Achtes Kapitel

Vignette.tif

Ist euch schon mal aufgefallen, dass sich die Probleme, die einem am meisten Sorgen bereiten, später oft in Luft auflösen? So ist es auch mit dem Besuch bei Saldowr. Der Samstagmorgen ist wunderschön. Mehr Juni als April, sagt Mum, als sie die Wäsche aufhängt. Ich helfe ihr mit den Bettbezügen. Eine Amsel singt in der Eberesche. Auch Mum singt, durch die Wäscheklammern hindurch, die in ihrem Mund stecken. Sie klingt mehr denn je wie eine summende Biene. Die Wäsche flattert, als Mum die Leinen des Wäscheständers spannt.

»So, fertig«, sagt sie, indem sie die übrig gebliebenen Wäscheklammern in den Korb fallen lässt. »Was für ein herrlicher Tag. Man sollte nicht glauben, dass es Leute gibt, die so einen Tag in einem alten, dunklen Pub verbringen, nicht wahr? Aber Glück für mich, sonst hätte ich keinen Job. Ich bin cirka um sechs wieder da, Sapphy.«

Mum arbeitet so hart. Roger sagt, dass sie das nicht braucht. Er verdient gutes Geld und hätte es lieber, wenn sie es sich bequem machen würde. Doch Mum ist da anderer Meinung. Eines Abends hat sie mir Folgendes anvertraut: »Roger ist sehr großzügig, Sapphy, aber er ist nicht verantwortlich für dich und Conor. Ich will nicht, dass er denkt, er müsse auch für euch aufkommen. Außerdem ist es mir sowieso lieber, wenn ich mein eigenes Geld verdiene. Es ist immer gut, auf eigenen Füßen zu stehen, Sapphy. Ich hoffe, dass auch du das später tun wirst. Mädchen können doch heute werden, was sie wollen. Lass dich von niemand daran hindern, das zu tun, was du tun willst.«

Mums Augen leuchteten vor Eifer. Wahrscheinlich würde sie mir jeden Moment erzählen, dass die Schule für mich ein Kinderspiel sei, wenn ich nur richtig wolle, und dass ich nachher zur Uni gehen könne. Dann stünden mir alle Wege offen. Manchmal ist Mum böse auf sich, weil sie selbst nichts von alldem getan hat. Deshalb will sie um so mehr, dass ich »meine Chancen nicht wegwerfe«, wie sie sich ausdrückt.

Doch an diesem Abend überraschte sie mich. Ich hatte erwartet, dass sie mir mit den üblichen Dingen in den Ohren liegen würde – »Mach deine Hausaufgaben, Sapphy; deine Lehrer sagen, dass du großes Potenzial hast, aber du musst es auch nutzen« –, aber das tat sie nicht. Für eine Weile sprach sie kein Wort, dann sagte sie: »Ich habe mich zu sehr auf deinen Vater verlassen, Sapphy. Damals habe ich das nicht begriffen, doch heute weiß ich es. Das war ihm gegenüber nicht fair.«

Es ist lange her, dass ich Mum so über Dad hatte reden hören, nachdenklich statt von Trauer und Zorn geprägt. Als wäre Dad immer noch ein Teil unseres Lebens statt jemand, dem sie nicht vergeben kann, dass er uns von einem auf den anderen Tag verlassen hat. Ich wartete darauf, dass sie weitersprach, doch sie lächelte mich nur kurz an und sagte nichts mehr. Aber es tat mir gut. Es gab mir das Gefühl, dass ich wieder über Dad reden durfte.

Mum sehnt sich danach, wieder zur Schule zu gehen. Sie ist das Gegenteil von mir: Sie würde sich am liebsten sofort in die Lehrbücher vertiefen und Prüfungen ablegen. Vielleicht kann sie ja eines Tages ihren Traum wahr machen und doch noch Krankenschwester werden. Sie hat sich ein paar Broschüren über die Ausbildung schicken lassen und einen ganzen Abend damit verbracht, sie zu lesen. Manche Abschnitte hat sie mir sogar vorgelesen und mich nach meiner Meinung gefragt. Ich könnte mir Mum als Krankenschwester gut vorstellen. Sie wäre bestimmt gut darin, und so alt ist sie ja auch noch nicht. Doch jetzt brauchen wir erst mal das Geld, das sie im Pub verdient.

