen versucht?“
„Nein, ich — nein, noch nie.“
„Und was ist mit einem Alligatorringkampf?“
„Nichts . . . das heißt, das wollte ich schon immer mal probieren.“
„Und mit Roller-Skates die Treppen hinunterfahren?“
„Daran habe ich noch gar nicht gedacht.“
„Aber Sie haben doch gesagt, Sie wären aktiv!“
Spätestens jetzt sagt der Balzrück nachdenklich: „Hören Sie mal — meinen Sie, es ist etwas faul bei mir? Vielleicht schwinden meine Energien.“
Nach einiger Zeit wohl schon.
Die athletische Sorte des Balzrücks — nur eine von vielen bekannten Arten — beschäftigt sich mit körperlicher Fitneß, sagt er. Aber aus irgendeinem Grunde sieht er das als etwas an, das dem Körper von außen eingehämmert werden muß, statt sich von innen her aufzubauen. Darum verwechselt er Übung mit Arbeit. Er arbeitet beim Üben, und meistens arbeitet er auch beim Spiel. Arbeit, Arbeit, Arbeit, Arbeit. Nur Arbeit und kein bißchen Spiel — das macht den Balzrück ganz schön fertig. Und hält er es lange genug so aus, bringt es ihn auch noch zu Tode.
Aber—da kommt Kaninchen. „Grüß dich, Kaninchen. Was gibt's Neues?“
„Ich bin gerade von Eule zurück“, sagte Kaninchen etwas außer Atem.
„Ach ja? Du warst auch ganz schön lange fort.“
„Nun ja. . .Eule wollte mir unbedingt etwas von ihrem Großonkel Philbert erzählen.“
„Ach, darum.“
„Jedenfalls hat Eule gesagt, daß sie den unbehauenen Klotz auch nicht gesehen hat, aber daß Ruh wahrscheinlich damit spielt.
Darum bin ich noch auf einen Sprung zu Känga hinüber, aber da war niemand.“
„Sie sind in den Wald gegangen und üben mit Tiger Springen“, erklärte ich.
„Ach so. Nun, dann gehe ich wohl besser wieder.“
„Schön, Kaninchen, und . . .“
Wo ist es hin? So geht das immer, weißt du — der Balzrück hat keine ruhige Minute.
Drehen wir es einmal andersherum: Wenn du gesund, entspannt und zufrieden sein willst, brauchst du nur zu beobachten, was ein Filztun-Balzrück macht, und dann das Gegenteil davon zu tun. Da ist gerade einer, tänzelt vor und zurück, klingelt mit losen Münzen in seiner Hosentasche und schaut nervös auf seine Uhr. Schon bei seinem bloßen Anblick überkommt dich die große Müdigkeit. Der unverbesserliche Balzrück scheint immer gerade irgendwohin gehen zu müssen, zumindest rein äußerlich betrachtet. Trotzdem macht er nie einen Spaziergang; dazu hat er keine Zeit.
„Kein richtiges Gespräch“, sagte I-Ah,, ,wo erst der eine und dann der andere dran ist. Du hast ,Hallo!' gerufen und bist vorbeigeflitzt. Ich konnte gerade noch deinen Schwanz in der Ferne sehen, während ich über eine Antwort nachsann. Ich wollte schon ,Was?' sagen — aber da war es natürlich bereits zu spät.“ „Na ja, ich war in Eile.“
„Kein Geben und Nehmen“, fuhr I-Ah fort, „kein Gedankenaustausch wie: ,Hallo!' — ,Was?'. . . Ich meine, das bringt doch einfach nichts, insbesondere dann, wenn für die Dauer der zweiten Gesprächshälfte nur noch der Schwanz des Gesprächspartners in Sicht ist.“
Der Filztun-Balzrück ist anscheinend immer unterwegs, immer heißt es:
BIN AUS
BALD ZURÜCK
VIEL ZU TUN
BALD ZURÜCK
oder, etwas genauer:
RÜCK AUS
BALD WEG
VIEL ZU TUN
BALD WEG
Der Filztun-Balzrück ist immer irgendwohin unterwegs, irgendwohin, wo er noch nicht war. Immer woandershin, als wo er gerade ist.
