17

Sie saßen eine ganze Zeit beieinander und schwiegen. Der Junge hatte seinen blonden Lockenkopf auf Hubers Schulter gelegt. Es war mehr als ein Anlehnen – es war der stumme Ausdruck eines einsamen Lebens: Du bist der einzige Freund. Mit dir kann ich reden. Bei dir brauche ich kein kleiner Gott zu sein, nicht dieser Sohn der Sonne, den niemand ansehen und berühren darf. Hier muß ich keinen goldenen Schleier um meinen Kopf tragen und unbeweglich sein wie eine Statue. Du bist mein großer Freund; auch wenn du mir übermorgen das Bein aufschneidest. Soll ich dir sagen, daß ich gar keine Angst mehr habe?

Huber nickte abwesend. Die Gefahr, in der sich Veronika befand, klammerte sich an ihn. Was eine Frau, die so leidenschaftlich lieben kann wie Sikinika, mit ihrer Nebenbuhlerin anstellt, wenn sie auch noch die absolute Macht dazu besitzt, war gar nicht auszudenken. Es gab nur eine Möglichkeit, Veronika zu retten: die Krankheit des Jungen gegen Sikinika auszuspielen.

Ein gemeines Spiel, vom ärztlichen Ethos aus gesehen, aber es galt, ein Leben zu retten, und sind da nicht alle Mittel zu entschuldigen?

»Du liebst meine Mutter nicht?« fragte Sikinophis leise. Huber zuckte zusammen.

»Ich habe eine Braut«, sagte er. »Weißt du, was das ist?«

»Nein.«

»Man liebt ein Mädchen, und man verspricht sich gegenseitig, sich zu heiraten. Es ist wie ein Schwur, Sikinophis, und wenn man ein anständiger Mensch ist, hält man dieses Versprechen. Es ist eine Zeit der Vorbereitung für ein ganzes Leben zu zweit. Eine schöne Zeit.«

»Und du hast so ein Mädchen?«

»Ja. Es ist hier in Urapa. Deine Soldaten haben es gefangengenommen, und ich bin eigentlich nur zu euch gekommen, um das Mädchen zu befreien.«

»Nicht, um mich zu operieren?«

»Nein. Ich kannte dich vorher gar nicht.«

»Und wo ist das Mädchen jetzt?«

»Irgendwo im Palast oder im Tempel. Ich weiß es nicht. Bis gestern hing es noch in einem Käfig hoch droben an der Tempelmauer.«

Der Junge blickte Huber nachdenklich an. Seine großen blauen Augen waren traurig. Dann legte er den Kopf wieder auf Hubers Schulter und schlang den Arm um seine Hüfte.

»Ich will, daß man das Mädchen freiläßt!« sagte er. Seine Stimme hatte sich verändert: Sie bekam jetzt den harten, kalten Klang seiner Mutter. »Ich will es!«

»Ich glaube, unser Wille gilt hier wenig. Wir kämpfen gegen Leidenschaften an, die schon ganze Völker vernichtet haben. Aber das verstehst du noch nicht.«

»Ich werde es meiner Mutter sagen!«

»Du wirst zum erstenmal erleben, daß dich deine Mutter nicht anhört.«

»Sie muß! Ich bin der Sohn der Sonne!«

»In diesem Fall bist du nur ein kleiner Junge. Sikinophis, es werden verdammt harte Tage kommen.«

Sie wurden unterbrochen. Die Tür ging auf; Dombono kam ins Zimmer. Hinter ihm rollten zwei Pfleger eines der einfachen hölzernen Betten herein und schoben es an die Fensterwand. Zwei andere Pfleger schleppten einen großen Tonkessel auf einem Spreizfußgestell in den Raum. Er war mit einem süßlich duftenden Wasser gefüllt. Das Waschbecken.

»Sind Sie zufrieden?« fragte Dombono mit höhnischem Unterton. »Wann besprechen wir die Operation?«

»Morgen. Es ist nicht viel zu besprechen. Ich lege den Oberschenkelknochen und die Gelenkpfanne frei, und dann werden wir sehen, was zu machen ist. Sorge macht mir lediglich die Narkose.«

»Sie ist kein Problem.«

»Ich weiß, Doktor Stricker berichtete mir von Ihrem Saft. Sie gestatten, daß ich da sehr kritisch bin. Über welche Zeit können Sie die Narkose halten?«

»Unbeschränkt … bis ewig …«, sagte Dombono mit maskenhaftem Gesicht.