Es hat gutgetan, so mit ihr zu reden. Als sie mir einen Gutenachtkuss gab, sagte sie: »Es ist schön, so mit dir reden zu können, jetzt, wo du ein bisschen älter bist.«

*

»Schau mal«, sagt Mum, während sie zufrieden die im Wind flatternde Wäsche betrachtet. »Die Sachen werden bestimmt bald trocken sein.«

In diesem Moment kommt Conor in den Garten und schlägt vor, zur Bucht hinunterzugehen. Wir machen uns ein paar Sandwichs und nehmen unsere Schwimmsachen mit. Im Februar ist das Meer am kältesten und im April noch nicht viel wärmer geworden. Mum zuliebe packen wir also Neoprenanzüge ein. (Wir werfen sie in den Schuppen, als wir uns auf den Weg machen. In Indigo braucht man keinen Neoprenanzug.)

Mum ist zur Zeit ein wenig entspannter, was die Bucht betrifft. Seit der Flutkatastrophe in St. Pirans glaubt sie nicht mehr, dass wir in Sicherheit sind, nur weil wir uns vom Meer fernhalten. Schließlich war es in St. Pirans ja auch nicht sicherer als in der Bucht. Sie fragt uns wie immer nach den Gezeiten, und wir versichern ihr, dass wir ganz genau wissen, wann die Flut kommt. Dass wir schon lange, bevor die Gezeiten sich umkehren, auf den Felsen sitzen und uns ganz bestimmt nicht vom plötzlich steigenden Wasser überraschen lassen werden.

»In Ordnung«, erwidert Mum. »Dann sehen wir uns, wenn ich von der Arbeit komme. Roger müsste auch so um sechs wieder da sein. Wenn es so schön bleibt wie jetzt, könnten wir heute Abend doch vielleicht ein Barbecue machen.«

Ein Barbecue? So wie Mum »Barbecue« sagt, klingt sie fast so wie Roger, obwohl sie noch nie in Australien war. Roger hat dort seine Kindheit verbracht, und obwohl er schon seit vielen Jahren in England lebt, hört man ihm immer noch seinen australischen Akzent an.

Seine ganze Art ist in gewisser Weise typisch australisch, jedenfalls so, wie die meisten Australier hier wirken. Sehr nüchtern und entspannt und gut in praktischen Dingen. (Wahrscheinlich würde ich mich wundern, wenn ich mal nach Australien reise – auch da muss es doch schlecht gelaunte Typen geben, die nicht mal eine Glühbirne wechseln können.)

Letzten Monat hat Roger einen riesigen Gartengrill aus Edelstahl gekauft, auf dem man ein Weihnachtsmenü für zehn Personen zubereiten könnte. Conor und ich machen am Strand öfter ein Lagerfeuer aus Treibholz, das wir mit losen Steinen umgeben. Eigentlich finde ich unsere Lagerfeuer am besten, aber grillen kann er, unser Super-Aussi (so wird er von Conor genannt).

»Grillen wär schön, Mum«, sagt Conor.

»Wollt ihr Sadie nicht mitnehmen?«, fragt sie.

»Lieber nicht«, antwortet Conor leichthin. »Es ist doch eine ziemliche Klettertour, und ihre Pfote ist immer noch nicht in Ordnung. Da hat sie es besser, wenn sie hierbleibt.«

Sadie hat sich gestern einen Splitter in die Pfote getreten. Ich habe ihn herausgezogen und die Wunde desinfiziert, dennoch macht sie immer noch ein großes Theater, humpelt durch die Gegend und lässt sich bemitleiden.

