Zweiundzwanzigstes Kapitel

Vignette.tif

Ich bin auf dem Weg zu Granny Carne. Ich habe niemand davon erzählt, nicht einmal Conor.

Eigentlich wollte ich mit ihr über Gloria und darüber reden, was in der Tiefe passiert ist. Doch jetzt ist so vieles hinzugekommen. Granny Carne wird verstehen, dass ich Sadie nicht allein lassen kann. Sadie gehört zur Erde, genau wie sie selbst.

Die Sonne ist nicht nur warm, sondern richtig heiß. Die Leute sagen, so warm sei es im April fast nie zuvor gewesen. Ich achte sorgfältig darauf, wohin wir treten, weil dies einer dieser Tage ist, an dem Kreuzottern gern ihr Winterquartier verlassen und sich in die Sonne legen. Nach dem langen Winter sind sie noch langsam und nicht so gut darin, den Leuten auszuweichen. Ich halte Sadie dicht bei mir, weil ich nicht will, dass sie Bekanntschaft mit einer Kreuzotter macht.

Plötzlich höre ich Hufgetrappel auf dem Reitweg unter mir.

»Sapphire! Sapphire!«

Ich drehe mich um. Es ist Rainbow, die eine Reitkappe über ihren blonden kurzen Haaren trägt.

»Rainbow! Was machst du denn hier?«

»Komm mal runter, Sirup schafft es nicht den Pfad hinauf.«

Sirup, was für ein lächerlicher Name für ein Pony, denke ich, während ich vorsichtig den steilen Pfad hinunterstapfe, den ich mich gerade hinaufgekämpft habe. Doch als ich näher herankomme, sehe ich, dass der Name zu ihr passt. Sie ist dunkelbraun, klein und gedrungen. Rainbows Beine wirken viel zu lang für sie.

»Ich wusste gar nicht, dass du reitest«, sage ich, während ich Sirup über die Stirn streichle. Ich knie mich hin und befreie Sadie von der Leine. »Sitz, Sadie! Setz dich da vorne hin, damit Sirup nicht erschrickt.«

»Hallo, Sadie, wie geht’s? Das Pony gehört einer Freundin, Sapphire. Ich bewege es nur ein bisschen, solange Kylie im Urlaub ist.«

»Kylie Newton?« Das passt. Kylie Newton ist in unserem Alter, aber einen Kopf kleiner als ich. Sirup dürfte genau die richtige Größe für sie haben.

»Ja, genau. Wo willst du eigentlich hin, Sapphy?«

»Ach, ich gehe nur mit Sadie spazieren.«

Rainbow lacht. »Ach, komm …«

Sie kann sich denken, wo ich hinwill. Dieser Fußweg ist deshalb so ausgetreten, weil die Leute von jeher mit ihren Problemen zu Granny Carne gegangen sind.

Sirup steht so unbeweglich da wie ein Pfahl. Ich könnte Rainbow davon erzählen. Nicht von allem natürlich, aber die Sache mit Australien würde sie bestimmt verstehen. Vielleicht hat sie ja einen Rat für mich.

Ich schaue Rainbow nicht an, während ich es ihr erzähle. Ich streichle Sirup über das Fell und nehme den beruhigenden Geruch des Pferdes in mich auf. Ich erzähle Rainbow, dass Sadie für drei Monate zu Jacks Familie gehen soll und dass Mum und Roger meinen, eine Reise nach Australien sei das größte Geschenk, das sie uns machen können, obwohl ich nicht die geringste Lust dazu habe.

Als ich fertig bin, sagt Rainbow für eine Weile kein Wort. Sirup verscheucht ein paar Fliegen. Sadie scheint zu dösen. Ich fühle mich leicht und leer, als wäre nichts mehr von Bedeutung. Als könnte ich sowieso nichts daran ändern. Ich werde Sadie verlieren und auf die andere Seite der Erde reisen. Es kommt mir wie das Leben einer anderen Person vor, nicht wie mein eigenes.