»Das befürchte ich! Andererseits beruhigt es mich, daß Sie allein für die Narkose verantwortlich sind. Bei der beträchtlichen Dauer des Eingriffs mochte ich nicht mit Äther arbeiten. Ich muß mich auf Ihren Göttersaft verlassen können.«

»Das können Sie!« Dombono warf einen Blick auf Sikinophis, der ohne seinen goldenen Schleier neben Huber saß. »Wollen Sie die anderen Ärzte kennenlernen?«

»Auch morgen. Ich beginne gleich mit der Routineuntersuchung. Blutdruck, Herzrhythmus, Pulsfrequenz …«

»Das haben wir alles nicht nötig«, sagte Dombono stolz. »Ihre moderne Medizin kompliziert alles. Wenn bei uns ein Herz nicht richtig schlägt, sehen wir dem Patienten in die Augen, und sein Herz schlägt wieder normal.«

Die rätselhaften magischen Kräfte, von denen schon Stricker berichtet hat, dachte Huber. Sie haben das, was wir Grenzfälle nennen, als Therapie ausgebaut. Ein telepathischer Bogen von Arzt zu Patient. Unerklärbar, aber bekannt. »Wie wollen Sie einen Herzinfarkt wegsuggerieren?« fragte er angriffslustig.

»Gar nicht! Der Patient stirbt.«

»Wenn man's so sieht, kann man allerdings die Medizin auf ein Mindestmaß reduzieren.« Huber klopfte dem Jungen auf den Schenkel. Sikinophis lächelte. Seine blauen Augen strahlten. »Wir bleiben bei meiner Methode, Dombono!«

»Natürlich. An Ihnen hängt das Leben des Sohnes der Sonne.«

»Sie sagen es.« Huber erhob sich von der Bettkante. »Wo ist Veronika?«

»Es geht ihr gut.«

»Das ist mir zu allgemein. Wo befindet sie sich jetzt?«

»Ihre Freunde werden als unsere Gäste behandelt und wohnen im Tempelbereich.«

»Ich möchte meine Braut sprechen.«

»Das kann nur die Göttin entscheiden.«

»Dann übermitteln Sie ihr meinen Wunsch. Ich möchte auch, daß sie ein Zimmer hier nebenan bezieht.«

»Das hier ist ein Krankenhaus und kein Architekturbüro«, sagte Dombono böse.

»Meine Braut ist auch in Krankenpflege ausgebildet.«

»Als Architektin?«

»So etwas gibt es bei uns.« Huber lächelte maliziös. »Bei uns ist die Medizin nicht das Vorrecht der Priester, auch wenn sich manche Chefärzte als solche betrachten. Lassen Sie Veronika kommen. Es beruhigt mich ungemein, wenn ich weiß, daß sie die postoperative Pflege unter meiner Leitung übernehmen wird.«

Dombono verließ ohne Antwort das Zimmer. »Er ist wütend«, sagte Sikinophis, als die Tür ins Schloß krachte. »Er ist der größte Arzt aller Menschen. Du hast ihn beleidigt.«

»Ich will Sicherheit, mein Junge. Wenn alles vorbei ist, werde ich's dir erklären.«

Wird sie kommen, fragte er sich. Wird man Veronika zu mir schicken? Richtet man ihr wirklich ein Zimmer neben mir ein? Ist Sikinikas Mutterliebe stärker als ihre weibliche Sehnsucht? Wie entscheidet sie sich? Gewinne ich diese erste Schlacht?

Er packte seinen Arztkoffer aus und legte die Instrumente, die er brauchte, auf den Tisch. Das Membranstethoskop, die Blutdruckmanschette, den kleinen Reflexhammer, zwei Holzspachtel, eine Taschenlampe, um den Rachen und die Gehörgänge auszuleuchten. Das hatte zwar mit einer Knochenwucherung nichts zu tun, aber ein gründlicher Arzt überzeugt sich immer, ob nicht irgendwo sichtbare Infektionsherde vorhanden sind.