»Na gut«, sagt Mum. »Passt auf euch auf. Ich frage Roger, ob er ein paar Burger mitbringt.«

Sie lächelt uns an. Plötzlich fällt mir auf, dass sie sich verändert hat. Sie ist nicht mehr so dünn wie zuvor, sieht weniger verhärmt aus. Ihr Gesicht ist runder … fröhlicher …

*

Die Bucht glitzert in der Morgensonne. Der Sand, der eben noch vom Wasser überspült wurde, ist flach und hart. Wir deponieren unsere Turnschuhe sowie die Tasche mit Handtüchern und Ersatzkleidern auf den Felsen hinter der Gezeitenlinie. Dann laufen wir barfuß über den kalten Sand. Ich folge Conors Fußspuren. Wir sind die einzigen Leute hier, und es kommt mir so vor, als wären wir die einzigen Menschen auf der Welt. Kleine Watvögel stolzieren ebenfalls am Strand entlang. Sie betrachten uns neugierig, doch ohne Angst. Tang und Kelpbüschel, schimmernde kleine Muscheln und Plastikschnüre liegen verstreut in der Gegend. Über uns erheben sich die Klippen wie ehrwürdige, graue Dinosaurier. Der Ginster, der darauf wächst, verströmt einen Geruch von Salz, Unkraut und Kokosnuss.

Der ganze wunderschöne Morgen gehört uns. Für einen Moment wünsche ich mir, wir könnten zwei Jahre zurückgehen zu einer Zeit, in der wir noch nichts von Indigo wussten. Damals benutzten wir ein Stück Holz als Schläger und einen mitgebrachten Ball, um am Strand Kricket zu spielen. Schwimmend erkundeten wir die Bucht, und ich malte eine Meerjungfrau in den Sand, mit Haaren aus Seetang und Muschelaugen. Das Leben war so einfach damals, jedenfalls scheint es mir im Rückblick so einfach gewesen zu sein. Aber vielleicht stimmt das auch gar nicht. Ich hasste es beispielsweise, wenn Mum und Dad sich lautstark stritten. Dann zog ich mir die Bettdecke über den Kopf und sang vor mich hin, um mir ihren Streit nicht mit anhören zu müssen.

Aber die Zeit war fortgeschritten und meine letzte Meerjungfrau schon vor zwei Jahren vom Wasser zerstört worden. Jetzt, nachdem ich die Mer kennengelernt habe, würde ich keine mehr aus Sand formen.

Ich bin sicher, dass Faro im leuchtenden Wasser auf uns wartet – und da ist er auch schon. Sobald ich seinen Namen rufe, scheint Indigo mir förmlich entgegenzustürmen. Faros dunkler Kopf lugt an der Mündung der Bucht zwischen den Wellen hervor. Angetrieben von seiner Schwanzflosse schwimmt er uns schneller entgegen als jeder Mensch das könnte. Sein lachendes Gesicht glänzt vom Salzwasser. Es scheint ihm nicht viel auszumachen, die Haut des Meeres durchdrungen zu haben.

»Faro!«

Er hebt eine Hand zum Gruß, schießt durch einen Wellenkamm hindurch und taucht im nächsten Moment neben uns aus dem schäumenden Wasser, das uns bis zur Hüfte reicht. Das Meer fühlt sich heute gar nicht kalt an. Die Wellen sind frisch und lebendig, schwappen um uns herum, laden uns zum Spielen ein. Faro hebt seine Schwanzflosse und schlägt damit so kraftvoll auf die Wasseroberfläche, dass wir in die Gischt gehüllt werden.

»Guten Morgen, kleine Schwester! Guten Morgen, Conor!« Lächelnd zeigt er uns seine Zähne, die ein kleines bisschen weißer und regelmäßiger sind als dies menschliche Zähne jemals sein könnten.

»Schlag ein!«, sagt Conor und hebt seine Hand. Faro weiß zuerst nicht, was das bedeutet, ist aber begeistert, als Conor es ihm zeigt. Noch mehrmals machen sie High five, und ich könnte wetten, dass Faro es bei nächster Gelegenheit den anderen Mer beibringen wird. Vielleicht wird das in Indigo ja schon bald ein cooles Begrüßungsritual.

