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Vor sechzehn Jahren war der Biologe und Schmetterlingssammler René Harthricourt nach Uganda gekommen: ein Mann Mitte der Dreißig, groß, blondhaarig, nicht eigentlich der Typ eines Südfranzosen, aber er besaß Charme, der ihn in der Gesellschaft zum bevorzugten Konversationsobjekt der Damen werden ließ. Er war das gewöhnt. Auch bewältigte er die üblichen Liebschaften ohne peinliche Skandale; er rettete sich immer rechtzeitig vor einem Ehering, und zudem konnte er – Sohn einer französischen Sektkellerei – sich's leisten, als Privatgelehrter seinen unbedeutenden biologischen Forschungen und seinen Schmetterlingen nachzugehen.
Ein beiläufiger, von kaum einem Leser beachteter Hinweis in einem Reisebericht aus Uganda – speziell auf das Ruwenzori-Gebirge bezogen –, daß es dort eine seltene Art von Riesenschmetterlingen gäbe, war Anlaß genug, René Harthricourt auf den Weg nach Ostafrika zu bringen. Er war nicht ungeübt im Reisen. Er hatte bereits Schmetterlinge in Indonesien, Ceylon und Brasilien gejagt. Er kannte fast alle Arten der schillernden Tierchen in Bolivien, Paraguay und Nikaragua, und seine Raritäten aus Burma und Nepal waren unter Sammlern berühmt. Solange der Sekt aus den elterlichen Flaschen floß, war René Harthricourt Weltenbummler aus Passion.
In Uganda durchstreifte er sechs Wochen das Land des alten Königreichs TORO, ohne den großen Schmetterling entdeckt zu haben. In die Mondberge stieg er ein paarmal hinein, immer mit eingeborenen Führern, aber da es die typischen Touristenstrecken waren, gab René diese Exkursion bald auf. Wo europäische Touristen an Lagerfeuern Rheinlieder sangen, war er sicher, den geheimnisvollen Schmetterling nicht zu finden.
Er mietete sich einen Jeep, packte Verpflegung für sechs Wochen ein und fuhr trotz aller Warnungen von Polizei- und Regierungsstellen los.
»Ich bin ein total unpolitischer Mensch!« sagte Harthricourt. »Ich habe unter Kopfjägern gelebt, da werde ich doch noch im friedlichen Uganda einen Schmetterling jagen können.«
Er fuhr also an einem Montag von der Bergstation Kilembe ab. Hier hörte die offizielle Straße auf, was dann kam, war nur ein Geröllweg, der im Urwald und in den Felsen endete. Seit dem Tag hatte man nie wieder etwas von René Harthricourt gehört. Er und sein Jeep blieben verschwunden, und nach zwei Monaten wurde die Suche aufgegeben.
Vermißt. Auch heute noch ist Afrika voller Geheimnisse …
René sah seinen handtellergroßen Schmetterling mit den tiefroten haarigen Flügeln irgendwo in den Mondbergen. Wo er sich befand, war ihm egal, einen Weg zurück gab es immer. Man brauchte nur abwärts zu gehen, dann erreichte man automatisch die Savanne. Aber Harthricourt marschierte aufwärts, seinem herrlichen Schmetterling nach. Er ließ den unbrauchbar gewordenen Jeep stehen und fluchte über das ›schöne Biest‹, das ihn zu narren schien und mit ihm spielte. Es flatterte vor ihm her, immer so weit, daß er es nicht mit seinem Netz fangen konnte, aber auch immer so nahe, daß er es ständig sah. »Ein völliges Fehlverhalten!« sagte René begeistert. »Ein Biest ohne Heimatinstinkt. Na warte, ich kriege dich doch!«
An einem Nachmittag – er erholte sich gerade und kochte auf einem Spirituskocher eine Tasse Kaffee, der rote Schmetterling saß zehn Schritte von ihm entfernt auf einem Ast – traten plötzlich drei in schwarze Schuppen-Uniformen gekleidete Männer hinter den Felsen hervor. Harthricourt schaltete schnell, schnellte sich zur Seite und lief davon. Er lief weiter in die Berge hinein, in der logischen Annahme, daß die in deutlich feindseliger Absicht sich nähernden Männer aus dem Wald unter ihm kommen mußten – und, wie sechzehn Jahre später Doktor Alex Huber, erreichte auch er die in dieser Einsamkeit völlig verrückte, ausgebaute Straße, rannte und rannte, bis er endlich vor Urapa stand, der Stadt im Felsenkessel, dem geheimnisvollen, unbekannten Reich, das ein König vor Jahrtausenden gegründet hatte.
Harthricourt war so überwältigt, daß er sich schlichtweg von den auf ihn losstürmenden Soldaten gefangennehmen ließ. Er hatte einen seltenen Schmetterling fangen wollen und hatte dabei ein Stein gewordenes und zugleich quicklebendiges Märchen entdeckt.
