Nichts und Nirgendwo

 

 

„Wohin gehen wir eigentlich?“ fragte Puh, der hinter ihm hereilte und sich wunderte, ob das nun eine Forschungsreise oder ein Was- soll-ich-wohl-mit-du-weißt-schon-was werden würde. „Nirgendwohin“, sagte Christoph Robin.

Also gingen sie dahin los, und als sie ein kleines Stück gelaufen waren, fragte Christoph Robin:

„Was machst du am allerliebsten von der Welt, Puh?“

 

(Und was Puh am allerliebsten tat, war natürlich Christoph Robin zu Hause zu besuchen und zu essen, aber da wir das ja bereits erwähnt haben, brauchen wir es wohl hier nicht zu wiederholen.)

 

„Das mag ich auch gern“, sagte Christoph Robin, „aber was ich am liebsten tue, ist nichts.“

„Wie tut man denn nichts?“ fragte Puh schließlich, nachdem er lange darüber nachgedacht hatte.

„Na ja, das geht so, wenn du es nämlich gerade tun willst und die Leute dir zurufen: ,Was machst du, Christoph Robin?' und du sagst: ,Ach. nichts' und gehst dann hin und tust es.“

„Ach so“, sagte Puh.

„Und genau das machen wir gerade, Nichtstun.“

„Ach so“, sagte Puh wieder.

„Es bedeutet, daß man einfach dahinschlendert, auf alles horcht, was man nicht hören kann, und sich um nichts bekümmert.“

 

Chuang-tse schreibt darüber{3}:

 

Erkenntnis wanderte im Norden an den Ufern des dunklen Wassers und bestieg den Berg des steilen Geheimnisses. Da begegnete sie von ungefähr dem schweigenden Nichtstun.

Erkenntnis redete das schweigende Nichtstun an und sprach: „Ich möchte eine Frage an dich richten. Was muß man sinnen, was denken, um den SINN zu erkennen? Was muß man tun und was lassen, um im SINNE zu ruhen? Welche Straße muß man wandern, um den SINN zu erlangen?“

Dreimal fragte sie, und das schweigende Nichtstun antwortete nicht. Erkenntnis kam im Süden an das weiße Wasser und bestieg den Berg der Zweifels-Endung. Da erblickte sie Willkür. Erkenntnis stellte dieselben Fragen an Willkür.

Willkür sprach: „Oh, ich weiß es; ich will es dir sagen.“ Aber während sie eben reden wollte, hatte sie vergessen, was sie reden wollte.

Erkenntnis kehrte zurück zum Schloß des Herrn, trat vor den Herrn der gelben Erde und fragte ihn.

Der Herr der gelben Erde sprach: „Nichts sinnen, nichts denken: so erkennst du den SINN; nichts tun und nichts lassen: so ruhst du im SINN; keine Straße wandern: so erlangst du den SINN.“

 

Was Chuang-tse, Christoph Robin und Puh beschreiben, ist das große Geheimnis, das der Weisheit, dem Glück und der Wahrheit die Tore öffnet. Und was ist dieses magische, mysteriöse Etwas? Nichts. Für den Taoisten ist nichts etwas, während das — oder zumindest vieles von dem —, was die meisten für wichtig halten, im Grunde gar nichts ist. Damit das etwas klarer wird, wollen wir versuchen, wenigstens annähernd eine Vorstellung davon zu geben, was die Taoisten T'ai Hsü nennen, das „Große Nichts“.

Beginnen wir mit einer Schilderung aus den Schriften von Chuang-tse:

 

Der Herr der gelben Erde wandelte jenseits der Grenzen der Welt. Da kam er auf einen sehr hohen Berg und schaute den Kreislauf der Wiederkehr. Da verlor er seine Zauberperle. Er sandte Erkenntnis aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder. Er sandte Scharfblick aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder. Er sandte Denken aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder. Da sandte er Selbstvergessen aus. Selbstvergessen fand sie.