Und dann kommt der beste Augenblick von allen. Wir schauen uns an und beschließen wortlos, das es an der Zeit ist. Zeit für Indigo.

Ich mustere die Wellen. Dort ist eine für mich. Ich schätze ihre Höhe ab, als sie sich vor mir auftürmt, und hechte in den kühlen, grünen Hohlraum, der sich unter ihrer Krone auftut.

Die Welle bricht nicht, denn ich bin schon in Indigo, wo die Wellen unablässig kommen und gehen. Ich folge ihr in die Tiefe, durchdringe die grünen und türkisfarbenen Schichten, dem weißen Sand entgegen. Das Wasser über mir gewinnt an Höhe, und plötzlich fällt der Meeresgrund steil ab. Ich befinde mich an der Mündung der Bucht und folge dem fernen Schimmern des Sands nach unten.

Wir sind in Indigo. Conor und Faro sind hinter mir und schwimmen nebeneinander. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Conor sieht nicht so aus, als müsse er kämpfen. Vielleicht hat er inzwischen gelernt, den Sauerstoff ganz entspannt entweichen zu lassen. Er hat eine gesunde Gesichtsfarbe und nicht diese bläuliche Verfärbung um den Mund, die mir so Angst macht, weil sie darauf hinweist, dass er zu wenig Sauerstoff bekommt. Faro hilft ihm natürlich.

Indigo. Indigo. Ich strecke die Arme aus und das Meer kommt mir entgegen. Indigo heißt mich willkommen. Myrgh kerenza. Ich höre die Worte nicht, aber ich fühle sie. Dad hat mich seine myrgh kerenza genannt, seine liebe Tochter, und ich war ihm böse deswegen. Wenn ich dir so lieb bin, warum hast du mich dann verlassen? Warum hast du uns ohne ein Wort der Erklärung im Stich gelassen? Doch ganz gewiss bin ich Indigos Tochter.

Ja, auch Conor geht es heute bestens in Indigo. An Faros Seite gleitet er durch das sprudelnde Wasser, das sich so frisch und quicklebendig anfühlt, als sei auch in Indigo der Frühling ausgebrochen.

»Schließ deine Augen, Sapphire«, fordert Faro mich auf.

»Warum?«

»Es ist eine Überraschung.«

Ich schließe die Augen. Jetzt erst spüre ich, wie schnell wir in der westwärts fließenden Strömung, die Faro für uns ausgesucht hat, unterwegs sind.

»Haltet euch fest!«

Und dann geht’s los. Die Strömung wirbelt uns durcheinander wie Blätter in einem Wasserfall. Nach oben und wieder hinab, so schnell, dass selbst meine Gedanken aus mir herausfliegen und ich nichts anderes mehr spüre als den gewaltigen Wirbel, der mich umgibt. Doch macht er mir keine Angst. Als wäre ich Teil einer Welt, die jenseits aller Vorstellungskraft liegt.

Mit einem Mal wirft uns die Strömung auf den Sand, und ich weiß, dass wir da sind. Ich erinnere mich an diesen Ort. Es sind die Wälder von Aleph, die immer noch verwüstet sind, seit der Gezeitenknoten brach.

Überall liegen Gesteinsbrocken und tote Dinge herum. Doch aus den Trümmern sprießt hier und da frisches Grün. Die Bäume in dieser Tiefe sind doch nicht völlig abgestorben. Und immer mehr Leben kehrt in sie zurück. Die Zerstörung wirkt nicht mehr ganz so schlimm wie damals, als die Gezeiten verrückt gespielt haben. Indigo kann sich selbst heilen, das weiß ich, wenn man ihm nur genug Zeit lässt.

Doch so weit wird es nicht kommen. Das Gefühl des Frühlings ist eine Illusion. Indigo geht dem Winter, nicht dem Sommer entgegen. Die grünen Triebe werden verkümmern. Ein langer schmerzhafter, verlustreicher und dunkler Winter wird sich über Indigo legen wie eine gewaltige Flut. Der Krake ist wach und er ist hungrig. Ervys sagt, dass die Schäden, die wir sehen, nur ein Vorgeschmack auf die Verwüstungen sind, die der Krake anrichten könnte.