Damals hatte Sikinika nach urapischer Zeitrechnung siebzehn Winter gezählt, ein Mädchen, das in dieser Stadt der Wunder das größte Wunder war. Ihr Vater, Sikirahmis, war seit neun Monaten tot; ihre Mutter, die sie nie gekannt hatte, über die niemand in Urapa sprach und von der auch Dombono, damals schon oberster Priester, schwieg, war nur eine Erinnerung in einer Tempelnische, wo man sie eingemauert hatte. Sikinika hatte den Thron bestiegen, war zur Göttin erkoren, lebte unter ihrem Goldpuder und dem Diamantenstaub auf ihrem Gesicht, wurde von Dombono zur Statue erzogen und kannte nichts als ihr Gottdasein.
Da brachte man René Harthricourt. Dombono wollte ihn sofort den Göttern opfern, aber Sikinika war neugierig. Wie sehen die Menschen außerhalb von Urapa aus? Wie sprechen sie? Wie bewegen sie sich? Sind sie schöner oder häßlicher als die Uraper? Ein Mädchen mit siebzehn Jahren besitzt eine ganz natürliche Neugier auch in der Rolle einer Göttin.
René wurde zu Sikinika gebracht. Und diese erste Begegnung entschied alles.
Man konnte über René Harthricourt noch so lästern und ihm sein Playboy-Leben übelnehmen, ihn einen Nichtstuer nennen oder einen verrückten Hund, eines beherrschte er blendend: den Umgang mit Frauen!
Er trat auf Sikinika zu, ergriff ihre starre Hand und küßte sie. Er handelte sich dafür zwar von Dombono und seinen Priestern eine wüste Prügelei ein, aber als er nach zwei Wochen Erholung wieder zu Sikinika geführt wurde, sagte er galant: »Mademoiselle, ich habe gehört, hier kann man sein Herz opfern. Bitte, nehmen Sie das meine hin! Es ist ohnehin gebrochen – beim ersten Blick, den Sie mir geschenkt haben.«
Der Gefahr, in der er in Urapa lebte, war er sich nicht bewußt. Für ihn war diese Märchenstadt der allergrößte Schmetterling seiner Sammlung.
Es muß hinter verschlossenen Türen einen harten Kampf zwischen Sikinika und Dombono gegeben haben. Die Göttin siegte. Dombono ließ Harthricourt eines Tages aus dem verschlossenen Zimmer holen und sagte zu ihm: »Die Göttin befiehlt, daß Sie ihr Ihre Sprache erklären!« Dombono sprach damals ein hartes Englisch. Er hatte es in Kampala gelernt, als Austräger einer Apotheke. Der einzige Mensch, der Urapa verlassen durfte, um sich über die andere Welt zu informieren.
René willigte sofort ein. Immer in der Nähe des wunderschönen Mädchens – was gab es Erstrebenswerteres. Er zog in den Palast um, bekam eines der goldenen Zimmer und begann, sich wohl zu fühlen. Dazu trug auch bei, daß ihm Dombono auf Befehl Sikinikas den großen roten Schmetterling brachte. Fachgerecht präpariert, mit ausgespannten Flügeln. Ein Prachtexemplar, das einzige dieser Art auf der Welt. Das wußte René jetzt.
Die Unterrichtsstunden in Französisch waren qualvoll für einen Mann, der Schönheit bewundern will und keinerlei pädagogische Fähigkeiten besitzt, mit Ausnahme des Talents, Frauen zu betören, was ja eher ins Psychologische schlägt.
Doch Sikinika lernte fleißig und mit der Energie, die man von einer Göttin erwarten darf. Nach drei Monaten sprach sie holprig mit René, nach fünf Monaten konnten sie Konversation treiben. Von dem ersten Satz ›C'est une table‹ bis zum Begreifen von Renés Komplimenten war ein weiter Weg. Aber sie hatte ihn in erstaunlicher Schnelle bewältigt.
Und dann beging Harthricourt seinen großen Fehler.
Er war mit Sikinika allein, hockte wie immer vor ihr auf einem goldenen Stuhl. Sie ruhte auf einer Art Diwan, und er bewunderte ihren Körper, der unter den Schleiern, gleichsam in aller Unschuld, lockte.
Harthricourt wurde unruhig. »Sie zu lieben muß ein neues Paradies sein, Mademoiselle«, sagte er mit jenem Tremolo in der Stimme, das bei manchen Frauen gewisse Schwingungen auslöst. Sikinika war dagegen immun. Sie sah René nur aus ihren großen, mit Diamantenstaub umränderten Augen an.
»Was ist Liebe?« fragte sie.
