12
Paul Stricker war der erste, der sich von der allgemeinen Überraschung erholte. Peter Löhres starrte mit offenem Mund zu Alex Huber hinauf, und Albert Heimbach, dem Wahnsinn nahe, rieb seine Stirn wie ein wildes gefangenes Tier an den Gitterstäben.
»Ich ahne, wer Sie sind«, sagte Stricker. »Veronika hat viel von Ihnen gesprochen, gerade in den letzten Tagen. Das ist wörtlich zu nehmen: Es sind unsere letzten Tage!«
»Deshalb bin ich hier!« sagte Huber. Er lag über der Mauerkrone, genauso hilflos wie die Gefangenen in ihren Käfigen. Unten in der Stadt kämmten die Suchtrupps der Soldaten noch immer Straße um Straße, Haus um Haus durch. Sie sahen wohl den Mann oben auf der Tempelmauer, aber niemand hielt es für möglich, daß er der gesuchte Fremde war. Soviel Mut – oder soviel Dummheit, wie man's nimmt – war unwahrscheinlich.
»Deshalb sind Sie hier!« wiederholte Stricker. Sein Sarkasmus brach trotz ihrer verzweifelten Lage wieder durch. »Sie sind also aus Deutschland angereist, um sich dem Regengott von Urapa zu opfern? Ich hätte mir eine schönere, freiwillige Todesart ausgesucht. Ihnen ist doch klar, daß Sie nur noch höchstens eine Stunde da oben stehen! Wieso sind Sie überhaupt in Uganda?«
»Haben Sie denn angenommen, Ihr Verschwinden wäre unter den Tisch gefallen? Seit zehn Tagen sind die Zeitungen davon voll! Das ugandische Militär ist in Alarmzustand, die ganze Welt nimmt Anteil an der Suche, in Kampala und Entebbe wimmelt es von Reportern, obwohl eine Nachrichtensperre verhängt worden ist. Man glaubt, daß irgendwelche Guerillatruppen, die regierungsfeindlich sind, die kleine Jagdgesellschaft entführt haben, um jetzt ihre Geiselforderungen zu stellen. Man wartet.« Huber deutete auf die Stadt. »Wer denkt denn an so etwas! Das ist ja ein lebendiges Märchen.«
»Ein verdammt blutiges Märchen!« Stricker blickte hinüber zu Veronika. Sie lag noch immer ohnmächtig im Käfig; man konnte ihr nicht helfen. »Und wenn wir Geiseln wären? Würde man den Preis für uns bezahlen?«
»Nein!« sagte Huber hart. »Ich habe mit einigen Ministern gesprochen. Sie lassen sich nicht erpressen! Schon gar nicht mit Menschen. Was bedeutet schon ein Mensch?«
»Genau das habe ich erwartet. Und da haben Sie sich auf eigene Faust aufgemacht, um zu zeigen, wieviel nach unserer Mentalität ein Mensch wert ist.«
»So ähnlich! Ich habe Afrikaerfahrung.«
»Ich weiß. Veronika hat mir alles erzählt. Aber was nützt sie Ihnen jetzt? Was ist hier mit Mut und Ausdauer noch auszurichten?«
»Ich habe Sie gefunden. Das ist immerhin etwas. Die anderen sausen draußen in der Steppe und in der Savanne herum und verhören jedes Dorf, ob Rebellen vorbeigezogen sind. Sie suchen auch hier in den Bergen, vor allem mit Hubschraubern.«
»Die sehen gar nichts.«
»Das weiß ich jetzt auch. Aber ich bin hier!«
»Sehr schön! Das beruhigt! Grüß Gott, lieber Kollege!« Stricker zeigte um sich. »Darf ich bekannt machen: Peter Löhres aus Köln. Albert Heimbach aus Hannover. Veronika kennen Sie. Ich bin Paul Stricker, Internist. Ihren Namen habe ich nur noch halb im Ohr. Alex, glaube ich, nicht wahr?«
»Alex Huber.« Er spürte deutlich die Ironie der Situation. Da hängt man in Käfigen an einer Tempelmauer, weiß, daß das Leben nur noch Stunden zählt, und dabei stellt man sich vor wie auf einem Partyparkett. »Sie halten mich wohl für einen Idioten, Herr Stricker?«
»Ich habe immer eine tiefe Abneigung gegen falsches Heldentum gehabt, lieber Kollege. Sie sind doch auch Arzt?«
»Ja.«