»Du könntest doch hierbleiben«, sagt Rainbow schließlich. »Sie fliegen nach Australien und du bleibst hier.«

»Ganz allein in unserem Haus? Das geht nicht. Das würde Mum niemals erlauben.«

»Nein, vielleicht nicht in eurem Haus. Das wäre wohl ein bisschen zu viel verlangt von dir, wenn du dich um alles allein kümmern müsstest. Und nachts wäre es ziemlich einsam, selbst mit Sadie. Aber du könntest ja vielleicht bei anderen Leuten wohnen. Hör zu, Saph, warum ziehst du nicht einfach zu mir und Patrick, ich meine, falls es dir nichts ausmacht, mit mir ein Zimmer zu teilen. Für Sadie wäre das bestimmt kein Problem, solange du in der Nähe bist. Ich weiß ja, dass du St. Pirans nicht so toll findest, aber dann könntest du jedenfalls mit Sadie zusammen sein.«

Für Rainbow scheint es das Normalste auf der Welt zu sein, dass Kinder ohne ihre Eltern klarkommen. Ihre Mum und ihr Stiefvater sind ja auch immer wochenlang in Dänemark, ohne sich hier blicken zu lassen. Patrick und Rainbow scheinen damit keine Probleme zu haben. Sie kaufen ein und machen sich was zu essen, während Patrick sich auf das Abitur vorbereitet und nebenher noch in einem Surfshop arbeitet.

»Das würde Mum niemals erlauben«, entgegne ich resigniert.

»Aber warum denn nicht? Schließlich ist sie es, die nach Australien will. Und Roger. Was ist mit Conor?«

»Ich glaube, für den ist es ganz okay.«

»Gut, dann können sie ja alle machen, was sie wollen. Es zwingt sie ja niemand dazu. Bei meiner Mutter ist das genauso. Die ist ständig in Dänemark, weil es ihr da so unheimlich gut gefällt. Bei mir und Patrick ist das anders. Wir kennen dort niemand und sprechen auch kein Dänisch, also sind wir hier besser aufgehoben. Sie sind in Dänemark und wir sind hier und alle sind glücklich.«

Das hört sich so logisch an, aber …

»So ist meine Familie nicht«, sage ich.

»Vielleicht solltest du mal versuchen, etwas zu ändern«, sagt Rainbow mit blitzenden Augen. »Du wolltest damals ja auch nicht nach St. Pirans, stimmt’s? Und trotzdem seid ihr dorthin gezogen. Jetzt bist du so froh darüber, wieder in eurem alten Haus zu sein, und sollst schon wieder deine Sachen packen, obwohl du überhaupt keine Lust dazu hast. Das ist doch blödsinnig.«

»Vielleicht solltest du mal mit Mum reden.«

»Ja, vielleicht werde ich das auch tun.« Rainbow sieht fest entschlossen aus.

»War nur ein Scherz«, sage ich schnell.

»Überleg’s dir, Sapphy! Ich meine, wenn man zornig und traurig ist, sollte man dann nicht wenigstens versuchen, etwas zu ändern?«

*

Ich habe viel Zeit, mir Rainbows Worte durch den Kopf gehen zu lassen, denn als ich an Granny Carnes Haustür klopfe, bekomme ich keine Antwort. Sie wird bestimmt gleich wieder da sein, denke ich, denn aus irgendeinem Grund weiß sie meistens schon vorher, wenn Leute sie aufsuchen wollen.

Sadie und ich spazieren an ihrem Haus vorbei bis zum höchsten Punkt der Hügelkette. Dort befinden sich auch Granny Carnes Bienenstöcke. Aber ich gehe nicht zu ihnen, weil die Bienen mich nicht mögen. Ich nehme lieber den Weg durch das Heidekraut und den frisch ausgetriebenen Adlerfarn, bis ich die Hinkelsteine erreiche.

Es gibt eine Menge Geschichten über diesen unvollständigen Steinkreis. Es ist kein großer Kreis, so wie die Merry Maidens. Es gibt nur drei komplette Steine und ein paar Stumpen, doch man kann noch sehr gut erkennen, wo sich der Kreis einst befunden hat. Die Leute sagen, hier hätten früher einmal Opferriten stattgefunden, lange bevor das Christentum nach Cornwall kam. Andere Leute behaupten, dass hier nachts bei Vollmond immer noch Versammlungen stattfinden. Niemand weiß genau, wie lange diese Steine schon hier stehen oder wer sie dort hingestellt hat, aber vermutlich war das in der Bronzezeit.

Die Steine sind voller Erdmagie. Es bringt Unglück, sich innerhalb des Kreises aufzuhalten, und ich habe das auch nie getan. Sadie will es auch nicht, trotzdem halte ich sie vorsichtshalber dicht bei mir.

So viel Alter und Zeit sind hier oben vorhanden. Die Steine sind verwittert, doch Granit nutzt sich kaum ab. Auf einem der Steine gibt es eine Stelle, die Mädchen am Tag vor ihrer Hochzeit berühren. Ich hab mal ein altes Foto gesehen, auf dem eine Horde von Mädchen mitsamt der Braut hier heraufkommt. Die Braut trägt einen Blumenkranz, der vermutlich selbst gemacht ist und ein bisschen schief auf ihrem Lockenkopf sitzt. Ich glaube allerdings nicht, dass so etwas heute noch gemacht wird. Die Mädels sind doch meist viel zu beschäftigt, um Junggesellinnenabschiede zu feiern und sich die Beine zu enthaaren.