 

Als I-Ah seinen Schwanz verloren hatte, wer fand ihn wieder? Kaninchenschlau? Nein. Das war vollauf damit beschäftigt, schlaue Sachen zu machen. Gelehrte Eule? Nein. Sie erkannte ihn nicht einmal, als er ihr vor Augen kam. Besserwisser I-Ah? Nein. Der hatte gar nicht gemerkt, daß der Schwanz fehlte, bis Puh es ihm sagte. Und selbst dann dauerte es noch ziemlich lange, bis man ihn davon überzeugt hatte, daß er wirklich weg war.

 

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Dann ging Puh auf die Suche. Zuerst machte er an Eules Haus halt, und Eule ließ sich des langen und breiten darüber aus, wie man zur Tat schreiten und eine Belohnung aussetzen müsse, was beinhalte, daß eine . . . (gähn) . . . Bekanntmachung geschrieben und angebracht würde . . . (GÄHN). . . überall im ... (hmm). Ach ja — wo waren wir stehengeblieben? Überall im Wald. Und dann gingen sie hinaus. . .

 

Puh sah sich den Türklopfer und den Zettel darunter an, dann sah er sich die Klingelschnur und den Zettel darunter an, und je mehr er die Klingelschnur ansah, um so mehr hatte er das Gefühl, als habe er irgend etwas Ähnliches irgendwo anders irgendwann früher schon einmal gesehen.

„Eine hübsche Klingelschnur, nicht wahr?“ meinte Eule. Puh nickte. „Sie erinnert mich an irgend etwas“, bemerkte er, „aber mir fällt nicht ein, an was. Wo hast du sie her?“

„Ich bin im Wald darauf gestoßen. Sie hing über einen Busch, und zuerst dachte ich, jemand würde dort wohnen, also zog ich daran, aber nichts geschah, und dann zog ich noch einmal sehr fest daran, und da hatte ich sie in der Hand, und weil offenbar niemand darauf Wert legte, habe ich sie mit nach Hause genommen, und —“

 

Aha. Puh brachte also I-Ah den Schwanz zurück, und als der wieder an seinem Platz war, fühlte I-Ah sich viel wohler.

Für eine Weile jedenfalls.

Diese selbstvergessene Leere ist anscheinend sehr nützlich zum Auffinden von Perlen und Schwänzen und derlei, denn sie öffnet die Augen für das, was vor einem liegt. Wer hingegen den Kopf mit ändern Dingen voll hat, ist dazu nicht fähig. Während einer innerlich leer und selbstvergessen dem Gesang eines Vogels lauscht, fragt der mit Gedanken und Wissen Vollgestopfte nur, was für ein Vogel da wohl singt. Je mehr man im Kopf hat, desto

 

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weniger hört man mit eigenen Ohren und sieht man mit eigenen Augen. Wißbegier und Klugheit beschäftigen sich meist mit den falschen Sachen, und wem der Kopf vor Informationen, klugen Gedanken und abstrakten Vorstellungen schwirrt, der jagt leicht hinter Dingen her, die nichts bedeuten oder gar nicht existieren, statt das zu erkennen, zu schätzen und zu gebrauchen, was genau vor ihm liegt.

Nehmen wir die Leere ganz allgemein einmal unter die Lupe. Wodurch wirkt ein taoistisches Gemälde so erfrischend auf die unterschiedlichsten Leute? Durch die Leere, den Raum, der nicht ausgefüllt ist. Wodurch wirken frischer Schnee, reine Luft und klares Wasser? Oder schöne Musik? Claude Debussy hat einmal gesagt: „Musik ist der Raum zwischen den Noten.“

„Huuh, Baby! Oooaiih, BABY! (Bang bang bang.) Baby, don't leave me! (Bängbäng zosch bang!) Baby, don't LEA VE me!“ (Klick.) Wie die Stille nach dem Lärm oder kühles, klares Wasser an einem staubigen, schwülen Tag, so reinigt die Leere den Geist von Unrat und lädt die Batterien wieder mit neuen Kräften auf.