„Das ist der springende Punkt“, sagte Kaninchen, „wohin?“ „Vielleicht sucht er etwas.“
„Aber was?“ fragte Kaninchen.
„Das wollte ich auch gerade sagen“, bemerkte Puh. Und dann fügte er hinzu: „Vielleicht sucht er eine — eine —“
Eine Anerkennung vielleicht. Die Filztun-Balzrücks appellieren an unser religiöses Gefühl, unseren wissenschaftlichen Verstand und unseren Geschäftssinn, um uns davon zu überzeugen, daß irgendwo eine herrliche Belohnung auf uns wartet, ein Großer Preis, für den wir unser Leben aufs Spiel setzen und wie Verrückte arbeiten sollen. Ob dieser nun oben im Himmel, hinter dem nächstbesten Molekül oder auch in der Geschäftsführungsetage wartet, immer ist er uns ein Stück voraus eben die Straße hinunter, auf der andern Seite des Erdballs, hinter dem Mond, jenseits der Sterne . . .
„Autsch!“ Damit landete Puh auf dem Fußboden.
„Das kommt davon, wenn man auf einer Schreibtischecke einschläft“, bemerkte ich. „Man fällt herunter.“
„Macht gar nichts“, meinte Puh.
„Wieso?“ fragte ich.
„Ich hatte einen schrecklichen Traum“, erklärte er.
„Ach ja?“
„Ja. Ich hatte einen Topf Honig gefunden ...“
„Was ist denn daran so schrecklich?“ erkundigte ich mich.
„Er bewegte sich“, sagte Puh, „und das sollen sie eigentlich nicht. Eigentlich müssen sie stillstehen.
„Ja, ich weiß.“
„Aber immer, wenn ich danach gelangt habe, fing dieser Topf Honig irgendwie an, woandershin zu wandern.“
„Ein Alptraum“, mußte ich zugeben und versuchte ihn damit zu trösten, daß viele Leute solche Träume haben.
,,Ach“, wunderte sich Puh, „von unerreichbaren Honigtöpfen?“
„Oder von ähnlichen Sachen“, sagte ich, „das ist nichts Ungewöhnliches. Seltsam ist nur, daß manche Leute auch so leben.“
„Warum?“ wollte Puh wissen.
„Das weiß ich nicht“, antwortete ich, „ich nehme an, weil sie dann etwas zu tun haben.“
„Hört sich für meine Ohren nicht gerade lustig an“, meinte Puh.
Nein, wahrhaftig nicht. Ein Lebensstil, bei dem es ständig heißt: „um die nächste Ecke, noch eine Stufe weiter“, geht gegen die natürliche Ordnung der Dinge an und erschwert das Glücklichsein und Wohlbefinden so sehr, daß nur wenige dorthin gelangen, wo sie von Natur aus gleich hingekommen wären — nämlich zu Glück und Wohlsein, während die übrigen aufgeben, am Straßenrand umfallen und diese Welt verfluchen, die doch gar nichts dafür kann, sondern nur hilfreich den Weg weist.
Wer glaubt, die lohnenden Dinge im Leben lägen irgendwo in schillernden Fernen —
„Läßt seinen Toast oft anbrennen“, fiel Puh ein.
„Wie bitte?“
„Läßt seinen Toast oft anbrennen“, wiederholte Puh.
„Er — also, naja. Und nicht nur das —“
„Da kommt Kaninchen“, unterbrach mich Puh jetzt.
„Oh, hier seid ihr“, sagte Kaninchen.
„Hier sind wir“, sagte Puh.
„Ja, hier sind wir“, bekräftigte ich.
„Und da bist du“, sagte Puh.
„Ja, hier bin ich“, sagte Kaninchen ungeduldig. „Um zur Sache zu kommen — Ruh hat mir ihre gesammelten Klötze gezeigt. Sie sind allesamt behauen und bemalt, mit Buchstaben drauf.“
„Ach ja?“ bemerkte ich.
„Im Grunde hätte man sich's vorher denken können“, fuhr Kaninchen fort und strich sich gedankenvoll den Backenbart.