Ein paar Kohlweißlinge flattern aus dem Steinkreis hinaus und wieder hinein. Auf dem Stumpf eines liegenden Steins erkenne ich ein Zickzackmuster.

Als ich es näher betrachten will, setzt sich das Muster in Bewegung. Es ist eine Kreuzotter, die in der Sonne liegt. Ich halte in der Bewegung inne. Kreuzottern tun einem nichts, solange man nicht auf sie drauftritt oder sie in die Enge treibt. Dieses Exemplar sieht sehr entspannt und friedfertig aus. Es muss wundervoll sein, die Wärme der Sonne in sich aufzunehmen, nachdem man einen langen Winter unter der Erde verbracht hat. Ich suche den Steinkreis nach weiteren Schlangen ab. Und richtig, am Fuße eines anderen Hinkelsteins, der in Richtung Süden steht, hat sich eine weitere Schlange lose zusammengerollt.

Ich weiß, dass die Kreuzottern mir nichts tun, solange ich sie nicht erschrecke. Dennoch geht ein Schauder durch mich hindurch. Früher haben die Leute sie erschlagen, über einen Stock gehängt und in den nächsten Pub getragen.

Sadie hat die Ohren aufgestellt und den Körper angespannt. Ein leises Knurren dringt aus ihrer Kehle.

»Nein, Sadie, lass die Schlangen in Ruhe. Komm her, die könnten dir ziemlich wehtun.«

Aber Sadie hört nicht auf zu knurren. Sie wittert eine Gefahr und ist fest entschlossen, mich zu beschützen. Ich knie mich hin und schlinge die Arme um ihren Hals, nehme den Geruch ihres warmen Fells in mich auf. »Ist schon gut, Sadie. Ist schon gut.«

Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich drehe mich um und sehe Granny Carne. Sie trägt ihre üblichen erdfarbenen Kleider und ein Tuch, dessen leuchtend rote Farbe an Vogelbeeren erinnert.

»Pass gut auf, wo du hintrittst, mein Mädchen«, sagt sie warnend. »Nadron ist überall um die Steine herum. Komm mit.«

»Nadron?«

Sie zeigt auf die Schlangen. Ich drehe mich um und gehe in ihren Fußspuren um den Steinkreis herum, bis wir den größten der drei Hinkelsteine erreichen. Zwischen dem Heidekraut sprießen struppige Grasbüschel. Granny Carne setzt sich hin. Ich mich ebenso. Sadie lässt sich neben Granny Carne nieder.

»Ich dachte mir schon, dass du zu mir kommst«, sagt Granny Carne. »Hast du gut auf die Beeren aufgepasst, die ich dir gegeben habe?«

Die Vogelbeeren. In einem Moment scheint es mir hundert Jahre her zu sein, dass sie mir die hellen Beeren an der dunklen Straße gegeben hat. Im nächsten Moment scheinen es nur fünf Minuten gewesen zu sein. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sie in meiner Tasche gebrannt haben.

»Ich habe sie nicht mehr«, beginne ich. Granny Carne nickt mir ermutigend zu. Hier ist es warm und friedlich. Ich vertraue Granny Carne. Während die Bienen summen und die Schlangen sich sonnen, beginne ich damit, ihr die ganze Geschichte zu erzählen – zunächst langsam, dann immer schneller, bis alles aus mir heraussprudelt, als würde die Flut sich schäumend über die Felsen ergießen.

*

»Pass auf deinen Fuß auf, mein Mädchen«, sagt Granny Carne, als ich aufgehört habe zu reden.

Ich senke den Blick. Eine Schlange hat sich vor meinen Füßen zusammengerollt, berührt fast meinen Turnschuh. Sadie stößt ein leises Knurren aus, doch Granny Carne bringt sie zum Schweigen. »Wie ich schon sagte, Nadron ist überall hier um die Steine herum. Macht keine ruckartigen Bewegungen und sitzt ganz still, das gilt für euch beide.«

Granny Carne pfeift sanft, dann ein wenig lauter. Die Schlange ringelt sich auseinander und gleitet durch das Heidekraut davon.

»Du warst also in der Tiefe, mein Mädchen, und hast deren Wesen begriffen. Ich will dir etwas zeigen. Halt den Hund dicht bei dir.«

Granny Carne. Sie wirkt größer denn je, als sie ihre rechte Hand hebt und an den Hinkelstein schlägt, als klopfe sie an eine Tür. Tief in der Erde glaube ich ein Echo zu hören. Granny Carne lauscht. Wir können jetzt eintreten«, sagt sie. »Geht hinter mir. Und bleibt in meinem Schatten.«

Sie geht zum Rand des Steinkreises. Will ihn betreten.