Noch nie ist mir Indigo so schön vorgekommen wie heute und noch nie so verletzlich.

»Wie sind wir hierher gekommen, ohne an den Haien vorbei zu müssen?«, fragt Conor.

»Sie sind noch nicht zurückgekehrt«, antwortet Faro, als wären das schlechte Nachrichten. »Saldowr ist noch nicht stark genug, um sie zu sich zu rufen.«

Faro scheint sich absolut sicher zu sein, dass dies nur eine Frage der Zeit ist. Doch erinnere ich mich noch gut daran, wie herablassend Ervys über Saldowr geredet hat, als wäre der schon so gut wie tot. Allein bei dem Gedanken daran steigt mir die Zornesröte ins Gesicht. Was glaubt Ervys eigentlich, wer er ist? Ich möchte Saldowr unbedingt sehen, obwohl ich fürchte, er könnte geschwächt und verändert sein.

»Wird er zu uns herauskommen?«, fragt Conor. Das hat Saldowr letztes Mal getan.

»Saldowr ist in seiner Höhle«, entgegnet Faro.

»Aber die Höhle war doch voller Sand, nachdem der Gezeitenknoten brach.«

»Ich habe sie wieder gereinigt«, sagt Faro.

»Das hast du gemacht? Ganz allein?«, fragt Conor. Er wirft Faro einen bewundernden Blick zu. Wir können uns beide noch daran erinnern, wie Saldowrs Höhle aussah, nachdem die Gezeiten die Wälder verwüstet hatten. Der Zugang zur Höhle war vollkommen blockiert. Faro muss stunden-, wenn nicht tagelang geschuftet haben …

»Ja, ganz allein«, bestätigt er stolz. »Wer sonst sollte Saldowr dienen? Ich bin Saldowrs scolhyk und sein holyer. Wer sonst sollte sich um ihn kümmern und seine Höhle wieder herrichten? Und wenn alle ihn verlassen, ich werde es nicht tun. Bald werden die Haie zurückkehren, dann wird wieder alles so sein wie zuvor.«

»Bist du sicher, dass sie zurückkehren?«, frage ich.

»Natürlich«, antwortet er mit Entschiedenheit. »Du musst wissen, Sapphire, dass die Wälder von Aleph schon immer von Haien bewacht wurden.«

»Scheint ja nicht besonders gut geklappt zu haben«, bemerkt Conor. »Vielleicht solltet ihr es mal mit anderen Wächtern probieren.«

Faro ignoriert diese Bemerkung. »Wir dürfen Saldowr nicht länger warten lassen«, sagt er.

»Aber ich dachte, wir dürfen nicht in die Höhle hineinschwimmen. Als wir das letzte Mal hier waren, hat Saldowr gesagt …«

»Er kann sich nicht bewegen. Es geht nicht anders.«

Ich denke an Faros Worte, als wir zum Eingang der Höhle schwimmen. Dann wird wieder alles so sein wie zuvor. Aber ich glaube das nicht. Genauso könnte ich denken, wenn Dad nach Hause käme, wäre alles wieder so wie früher.

Das Seegras, das einst vor Saldowrs Höhle wogte und deren Eingang verbarg, ist von den Gezeiten weggerissen worden und noch nicht wieder nachgewachsen. Es ist hell genug, um sich in der Höhle umzuschauen, während Faro auf die hintere Wand zugleitet.

Ich hatte mir Sadowrs Höhle immer groß und prächtig vorgestellt, mit funkelnden Meeresdiamanten an den Wänden, einem hohen Deckengewölbe und perlmuttbesetzten Teppichen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Höhle ist karg und leer. Die Wände aus Granit, der Boden aus Sand. Sie erinnert mich an einen anderen Ort, doch fällt mir nicht ein, an welchen.

Saldowr ruht auf einer glatten Steinliege am Ende der Höhle. Seine Haare liegen wie ein trüber Heiligenschein um ihn herum ausgebreitet. Sie sind länger und grauer geworden seit letztem Mal. Er hat seinen Umhang eng um den Körper gezogen, als würde er frieren. Die glühenden Augen liegen tief in ihren Höhlen.