»Ich habe fast die ganze Welt gesehen. Reisen ist meine Leidenschaft, sie kommt gleich nach den Frauen.« Stricker lehnte sich ans Gitter. »Ich kann es mir leisten – ich habe eine renommierte Privatklinik und gute Oberärzte. Ich bin ein Globetrotter, wissen Sie. Ich will wissen, auf welcher Kugel wir leben, ehe ich sie wieder verlassen muß. Ich hab' allerdings nicht eingeplant, daß es auf diese Weise sein wird: als Götteropfer in einem unbekannten Stadtstaat, der fünf Jahrtausende zivilisatorischer Entwicklung an sich hat vorbeigehen lassen. Bewußt hat vorbeigehen lassen, wegen eines uralten Königstestamentes, das ein ewig glückliches Volk garantieren soll! Urapa, das Land ohne Krieg und Verbrechen! Seit Jahrtausenden! Verdammt, das ist faszinierend.«
»Urapa heißt das also.« Huber blickte über die phantastische Stadt. Von den Bergen her tönten dumpfe Gongschläge. Die Suchtrupps meldeten, daß man immer noch nichts gefunden hatte. »Sie sind gut informiert, Herr Kollege.«
»Von der Gottkönigin selbst.«
»Sagen Sie das noch einmal.«
»Sie heißt Sikinika und ist eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe. Und ich verstehe etwas davon! Sie spricht sogar Französisch!«
»Das ist total verrückt!«
»Ihr Oberpriester und Chefchirurg Dombono spricht übrigens ein Englisch im Oxfordstil.«
»Man kann den Sarkasmus auch übertreiben«, sagte Huber ärgerlich. »Tun Sie lieber etwas für Veronika.«
»Mehr als zu ihr hinpusten kann ich nicht. Sie hat sich bisher tapfer gehalten, sie war eigentlich die Mutigste von uns allen. Aber dann kommen Sie, und schon fällt sie um. So häßlich sind Sie doch gar nicht!«
»Herr Stricker«, sagte Huber ernst, »in jeder anderen Lage würde ich sagen: Sie sind ein widerlicher Bursche.«
»Ich nehme es Ihnen nicht übel, Kollege.« Stricker lachte rauh. Aber dieses Lachen hatte einen tragischen, gebrochenen Unterton. »Ich brauche das; sonst werde ich so verrückt wie unser Heimbach dort. Seien wir doch ehrlich: Worüber sollen wir jetzt reden? Über Möglichkeiten, aus den Käfigen hinauszukommen und zurückzuwandern zu den lieben, normalen Menschen? Wissen Sie eine Möglichkeit? Ich nicht. Sie auch nicht. Also quatschen wir Konversation! So lange, bis man uns ein paar Etagen höher auf den Opferstein legt, die Brust aufschneidet und unsere Herzen dem Regengott hinhält. Wenn's hilft, retten wir damit Urapa die Ernte. Dann hat das Sterben wenigstens einen Sinn … es sind Millionen ohne Sinn gestorben!«
Stricker beobachtete Veronika. Sie bewegte sich, ihre Beine zuckten, die Hände griffen um sich, aber sie war noch nicht bei sich. Der Schock war zu groß gewesen.
»Übrigens, eine interessante Sache, das wird Sie als Arzt interessieren: Sie operieren hier mit einer Art Elektromesser. Völlig unblutig! Sie haben es mir vorgeführt. Ich war überwältigt. Huber, glotzen Sie mich nicht an wie ein Kalb einen Regenwurm. Dombono und sein Ärzteteam reiben die eisernen Messer so lange, bis diese sich aufgeladen haben. Kaum zu glauben, aber ich habe eine unblutige Gallenspaltung mit Ausräumung des Choledochus demonstriert bekommen.«
»Man soll es nicht für möglich halten!« schrie Peter Löhres plötzlich auf. Seine Nerven zerbrachen. »Wir sollen abgeschlachtet werden, und die Herren Doktoren unterhalten sich wie auf einem Kongreß! Idioten! Idioten! Idioten!«
Albert Heimbach wurde durch diesen Ausbruch aus seiner Lethargie gerissen. Er hieb wieder mit der Stirn gegen die Gitter und brüllte sein heiseres, schreckliches »Hilfe! Hilfe!« hinaus.