„Nachdem wir alle andern abgehakt haben“, schloß es, „muß IAh ihn haben.“
„Aber Kaninchen“, wandte ich ein, „sieh mal — „
„Ja“, schnitt mir Kaninchen das Wort ab, „ich werde mal I-Ah aufsuchen und herausfinden, was er darüber weiß — das ist ganz eindeutig der nächste Schritt.“
„Schon ist es weg“, sagte Puh.
Wenn wir ein paar Jahre zurückblicken, sehen wir, daß sich die ersten Filztun-Balzrück in der Neuen Welt, die Puritaner, praktisch auf ihren Feldern zu Tode gearbeitet haben und doch trotz ungeheurer Anstrengungen so gut wie nichts dabei herausholten. Sie nagten buchstäblich am Hungertuch, bis die klügeren Ureinwohner ihnen ein paar Fingerzeige gaben, wie man im Einklang mit den Erdrhythmen arbeitet. Wann man pflanzt — und wann man sich erholt. Wann man den Boden bearbeitet — und wann man ihn in Ruhe läßt. Die Puritaner haben den zweiten Teil nie recht verstanden, waren nie recht davon überzeugt. Und nun, nachdem sie zwei oder drei Jahrhunderte lang geackert, geackert und nochmals geackert haben, nachdem wir jahrelang die Kraft der einst so fruchtbaren Erde durch,. synthetische Aufputschmittel noch weiter erschöpft haben, schmecken die Äpfel nach Pappe, die Apfelsinen wie Tennisbälle und die Birnen wie gesüßtes Styropor. Es sind Produkte einer Erde, die sich nicht ausruhen darf. Wir sollen uns nicht beklagen, aber dass haben wir davon.
„Sag mal, Puh, warum hast du eigentlich nichts zu tun?“ fragte ich.
„Weil der Tag so schön ist“, erwiderte Puh.
„Ja, aber — “
„Warum sollte man ihn verderben?“ meinte er.
„Aber du könntest doch etwas Wichtiges zu tun haben“, bohrte ich weiter.
„Hab ich doch“, behauptete Puh.
„So? Was denn?“
„Ich höre zu“, sagte er.
„Wem hörst du denn zu?“
„Den Vögeln. Und dem Eichhörnchen da drüben.“
„Und was sagen sie?“ fragte ich.
„Daß der Tag schön ist“, antwortete Puh.
„Aber das weißt du doch schon“, gab ich zurück.
„Ja, aber es ist immer gut zu hören, daß jemand genauso denkt“, erklärte er.
„Nun ja, du könntest aber deine Zeit lieber damit verbringen, Radio zu hören und dich zu bilden“, bemerkte ich.
„Mit dem Ding da?“
„Gewiß. Wie sonst erfährst du, was in der Welt draußen vor sich geht?“ sagte ich.
„Ich gehe einfach nach draußen“, meinte Puh.
„Hmm . . . naja . . .“ (Klick.) „Hör mal eben zu, Puh!“
,,Bei einem Zusammenstoß von fünf Jumbojets über der Stadtmitte von Los Angeles kamen heute dreißigtausend Menschen ums Leben . . meldete das Radio.
„Was sagt dir das denn über die Welt?“ fragte Puh.
„Hmm. Du hast recht.“ (Klick.)
„Und was sagen die Vögel jetzt?“ wollte ich wissen.
„Daß der Tag schön ist“, sagte Puh.
Das ist er wahrhaftig, auch wenn die Filztun-Balzrücks zu viel zu tun haben, um sich daran zu freuen. Aber kommen wir zum Schluß unserer Abhandlung über das Viel-zu-tun-Haben . . .