»Aber, Granny Carne, ich kann nicht!«

»Doch, du kannst, mein Mädchen, wenn du bei mir bist.«

Als wir in den Steinkreis eindringen, habe ich das Gefühl, einen unsichtbaren Raum zu betreten. Die Luft verändert sich und wird kälter, obwohl die Sonne unverändert stark ist. Granny Carnes Schatten fällt scharf über mich und Sadie. Die Geräusche verdichten sich. Man hört Hammerschläge wie aus einer Schmiede. Klirrendes Metall. Das Kreischen eines Sägeblatts, das geschärft wird. Zischenden Dampf. Ich höre ein dumpfes Stimmengewirr. Granny Carne schiebt etwas beiseite, das ich nicht sehen kann.

»So viel Zeit ist hier gefangen«, sagt sie. »Am besten, man nimmt keine Notiz davon.«

Mir ist kalt. Ich glaube, ich habe auch Angst, doch bin ich nicht sicher. Sadie keucht, als hätte sie sich an einem heißen Tag völlig verausgabt.

Granny Carne erreicht die Mitte des Kreises. »Komm her zu mir, Sapphire«, sagt sie, »doch bleibe in meinem Schatten.« Sie blickt sich über die Schulter. Der Eingang zum Steinkreis liegt hinter uns, die Sonne kommt direkt von vorn.

»Sonne und Eingang bilden eine Linie«, murmelt Granny Carne. »Bauch der Erde, öffne dich.«

Sie tritt einen Schritt von der grasbewachsenen Mitte zurück. Ein dunkler Punkt wird im Gras sichtbar. Er öffnet sich, bis er so groß ist wie eine Faust. Die Dunkelheit breitet sich weiter aus, bis sie Granny Carnes Füße erreicht. Ich muss daran denken, wie der Krake sich selbst verschluckt hat und wie die Gezeiten sich im Gezeitenknoten zusammenrollten.

»Schau nach unten«, fordert Granny Carne mich auf.

Weit unter mir in der Tiefe, unzählige Kilometer im Inneren der Erde, brennt ein Feuer, rubinrot, scharlachrot, gelbgold. Ist es ein Feuer oder sind es Edelsteine? Ich weiß, dass die Erde voller Edelsteine ist.

»Feuer«, sagt Granny Carne. »Feuer lebt in der Erde. Feuer nährt die Erde. Bleib in meinem Schatten, sonst wird der Kreis dich verschlucken.«

Der tiefe, heiße Geruch der Erde treibt mir entgegen und steigt in meine Kehle. Es ist so dunkel dort unten, schrecklich dunkel, doch im Herzen der Finsternis funkelt das Feuer, als bestünde es aus Edelsteinen. Noch einmal atme ich ein und beginne zu husten.

»Geh zurück, Sapphire!«

Wir treten zurück. Sadie krümmt sich in Granny Carnes Schatten zusammen. Ein schimmernder milchiger Dunst scheint über dem Gras zu liegen. Meine Augen brennen, und als ich das nächste Mal einen Blick auf das schwarze Loch werfe, hat es sich geschlossen, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen.

Wir treten rückwärts aus dem Steinkreis heraus.

»Viele sind im Lauf der Jahre durch dieses Tor gegangen, hinein in die Erde«, sagt Granny Carne. »Doch niemand versucht dies jetzt. Denk daran, dass Sonne und Tor eine Linie gebildet haben, die du immer finden wirst.«

Ich schaudere. Ich will diese Linie nicht wiederfinden. »Du hättest es Conor zeigen sollen, nicht mir«, entgegne ich. »Er hat viel mehr Erde in sich als ich.«

»Er hat gemischtes Blut, genau wie du. Vielleicht nicht zu denselben Anteilen, doch ist es auch gemischt. Das weißt du. Er könnte den Erdanteil in sich so stark werden lassen, dass sein Meranteil zugrunde ginge, so wie du es zulassen könntest, dass dein Meranteil alles andere ertränken würde.

Du und Conor und Mathew und all die anderen – niemand weiß, wie viele es sind –, ihr habt alle gemischtes Blut. Deshalb kann ich dir zeigen, was ich dir gerade gezeigt habe. Deine Freundin Rainbow würde ich nicht durch den Nabel der Erde schauen lassen, denn sie würde sofort hineingehen. Sie gehört der Erde an, und die Erde würde sie für sich beanspruchen. Aber dein Merblut hält dich zurück.