Viele Leute fürchten sich vor der Leere, weil sie ihnen wie die Einsamkeit vorkommt. Alles muß irgendwie ausgefüllt werden — Terminkalender, Berghänge, unbebaute Grundstücke — aber erst wenn alles ausgefüllt ist, kommt wirklich die Einsamkeit. Dann schließt man sich Gruppen an, schreibt sich für Kurse ein und macht sich Gönn-dir-was-Geschenke. Wenn die Einsamkeit zur Tür hereinschleicht, wird der Fernsehapparat angedreht, um sie zu vertreiben, aber sie geht doch nicht. Deshalb verlassen manche von um den Schauplatz, und wenn wir die Leere dieses Riesenhaufens Unrat erst einmal losgeworden sind, erleben wir die Fülle des Nichts.

Ein besonders schönes Beispiel für den Wert des Nichts ist eine Begebenheit aus dem Leben des japanischen Kaisers Hirohito. Kaiser in einem so streng konfuzianisch durchorganisierten Land zu sein ist nicht unbedingt sehr erbaulich. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein ist praktisch jede Minute der kaiserlichen Zeit mit Treffen, Audienzen, Reisen, Besichtigungen und dergleichen ausgefüllt. Durch einen dermaßen eng mit Terminen gepflasterten Tag, dem gegenüber eine Felswand geradezu durchlässig erscheinen würde, muß der Kaiser hindurchgleiten wie ein Segelschiff in einer stetigen Brise.

Mitten an einem besonders hektischen Tag wurde der Kaiser einmal zu irgendeiner Veranstaltung in einer Versammlungshalle gerufen. Aber als er dort ankam, war niemand da. Der Kaiser schritt in die Mitte der großen Halle, stand einen Augenblick schweigend da und verneigte sich dann vor dem leeren Raum. Daraufhin wandte er sich mit lächelndem Gesicht an seine Begleiter. „Wir müssen mehr solche Veranstaltungen einplanen“, sagte er. „Seit langem hat mir nichts soviel Freude gemacht!“

Im 48. Kapitel des Tao Te King schreibt Lao-tse: „Wer das Lernen übt, vermehrt täglich. Wer den SINN übt, vermindert täglich.“ Chuang-tse beschreibt dieses Prinzip auf seine humorvolle Art so:

 

Yen Hui sprach: „Ich bin vorangekommen.“

Der Meister sprach: „Was meinst du damit?“

Er sagte: „Ich habe Güte und Gerechtigkeit vergessen.“

Der Meister sprach: „Das geht an, doch ist's noch nicht das Höchste.“

An einem andern Tag trat er wieder vor ihn hin und sprach: „Ich bin vorangekommen.“

Der Meister sprach: „Was meinst du damit?“

Er sprach: „Ich habe Umgangsformen und Musik vergessen.“

Der Meister sprach: „Das geht an, doch ist's noch nicht das Höchste.“

An einem andern Tag trat er wieder vor ihn und sprach: „Ich bin vorangekommen.“

Der Meister sprach: „Was meinst du damit?“

Er sagte: „Ich bin zur Ruhe gekommen und habe alles vergessen.“ Der Meister sprach bewegt: „Was meinst du damit, daß du zur Ruhe gekommen bist und alles vergessen hast?“

Yen Hui sprach: „Ich habe meinen Leib dahinten gelassen, ich habe abgetan meine Erkenntnis. Fern vom Leib und frei vom Wissen bin ich eins geworden mit dem, das alles durchdringt. Das meine ich damit, daß ich zur Ruhe gekommen bin und alles vergessen habe.“

Der Meister sprach: „Wenn du diese Einheit erreicht hast, so bist du frei von allem Begehren; wenn du dich so gewandelt hast, so bist du frei von allen Gesetzen und bist weit besser als ich, und ich bitte nur, daß ich dir nachfolgen darf.“

 

Erkenntnisse sammeln, analysieren, einordnen und speichern — diese und andere Funktionen kann der Geist so automatisch, gekonnt und mühelos ausüben, daß der komplizierteste Computer dagegen nur ein Plastikspielzeug ist. Aber er kann noch unendlich viel mehr. Den Verstand so zu gebrauchen, wie er gemeinhin nur zu gern gebraucht wird, und für das, wofür er normalerweise gebraucht wird, ist genauso unsinnig und unangebracht, wie mit einem Zauberschwert eine Büchse Bohnen zu öffnen. Die Kraft, die aus der Klarheit des Geistes kommt, ist mit Worten nicht zu beschreiben. Aber wer das Nichts in seinem Wert begreift und sich zunutze macht, der kann sie auch erlangen.