Die starrköpfigen Anhänger der bereits erwähnten hemdsärmeligen Hektikerreligion hatten keine Augen für die Schönheit der endlosen Wälder und klaren Gewässer, die auf dem frischen grünen Kontinent der Neuen Welt vor ihnen ausgebreitet lagen. Statt dessen erachteten sie dieses Paradies und die Menschen, die paradiesisch darin lebten, als fremd und bedrohlich, als etwas, das angegriffen und erobert werden musste, denn all das stand ja dem Großen Preis im Wege. Singen mochten sie auch nicht besonders gerne. In der Tat —
„Was?“ staunte Puh, „kein Singen?“
,,Puh, ich versuche gerade, das hier zu Ende zu bringen. Aber ganz recht, kein Singen. Das mochten sie nicht.“
„Also, wenn sie Singen nicht mochten, was hielten sie denn dann von Bären?“
„Ich glaube, Bären mochten sie auch nicht.“
„Sie mochten keine Bären?“
„Nein. Nicht besonders jedenfalls.“
„Kein Singen, keine Bären . . . was mochten sie denn dann?“ „Ich glaube nicht, daß sie überhaupt etwas mochten, Puh.“ „Kein Wunder, daß alles hier ringsum ein wenig durcheinander ist“, sagte er.
Wie dem auch sei, nach dem freudlosen Puritaner kam der rastlose Pionier und nach ihm der einsame Cowboy, der immer gerade in den Abendhimmel hineinreitet und Ausschau hält nach etwas, das vor ihm liegt. Und von diesen entwurzelten, frustrierten Vorfahren stammt der Filztun-Balzrück ab, der sich, wie seine Vorväter, in diesem freundlichen Land nie zufrieden und heimisch fühlte. Unbeugsam und kampfwütig, wie er nun einmal ist, geht der Balzrück mit geballten Fäusten auf sich selbst und seine Mitmenschen los, und auf diese Erde, die heldenhaft bemüht ist, weiterzubestehen, ganz ungeachtet dessen, was er ihr antut. Wen wundert es da noch, daß der Balzrück Fortschritt mit Kampf und Erfolg gleichsetzt. Eine von seinen kleinen Eigenheiten, könnte man sagen. Aber zum wahren Fortschritt gehören Wachstum, Entwicklung und innere Wandlung, und das ist etwas, das der eigensinnige Balzrück nicht mitmachen will. Der natürliche Wachstums- und Entwicklungsdrang, der allen Lebensformen innewohnt, verkehrt sich bei ihm zu einer Daueranstrengung, mit der er seine Umwelt (so der Bulldozer- Balzrück) und seine Mitmenschen (so der Prediger-Balzrück) zu ändern versucht. Dabei greift er in Dinge ein, von denen er lieber die Finger lassen sollte, und verändert alle Lebensformen dieser Erde.
Immerhin konnte er bisher innerhalb gewisser Grenzen von weiseren Leuten in Schach gehalten werden. Aber den Weisen geht es wie den Eltern überaktiver Kinder: Sie können nicht überall zugleich sein. Babysitter bei den Balzrücks zu spielen ist äußerst ermüdend.
„Da ist Kaninchen wieder“, sagte Puh, „und I-Ah.“
„Hallo, Kaninchen“, sagte ich.
„Und I-Ah“, verbesserte mich I-Ah.
„Ich habe I-Ah gefragt —“, fing Kaninchen an.
„Das bin ich“, unterbrach I-Ah, „I-Ah.“
„Ja, ich erinnere mich“, sagte ich nun, „ich habe dich letztes Jahr irgendwo draußen im Moor gesehen.“
„Moor?“ sagte I-Ah indigniert. „Das ist kein Moor. Das ist Morast.“
„Moor, Morast. . .“
„Was ist denn Morast?“ fragte Puh.
„Wenn du bis zu den Knöcheln naß wirst, dann ist das Morast“, erklärte I-Ah.
„Ach so“, sagte Puh.
„Wenn hingegen“, fuhr I-Ah fort, „du bis zum Hals einsinkst, dann ist das ein Moor. Moor, also wirklich“, fügte er bitter hinzu, „daß ich nicht lache!“
„Jedenfalls habe ich I-Ah gefragt“, fing Kaninchen wieder an, „und er hat gesagt, er hätte nicht die leiseste Ahnung, wovon ich rede.“
„Es scheint, als sei ich da nicht alleine“, sagte I-Ah zu Kaninchen. „Du hast auch nicht die leiseste Ahnung. Ganz offensichtlich nicht.“
„Was ist denn nun eigentlich der unbehauene Klotz?“ fragte Kaninchen.