Du glaubst, dass der Krake schläft und alles in Ordnung ist, aber das ist es nicht, mein Mädchen. Die Erde war nie sosehr in Gefahr wie heute. Für Indigo gilt dasselbe. Dass sich der Gezeitenknoten gelöst hat, war nur ein Zeichen. Saldowr weiß das. Er kennt sein Element, so wie ich meines kenne. Sturmfluten, Feuersbrünste und vergiftete Meere sind nur Zeichen.

Du glaubst, die Wahl besteht darin, ein Mer oder ein Mensch zu sein. Aber das stimmt nicht, mein Mädchen. So wird keine Heilung herbeigeführt. Du glaubst, man müsse sich nur für eine Seite entscheiden, und schon ist man in Sicherheit. Aber das ist ein Irrglaube. Es sind Leute wie du, die den Schlüssel zur Zukunft in ihren Händen halten. Doch jetzt sieh dich an. Du willst deinen Erdanteil einfach beiseiteschieben.«

Granny Carne verwandelt sich vor meinen Augen. Sie ist keine alte Frau in schäbigen braunen Kleidern mehr. Hoch aufgerichtet steht sie da, wie eine Prophetin. Ihre bernsteinfarbenen Augen blitzen, und für einen kurzen Moment sehe ich, was ich früher schon einmal gesehen habe: Ihr Körper strafft sich, ihre Haare werden dunkel und glänzend, ihre Haut ist plötzlich so glatt wie Seide. Als sie sich bückt, wirkt sie so elastisch wie ein junges Mädchen. Sie hebt ein gewundenes Wesen auf, das zu ihren Füßen gelegen hat. Es ist eine Kreuzotter.

Ich möchte aufschreien oder sie warnen, sie solle vorsichtig sein, doch ich bin wie gebannt. Die Schlange hebt ihren Kopf. Sie befinden sich jetzt von Angesicht zu Angesicht, die Schlange und Granny Carne. Die Schlange windet ihren Schwanz um ihr Handgelenk. Ihr Kopf schwankt ein wenig hin und her. Sie öffnet den Mund und zeigt ihre gespaltene Zunge. Sie züngelt.

Granny Carne sagt nichts, doch bin ich mir sicher, dass zwischen den beiden eine stumme Konversation vor sich geht. Im nächsten Moment beugt sich Granny Carne zur Erde hinunter. Die Kreuzotter gleitet davon und verschwindet in einem Loch am Fuße des Hinkelsteins.

Granny Carne hat wieder ihre vertraute Gestalt angenommen. Ich zwinkere schaudernd.

»Versuch das nie, mein Mädchen«, sagt Granny Carne. »Wer nicht mit den Bienen sprechen kann, wird auch nie mit Nadron sprechen, denn beide sind Kinder der Erde.«

Conor kann mit den Bienen sprechen … »Granny Carne, könnte Conor das auch? Ich meine, eine Schlange so halten, wie du es getan hast?«

»Du solltest sie nicht ›Schlange‹ nennen. Sie hat einen ganz normalen Namen, so wie du. Ja, Conor hätte ebenfalls die Möglichkeit, mit meiner Lady zu sprechen, wenn er jemals dazu Lust bekäme.«

In Australien wird er genug Gelegenheit dazu haben, denke ich grimmig. Alle sagen, dass es in Australien so viele Schlangen gibt, noch dazu die giftigsten der Welt. Von all den Giftspinnen und Krokodilen ganz zu schweigen. Conor wird bestimmt ihre Bekanntschaft machen wollen.

Wir gehen zu Granny Carnes Haus zurück. Ich fülle für Sadie eine Schüssel mit Wasser, während Granny Carne einen Wasserkessel übers Feuer hängt. Ich möchte mich nicht an den Tisch setzen, doch irgendetwas nötigt mich, es doch zu tun. Ich fühle mich hier nicht wohl. Habe es nie getan. Es ist mir hier zu eng. Zu erdig. Die Nacht, die ich einst hier verbracht habe, gehört zu den schlimmsten meines Lebens.

Ich wünschte, Granny Carne hätte mir den Tunnel in die Erde nicht gezeigt. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn immer noch vor mir. Ich will von diesen Erddingen nichts wissen. Ich will wildes Wasser, das über schwarze Felsen brandet. Ich will den Geschmack von Salzwasser und das Schlagen der Wellen. Ich will nicht, dass Granny Carne versucht, mich zu ändern.