»Seid willkommen«, sagt er. »Ich habe euch erwartet. Kommt näher.«

Wir gleiten auf ihn zu. Im schummrigen Licht macht sein Gesicht einen ausgezehrten Eindruck. Ich ergreife seine Hand, die er mir entgegenstreckt. Sie fühlt sich knochig an.

»Saldowr.«

»Ja, mein Kind. Ich bin kein schöner Anblick, nicht wahr?«

»Bist du krank?«

»Die Wunde, die mir der Schlussstein zugefügt hat, will nicht verheilen. Conor, gib mir deine Hand.«

Ich gleite zurück und überlasse Conor Saldowrs Hand.

»Mein lieber Sohn«, sagt er, während Faro ein seltsames Gesicht macht. Ist er eifersüchtig? »Es liegt viel Arbeit vor uns und wir haben nur wenig Zeit. Ihr wisst, dass der Krake erwacht ist?«

Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. »Ja«, antworte ich.

»Und du, mein Kind, bist in der Tiefe gewesen. Deswegen sind die Mer jetzt so brennend an dir interessiert. Sie glauben, dass du ihnen im Kampf gegen den Kraken helfen kannst.«

Wie merkwürdig. Saldowr spricht so distanziert von den Mer, als gehöre er gar nicht zu ihnen. Ich bin mir sicher, dass er das sonst nicht tut.

Saldowrs Augen mustern mein Gesicht. Wie anders als Ervys er doch ist. Saldowr will nichts von mir. Er sieht mich nicht als Mittel zum Zweck. Für Saldowr bin ich immer noch Sapphire. Ich selbst.

»Willst du das tun?«, fährt er so beiläufig fort, als wäre es eine Kleinigkeit. Conor legt mir die Hand auf den Arm.

»Saph wird das nicht alleine machen«, sagt er.

»Du weißt, Conor, dass du nicht in die Tiefe vordringen kannst.« Saldowr spricht immer noch mit leichter Stimme, doch liegt auch eine gewisse Neugier in seinem Gesicht, als wolle er Conor nur auf die Probe stellen.

»Wer sagt das?«

Conors Frage hallt durch die Höhle. Saldowr nickt, als hätte er die erwartete Antwort erhalten. »Du hast den Schlussstein geheilt«, sagt er. »Du hast seine Runen gelesen. Wenn du immer noch über solche Fähigkeiten verfügst, dann ist nichts unmöglich. Doch jetzt, Conor, zeig mir, was du in deiner Tasche hast.«

Conor erschrickt genauso wie ich. Ich wusste, dass er Elviras Talisman mitnehmen würde. Er hat ihn bestimmt immer bei sich getragen, seit ich ihn ihm gegeben habe. Aber woher weiß Saldowr das? Kann er seine Gegenwart spüren, so wie Sadie? Langsam fährt Conor mit der Hand in die Tasche und zieht den Talisman heraus.

»Halt ihn ein bisschen näher.«

Saldowr studiert den Talisman, fasst ihn jedoch nicht an.

»Du kannst ihn gern in die Hand nehmen«, sagt Conor.

»Nein, nein. Ein Talisman ist ausschließlich für seinen Besitzer bestimmt. Lass ihn niemals von einer anderen Person berühren, nachdem du ihn bekommen hast, sonst wird seine Kraft schwinden. Wer hat ihn geschnitzt?«

»Elvira.«

»Hmm. Und was siehst du darin?«

»Ist ein Mer.«

»Und?«

»Er hat mein Gesicht.«

»Das stimmt nicht«, widerspreche ich. »Das bildest du dir nur ein. Das Gesicht ist doch völlig leer, nicht wahr, Saldowr?«

Ich will, dass Saldowr mich unterstützt und Conor davon abhält, Dinge zu sehen, die nur er sehen kann. Ich will Elvira nicht die Macht zugestehen, aus meinem Bruder eine geschnitzte Korallenfigur zu machen.