„Ich“, sagte Puh.
„Du?“ fragte I-Ah. „Und ich komme extra den weiten Weg vom Mo-“
„Vom Moor“, half ich ihm weiter.
„— vom Morast hierher nur für Puh?“
„Warum nicht?“ sagte Puh.
„Kaninchen in seinem Betätigungsdrang ist alles recht“, meinte I-Ah sarkastisch, „offenbar wirklich alles.“
Eines kommt uns seltsam vor, daß nämlich die Gesellschaft der Filztun-Balzrücks, die doch jugendlichen Schwung, jugendliches Äußeres und eine jugendliche Gesinnung propagiert, keine wirksamen Methoden entwickelt hat, diese auch zu erhalten, ein Mangel, der schlagend dadurch bewiesen ist, daß man sich allgemein um künstliche Verschönerungsmaßnahmen wie Kosmetik und plastische Chirurgie reißt. Statt dessen wird unaufhörlich darauf hingearbeitet, Jugendlichkeit zugrunde zu richten und zu zerstören. Destruktive Tätigkeiten dieser Art, die nichts mehr mit dem erhofften Großen Preis zu tun haben, lassen sich unter dem Oberbegriff „Zeitsparen“ zusammenfassen.
Als Beispiel für das Zeitsparen wollen wir uns einmal das klassische Denkmal des Filztun-Balzrücks ansehen: den „Schnellimbiß“.
In China gibt es das Teehaus, in Frankreich das Straßencafe. Praktisch jedes zivilisierte Land dieser Erde hat etwas in dieser Art anzubieten — ein Lokal, in dem Leute essen, rasten und sich unterhalten können, ohne dabei die Uhr im Auge behalten oder gleich gehen zu müssen, sobald das Essen verspeist ist. Das Teehaus in China beispielsweise ist eine echte soziale Einrichtung. Den ganzen Tag über versammeln sich hier Familien, Freunde und Nachbarn bei Tee und leichten Speisen, und sie bleiben, solange sie Lust haben. Manchmal werden stundenlange Gespräche geführt. Es ist zwar ein wenig abwegig, das Teehaus als „nachbarliche Begegnungsstätte“ zu bezeichnen, denn das ist ein Begriff westlicher Prägung, aber damit ist wenigstens in groben Zügen und für uns einigermaßen verständlich beschrieben, welche Funktionen es unter anderm hat. „Du bist ebenso wichtig wie alle andern. Ruh dich aus und vergnüge dich.“ Dieses Gefühl vermittelt dir das Teehaus.
Und was vermittelt dir der Schnellimbiß? Es liegt auf der Hand: „Du zählst nicht; beeil dich.“
Aber nicht nur das, darüber hinaus ist der schreckliche Schnellimbiß, wie jeder inzwischen weiß, auch noch gesundheitsschädlich für den Kunden. Und leider ist er nicht das einzige Beispiel für die Zeitsparmentalität. Des weiteren können wir nämlich aufzählen: den Supermarkt, den Mikrowellenherd, das Atomkraftwerk, die Giftchemie . . .
Im Klartext heißt das: Wenn zeitsparende Erfindungen wirklich Zeit sparen würden, hätten wir heute viel mehr Zeit als jemals zuvor in der Geschichte. Aber seltsamerweise haben wir offenbar weniger Zeit als noch vor ein paar Jahren. Es macht wirklich Spaß, irgendwo zu sein, wo es keine zeitsparenden Apparaturen gibt, denn da merkst du auf einmal, daß du jede Menge Zeit hast. Anderswo bist du mit Arbeit überlastet, um die Maschinen bezahlen zu können, die dir Zeit sparen helfen, damit du nicht so schwer arbeiten mußt. Das Kernproblem dieser Zwangsvorstellung vom Zeitsparen ist sehr einfach: Du kannst keine Zeit sparen. Du kannst sie nur brauchen. Aber du kannst weise oder töricht von ihr Gebrauch machen. Der Filztun- Balzrück hat praktisch überhaupt keine Zeit, weil er dauernd nur Zeit verschwendet, um Zeit zu sparen. Während er versucht, jedes Quentchen Zeit einzusparen, hat er am Ende doch seine ganze Zeit vergeudet.