»Sie können einem wirklich den Nerv rauben!« sagte Huber stockend. »Vielleicht kann ich Sie befreien, wenn Sie zum Tempel hinaufgeführt werden …«
»Womit denn? Wollen Sie die Soldaten und Priester umpusten?«
»Ich habe eine Pistole und vier Magazine bei mir.«
»Das sind dreißig Schuß! Brauche ich mehr zu sagen?«
»Nein!« Huber senkte den Kopf. Er starrte auf Veronika hinunter und wehrte sich gegen den Gedanken, daß man jetzt hier an einer Mauer klebte und nichts mehr tun konnte, als auf den Tod zu warten. »Wieso … wieso hat man Sie so bevorzugt behandelt?« fragte er heiser.
»Ach ja.« Stricker strich sich die graumelierten Haare aus dem Gesicht. Selbst jetzt wirkte diese Bewegung noch elegant … eine makabre Eleganz. »Es ging um ein Osteom …«
»Um was?« fragte Huber total verwirrt.
»Ein osteoides Osteom. Der Sohn der Göttin – tatsächlich, sie hat einen, darin ist sie total menschlich, doch über den Vater wird nicht gesprochen –, dieser Sohn hat so ein Ding am rechten Oberschenkel, nahe an der Gelenkpfanne. Der Junge hinkt, hat fürchterliche Schmerzen, und Dombono hat die Hosen voll, wenn er an die Behandlung denkt. Stirbt Sikinophis – so heißt der Knabe – unter seinen geriebenen Messern, ist auch er dran! Außerdem sieht er hier seine chirurgischen Grenzen. Und jetzt kommt der Witz.« Stricker lehnte sich an die Gitter und suchte in seinen Taschen. Aber dann entdeckte er, daß er keine Zigaretten mehr hatte. Seine Enttäuschung in diesem Moment bewies, daß er innerlich durchaus nicht so kalt war, wie er sich gab. »Der Gottessohn darf laut Testament seiner Ahnen die Stadt nicht verlassen, also muß man einen Arzt in die Stadt holen. Irgendwie hat man erfahren, daß ich Arzt bin, und so wurden wir überfallen und entführt. Das ist der wahre Grund. Nur: Ich bin Internist. Ich kann dieses Osteom zwar diagnostizieren, aber nie operieren. Machen Sie das mal der Königin und ihrem Oberpriester klar. Ich habe es versucht – es ist halb gelungen. Man hat uns allen die Freiheit versprochen, wenn ich Sikinophis von seiner Knochenwucherung befreie. Ich mußte passen! Ob ich nun doch operiere oder Dombono nur Anweisungen gebe – die Sache geht hundertprozentig schief. Sie sehen, es gibt kein Entrinnen mehr.«
»Herr Kollege«, sagte Huber langsam. Dann schwieg er. Ein wahnwitziger Gedanke kam ihm und ließ ihn nicht mehr los. Er starrte auf Veronika, die sich zuckend bewegte, sah den bejammernswerten Heimbach an, den in seinem Käfig herumlaufenden Löhres, blickte hinunter auf die Stadt, die wie tot dalag, sah die Soldatentrupps, hörte in der Ferne die Gongschläge und die Signale aus den Bronzehörnern. »Ich … ich bin Chirurg …«
»Was sind Sie?« schrie Stricker. »Huber!«
»Ich bin Oberarzt der Chirurgischen Universitätsklinik …«
»Huber!« Paul Stricker spürte, wie seine Beine weich wurden. Er mußte sich wie Heimbach an die Gitter klammern. »Wenn Sie vor mir ständen, würde ich Sie abküssen!«
»Ich habe sogar mein chirurgisches Besteck bei mir.« Huber griff nach unten und stellte seine Arzttasche auf den Mauerrand. »Ich reise nie ohne Handwerkszeug.«
»Gott im Himmel, die Wunder kommen wieder!« Strickers Stimme überschlug sich beinahe. Aller Sarkasmus – dieser Panzer, den er um sich geschnallt hatte, um mit Anstand unterzugehen – zerbrach. »Sie … Sie könnten operieren? Ein Osteom?«
»Nichts einfacher als das.«
»Jetzt könnte ich Ihnen für Ihre Gelassenheit eine runterhauen! Nichts einfacher! Sie können uns damit das Leben retten!«
»Genau daran denke ich.«
»Das bedeutet, daß Sie gleich die Treppe wieder hinuntermarschieren und sich gefangennehmen lassen«, sagte Stricker tonlos. »Huber, Sie sind doch kein Idiot!«
»Danke!« Alex Huber nickte zu Veronika hinunter. »Erklären Sie Vroni alles. Ich will nicht warten, bis sie aufwacht. Ich gehe sofort …«
Stricker nickte. Er war jetzt unfähig, ein Wort zu sagen. Die letzte große Chance! Die einzige überhaupt! Man kann weiterleben! Nur weil ein Mann den völlig sinnlosen Mut hatte, allein seine verschwundene Verlobte zu suchen … und dieser Mann ist ausgerechnet ein Chirurg und nimmt aus alter Gewohnheit sein chirurgisches Besteck mit. Ist das ein Wunder oder einer der fatalen Scherze des Schicksals?