Misstrauisch beobachte ich, wie sie ein Malzbrot aufschneidet. »Hol mir die Butter aus der Vorratskammer, Sapphire.«

Granny Carnes Vorratskammer befindet sich auf der Nordseite des Hauses, wo es dunkel und kühl ist. Milch, Butter und Käse lagern unter einer Marmorplatte. Granny Carne hat noch nie einen Kühl- oder Gefrierschrank gehabt. Ich hole die Butter und atme tief durch. Denk dran, Sapphire, du bist nicht hierher gekommen, um über Schlangen und Erddinge nachzudenken. Du bist wegen Indigo hier. Wegen des Kraken und wegen der Feindschaft zwischen Ervys und Saldowr. Und wegen Gloria Fortune.

»Gloria darf nicht nach Indigo gelangen«, sage ich, als ich die Butter auf den Tisch stelle.

Granny Carne sieht mich spöttisch an. »Darf nicht nach Indigo gelangen?«, fragt sie. »Für dich ist Indigo doch so etwas wie das Paradies.«

»Aber dann würde es ihr ergehen wie Dad. Ich meine, Gloria hat Richard, und sie lieben sich wirklich sehr. Was sollte er ohne sie tun?«

Granny Carne schüttelt den Kopf. »Du bist in deinem eigenen Interesse hierher gekommen, Sapphire. »Überlass es Gloria, mir ihre Geschichte zu erzählen.«

»Aber ich muss ihr doch helfen!«

»Du kannst es natürlich so sehen, wenn du willst, aber in Wahrheit bist du wegen dir selbst gekommen. Es gibt zu viele Leute, die ständig anderen helfen wollen und darüber vergessen, was das Beste für sie selbst ist.«

Granny Carne macht Tee und bestreicht das Malzbrot mit Butter. Als sie mir einen Teller gibt, bemerkt sie: »Nach Australien muss man sehr lang reisen, Sapphire, fast bis zum Grund der Welt.«

Hatte ich auch nur ein einziges Mal Australien erwähnt? Ganz bestimmt nicht.

»Hast du mal eine dieser alten Weltkarten gesehen, die sie früher gezeichnet haben, mit prustenden Walen und Meerwesen und Schiffen, die über den Rand der Welt fallen, weil sie damals dachten, die Erde sei eine Scheibe?«

»Nein.«

»Tja, inzwischen sind wir ein wenig klüger geworden.« Granny Carne lächelt ironisch. »Heutzutage haben wir sogar diese Satelliten, die Fotos machen, damit wir wissen, was im Garten der Queen vor sich geht. Wir wissen alles über die Erde, nur nicht, wie man sie am Leben erhält.«

Ich kaue auf meiner Scheibe Malzbrot herum. Es ist klebrig und voller praller Rosinen. Granny Carnes Tee hat einen leichten Rauchgeschmack, vielleicht weil ihr Kessel über dem offenen Feuer hängt.

Der Tee ist gut. Jetzt fühle mich schon entspannter. »Ich will nicht nach Australien«, sage ich.

»Dann solltest du auch nicht dorthin gehen«, entgegnet Granny Carne gleichmütig.

»Das würde Mum so traurig machen. Und ohne mich geht sie ganz bestimmt nicht.«

»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher. Ich kenne Jennie. Solange sie weiß, dass du in Sicherheit bist und es dir gut geht, wird sie damit keine Schwierigkeiten haben. Aber was ist mit Conor? Will er nach Australien?«

»Ich weiß nicht … ich glaube schon.«

»Die Frage ist, Sapphire, ob er auch ohne dich gehen würde.«

»Das ist ja das Problem. Ich will es für ihn nicht so schwierig machen. Natürlich soll er nach Australien gehen, wenn er Lust dazu hat.«

Ich sage das so entschieden wie möglich, weil ich weiß, dass es richtig ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, drei Monate ohne Conor zu verbringen. Conor war immer da. Eigentlich kann ich mir nicht mal eine Woche ohne ihn vorstellen.

Wenn er nach Australien geht, dann kann er sich jedenfalls nicht noch mehr in Elvira verlieben. Sieh es positiv, Sapphire …

Doch keine der beiden Alternativen ist sonderlich verlockend.