Henry David Thoreau hat das in Waiden folgendermaßen beschrieben:
Warum sollen wir in solcher Eile, solcher Lebensverschwendung leben? Wir sind entschlossen zu verhungern, ehe wir noch hungrig sind. Die Leute sagen, ein Stich zur rechten Zeit erspare neun, und machen deshalb heute tausend Stiche, um morgen neun zu sparen.
Kehren wir für einen Augenblick zum Taoismus zurück und schaffen damit einen farbigen Kontrast zur jugendfeindlichen Gesellschaft der Filztun-Balzrücks. Zu den interessantesten Eigenarten des Taoismus gehört neben der Hochachtung für die Alten und Weisen das allgemeine Interesse an einem Phänomen, das als „unvergängliche Jugend“ bekannt ist. Die taoistische Tradition ist voll von spannenden Geschichten und mehr oder weniger phantasievoll ausgeschmückten Berichten über Menschen, die schon in jungen Jahren die Geheimnisse des Lebens ergründeten. Aber was immer sie auch entdeckten, das Ergebnis war in jedem Fall das gleiche: Ihr ganzes Leben lang bewahrten sie ein jugendliches Äußeres und jugendfrische Kräfte.
Tatsächlich sind taoistische „Unsterbliche“ aller Altersstufen immer für ihre jugendliche Einstellung und Erscheinung sowie ihre unverbrauchten Kräfte berühmt gewesen. Das kam aber nicht von ungefähr, sondern wurde durch taoistische Übungen erreicht. Jahrhundertelang lag die durchschnittliche Lebenserwartung in China nicht viel höher als bei vierzig Jahren, schwer arbeitende Bauern und aristokratische Lebemänner starben oft sogar noch jünger. Und doch wurden ungezählte Taoisten achtzig oder neunzig Jahre alt, und viele lebten noch bedeutend länger. Nachstehend eine meiner Lieblingsgeschichten als Beispiel dafür:
1933 meldeten Zeitungen rund um die Welt den Tod eines Mannes namens Li Chung Yun. Einer offiziellen, unwiderlegbaren Mitteilung der chinesischen Regierung zufolge, deren Wahrheitsgehalt noch durch eine unabhängig davon durchgeführte eingehende Untersuchung bestätigt wurde, war Li 1677 geboren. Als er über zweihundert Jahre alt war, hatte er noch an einer chinesischen Universität 28 dreistündige Vorträge über die Langlebigkeit gehalten. Wer ihn damals erlebte, gab an, er habe ausgesehen wie ein Fünfziger, hätte groß und aufrecht dagestanden und gesunde Zähne sowie volles Haar gehabt. Bei seinem Tod war er 256 Jahre alt.
Li lief als Kind von zu Hause fort und schloß sich ein paar wandernden Kräutersammlern an. Durch sie wurde er in den Bergen Chinas in die Geheimnisse der Naturmedizin eingeweiht. Er machte täglich von verschiedenen Verjüngungskräutern Gebrauch und unterzog sich zudem taoistischen Übungen. Von anderen, für Körper und Geist anstrengenden Betätigungen glaubte er, daß sie das Leben verkürzten. Wenn er reiste, dann am liebsten auf eine Art, die er „leichtfüßig gehen“ nannte. Junge Männer, die ihn begleiteten, als er schon älter war, konnten nicht mit dem Tempo Schritt halten, das er selbst kilometerlang durchhielt. Er riet allen, die sich eine gute Gesundheit wünschten, „wie eine Schildkröte zu sitzen, wie eine Taube zu gehen und wie ein Hund zu schlafen“. Nach seinem tiefsten Geheimnis befragt, pflegte er jedoch nur zu antworten: „Innere Ruhe.“
Da wir gerade von derlei Sachen reden, wollen wir wieder zu Puh baut ein Haus zurückkehren. Eben hat Christoph Robin Puh eine Frage gestellt:
„Was machst du eigentlich am allerliebsten von der Welt, Puh?“ „Na ja“, sagte Puh, „am allerliebsten . . .“, und dann verstummte er wieder und mußte erst einmal überlegen. Denn obgleich Honigschlecken wirklich eine feine Sache war, gab es doch kurz vor dem Schlecken einen Augenblick, der noch schöner war als das eigentliche Schlecken, aber er wußte nicht, wie man das nannte.