»O Mädchen!« stöhnte Harthricourt. »Man sollte es dir nicht erklären müssen, man sollte es dir zeigen. Liebe, das ist, als … als wenn das Herz … in Honig kocht.«
Das war ein Gleichnis aus Renés reichhaltigem Charme-Repertoire.
Was dann geschah, hätte man vielleicht in St. Tropez die Eroberung einer Jungfrau genannt und geklatscht – für Sikinika war es ein Schock.
Harthricourt in völliger Verkennung seiner Lage, stürzte sich auf das Mädchen.
»Ich habe ihn nicht eine Sekunde geliebt«, sagte Sikinika. »Ich war gelähmt von Entsetzen, halb tot von den Schmerzen, erfüllt von Ekel … Ich wußte nicht, was er mit mir tat, ich empfand nur Schmerzen, und ich riß verzweifelt an seinen blonden Haaren. Er dachte, dies sei Leidenschaft …«
Noch in der gleichen Stunde holten Priester ihn ab. Man führte ihn zur obersten Weihestätte, warf ihn über den Opferstern. Und da erst begriff René, was mit ihm geschah. Er brüllte, schlug um sich, machte in der Todesangst unter sich und erlebte bei vollem Bewußtsein, wie man ihm die Brust aufschnitt. Erst dann erlöste ihn der Tod.
Sein Herz wurde verbrannt. Sein Kopf thronte auf der Tempelspitze, und dort, wo einmal seine Augen waren – man hatte sie ausgestochen –, klebte sein großer roter Schmetterling.
Neun Monate später kam Sikinophis zur Welt, hellhäutig wie sein Vater, mit blonden Haaren und blauen Augen. Um einmal dem Volk diesen neuen Gott mit dem fremden Aussehen erklären zu können, erfand Dombono den Namen ›Sohn der Sonne‹. Von ihm stammte die Sage, daß Sikinika vom Sonnengott selbst geliebt worden war.
»So war es«, sagte Sikinika. Sie zog das Kleid, das Huber um ihren nackten Körper gelegt hatte, näher an sich. »Und jetzt bist du gekommen. Zum erstenmal spüre ich, daß ich eine Frau bin. Und wieder ist es etwas Blondes, das mich in die Verzweiflung zurücktreibt.«
»Veronika …«, sagte Alex leise.
»Ich hasse sie!«
»Und ich liebe sie.« Er hob ratlos die Schultern. »Was soll daraus nun werden?«
»Sie schläft.«
Huber schüttelte den Kopf. »Sikinika, machen wir uns nichts vor. Es ist nicht die kurze Zeit, die uns beiden ganz allein gehören wird. Wir würden aneinander verbrennen!«
»Das wäre ein Tod, einer Königin würdig!«
»Ich käme von dir nicht mehr los, das weiß ich.«
»Willst du denn loskommen?«
»Sikinika!« Er beugte sich vor und streichelte ihr langes Haar. Ihre bebende Mädchenhaftigkeit rührte ihn. »Willst du Urapa vernichten?«
»Ich werde Dombono töten lassen und dich zum Oberpriester machen!« sagte sie ruhig. »Du wirst unsere Sprache lernen, und wir werden glücklich sein. Das glücklichste Liebespaar im Sternenall.«
Sie ergriff wieder seine Hände. Mit geschlossenen Augen saß sie da und atmete schwer. »Ich liebe dich«, sagte sie kaum hörbar. »Ich liebe dich … ich liebe dich …«
Alex saß bewegungslos vor ihr und schwieg. Jetzt nichts sagen, dachte er. Jetzt wäre ein Wort wie ein Mord. Sie sucht sich jetzt selbst, und sie wird sich wiederfinden: die Göttin von Urapa …
Der Junge bewegte sich im Schlaf. Er zog vorsichtig seine Hände aus Sikinikas Schoß und griff nach dem Stethoskop. Sie zuckte zusammen. Sie schien aus einer Art Trance zu erwachen und starrte ihn an.
»Was ist?«
»Er wird unruhig. Vielleicht muß ich noch eine Kreislaufinjektion geben. Er hat viel Blut verloren.«
Er beugte sich über Sikinophis und hörte sein Herz ab. Als er sich wieder aufrichtete, stand Sikinika hinter ihm, angezogen, die Haare zurückgeworfen über die Schulter. Ihre Augen hatten wieder den klaren, nüchternen Blick, den er kannte.
Sie ist wieder da, dachte er glücklich. Gott sei Dank! Ihre Seele ist zurückgekrochen in den goldenen Panzer. Und plötzlich empfand er ein unendliches Mitleid für sie.
»Paß gut auf ihn auf!« sagte sie. Ihre warme Stimme war geblieben. Die Kälte kam erst mit dem Göttergewand über sie. »Er hat noch viel für sein Volk zu tun. Er ist die Sonne der Sonne …«