Rainbow meint, dass ich es kann, wenn ich will. Ich meine, die Umstände zu verändern, statt mich von ihnen verändern zu lassen. Sie meint, ich solle Roger und Mum sagen, was passieren soll, statt zu warten, bis sie mir sagen, was passieren wird. Ich wünschte, ich hätte so viel Zutrauen zu mir selbst wie Rainbow es offenbar hat …

»Rainbow ist ein gutes Mädchen«, sagt Granny Carne nachdenklich, als hätten wir gerade über sie gesprochen. »Sie würde auch gut zu Conor passen, meinst du nicht?« Ich starre Granny Carne fassungslos an. Conor und Rainbow? Aber Conor ist doch total vernarrt in Elvira. Außerdem ist Rainbow meine Freundin und nicht seine. Conor und Rainbow …

Ich denke über sie nach. Über Rainbows Freundlichkeit und Warmherzigkeit, ihre Intuition, ihre Stärke und Unabhängigkeit. An Rainbow ist nichts rätselhaft, sie ist so hell und klar wie das Sonnenlicht. Ihre kurzen blonden Haare sind das Gegenteil von Elviras wallenden Locken. Wenn ich an Conor und Elvira als Paar denke, habe ich stets das Bild vor Augen, wie sie sich von mir abwenden und gemeinsam davonschwimmen. Ich denke immer, dass Elvira ihn mir wegnimmt. Ich glaube nicht, dass Rainbow das tun würde. Rainbow und Conor – könnte das je geschehen?

»Aber Conor geht nach Australien«, sage ich laut.

»Es ist schon eine lustige Sache, dass alle unbedingt zum Grund der Welt wollen«, sagt Granny Carne und sieht mich prüfend an.

Ihre Worte erzeugen ein Echo in meinem Kopf. Sie haben eine solche Kraft, dass meine Haut prickelt. Der Wal hat gesagt, dass die große Reise mich vielleicht zum Grund der Welt bringen wird. Eines Tages, kleiner Nacktfuß, wirst vielleicht auch du zum Grund der Welt gelangen und meiner Tochter begegnen. Wie gern würde ich die Tochter des Wals kennenlernen. Es mag sich seltsam anhören, doch in gewisser Weise hätte ich vermutlich das Gefühl, sie sei meine Schwester.

Doch will ich nicht mit einem vollbepackten Jumbojet, gemeinsam mit Hunderten von Leuten, zum Grund der Welt gelangen. Das ist für mich kein Reisen. Nein, ich will mich von den großen Strömungen tragen lassen, mit ihnen an Kontinenten und Inseln vorbeirauschen. Im lebendigen Wasser möchte ich mich fortbewegen, nicht in der toten Luft eines Flugzeugs. Ich will alle Wesen von Indigo kennenlernen. Ich will mit den Mer zusammen sein.

»Die Erde braucht jemand wie dich und Indigo braucht jemand wie dich«, fährt Granny Carne fort. »Verstehst du, was ich sage, Sapphire? Wahrscheinlich betrachtest du es als Fluch, gemischtes Blut zu haben. Denn dein Menschenblut zieht dich in eine, dein Merblut in die andere Richtung. Und dein Merblut zieht dich gerade ziemlich stark, nicht wahr, mein Mädchen? Du willst Indigo angehören. Du glaubst, du könntest dort leben. Ist es so? Habe ich recht, mein Mädchen?«

»Ja«, antworte ich leise.

»Aber du kannst nicht nur einem Ort angehören«, sagt Granny Carne. »So steht es im Buch des Lebens nicht geschrieben.«

Das ist schrecklich. Bei Granny Carne klingt es so, als sei alles vorherbestimmt. Als könnte ich mich gar nicht frei entscheiden. Ich will nicht glauben, dass meine Zukunft in irgendeinem Buch bereits festgeschrieben ist, vor allem nicht in einem Buch, das ich nie wiedersehen will, weil es mir Angst macht. Die Worte schwirrten mir damals wie wütende Bienen entgegen.

»Vielleicht irrt sich das Buch des Lebens«, sage ich aufsässig.

Granny Carne lacht kurz auf. »Ich hätte nie gedacht, dass sich jemand traut, mir das ins Gesicht zu sagen.«

»Aber es wäre möglich.«

»Du siehst das falsch. Du denkst, es ist wie ein Kochrezept für die Zukunft, dessen Ergebnis schon feststeht. Nein. Mein Buch des Lebens zeigt dir nur die Zutaten, also das, was da ist, so wie Mehl, Salz, Fett und Honig. Was du daraus machst, ist eine andere Sache. Aber es zeigt dir auch, welche Zutaten nicht da sind. Ohne Honig kannst du keine Süße erzeugen und ohne Salz keinen salzigen Geschmack.

Du hast keine Zugehörigkeit, mein Mädchen, weder zur einen noch zur anderen Seite. Aber die Zukunft braucht euresgleichen. Sie braucht Leute, die keine Zugehörigkeit haben. Hast du schon mal gesehen, wie ein riesiger Felsbrocken von einem Schwenkarm emporgehoben wird? So haben sie diese Hinkelsteine errichtet.«

Und du hast wahrscheinlich zugesehen, denke ich. Ich kann mir gut vorstellen, wie Granny Carne auf der Hügelseite stand, in einen erdfarbenen Umhang gehüllt, und den Leuten aus der Bronzezeit zugesehen hat, wie sie im Schweiße ihres Angesichts die großen Steine aufstellten. Und ich wette, schon damals sind die Leute hierher gekommen, um Granny Carne von ihren Sorgen und Nöten zu erzählen.