Der Junge starrte etwas scheu auf die Schläuche des Stethoskops und verzog das Gesicht zu einem halb belustigten, halb ängstlichen Grinsen, als Huber sich die Schlauchenden in die Ohren steckte.

»Jetzt höre ich in dich hinein«, sagte er und streifte Sikinophis das dünne Hemd vom Körper. »Ich werde dein Herz schlagen hören und dir genau sagen, ob es in Ordnung ist.« Er setzte die Membran an die Brust des Jungen. Sikinophis zuckte zusammen.

»Tief einatmen«, sagte Huber. »Ganz tief und gleichmäßig atmen. Du mußt keine Angst haben. Du hast doch Vertrauen zu mir?«

Der Junge nickte. Seine Finger krallten sich in das Löwenfell, auf dem er saß, und dann atmete er bewußt tief und langsam, wie alle Patienten auf der Welt, zu denen ein Arzt sagt: »Nun holen Sie mal kräftig Atem …«

Die Wohnung, in die man die Gefangenen gebracht hatte, war geradezu luxuriös gegenüber den Zellen und Käfigen, die sie bisher kennengelernt hatten. Es gab Liegen, flache Tische, Flechtmatten auf dem Steinboden und eine unsichtbare indirekte Belüftung, die ein angenehmes Klima hielt.

Stricker inspizierte den großen Raum, rüttelte an der Tür und hob dann die Schultern. »Abgeschlossen! Wir sind zwar Gäste, wie Dombono mitteilte, aber diese Art von Gastfreundschaft ist doch etwas merkwürdig.«

Albert Heimbach hatte sich sofort auf eine Liege geworfen und seine Jacke ausgezogen. Peter Löhres kaute unlustig an einer eierförmigen Frucht, die sie zum Nachtisch erhalten hatten und die nach gar nichts schmeckte. Ihr Fruchtfleisch war ein weicher Pamp von grüngelber Farbe und klebte an den Zähnen wie dicke Mehlsoße. Veronika stand am Fenster. Es war ein blindes Fenster, ein bemaltes Brett war davorgenagelt. Durch ein paar Ritzen fiel Licht herein. Sie drückte die Augen dagegen und ging dann in die Mitte des Zimmers.

»Ein Innenhof. Leer. Nur Steinmauern.« Sie setzte sich auf ihren Diwan. »Was mag mit Alex los sein, Paul?«

»Sie haben es von Dombono gehört. Er operiert übermorgen den Jungen. Ein Teufelskerl, Ihr Verlobter! Mit einer geradezu verrückten Frechheit beginnt er, hier zu diktieren. Mittels eines Osteoms regiert er insgeheim über Urapa. Es fragt sich nur, wie lange die Priester das mitmachen! Immer in den Hintern getreten zu werden hält auch der sturste Esel nicht aus. Und Dombono ist alles andere als ein Esel! Nach der Operation wird der Machtkampf offen ausbrechen! Was denken Sie, Philipps?«

Der lange, dürre Engländer hob die Schultern. Seine Ruhe war geradezu aufreizend. »Sie werden den Jungen irgendwie um die Ecke bringen und seinen Tod auf die Operation schieben.«

»Genau das denke ich auch! Ich habe Doktor Huber gewarnt. Mir ist nur nicht klar, welche Sicherheitsmaßnahmen er aufbauen will, um das zu verhindern.«

Diese Frage beantwortete sich schnell. Ein Offizier der schwarzledernen Soldaten erschien im Zimmer, zeigte auf Veronika und winkte. Veronika rührte sich nicht. Sie saß auf dem Diwan und klammerte sich in der Felldecke fest. Albert Heimbach zog seinen Körper zusammen wie ein getretener Wurm. Löhres und Stricker stellten sich neben Veronika. Lediglich Philipps unternahm etwas. Er winkte ab und sagte hart: »No! Alle oder keiner!«

Der Offizier schob Philipps mit einem energischen Ruck zur Seite. Dann gab er Veronika ein Zeichen, hob den Arm und zeigte seine Handfläche.