Nehmen wir einmal an, du hast eine Idee — oder, wie Puh es genauer ausdrücken würde, dir kommt eine Idee. Woher kommt sie? Kommt sie von diesem, und dieses kommt von jenem? Wenn du sie bis zu ihrem Entstehungspunkt zurückverfolgen kannst, merkst du, daß sie aus dem Nichts kommt. Und aller Wahrscheinlichkeit nach kommt sie um so direkter daher, je großartiger sie ist. „Ein Geniestreich! Nie dagewesen! Ein revolutionärer Gedanke!“ Praktisch jeder hat schon einmal so eine Idee gehabt, vermutlich nach einem tiefen Schlaf, der dich so klar und so leer gemacht hat, daß aus dieser Fülle von Nichts plötzlich eine Idee aufblitzt. Wir müssen aber nicht unbedingt ein paar Stunden schlafen, damit das geschieht. Wir brauchen nur wach zu sein — vorkommen wach. Und das ist ein ganz natürlicher Vorgang.

Er fängt in unserer Kindheit an. Als Kinder sind wir zwar hilflos, uns jedoch der Dinge um uns herum bewußt und freuen uns daran. Dann, als Jugendliche, sind wir zwar immer noch unselbständig, versuchen aber, wenigstens unabhängig zu erscheinen. Und schließlich lassen wir auch diese Entwicklungsstufe hinter uns und werden erwachsen — selbstbewußte Persönlichkeiten mit der Fähigkeit und Reife, ändern zu helfen, wie wir uns selbst zu helfen gelernt haben.

Aber Erwachsensein ist nicht die höchste Stufe der Entwicklung. Am Ende des Kreislaufes steht wieder das Kindsein in völliger Selbständigkeit, mit innerer Klarheit und sehendem Blick. Das ist die Stufe der Weisheit. Im Tao Te King und andern Büchern der Weisheit heißt es: „Kehre zum Anfang zurück; werde wieder wie ein Kind.“ — Genau das ist gemeint. Warum wirken die Erleuchteten so hell und glückselig wie Kinder? Warum sehen sie manchmal sogar aus wie Kinder und reden auch so? Weil sie so sind. Die Weisen sind wissende Kinder. Ihr Geist ist leer geworden von den unzähligen Nichtigkeiten törichter Gelehrsamkeit und angefüllt mit der Weisheit des Großen Nichts, des alldurchdringenden SINNES.

 

Sie gingen weiter und dachten an dies und das, und so kamen sie endlich an eine verzauberte Stelle ganz oben im Wald, die „Koggenbusch“ hieß, weil dort über sechzig Bäume im Kreis herum standen; und Christoph Robin wußte, daß sie verzaubert war, denn niemand hatte bisher zählen können, ob es dreiundsechzig oder vierundsechzig waren, selbst dann nicht, wenn er gleich nach dem Zählen um jeden Baum eine Schnur band. Da es sich um einen verzauberten Platz handelte, war der Erdboden nicht, wie sonst der Waldboden, mit Stechginster, Farnkraut und Heide bedeckt, sondern dicht mit Gras bewachsen, still und weich und grün. . . Wenn sie da saßen, konnten sie die ganze Welt vor sich ausgebreitet sehen bis dahin, wo sie den Himmel berührte, und alles auf der Welt war mit ihnen im Koggenbusch.

 

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Hier, am verzauberten Ort auf der Waldeshöhe, enden die Puh- Bücher. Wir können aber jederzeit dorthin. Es ist nicht weit von hier; es ist auch nicht schwer zu finden. Nimm einfach den Weg zum Nichts und geh nach Nirgendwo, bis du ankommst. Denn der verzauberte Ort ist genau da, wo du gerade bist, und wenn du mit Bären gut Freund bist, kannst du ihn leicht finden.