»Die Operation muß gelingen, Kollege«, sagte Stricker mit großer Mühe. »Wenn Sie wüßten, unter welchen Bedingungen Sie operieren müssen.«
»Sie wird gelingen!« Huber rutschte von der Mauerkrone. »Ich werde Sie als Assistenten anfordern.«
»Nein! Lassen Sie das! Ich muß bei Veronika bleiben. Sie wird mich nötiger haben als Sie.«
»Das stimmt. Drücken Sie mir die Daumen!«
»Ich drücke, was sich drücken läßt.« Stricker hob beschwörend die Hand. Sie zitterte heftig. »Gott stehe Ihnen bei, Herr Doktor Huber!« Es war das erstemal seit dreißig Jahren, daß er Gott zu Hilfe rief …
Langsam ging Alex Huber zurück zur Treppe. Dort holte er noch ein paarmal tief Luft, straffte sich kurz und trat dann hinaus auf die breite Steinstufe. Auf der Mitte der Treppe angekommen, begann er den Abstieg – ein einsamer Mann in einer schwarzen Uniform aus Lederschuppen. Er nahm den Helm ab, damit jeder sehen konnte, wer er war. Die Sonne beglänzte sein braunes Haar, das jetzt einen kupfernen Glanz bekam.
Er blickte nicht zur Seite zu den Käfigen, aber er hörte von dort Stimmengewirr. Und dann plötzlich traf ihn Veronikas Aufschrei. Er traf ihn wie ein Fausthieb. »Alex, Alex! Tu es nicht! Alex! Rette dich! Lauf weg, Alex …«
Weiter, befahl er sich. Blick nicht zur Seite, sieh sie nicht an. Es gibt nur noch diesen einen Weg! Zweihundert Stufen hinab. Bleib in der Mitte, Huber, mach nicht schlapp, Kopf hoch … Fuß um Fuß, Stufe um Stufe … du sollst nicht schwanken, Huber, du darfst nicht zittern! Jetzt sehen dich alle, sie starren dich an, tausend Augen, und sie verstehen nicht, was dieser Mensch da macht.
Weiter, Huber, weiter! Nicht stehenbleiben. Noch hundertdreißig Stufen! Wie muß das von unten aussehen: ein einzelner kleiner Mann auf dieser riesigen Treppe …
Er schwenkte seine Arzttasche, um keinen Zweifel mehr daran zu lassen, daß er der Gesuchte war. Um ihn herum erwachte die phantastische Stadt, die Straßen wimmelten jetzt von Menschen. Sie standen auf den Dächern, in den Höfen und Gärten, drängten zum großen Platz vor dem Tempel.
Stufe um Stufe … Huber, auch wenn dir die Knie zittern, behalte das Tempo bei! Du mußt diese verfluchte Treppe so hinabkommen, als wärest du der Sieger über Urapa. Und dabei trommelt dein Herz, und es läuft dir der Schweiß in die Augen.
Von allen Seiten dröhnten jetzt Gongschläge, und die Signale tönten aus den bronzenen Muschelhörnern. Auf dem großen Platz vor dem Tempel stellten sich die Soldaten auf. Aus der Höhe wirkten sie wie ein einziger schwarzer Teppich.
Langsam, Schritt für Schritt, ging Alex Huber die Stufen hinunter. Wenn ich den Platz erreiche, ist schon die Hälfte gewonnen, dachte er. Falls ich ihn erreiche …
Die letzten Stufen.
Vor ihm wuchs ein Wald von Speeren auf; ein Gestrüpp von Eisenspitzen kam ihm entgegen. Noch nicht, dachte er verzweifelt. Noch nicht! Seht ihr nicht die Ledertasche? In dieser Tasche bringe ich das Leben eures Sikinophis … und das Leben Veronikas.
Wartet noch … um des Himmels willen … wartet noch …