»Er deutet an, daß er kein Feind ist«, sagte Stricker mit belegter Stimme. »Wer weiß, was man von Ihnen will. Ich würde mitgehen.«

»Isch nicht!« sagte Löhres. »Isch jlaube den Brüdern jar nix!«

»Es bleibt uns keine Wahl.« Stricker sah den schwarzen Offizier fragend an. Aber von ihm war keine Auskunft zu bekommen. »Auch wenn Sie Angst haben, Veronika, gehen Sie mit. Dombono kann sich keine Extratouren erlauben, solange Alex den Jungen versorgt. Das ist unser bester Schutz.«

Veronika nickte. Sie stand langsam auf und folgte dem Offizier. Hinter ihr schlug die Tür wieder zu, ein Riegel knirschte. Zum erstenmal war sie allein seit ihrer Entführung. Mut, sagte sie sich. Du mußt jetzt Mut haben! Du bist auch im Käfig nicht verrückt geworden.

Sie gingen durch unendlich lange Flure, kamen in große Hallen mit riesigen bizarren Steinfiguren. Die Wände waren hier mit wertvollen Stoffen bespannt, die Fußböden bestanden aus kunstvollen Mosaiken. Endlich stand sie in einem Raum, dessen Wände aus Gold zu sein schienen und die sie so blendeten, daß sie die Augen zusammenkniff. Der Offizier verließ sie lautlos, als löse er sich in Luft auf.

»Sieh mich an!« sagte plötzlich eine harte, kalte Frauenstimme hinter Veronika.

Sie wirbelte herum und schloß wieder geblendet die Augen. In einem Strahlenglanz stand die Göttin von Urapa, eine goldene Statue inmitten goldener Wände.

»Du verstehst diese Sprache?« fragte Sikinika.

»Ja. Ich kann Französisch.« Veronika legte die rechte Hand vor die Augen. Langsam gewöhnte sie sich an das gleißende Licht und konnte allmählich Einzelheiten unterscheiden: das Kleid, die mit Diamanten besetzten schnabelartigen Schuhe, die schlanke Gestalt, das märchenhaft schöne, ebenmäßige Gesicht, mit Goldstaub gepudert. Wenn sie wirklich ein Mensch ist, dachte Veronika überwältigt, bleibt sie doch ein Wunder. Und sie ist ein Mensch. Ein höheres Wesen spricht nicht Französisch, auch wenn man sagt, Gott lebe in Frankreich.

»Komm näher!« sagte Sikinika hart. »Ganz nahe! Noch näher!«

Sie standen jetzt voreinander, so nahe, daß kaum eine Handbreit zwischen ihren Gesichtern lag. Und sie starrten sich an wie zwei Schlangen, bevor sie mit tödlichem Haß aufeinander losgehen.

Sie hat grüne Augen, dachte Veronika. Tiefgrüne Augen, wie Turmalin. Gibt es bei Menschen solche Augen?

»So also siehst du aus«, sagte Sikinika eisig. »So muß eine Frau aussehen, um von diesem Mann geliebt zu werden!«

Von ihm!

Veronika erstarrte. Von ihm! Sie spricht von Alex! Der Blick der goldenen, gleißenden Frau lähmte sie plötzlich. Von ihm! Und sie begriff: Es geht um mehr als um die Operation an dem Jungen.

»Ich … ich liebe ihn …«, sagte Veronika. Ihre Stimme hatte keinen Klang mehr. Nach dem letzten Wort kam kein Laut mehr.

Schweigend standen sie sich gegenüber – so nahe, daß sich jede in den Augen der anderen spiegelte. Unter dem Goldpuder lief ein leichtes Zucken über Sikinikas Gesicht, von den Lippen beginnend bis zu den Augenwinkeln. Auf den Lidern glitzerte der Diamantstaub.

Schweigen.

Aber diese Stille war in Wirklichkeit eine Schlacht. Mit ihren Blicken hieben sie aufeinander los: zwei Frauen, die sich gegenseitig bekämpften mit ihrem stummen, wilden Haß.