»Der Schwenkarm sieht nach nichts aus im Vergleich zum riesigen Granitstein, der schwer genug ist, um ein Dutzend Männer zu zerschmettern. Doch ist er in der Lage, ihn emporzuheben. Auch ihr seid unscheinbar, ihr wenigen, deren Blut aus Erde und Indigo gemischt ist. Doch ihr seid die einzige Chance, dass die Erde und Indigo eines Tages wieder versöhnt werden und die Zerstörung ein Ende nimmt. Deshalb gibt es keine einfachen Antworten. Ich weiß, dass du ohne Weiteres« – sie schnippt mit den Fingern – »in Indigo verschwinden könntest, so wie Mathew. Und eines Tages wirst du vielleicht an dir hinabschauen und feststellen, dass du ein Mer bist wie er. Doch weiß ich nicht, ob dich das glücklicher machen würde als deinen Vater.«

Sie hört sich betrübt an. Dad und Granny Carne sind stets gute Freunde gewesen. Er sagte mir, ich solle nichts darauf geben, dass andere Kinder sie als Hexe bezeichneten, und sie immer mit Respekt behandeln, dann würde sie gut zu mir sein. Ich höre immer noch seine Stimme, die das sagt.

Dad ist gefangen. Er ist nicht glücklich. Granny Carne weiß das und ich weiß es auch. Als er in jener Nacht den Lady Stream hinaufgeschwommen kam, um mich zu treffen, ist sein Gesicht voller Schmerz gewesen.

Denk nicht daran. Dad wird seine Freiheit finden. Ich weiß, dass Saldowr sagt, man könne Leute zu nichts zwingen, aber ich kann mit Dad reden, von Angesicht zu Angesicht, und diesmal werde ich stark sein. Ich werde herausfinden, ob er im Herzen immer noch unser Dad ist oder ob Conor und ich nur noch vage Erinnerungen an ein früheres Leben sind, das er nun mit Mordowrgi und Mellina teilt. Ich muss den Mut aufbringen, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, statt ihn nur in Saldowrs Spiegel oder in einem entfernten Wasserbecken zu betrachten. Und das ist nur in Indigo möglich. Der einzige Ort, an dem sich das ganze Chaos von Sehnsucht und Zugehörigkeit entwirren lässt, ist Indigo.

»Ich muss die große Reise machen«, sage ich.

Granny Carne sieht mich durchdringend an. »Weißt du, was das bedeutet?«

»Ich … ich glaube schon.«

Granny Carne richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. Ihre Augen funkeln wie die einer Eule, die weit unter sich eine Beute erblickt hat.

»Du glaubst es?«, wiederholt sie.

Ich habe Angst. Als hätte jemand einen Schleier fortgezogen, unter dem sich die ganze Macht Granny Carnes verborgen hielt. Nun lodert sie wie das Feuer im Herzen der Erde. Am liebsten würde ich aufspringen und den ganzen Hügel hinunterlaufen, bis ich wieder zu Hause in Sicherheit bin. Mein Herz rast, als wollte es ebenfalls davonlaufen. Sei tapfer, Sapphire. Du musst jetzt stark sein. Wenn du davonläufst, dann wirst du den Knoten, der dich fesselt, nie entwirren können, sondern ihn nur fester zuziehen.

Ich blicke Granny Carne in die Augen, und für einen winzigen Moment glaube ich tatsächlich, in ihrer Tiefe ein Feuer lodern zu sehen. Meine Haut prickelt.

»Sei ganz sicher, was du tust«, sagt sie eindringlich, »ehe du dein Schicksal so eng an die Mer bindest.«

»Ich bin nicht sicher«, entgegne ich langsam. »Ich kann nicht sicher sein. Dennoch muss ich es tun.«

»Diesmal wirst du aber ohne meine Vogelbeeren reisen.«

»Das weiß ich.«

Granny Carnes Gesichtszüge entspannen sich. Als sie lächelt, sehen ihre Falten wie die Furchen eines ausgetrockneten Flussbetts aus.

»Nun denn, mein Mädchen«, sagt sie. »Du tust, was du tun musst, und weder Himmel noch Hölle können dich davon abbringen, nicht wahr? Geh auf die große Reise, Sapphire, und kehre danach zu mir zurück, um mir zu erzählen, was du erfahren hast.«