Ist man endlich beim Schlecken, schmeckt der Honig eben gar nicht mehr so gut; einmal erreicht, bedeutet das Ziel nicht mehr so viel; und auch eine Belohnung verliert ihren Reiz, sobald man sie bekommen hat. Wenn wir alles addieren, womit uns das Leben belohnt, kommt nicht viel zusammen. Aber wenn wir die Zeiträume zwischen den Belohnungen addieren, kommt einiges zusammen. Und wenn wir die Belohnungen und die Zwischenzeiten zusammenziehen, haben wir alles miteinander — jede Minute der Zeit, die uns zur Verfügung steht. Sollten wir uns nicht ein Vergnügen daraus machen?
Einmal geöffnet, machen Weihnachtsgeschenke längst nicht mehr soviel Spaß wie vorher, wo wir sie noch untersuchen, anheben und schütteln, daran herumrätseln und sie auspacken können. Und doch gehen wir 365 Tage später erneut an die Sache und merken, wie wieder das gleiche passiert. Jedesmal, wenn das Ziel erreicht ist, ist das Vergnügen nur noch ein halbes, aber schon haben wir das nächste im Auge und danach wieder eins und wieder eins und wieder eins.
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß unsere Ziele keinen Wert hätten. Sie haben einen Wert, denn sie bringen uns unter anderm dazu, eine Entwicklung zu durchlaufen, und eben dieser Werdegang macht uns weise, glücklich oder was auch immer. Wenn wir eine Sache falsch anpacken, macht sie uns elend und wütend, sie bringt uns durcheinander und ähnliches mehr. Das Ziel muß zu uns passen, und es muß uns förderlich sein, damit uns auch unser Werdegang förderlich ist. Aber abgesehen davon ist wirklich einzig und allein der Entwicklungsprozeß von Bedeutung. Sich seines Werdens zu freuen ist das ganze Geheimnis, mit dem man all den Märchen vom Großen Preis und vom Zeitsparen den Garaus macht. Vielleicht erklärt uns das ein wenig die Bedeutung, die das Wort Tao, der Weg, für das Alltagsleben hat.
Wie könnten wir denn nun den Augenblick vor dem Honigschlecken nennen? Der eine oder andere würde „Vorgeschmack“ sagen, aber eigentlich ist es mehr als das. Nennen wir es Bewußt-werdung. Das ist der Moment der frohen Erwartung, den wir bewußt erleben. Indem wir uns des Werdens freuen, können wir diese Bewußtwerdung so ausdehnen, daß sie nicht nur einen Augenblick andauert, sondern uns als Bewußtsein bleibt. Und dann macht uns alles Spaß. Genau wie Puh.
Und dann dachte er daran, wie schön es war, mit Christoph Robin zusammen zu sein, und wie nett, Ferkel in der Nähe zu haben, und als er das alles überdacht hatte, sagte er: „Am allerliebsten von der Welt mag ich, wenn ich und Ferkel dich besuchen gehen und du sagst: ,Wie steht's mit einem kleinen Happen?' und ich sage: ,Na ja, ich hätte nichts dagegen einzuwenden, du vielleicht, Ferkel?', und draußen ist so ein Tag voll Flimmern und Summen, und die Vögel singen.“
Wenn wir uns die Zeit nehmen, uns unserer Umgebung und unseres Daseins zu freuen, merken wir, daß wir gar keine Zeit mehr haben, Filztun-Balzrücks zu sein. Aber das macht nichts, denn ein Filztun-Balzrück zu sein ist ungeheure Zeitverschwendung. Wie schreibt der Dichter Lu Yu doch so schön:
Die Wolken droben vereinen und trennen sich,
Die Brise im Hofe kommt und geht.
So ist das Leben nun einmal, warum nicht verweilen? Wer kann uns vom Feiern abhalten?