Saldowr wendet mir seinen Blick zu. »Ein Talisman ist ausschließlich für seinen Besitzer bestimmt«, wiederholt er sanft. »Aber du brauchst eine Kette, Conor, damit du ihn offen tragen kannst.«

»Ich werde mir eine besorgen.«

Saldowr schnippt mit den Fingern, und sofort ist Faro an seiner Seite. »Schau mal am Fußende meiner Couch nach«, sagt er. Faro gleitet ans Fußende und kommt im nächsten Moment mit einer goldenen Kette zurück.

»Ich dachte, die Mer machen sich nichts aus teurem Schmuck!«, rufe ich verwundert aus.

Saldowr hebt die Augenbrauen. »Sie gehört Conor. Sieh sie dir genau an, mein Junge.«

Conor schnappt nach Luft, und dann sehe ich auch, warum. Ich erkenne die Kette wieder. »Die gehört Dad«, keucht er. »Es ist die Kette für seinen Ring.«

Dad hat seinen Ehering nie am Finger getragen. Er mochte das Gefühl nicht. Manchmal trug er ihn an einer Kette um seinen Hals. Nicht immer, doch in jener Nacht muss er ihn getragen haben.

»Du hast recht. Es ist die Kette deines Vaters. Die Mer tragen kein Gold«, sagt Saldowr, »also hat dein Vater sie mir gegeben. Er wird sich darüber freuen, wenn du sie trägst. Außerdem finde ich, dass sie perfekt zu dem Talisman passt.«

Conor schweigt, zögert aber, die Kette entgegenzunehmen. Als würde er etwas »erben«, nachdem jemand gestorben ist. Aber wo ist der Ring? Wo ist Dads Ehering?

»Saldowr«, sage ich, »du hast gesagt, dass mein Vater dir die Kette gegeben hat, aber … aber …«

»Du willst wissen, was mit dem Ring geschehen ist«, stellt Saldowr ruhig fest.

»Ja.«

»Den hat er auch in meine Obhut gegeben.«

Das gibt mir einen Stich. Mum trägt ihren Ehering auch nicht mehr, sondern bewahrt ihn in einem Kästchen auf.

»Du kannst mir vertrauen, dass ich gut auf ihn aufpasse«, sagt Saldowr mit sanfter Stimme. Ich nicke und beiße mir auf die Lippen. Saldowr wendet sich an Conor.

»Dein Vater würde sich darüber freuen, wenn du die Kette trägst«, wiederholt er. Als hätte er eine plötzliche Entscheidung gefällt, nimmt Conor die Kette, befestigt den Talisman daran und hängt sie sich um den Hals. Saldowr hat recht. Kette und Talisman passen perfekt zusammen.

»Und dir hat niemand einen Talisman gegeben, Sapphire?«, fragt Saldowr.

Ich blicke ihn ausdruckslos an. »Nein, Elvira hat nur diesen einen geschnitzt.«

»Du trägst also nichts bei dir, was dich beschützt? Kein geheimes Geschenk?«

»Nein«, antworte ich und meinte dies auch ehrlich, als das Wort meinen Mund verließ. Kein geheimes Geschenk. Aber dann muss ich an die Vogelbeeren in meiner Jeanstasche denken. Nicht mal Conor weiß davon. Talisman wäre wahrscheinlich die falsche Bezeichnung. Es sind doch nur … nur ein paar Vogelbeeren.

Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht schießt, als Saldowr mich weiterhin prüfend ansieht. »Ich verstehe«, sagt er schließlich. »In diesem Fall muss Conors Talisman euch beide beschützen. Wohin schwimmt diese Figur, Conor?«

Die winzige geschnitzte Figur scheint uns alle in ihren Bann zu ziehen. So geschmeidig ist sie, so kraftvoll und furchtlos. Immer tiefer taucht sie hinab, durch das leuchtend helle Indigo, bis das Wasser dunkel wird und der Druck des Ozeans den bleischweren Körper wie ein Blatt Papier zusammendrückt …

»In die Tiefe«, antwortet Conor.